Maria Luise Weissmann
Gartennovelle

[75] I

Nicht, daß der Name Veronika so sehr der Bläue ihres Blicks gegolten hätte, obgleich es jeder glauben mußte, der sie sah. Die Mutter hatte sie so genannt, erlöschend nach dem schweren Kampf der Geburt, lächelnd in einer Erinnerung, wie sie den Sterbenden zusammenströmt aus Kindheit und ihrem frühen Himmel: einem blassen Vorfrühlingshimmel droben im Norden, wo Deutschland lag. Der Garten, in dem Veronika zurückblieb, stieg als letzte Stufe des großen Gebirgs zur Ebene hinab. Er stieg hinab in einen sanften und blassen See der südlichen Ebene und dann, von seiner Tiefe gespiegelt, wieder aus ihm empor in einem ewig schwebenden Gleichgewicht. Veronika dachte später in den Städten, wo sie den Winter mit ihrem Vater verbrachte, an [Lücke]

Als Kind, von einer unachtsamen Wärterin allein gelassen, lief sie einmal, verwirrt, weiter den Weg, den sie gekommen war; wieder zurück, wie sie glaubte, aber das Wasser stand um ihre Füße. Von diesem Tag an hielt sie sich lange Zeit vom Ufer fern.

Der Gärtner, der den Garten betreute, war alt. Haar hing in breiten Strähnen um ein Gesicht, das Wind und Sonne gegerbt hatten, sodaß die Haut ein braunes und hartes Stück Leder geworden war. Die Haare erinnerten Veronika an das seltsam-streifige Grau eines Gehäuses, das sie einmal in dem Gebälk des Speichers hängend gefunden hatte. Der Finger, mit dem sie es berührte, zitterte unter einem fernen und dunkeln Gesumm, das aus dem Innern kam.

[75] Die lange Freundschaft zwischen Veronika und dem Alten begann böse. »Sie läuft mir in die Beete,« dachte er, als sie die ersten winzigen Schritte tat. Aber dann begab sich Schlimmeres noch. Sie war mit dem Vater im Frühjahr aus der Stadt eben zurückgekehrt: große kostbare Tulpen blühten in kühlem und farbigem Saum um das Haus. Veronika ging von der gelben Blume zur roten, sie sammelte in ihre Schürze das bunte Gefieder der Papageitulpe und streifte Blütenblätter ab, deren Rand von einer Flamme angesengt schien. Sie trug die Schürze mit ihrer leichten Last zu einem Erdloch, das sie gegraben hatte, und sie versenkte sie dort, blaß und mit klopfendem Herzen. Sie hatte die Erde noch nicht über das sonderbare Grab gehäuft, als schon die Hand des Alten sie wegriß. Er zog sie vor ihren Vater, schreiend. Das Verhör war kurz.

»Warum hast Du mir meine Freude zerstört! Auf diese niederträchtige Weise?«

Veronika wußte keine Antwort. Sie hörte mit gesenkter Stirne den Befehl, acht Tage auf ihrem Zimmer zu verbringen.

Dieser acht Tage konnte sich Veronika nach Jahren noch erinnern. Das Zimmer lag im obern Stockwerk des Hauses, mit dem Blick auf die sanft den Abhang des Berges ersteigenden Terrassen. Sie waren künstlich angelegt; Erde war mit schweren Gespannen von weit her beigefahren worden: sie wurde gesiebt, mit ungeheuren Mengen genäßter und verfallender Pflanzenstoffe gemischt oder mit Steinen und Geröll vermengt, je nach den Ansprüchen der Pflanze, der sie dienen sollte. Veronika [76] hörte den Vater zuweilen erzählen von Summen, die seine Liebhaberei ihn gekostet hatte. Aber sie vermochte sich niemals vorzustellen, daß eine Zeit gewesen sein könne, wo dieser Berghang, mit Felsblöcken übersät und duftigem Gras bestanden, die Weide wilder Ziegen gewesen war. Sie saß am Fenster, nach ihren einsamen Mahlzeiten und besonders am Abend. Der Garten rief nach ihr. Sie konnte nicht viel von ihm erkennen, da die großen und dichten Kuppeln des Strauchnachtschattens, das silbrige Gelaub des Baumtabaks dem Blick entgegentraten. Aber sie roch die feuchte Erde, mit Nässe gesättigt noch von der Schneeschmelze ferner Höhenzüge, die blau den Horizont begrenzten.

Sie roch die nasse Erde, sie schmeckte den Duft der jungen Blätter, sie spürte, was aus der dunstig-warmen Tiefe nach oben quoll, bleicher, drängender Keim. »Es wächst,« dachte sie und schluchzte. »Und ich bin nicht dabei.« Sie wurde in diesen Tagen, da ihr verboten war den Fuß über die Schwelle ihres Zimmers zu setzen, mit dem Garten vertraut. Sie ging seine Wege nach; aus einer prallen Sonne, wo die südlichen Pflanzen, wo Ölbaum und das harte Geäst der Kakteen ihren natürlichen Standort hatten, stieg sie hinab in das dämmernde Dickicht rasch und gewaltig sich ausbreitender exotischer Bäume, in deren undurchdringlichem Schatten die zarten und blassen Blumen des Nordens standen, Fingerhut, Akelei und, gegen den See zu, Narzisse und Iris. Sie wußte nichts von der Gegensätzlichkeit der Lebensbedingungen, die hier ein leidenschaftlicher Wille zur Nachbarschaft zwang. Als sie den Garten wieder betrat, war ihr erster Gang zu [77] der halbüberschütteten Grube. Sie fand die bunten Blätter, mit Erde beschmutzt, vor Nässe halb verwest, mit fahler und verwaschener Farbe. Sie war traurig und weinte. Der alte Gärtner hatte Mitleid mit ihr.

Sie bekam ein kleines Stück Erde zugewiesen, das sie bebauen durfte. Sie erhielt Samen, die staubfein waren, und grobe Körner mit stacheligen Auswüchsen, die einer kleinen und verdorrten Kastanie glichen. Sie teilte die Erde in kleine Beete ab, zwischen denen Wege liefen, sie ließ Hügel darüber sich erheben. Nachdem die Samen aufgegangen waren, üppig ineinanderwuchernd, daß der Garten dem verwachsenen Dickicht eines Urwaldes glich, begann sie, die einzelnen Pflanzen sorgsam voneinander und aus der Erde zu lösen. Sie hielt sie mit ihrer kleinen braunen und harten Kinderhand vor die Helle des Himmels und besah sie lange. »Du bist ein Baum,« sagte sie zu der langblättrigen Nelke und pflanzte sie schräg an den Abhang eines Hügels. »Man kann sich anlehnen,« dachte sie, »wenn der Wind da oben weht, daß man nicht ganz bis auf die Höhe gehen will. Aber man kann doch schon weit hinabsehen – und der Wind wird in den Zweigen rascheln, die einem über den Kopf hängen.« Der Rasen war Moos – sie schnitt mit der Schere die Blüte. Die Rosette der Primel stand als eine mächtige Staude inmitten; ihr Blütenstengel schoß wie der Knospenschaft der Agave unerreichbar und sehnsüchtig zum Himmel empor.

Nachts, ehe sie einschlief, fielen ihr neue Wege ein, Wege, die, von Büschen der Veilchen gesäumt und überhangen, Treppen hinabführen würden zu einem Teich; er war [78] düster, denn das Schilf des Grases schoß hoch um seine Ufer und der Schatten eines[Erlen]zweiges stand als unvergängliche Wolke über seinem Antlitz. Sie atmete die fremde, ein wenig nach Moder schmeckende Luft, die um ihn stand, bis in den Traum.


Es war dieser Garten im Garten lange Veronikas liebstes und einsames Spiel. Einmal, als sie aufblickte, stand neben ihr der Enkel des Gärtners, den sie zuweilen von fern beobachtet hatte, wie er, pfeifend mit seiner üppig vorgeschobenen Lippe, die Hände in den Taschen seiner kurzen und zerrissenen Hose, zwischen den Beerensträuchern dahinstrich, ab und zu eine dieser Hände von sich schleudernd und mit einer Frucht zu seinem Munde kehrend, wie der Vogel zum Nest.

Sie sahen sich an. Gianni war älter als Veronika, obschon noch ein Kind, verführerisch genaht der Grenze des Männlichen. Arme und Beine, seine Haut zwischen den Fetzen der Kleidung waren von einer makellosen bronzenen Bräune. Sein Gesicht, dunkeler noch unterm Schatten des schwarzen und stark gekrausten Haares, üppig und kühl zugleich. Ein Ausdruck von Schläue im Winkel seiner vor der Sonne gewohnheitsmäßig zusammengekniffenen Augen machte es gewöhnlich.

Er zeigte grinsend sein starkes und schimmerndes Gebiß. Veronika reichte ihm von den Pflanzen, die einzusetzen sie eben im Begriffe stand. Er folgte ihrem Beispiel stumm, mit einer Art beruflicher Geschicklichkeit, sodaß die Arbeit, mit der Veronika sich stundenlang beschäftigt hoffte, in Minuten erledigt war. Seufzend erhob sie sich. [79] »Wie heißt Du?« Er nannte seinen Namen: »Gianni.« »Wir wollen spielen.«

Es dauerte eine Zeit, bis sie sich gut verstehen konnten. Gianni sprach den Dialekt seines Dorfes – von wo er, wie es ihm gefiel, sich auf den Weg machte, plötzlich stumm und ohne weiteres der Tätigkeit des Großvaters sich gesellend. Veronikas Italienisch war karg, nur aus den winzigen Erfahrungen ihres täglichen Lebens gespeist. Schließlich redeten sie nicht mehr viel. Sie fanden langsam eine Art von Sprache, die aus kleinen Schreien bestand. Sie konnten spitz sein und schrill wie der Schrei eines Raubvogels, wenn er in der blauen Höhe über dem See seine Kreise zog. Dann wieder dunkel, tief und gurrend, den Kehllauten nistender Tauben ähnlich. Wenn Gianni Veronika rufen wollte, unweit des Hauses hinter einer großen Magnolie versteckt, dann hatte dieses Locken Ähnlichkeit mit dem Schluchzen, dem zärtlich-wilden Gejaule verliebter Katzen. »Was sie nur haben?« fragte zuweilen die Köchin bekümmert. »Es ist nicht ihre Zeit.« Die Kinder brachten Nachmittage zwischen den langen Reihen der Beerensträucher hin. Sie sotten in einem glutheißen Sand, darin sie lagen, dünn beschattet von dem Gelaub der Zweige, sie rupften liegend, mit kleinen kurzen Bewegungen wie Ziegen mit ihren Lippen die vollen Trauben der Johannisbeere von den zerbrechlichen Stengeln. Sie bissen Stachelbeeren an und ließen sich den Saft in einen faul geöffneten Mund herab tropfen, sie zerdrückten die weiche Frucht der Himbeere zwischen den bluttriefenden Fingern und leckten ihren Saft. Sie schlichen [Lücke]

[80] Veronikas Bewegungen wurden fließend wie die ihres Gefährten. Über den Muskeln schob sich gleitend die dunkle, gesunde Haut. Das Haar stand über ihrem haselnußbraunen Gesicht als eine gelbe lohende Flamme.

Vereint erfanden sie ein neues Spiel: Veronika schloß die Augen und reichte Gianni die Hand. Er drehte sie im Kreise, daß ihr Gefühl die Richtung verlor. Dann führte er sie, irgendwo hin. Hatten sie vorher in der Sonne gestanden, so war es der Schatten, den er suchte. War es der klare und geradlinige Beerengarten, von dem aus sie die Wanderung antraten, so lenkte er ihre Schritte ins Dickicht oder zum Ufer des Sees. Hatte er sie weit genug geführt – mit aller Hingabe, auf Irrwegen oder zurück, über entlegene Stufen und Hänge, so öffnete sie die Augen: das vertraute Bild, unerwartet vor ihre Augen gerufen, erfüllte sie neu und wie ein erstes Mal. Sie sah, was sonst, vorbereitet durch Weg und Wanderung, sich der Erinnerung langsam ergab, plötzlich einsam vor sich, gerundet im Kreis seines Daseins und es berührte sie mächtig: der Raum einer Wiese, seltsam leer unter der Weite des Himmels; die öde Fläche des Sees, von ihren Füßen ins Unerreichbare strebend; der Schatten eines Gebüsches, mit einem kühlen Hauche sie empfangend und leise in sein Leben beziehend.

Aber mit jedem dieser Gänge, die sie an der Hand Giannis tat, wurde sie unverführbarer. Für ihre Augen, bereitwillige und oberflächliche Vermittler, traten die anderen Sinne in eine neue, angestrengte Tätigkeit. Ihr Fuß nahm durch die dünne Sohle die Beschaffenheit des Bodens wahr. Mit der Fläche ihrer Wangen fühlte sie die Luft [81] leise dahingleiten oder sanft gegen sich anflutend, je nach der Richtung des Weges, den Gianni sie führte. Und dann und vor allem dieses Aroma der Luft, wie war es hundertfältig zu schmecken, spürbar in allen Poren! Da erhob sich, wenige Meter vom Wegsaum entfernt, die Gruppe von Eucalyptusbäumen – ihr scharfer und herber Duft zog um sie einen unverkennbaren Kreis. Daß man den Standort des Jasmins, des Viburnums bestimmen konnte, bewies nicht viel. Es war mehr dazu angetan, Erinnerungen an Reisen, den Aufenthalt an fernen Orten plötzlich und zauberhaft lebendig zu machen: einen Besuch in Deutschland; Abend in einer Geißblattlaube, die wie dieses Viburnum geduftet hatte. Oder die gleichgültige Straße einer Stadt, von der Veronika nicht einmal den Namen mehr wußte, mit plastischer Eindringlichkeit Haus an Haus gereiht, greifbar deutlich noch jeder Stein des Pflasters, Dinge, die ohne Bewußtsein sie einst in sich aufgenommen hatte: wiederkehrend nun mit dem Hauch eines Duftes, der damals vielleicht, Parfum einer Vorbeigegangenen, für Sekunden über den Steinen gehaftet hatte.

Veronika bestimmte den Weg, den sie mit geschlossenen Augen ging, nach solchen Gerüchen. Sie hatte einmal einen Zweig der Zypresse zerbissen und der bitterliche Geschmack war ihr feststellbar noch in der dünnen Verteilung, mit der er die Luft durchstrich. Sie roch Feuchte und Trockenheit der Erde, die Wärme einer Mispel am Baum: Gianni, nachdem er einmal durch einen verwirrend über ihren Kopf geschwenkten Fliederzweig sie lange in die Irre geleitet hatte – mit einem zärtlichen [82] Grinsen nahm er ihren Vorwurf entgegen – Gianni gab es auf.

Sie bezogen eine Art Zelt hinter dem grünen, auf allen Seiten bis zur Erde reichenden Gehänge einer Trauerweide. Von dort aus zogen sie auf die Jagd, kindlichen Bogen, von Gianni gespannt, in den Händen. Sie banden Steine an langen Schnüren fest und schleuderten sie vorüberrasend mit Siegesschreien um die Stämme der Bäume, wie um Gelenke hoch gebeinter Fabelwesen. Sie stiegen im Gesträuch herum, schwangen sich mit der Biegsamkeit ihrer geschmeidigen Körper in den Ästen, der Bäume. Aber einmal geschah es, daß Veronika, zurück gewandt, um dem Gefährten etwas zuzurufen, ausglitt, sich mit ausgebreiteten Armen an ein paar Zweigen eben noch erhielt, ihr Rücken folgte der Biegung des großen Astes, von dem sie abgeglitten war, das leichte Kleidchen bauschte sich weiß und wie ein Blumenblatt um ihre blassen Schenkel. Die Beine, noch von der Erschütterung des Sturzes zitternd, suchten seitlich ins Gezweige tastend Stütze – (und) Giannis braunes Gesicht, noch einen Schatten dunkler, wühlte sich in den Kelch der großen Blüte vor ihm, während sein Körper in einem tiefen und dunklen Seufzen des Glückes bebte.


Wenn Veronika später sich an diesen Zwischenfall erinnerte, war es zunächst der jähe und heftige Schrecken jenes Augenblicks, da sie zu fallen glaubte, der sich einstellte und häufig wiederkehrend noch in Träumen sie befiel. Dann ein Gefühl der Sicherung, des eben noch [83] Geretteten, voll einer Süße, die im Begriff sich auszubreiten, dann bekämpft, jäh überwunden war von einem neuen Schrecken, süß auch er, allein von einer fremden, beängstigenden Süße. Sie wollte schreien, sich wehren – als Giannis Schrei empört und schmerzvoll ihr zuvorkam. Denn völlig unvermutet hatte er, von der Hand des Großvaters im Genick gefaßt wie eine junge Katze, auf dem Boden sich wiedergefunden und von dem Aufprall schmerzten ihm die Knochen. Veronika aber hoben Beppos Arme sanft und väterlich herab und stellten sie auf die ein wenig bebenden Kniee. »Hat sich mein Täubchen sehr erschreckt, das Kind...« und hier sich unterbrechend, da der Zorn ihm furchtbar in die Stirne stieg, hob er den Arm und drohte in die Ferne, wo Gianni schief geduckt entschlich, mit einem langen und bilderreichen Fluch, in dem von Giannis Mutter die Rede war, einer von Gott verlassenen, durch diesen Fluch nun allen bösen Geistern anheimgegebenen Person. Veronika verstand das wenigste von dieser Drohung, die er ausstieß, den Arm noch immer in jener Richtung gereckt, in der Gianni entschwunden war; sein langes und streifiges Haar wehte, er erinnerte sie an Moses aus der Biblischen Geschichte und sie schloß ihn ins Herz.

Sie folgte ihm von da in den künftigen Tagen voll Anhänglichkeit und Zuneigung, um so mehr, als ihr der Spielgefährte verloren war. Fern sah sie ihn zuweilen ins Gebüsch sich drücken, da der Alte, sowie er ihn erblickte, mit Scheltworten und Steinen nach ihm warf. »Er ist kein Hund,« wagte sie einmal einzuwenden, obwohl ihr dieser Einwand Beppo gegenüber als undankbar erschien. [84] Aber der Alte entfaltete wieder, von Zorn gerötet, eine biblische.Beredsamkeit, in der die Bezeichnung Giannis als des Sohnes einer Hündin häufig wiederkehrte. Da schwieg sie still und wagte nicht mehr, Gianni in Schutz zu nehmen. Ein mal begegnete sie ihm plötzlich und unvermutet, um eine Gruppe von Sträuchern biegend. Sie fand ihn sehr verändert, auf eine unerklärliche Weise ihrem Verständnis fern gerückt. Er sah, pfeifend mit seinen üppig vorgeschobenen Lippen, die Hände in den Taschen seiner kurzen und zerrissenen Hose, ihr mit einem spöttischen, verachtungsvollen und frechen Lächeln mitten ins Gesicht.

Veronika verbrachte ihren Tag, soweit es ging, an Beppos Seite. Seine Tätigkeit wurde ihr langsam vertraut; sie war ins Tiefe gehend, angestrengt, nicht zu vergleichen dem erfreulichen Spiel auf ihrem eigenen kleinen Stückchen Erde. Denn was sie hingenommen hatte dort als Grund, der Boden, der Gras und Blumen selbstverständlich trug wie ihre Füße, – wie war er nun in Wahrheit tausendfältig, war Nahrung, seinen Geschöpfen sorgsam zubereitet, bekömmlich hier dem einen, das andere verderbend, wie war er mächtig und geheimnisvoll! Sie schaute Beppo zu beim Mischen dieser Erde, die er ihr unter die Nase hielt, an ihre Lippen schob, damit sie den Geschmack aufnehme. »Fett« sagte er zum Beispiel, denn in der Arbeit sparte er die Worte. Dann sah Veronika eine ölig-glänzende Masse, zerdrückte sie auf ihrer Zunge und fühlte so, was sie zu geben wohl im Stande sei: sie würde Pflanzen nähren, üppig-gedunsen wie sie selbst, die ihrerseits dem Menschen wieder als Nahrung dienten. Es [85] wurde an ihr eine gewisse Sorte Kohl gemästet, man zwang ihn, Fett zu produzieren, seine Natur verleugnend, in eine weiße fleischige Dolde zu wuchern. Veronika fand, er schmecke krank. Aus Gärung und Fäulnis des Komposthaufens schuf die Melone ihr grünlich-gelbes, süß triefendes Fleisch. Aus einer mageren Krume zog die Tomate ihre Glut, ihr Mark die Artischocke aus Sand. Und dann die Blumen! Wie wurde ihnen geschäftig und mit Hilfsbereitschaft in Treibhäusern die Mahlzeit zugemessen: die Orchidee sog aus Torf, an Drähten aufgehängt, aus einem Gefilz von Moder ihre strahlend schöne Blüte. Es wohnten jeder Sorte Erde geheimnisvolle Kräfte inne: verwandelt, sichtbar traten sie in der Pflanze ans Licht. Veronika, wenn sie darüber nachdachte, wie einst bei jenem Spiel, das einen Duft in die Vergangenheit zurückverfolgte, sah Winkel dieser Erde vor sich, die wie verfehmt erschienen, verflucht und darum mit verfluchtem, sündigem Gewächs bestanden. Es wuchs entlang an Zäunen, noch immer nicht aufgenommen von einer reineren Pflanzenrasse, die einen guten Boden bestand, von außen durch die Straße mit Staub überschüttet, vom Unrat der Hunde besudelt, kümmerlich ein Leben fristend, namenlos gering. Es waren kleine gelbe Blüten, schielend und gehässig; zerbrach man einen Stengel, floß wie Eiter ein weißlich-gelber, übel duftender Saft. An trägen Flüssen stand, mit fettem Kraut, unendlich sich vermehrend, ein niederes Gewächs mit einer trüben blau-violetten Blüte, Spiegelung des moorigen und abgestandnen Wassers, aus dem sie stieg. Da waren Äcker, verderbt in ihre Tiefe; Quecke durchzog sie still, mit einem bescheidenen Anspruch [86] an das Licht des Tages, doch in der Dunkelheit drunten fressend wie eine Seuche.

Veronika erinnerte sich dieser Bilder, während sie den Alten mit kleinen Handreichungen unterstützte. Sie lief, ihm Rechen und Spaten zuzulangen; sie half ihm beim Einsetzen der kleinen Pflänzchen, das ihre kindlich-kurze Geduld auf eine harte Probe stellte. Sein Lob machte sie glücklich; ihn rührte ihr Vertrauen; daß sie ihn »Beppo« nannte, empfand er immer neu als eine Zärtlichkeit, die er sich gern verschaffte, indem er seine Schwerhörigkeit ein wenig übertrieb. Denn ließ die Arbeit eine Viertelstunde frei, so unterhielten sie sich vorzüglich. Es waren nicht nur die verschiednen Sorten Erde, die Veronika im Lauf der Zeit nach ihrer Zusammensetzung kennen und beurteilen lernte, nicht nur die Pflanzenwelt nach Anspruch und Instinkt, da waren, nicht zu übersehen, ihre Schädlinge, war tausendfaches Getier an seinem Werk der Vernichtung. Ihm galt zuzeiten Beppos haßerfüllter und wenig aussichtsvoller Kampf.

Denn seine Zahl war Legion. Es segelte durch die Luft, lief über den Boden, kroch an Stengel und Zweig entlang. Es mordete und verdarb auf jede erdenkliche Weise: durch Schwellung, Ausschlag und Gespinnst. Es fraß von unten her die junge Pflanze an, zog sie hinab, daß nur die Spitze der Blätter noch über der Erde stand. Es bettete sich in einer ekelhaften Wolke von Schaum am Stengel fest. Es zog durch Früchte seine abscheulichen, mit Unrat angefüllten Gänge. Es fiel gleich einem giftigen Regen über die Blätter der Rebe. Es ballte im Gezweig der Zypresse sich zu einem moosig-verfilzten, schwärzlich [87] wimmelnden Nest. Es war da, überall; wo etwas wuchs, da wuchs es mit.

Veronika betrachtete es mit einem tiefen Grauen. Mit der Verwandlung von Erde in Gras, in Blumen, Bäume hatte sie sich gern vertraut gemacht. Nun aber schritt diese Verwandlung fort, unheimlich fort: auf dem zart grünen Stengel der Rose stand zart grün die Schar der Blattläuse nebeneinander aufgereiht, haarfeine Rüssel in den Stengel eingebohrt. Sie sogen schweigend diesen grünen Saft, der ihre Leiber glasklar schimmern ließ, sie waren wie ein winziges Gefäß, mit diesem Saft gefüllt, nur war die Wand dieses Gefäßes ein unbegreiflich Neu-Hinzugekommenes, denn sie bewegte sich, sie kroch. So ging es übrigens auch der Staude des Blumenkohls. Eine dicke Raupe machte sie sich schnell und gefräßig zu eigen. Sie baute sich an den Leib, weiß und feist wie die Pflanze, aus der er entstand. »Es ist, als hätte man sie aus Blumenkohl geschnitzt,« dachte Veronika, »nur daß sie immer dicker wird.«

Nicht, daß sie gerade Ekel empfunden hätte. Aber als dann, entsetzliches Wunder, aus dem träge und unbeweglich gewordenen Rücken dieser Raupe ein Gewimmel von Maden sich hob, fuhr sie zurück und erbrach.

Sie beruhigte sich wieder, als Beppo ihr diesen Vorgang erklärt, als sie die Wespe gesehen hatte, wie sie, mit einem bösen und unbewegten Gesicht minutenlang in den Anblick ihres Opfers versenkt, leise zitternd, wie Luft unter der Hitze zittert, schließlich den langen Stachel in das verzweifelt sich krümmende Fleisch versenkte. »Erst war es Erde,« begann Veronika an ihren Fingern aufzuzählen, [88] »die Erde ist Blumenkohl geworden, dann eine Raupe. Jetzt ist es eine Wespe. Was wird dann aus der Wespe, Beppo?« fragte sie. Aber Beppo zuckte die Achseln.

Er hätte wohl antworten können, daß diese Art von Wespen den Vögeln vielfach zur Nahrung diene. Doch war er müde und verdrossen. Er, der nur in den Tagen der angestrengtesten Arbeit die beinah verstohlene Hilfe seines Sohnes, seiner Enkel geduldet hatte, er fühlte sich nun, lange vor dieser Zeit, müde und auf eine befremdliche Art der Arbeit abgeneigt. Trotzdem verspürte er keine Lust, darüber nachzudenken, was aus der Wespe werden würde. »Dummes Zeug« sagte er nach einer Weile ohne Zusammenhang. »Nichts als dummes Zeug.«

Auch an den nächsten Tagen war Beppo mürrisch und gereizt. Er saß auf einem Stein, einer Bank; er konnte stundenlang so sitzen, mit einem Blick, von dem man nicht wußte, ob er sah. Aber an einem Morgen mußte das Kind, vergeblich rufend, viele Wege kreuzen, ehe sie ihn fand. Es war eine Stelle – Veronika liebte sie nicht sonderlich, sie hatte Ähnlichkeit mit jenen, die ihr verstoßen schienen, so unnütz war sie – sie lag da, wo an den Park der kleinere Nutzgarten sich anschloß und sie gehörte weder dem einen noch dem andern zu. Sträucher grenzten an sie von beiden Seiten, schlossen sie ab, beschränkten sie auf sich selbst, die doch nichts war als eine kleine Fläche ungepflegten und von Sonne und Staub verbrannten Grases. Da lag, in dieses Gras gebettet, Beppo, auf seinen Rücken ausgestreckt, den offenen Blick zum Himmel aufgeschlagen. Veronika erschrak. »Er ist [89] so müde,« dachte sie, »daß er nun nicht einmal mehr sitzen mag.« Sie stand und sah ihn lange an. Sein Haar, das graue, strähnige Haar, wie es ins Gras fiel, sah kaum anders aus als dieses Gras, mit dem es sich vermischte. Fremd hob daraus sich das Gesicht empor: blickloser Blick, in seiner Leere den Himmel spiegelnd.

Veronika beschäftigte sich in der Nähe lautlos. Sie tat, wozu sie sonst sich nicht verstand: sie klaubte Steine aus den Gemüsebeeten, sie las die widerlichen Raupen ab und trug sie in die Grube mit frisch gelöschtem Kalk, die zur Vertilgung des Ungeziefers angelegt worden war. Sie wollte Beppo eine Freude machen, ihm, war er erwacht, von ihrem Fleiß erzählen; – vorläufig schlief er immer noch. Und da es müde machte, Steine und Raupen abzulesen, wenn niemand es anerkannte, wurde sie lässig; sie setzte sich neben Beppo ins Gras. Sie kehrte nach den Mahlzeiten zu ihm zurück, mit einer Hoffnung, daß dieser lange Schlaf ein Ende gefunden habe. Aber Beppo schlief immer noch.

Da gab sie es innerlich auf, ein Erwachen abzuwarten. Nicht daß sie sich bewußt darüber klar geworden wäre. Aber sie fand es mit einem Male schön so zu sitzen, einen Grashalm zwischen den Zähnen, neben dem Schweigenden, mit dem Gefühl, daß unermeßlich viel Zeit vor ihnen liege. Übrigens schien von dieser Unermeßlichkeit alles ringsum berührt: Der Himmel hatte sich nie so fern und weit gespannt. Beppos Blick, zu ihm empor gewandt, nahm seine leere Weite in sich auf. Wer konnte sagen, wo sie endete? Sein Haar, ins Gras ununterscheidbar gemengt, reichte, wer mochte sagen, wohin? Sie warf den [90] Halm, den sie im Munde drehte, mit einer Art von schlechtem Gewissen weg und als sie abends aufstand um ins Haus zu gehn, setzte sie ihre Füße so vorsichtig, als könne sie Beppo mit ihnen wehe tun.


Am nächsten Morgen schlief er immer noch. Aber ein Neues war da: Geruch von einer Pflanze, die Veronika nicht kannte. Sie witterte in der Luft, sie sah sich um: sie konnte kein Gewächs entdecken, dem dieser Geruch, schwach aber doch in der Andeutung einer süßlichen Schärfe, zu eigen hätte sein können. Er war mit dem Boden unvereinbar, diesem mageren, sonnverbrannten Boden. Veronika, wenn sie die Augen schloß, konnte sich einen Verschlag des Treibhauses vorstellen: bleich-grünes, fettsüchtiges Gewächs schoß dort empor in einem künstlich-trüben Licht, schwammig aus einem schwammigen Grund genährt, in unsauberen Verschlingungen wuchernd, mit Blüten, die von einem häßlich fleischfarbenen Rosa waren, besät mit Hüllen toter Insekten, üblen Dunst ausströmend. Und diese Blüte, hier schien sie mit der steigenden Sonne sich zu entfalten, unerträglicher Gestank.

Veronika stand auf. Sie sah einen Käfer, sie sah einen grün und rot bronzierten, sie sah zwei grün und rot bronzierte (eilige) Käfer an Beppos Bein empor streben, in der Höhle seiner Kleidung verschwindend. Sie sah Beppos Gesicht, leer und weit noch den Blick, aber erschüttert, ja, von Gelächter erschüttert. »Die Käfer kitzeln ihn,« dachte Veronika, aber dieses Lachen verging nicht, es brach aus allen Zügen; als sei sie selbständig geworden, [91] nicht Teil eines Gesichtes mehr, lächelte jede Linie für sich, schmolz Wange, Mund und Ohr in einem lautlosen Gelächter.


Veronika schrie. Sie schrie. Sie rannte schreiend ins Haus.

II

Veronikas Vater, aufgeschreckt aus einer jahrelangen Versunkenheit in Schmerz um den Tod seiner Frau, dem Anblick verlorenen Glücks beständig ergeben und nur zuweilen der Ursache seines Verlustes gepeinigt sich erinnernd: Veronikas Vater sprach sich schuldig einer sträflichen Gleichgültigkeit, einer unverzeihlichen Selbstsucht, mit der er das Leben des Kindes sich überlassen hatte. Er schämte sich. Und weil es ihn drängte, Versäumtes nachzuholen, so viel und rasch es möglich war, wurde Veronika, noch ehe Krankheit und Fieber sie ganz verlassen hatten, sorgsam verpackt im Wagen, schlafend beinah, hinweggebracht in das große Haus der Stadt, von winterlichem Aufenthalt ihr bekannt.

Die Reise bekam trotz aller Vorsicht ihr schlecht. Er habe, so rasch es ging, von einem Ort sie entfernen wollen, der ihr so sehr ein Ort des Grauens geworden war, begründete der Vater dem Arzt das Wagnis der Fahrt. Nun kehrte die Gewalt des Fiebers verdoppelt wieder; das Haus verwandelte sich in jenes verlaßne andere; der Garten drängte sich um seine Mauern. Der große Ventilator über der Tür schwang leise sausend, Veronika vernahm ihn als den Wind, durch das Gelaub geliebter Bäume streichend.

[92]

Das Wasser, von der Schwester aus der Karaffe ins Glas gegossen, plätscherte wie die kleinen Wellen des Sees, ein Meer von Gerüchen stieg auf, in dem sie die Richtung verlor. Sie stöhnte »Gianni« – er mußte einen Strauß gepflückt haben aus allen Blumen des Gartens, mit dem er sie nun irreführte. Aber nun war es Beppo, sie ging an seiner Hand auf die grasbewachsene Stelle zu, wo er liegen mußte, sie fürchtete sich, sie zog an seiner Hand, die Hand löste sich vom Gelenk. »Was soll ich mit der Hand machen?« dachte Veronika entsetzt. Aber da lag Beppo im Gras, mit seinen beiden Händen. »Beppo,« sagte Veronika, »warum sprichst Du nicht?« Aber dann hörte sie das Sausen wieder, es war Beppos Stimme, sie sprach aus einem Baum: »ich rede doch,« sagte die Stimme, »fortwährend rede ich, rede ich,« und der Baum schwang seinen Wipfel hin und her. Veronika versuchte sich festzuhalten, die Zweige bewegten sich zu stark, sie rutschte aus, es wurde schwarz. Sie fiel und fiel. Sie fiel immerzu, bodenlos abwärts und dann schlug sie die Augen auf. Sie sah in das angstvoll auf sie herabgeneigte Gesicht ihres Vaters.


Seit dieser Krankheit waren sie mit einander vertraut. Es war ein Vertrauen, dem Worte und Gebärden fehlten. Aber es war bindend für sie inmitten anderer Menschen, unter denen sie als Fremdlinge sich bewegten: der Vater, hager, groß und schweigsam, an seine Trauer hingegeben. Das Kind, stumm wie er, mit seinen Zügen; einer verlorenen Welt nachtrauernd auch es, wenn schon allein durch eine sonderbare Scheu gehemmt, von ihr zu sprechen, nach ihr zurück verlangend. So gingen sie durch die [93] Jahre: beziehungslos inmitten von Beziehungen, die weit nach vielen Richtungen sich erstreckten. Veronika blieb den Büchern zugewandt auch dann, als schon ihr Wissen ungewöhnlich, ihre Kenntnisse außerordentlich waren. Sie machten Reisen miteinander, sie waren Gäste dreier Kontinente: allein den Umkreis jenes gebirgigen Hanges über dem kleinen See vermieden sie nach einer stummen Vereinbarung.

Und doch war er ihr Ziel, war Ziel ihrer gemeinsamen Liebhabereien, Ziel ihrer Wege, Ziel wegloser Gänge über Geröll und Moor: Bemühungen um die besondere Flora der Gegend, in der sie sich aufhielten. Sie gruben seltene Pflanzen aus, bestimmten sie, Veronika machte sich Notizen. Sie erörterten ihre Lebensbedingungen: Klima, Bodenbeschaffenheit, Bestrahlung und was noch sonst in Frage kam. War dann ein Zustand festgestellt, umrissen, so schwiegen sie. Denn es war allein die Möglichkeit einer Einbürgerung, einer Ansiedelung des neuen Gewächses in dem verlassenen Hang des Gartens, die sie damit erwogen hatten.


An einem Morgen saßen sie in Funchal, wo sie den Winter verlebt hatten, hoch überm Strand, wo ein Fischer im Boot sich mit dem Segel beschäftigte. Er war groß und geschmeidig, seine Haut zwischen den Fetzen der Kleidung von einer makellosen bronzenen Bräune. Sein Gesicht, dunkler noch unterm Schatten des schwarzen und stark gekrausten Haares, üppig und kühn zugleich. Er sang, während er stand und arbeitete. Veronika sah ihm zu. Ihr Vater neigte den Kopf seitlich über den Schatten, mit [94] dem sein Körper den weißen Sand verdunkelte: gekrümmte Linie des Rückens, die er mit dem Finger lächelnd verfolgte. »Ich werde alt, Veronika,« sagte er. Sie hatte den Blick gesenkt, so reichte sie ihm die Hand. Sie standen auf. »Wir wollen heim,« sagte Veronika leise; aber sie waren schon auf dem Weg.

Sie gingen nach vier Tagen mittags in Genua an Land. Der Chauffeur aus Florenz wartete mit dem Wagen. Kurz vor Mitternacht kamen sie an: der Garten empfing sie schweigend, von Mondlicht beglänzt.

Veronika feierte noch in der Nacht das Fest ihrer Wiederkehr. Sie ging die alten, lang entbehrten Wege, sie legte ihre Hände an die rissige Rinde uralter Stämme. »Da bin ich wieder. Ich bin wieder da,« sagte sie vor sich hin. Der Schrecken der Vergangenheit verlor sich, wurde unbegreiflich: sie fand mit Rührung die Stelle, wo Beppo verschieden war. Alles war enger geworden, nah aneinander gerückt, dem Kind mit vielen Schritten mühsam einst erreichbar; dichter aber stand rings Gebüsch und Schatten, tiefer stiegen die Wurzeln zur Tiefe, höher trieben die Wipfel zur Höhe, es schien Veronika, als habe der Garten, was er für ihr erwachsenes Auge an Fläche verloren, nun in die Tiefe zugenommen, anschwellend gegen Erde und Himmel, wie er es tat.

Sie stand am See und sah auf sein dunkelglänzendes Wasser. Ihr Schatten durchschnitt es, schmal und gerade, an den Konturen verschwimmend aufgelöst. Ihr fiel die Handbewegung ihres Vaters ein, mit der er die gebeugte Linie seines Rückens im Sand von Funchal gezeichnet hatte. Wind und Regen würden sie wohl inzwischen verwaschen [95] haben. Veronika hob langsam die Arme, die Hände flach überm Kopf zusammengelegt wie ein Schwimmer, zum Sprunge sich anschickend. Aber es geschah nur um ihren Schatten wachsen zu sehen, sich strecken zu sehen, Besitz ergreifend, vordringend weit, mit seinem Ende kaum mehr recht erkennbar in einer dunklen verschwimmenden Ferne, unendlich damit für diese Stunde, für eine Stunde dieser Nacht.

Der nächste Morgen brachte die Begegnung mit Gianni, der Nachfolger des Großvaters in der Pflege des Gartens geworden war. Er war beschäftigt, die Erde eines Beetes umzuwerfen, hielt inne, als er Geräusch von Schritten vernahm, aus seiner gebückten Stellung sich aufrichtend, den einen Fuß noch auf die Kante seines Spatens gestemmt. So sah er Veronika an. Ihr schien, als überliefe ein Schein von Röte sein braunes Gesicht.

»Da bin ich wieder, Gianni,« sagte sie, lächelnd. Denn ihr fiel ein, daß es dieselben Worte waren, mit denen sie sich in der Nacht den Bäumen genähert hatte. Gianni lächelte auch, sein starkes und schimmerndes Gebiß entblößend. Aber es war nicht mehr jener Blick von Heiterkeit wie einst im Lächeln des Knaben. Veronika betrachtete nachdenklich sein Gesicht. Die Üppigkeit der Züge war aufgezehrt, die Haut schloß streng um einen kühn geformten Schädel. Daß er die Augen vor der Sonne zukniff, hatte sie tief mit einem Geäder von Fältchen umgeben. Zwei harte Linien zogen von der Nase zu den Mundwinkeln hinab. Er war kein Bruder jenes Fischers mehr mit seinem schmelzenden Lied.

»Wie sehr erwachsen Du nun bist,« sagte sie nach einer [96] Pause. Er lächelte wieder; mit Stolz wies er zur Seite. Im Schatten des Gesträuchs saß eine junge Frau, Kind noch in ihrem hübschen, argwöhnisch der Begegnung zugewendeten Gesicht; mit einer prallen Brust. Zwei kleine Kinder spielten ihr zur Seite und als sie unter Veronikas Blick sich dann erhob, wie wenn sich dieses Lager nun nicht länger für sie schickte, ward sichtbar ihr gesegneter, in einem schweren Gang dahingetragner Leib.


Der Sommer wuchs ins Unermeßliche. Es war Veronika, die seit jener Flucht die heiße Jahreszeit in einem gemäßigteren Klima zugebracht hatte, als lodere der Garten auf unter dem Hauch von Glut, den täglich neu der Himmel atmete. Von einer Flamme des Lebens ergriffen krümmte sich der Zweig, rollte sich Blatt um Blatt, blätterte auf: Blüte um Blüte erglühte, blendete, verging in Glanz. Nichts war, das dieser Flamme widerstand: der älteste Stumpf noch bot ihr Nahrung, brach auf und stand verklärt.

Gianni leistete eine gewaltige Arbeit. Wenn Veronika am Morgen in den Garten kam, der funkelnd lag unter der frühen Sonne, ganz übertaut von einem erquickenden Regen – Gianni hatte ihn aus einem mächtigen Schlauch versprüht. Abends sah sie den Strahl, wie er zum Himmel fuhr, zischend, als ob er verdampfe unter der Glut der Luft; dann fiel er schwer, in satten Tropfen trommelnd auf die gespannte Fläche der Blätter nieder oder zur Erde, die ihn aufsog mit einem gierigen Murmeln. Und Gianni schritt über ihren Boden hin, beladen mit dem [97] lebenspendenden Quell des Wassers, gleich einem bukolischen Gott, die süße Trunkenheit, den Büffelschlauch auf seiner Schulter tragend.

Hier und dort fand Veronika Erinnerungen an ihre Reisen wieder: hob fremd-bekannt in dieser Welt der Kindheit ein neues Gewächs sich empor, von seinem Standort einst entführt, in feuchtes Moos verpackt hierher gesandt (mit einer genauen Beschreibung seiner Lebensnotwendigkeiten versehen). Vieles mochte den Wechsel nicht überstanden haben, war eingegangen, zerfallen in dieser fremden, ihm tödlichen Erde; aber doch lebte genug, lebte üppig, gedieh und hatte durch Schößling und Samen sich schon als ein Volk für die Zukunft behauptet.

Denn wie die Erde so hatten ihre Geschöpfe jenen Befehl zur Fruchtbarkeit vernommen, der ihnen gebot, sich zu mehren. Veronika erinnerte sich in diesem Sommer der biblischen Worte. Nichts war in diesem Überfluß ringsum Geschenk, nichts zwecklose Schönheit, die es schien, untertan war alles allein jenem großen Gesetz. »Die Blüte ist das Geschlecht der Pflanze,« sagte Veronika vor sich hin – sie wußte nicht, ob der Satz einem Lehrbuch entstammte oder in ihr entstanden war, während sie ihn sprach, über den weißen, rosa geäderten Blütenbüschel eines Rhododendronstrauches gebeugt.

Geschlecht war ringsum aufgetan, in einer unermeßlichen Pracht. Gnädig war die Natur ihren Geschöpfen, hilfreich mit allem, was sie besaß. Sie gab dem Schoß der Blume das Weiß des Schnees, der über den unerforschlichen Gletschern des Himalaya lagert. Sie gab ihm die verblassende Röte des abendlichen Himmels, vor dem die [98] Sonne gesunken ist. Sie lieh ihm das nächtliche Blau, das zarte Violett eines grauenden Morgens. Sie schenkte ihm das verschwimmende Geäder eines von Wolken beschatteten Meeres. Sie erfand jede Form; jede Form des Geöffneten des zur Empfängnis Bereiten, Krug, Teller, Gefäß jeder Art bis zu der lippenbehüteten Höhlung des Mundes. Und sie erfüllte dieses Gefäß mit einem tausendfältigen Wohlgeruch: sie rief die unersättlich Trunkenen, rief Hummel, Biene und Schmetterling, daß mit der Sorge um ihre Nahrung sich Wollust und Befruchtung der Pflanze verknüpfe. Vergessen war Veronika jenes Getier, das einst, Entsetzen ihrer Kindheit, gemordet hatte, prassend und vergiftend. Beschwingt und anmutvoll sank hier des Schmetterlings geflügelte Blüte über die flügellose Schwester nieder. Zwischen wollüstig nach gebenden Lippen zwängte die Biene sich ins Blüten innere, ein goldener Pfeil des Kusses. Inmitten des weit und bebend sich breitenden Blütenkelches schwankte die Hummel, gelb und staubbeladen, zögernd aus der Umarmung entlassen. Wo sie versagten, Hummel, Biene und Schmetterling oder die tausendfach-anderen kleinen (und weniger begehrten) Vermittler, wo eine Pflanze blühte in unscheinbarer Farbe, klein und übersehen deshalb: war noch der Wind, dieser mit allen Düften geschwängerte, samenträchtige Atem, der über sie strich, und dem sie sich zitternd ergaben.

Veronika litt unter diesem Wind, zuweilen war ihr seine Schwüle unerträglich. Ihre Nächte waren ohne Schlaf oder von Träumen erfüllt, die sie gehetzt erwachen ließen. Meist waren sie ungreifbar, verloren mit der entschwundenen [99] Nacht; ein einziger blieb, kehrte zurück, viele Nächte hindurch, kam noch nach Jahren wieder, häufig, seltener dann, doch ohne je von seinem Grauen zu verlieren: Veronika lag festgebunden am Fuße einer steil und völlig eben ansteigenden Fläche Sandes, Wüstensandes vielleicht, denn er war von einem starken Gelb. Man hätte diese Fläche als Abhang eines Berges betrachten können, wäre sie nicht so völlig eben, nach beiden Seiten grenzenlos gewesen. Oben – aber sie stieg zu dieser Höhe hunderte von Metern an – schloß sie, dem Scheitel einer Straße ähnlich, gerade gegen den Himmel ab. Und dort erschien, ein winziger Punkt erst, anwachsend dann gigantenhaft mit der Bewegung, langsam zunächst, durch die Bewegung dann ins Rasende gesteigert, erschien ein zylindrischer Körper, eine ungeheure steinerne Walze. Veronika erinnerte sich solcher Walzen, wie sie langsam und knirschend über frisch beschotterte Straßen stampften.

Die Walze hier war ungeheuer groß – aber nur ihrem Durchmesser nach; die Breite betrug nicht mehr als etwa die Länge von Veronikas Körper – Möglichkeit genug, auf dieser weiten Fläche an ihm vorbei zu rasen, links oder rechts – Veronika bewegte qualvoll den Kopf, der unentrinnbar festgehalten war wie ihre Glieder. Aber die Walze raste mit einer sekündlich sich steigenden Schnelligkeit auf sie zu – ihre Richtung war unverkennbar, nicht rechts, nicht links, Mitte war sie, entsetzliche, zermalmende Mitte. »Ich will...« dachte Veronika. »Was will ich?« Aber sie fand es nicht, ihre Glieder erstarrten, Schweiß umgab sie, ein eisiges Gewässer. Der Schatten, [100] den die Walze vor sich her schoß, fiel über sie. Sie fühlte: »Jetzt...«

Nichts war geschehen. Die steinere Lawine hatte sich gehoben, nicht viel, soweit nur, daß sie den erstarrten Körper nicht berührte. Sie hatte einen kleinen Sprung gemacht, einem unerklärlichen Anstoß folgend – ein Wunder, dachte Veronika, welch ein Wunder, ich lebe! Und sie versuchte den Kopf zu heben. Aber dort, wo die steil ansteigende Ebene, dem Scheitel einer Straße ähnlich, vor dem Himmel stand, erschien ein winziger Punkt, anwachsend dann gigantenhaft mit der Bewegung; langsam zunächst, durch die Bewegung dann ins Rasende gesteigert, erschien ein zylinderischer Körper, eine ungeheure steinerne Walze...

Veronika erlitt in dieser Nacht an hundert Male vergeblich den gleichen, niemals tödlichen Tod. Sie fühlte die Angst in ihren Haaren aufsteigen, die steif wurden wie Röhren. Ihr schien, als ob sie, sich auflösend, durch diese Röhren sich verströme und als ob gleichzeitig ein Fremdes in sie eindringe, wechselströmend. Sie stöhnte. Sie war sich fremd, sie hatte alle Herrschaft über sich selbst verloren. Sie dachte, in Bruchstücken zwischen Entsetzen, Tod und neuem Entsetzen: »es ist nichts. Es ist eine Folter. Ich schäme mich meiner Angst. Wie oft habe ich nun erlebt, daß ich lebe?« Aber sie war ohnmächtig gegen die Angst: sie erstarrte von neuem im Grauen. Sie dachte: diese Schande der Hoffnung – aber sie war ohnmächtig gegen den erlösten Schrei ihres Körpers in jenem einzigen Augenblick zwischen Rettung und neuer Gefahr. Sie sagte: »ich will nicht mehr« und schloß die Augen. [101] Aber die ungeheure Macht, die sie hielt, sie wehrlos machte gegen sich selbst, hob ihr die Lider empor. Der Morgen fand sie, schweißgebadet, erschöpft von einer ungeheuern Anstrengung und wie versteint in der Erinnerung.

Etwas Beschämendes war mit dieser Erinnerung verknüpft. Veronika lehnte sich dagegen auf, indem sie keinerlei Rücksicht auf ihren ermatteten Körper nahm. Sie zwang ihn zur Arbeit, härterer Arbeit, als er zu leisten gewöhnt war. Sie besprach mit Gianni die Tagesarbeit; ein täglich wachsendes Maß. Sie nahm sich dessen an, was Gianni nicht bewältigt hatte; in langsam härter werdenden Händen führte sie Hacke und Spaten.

Den Vater hielt vom Tag der Rückkehr an, Erinnerung befangen, wie der erneute Ausbruch einer lange schleichenden Krankheit. Er begrüßte sie mit Genugtuung, wie etwas, darauf er unfreiwillig Verzicht geleistet hatte. Er schloß sich in seinem Zimmer ein; Veronika traf ihn mit Regelmäßigkeit nur bei den Mahlzeiten. Ihm gegenübersitzend beobachtete sie, wie die Lehne seines Stuhles ihm überm Kopf emporwuchs – um Millimeterbreite von Tag zu Tag. Einmal – in einer Zeit von absehbarer Länge – würde man sie bis auf den Sitz hinunter sehen können. Niemand war dann noch da, auf diesem Stuhl zu sitzen. Veronika senkte den Kopf. Ein Schluchzen in der Kehle hob ihn wieder empor. Eine Träne fiel in den Suppenteller hinab.

»Die Suppe ist genügend gesalzen, Veronika,« sagte der Vater mit einem Lächeln, obgleich er erschrocken war. Er richtete sich auf; die hohe Lehne verschwand noch einmal [102] hinter seinem Kopf. Er sah ihr junges, von Kummer mattes Gesicht mit bläulichen Schatten um Nase und Mund; nie hatte er so wie in diesem Augenblick es sich verwandt gefühlt, er sah es an wie einen Spiegel: die hohe Wölbung der Stirn, die seine war, die gleiche Schläfe, dort wie hier das Gesicht verschmälernd und in die Tiefe zusammendrängend, Nase und Schnitt der Augen, die Linie des Mundes – dies alles bin ich, dachte er. Ein Teil von mir, fortwachsend in die Zeit, in der ich nicht mehr bin.

Von diesem Tage an gewann er noch einmal die Haltung seiner guten und glücklichen Jahre. Briefe gingen hinaus und riefen Gäste. Sie kamen und brachten Lärm und Geräusch, Bewegung und spurloses Entgleiten gefüllter und dennoch leerer Tage. Auf der Terrasse, die in den Garten hinaustrat, hingen am Abend Lampions wie leuchtende Blüten; schwebte Mozarts nächtliche Serenade und wiegte schluchzend das Saxophon Tanzende in einem zerstörten Rhythmus. Veronika schritt unter ihnen, das braune Gesicht nach oben gewendet, die Lider geschlossen. »Musik,« dachte sie, »Nackte Musik, uranfänglicher Laut, Seufzer der Erde. Dies hier sind Katzen, als Kind rief Gianni mich so. Nun ist es der Chor der Frösche unten am See; Monotonie unaufhörlich sich weiter zeugend. Dies ist der Föhn, der stöhnt – oder war ich es, die stöhnte? Es ist schön, zu stöhnen: Es ist schön, da zu sein. Alles ist da. Alles ist grenzenlos. – Du weißt doch,« denkt sie und spricht den Körper an, dessen Arm sie umschlungen hält. »Das ist jetzt eine Welle, eine weiche Welle, Du kennst sie vom Schwimmen. Mein Haar [103] ist genau so weich,« und sie biegt ihren Kopf seitwärts zu seinem Arm. Die Musik hat sich auf einen Weg des Grauens gewandt. »Dies ist die Angst,« denkt Veronika. »Dies ist unser aller Angst. Ich sah eine kleine weiße Maus von einer Schlange gefressen werden. Ich habe mich oft gefürchtet. Alle Geschöpfe fürchten sich. Nun sind wir gerettet. Du weißt, es schluchzt dann so tief in der Kehle.«

Der fremde Körper antwortete ihr. »Ja,« sagt er, »alles, alles. Wir haben es oft erlebt. Es gibt keine Geheimnisse zwischen uns. Wir wollen keine Geheimnisse zwischen uns haben.« Und er atmet Veronikas Atem entgegen.

Dann setzt die Musik ab. Die Paare lösen sich von einander. Veronika streicht sich das Haar aus der erhitzten Stirn. Sie sieht ihren Partner an, der sich verneigt. Er ist erst am Morgen angekommen – sie hat noch kaum drei Worte mit ihm gesprochen. Er hat ein leeres Gesicht, das sie sich vorzustellen vergeblich bemüht ist, während sie das geeiste Getränk durstig durch ihre Kehle rinnen läßt.


Am Vormittag begegnen im Garten sich Paare, heben lächelnd Hände zum Gruß und gehen zwischen Blumen und Bäumen aneinander vorüber. Veronika, auf einem zögernden Weg zu Gianni, den sie seit Tagen nicht gesehen hatte, begegnete einmal dem jungen Professor der Philosophie, der mit einem unentschlossenen Gesicht sie erwartet zu haben schien. Sie gingen miteinander weiter – Veronika bog den Weg weit ab von jener Seite, wo sie Gianni vermutete. Der junge Professor suchte nach einem Gespräch. Es war nicht sehr einfach für ihn, so sehr [104] das Wort zu seiner Verfügung stand. Sie sahen sich an. Veronika trug wieder ein weißes Kleid, matter schimmernd als das des Abends, wo er, abseits, von einem Oleander halb verdeckt, sie angesehen hatte. Es lag eine große und kindliche Bewunderung in seinem Blick. Veronika nahm ihn auf. »Es ist ein guter Mensch,« dachte sie zusammenhanglos und sagte: »Sie haben nicht getanzt, gestern abend -«

Er verneinte. Er tanze diese modernen Tänze nicht. Es sei kein Werturteil. Er verstehe sie nicht. Und er sprach von seiner Liebe für die alte Musik; die dann mit Bach zuletzt in einem reinsten und höchsten Gipfel ausklinge. Sein etwas zartes Gesicht entzündete sich. »Zuviel Persönliches im Größten, das später kam. Was ist der Mensch?« Er zuckte die Achseln. »Gefäß der Erkenntnis, göttlich begabt, da er das Gesetz der Zahl, das Gesetz der Harmonie in sich aufzunehmen gewürdigt war.« »Auch die Systeme, gewiß, wenngleich schon eine Ordnung geringerer Art, schwebend nicht wie Musik oder Mathematik, ein Gebäude irdischen Maßes, durch die Logik gefügt. Aber ein Tempel doch immerhin.« So sprach er denn also von seinem Beruf. Veronika unterdrückte ein leichtes Erstaunen. Er sprach lebhaft, beinahe heftig. Es schien, als verteidige er irgend etwas, als fühle er sich angegriffen von etwas Gegensätzlichem, während er die (Lücke in der Handschrift)


Die Blicke, die Veronika trafen, waren nun zuweilen mit einem geheimen Vorwurf beladen. Veronika spürte eine Anwandlung von Übermut. Sie standen eben vor einem [105] Pfirsichspalier; ein Pfirsich, verführerisch wie Evas Apfel, hing ihr zur Hand. Veronika brach ihn ab. »Hier ist Gianni nicht nachgekommen,« dachte sie belustigt, »nun haben wir auch die Schlange schon auf dem Hals.« Denn eine üppige Winde hielt mit ihren dichten Ranken den Pfirsichstamm umwunden; ihre große, einem grünen und spitzen Vipernkopf ähnelnde Knospe schwankte im Lufthauch. Veronika wollte den Pfirsich eben mit einem Scherzwort ihrem Begleiter reichen, da sah sie in sein entrücktes Gesicht. Er hatte nichts von ihrem Stehenbleiben bemerkt, das Geflüster der Schlange war seinem Ohr verrauscht. Sein Blick enthielt keinen Vorwurf mehr. »Nun ist er wieder zuhause,« dachte Veronika. Sie ließ die Hand mit dem Pfirsich sinken. Sie gingen zu rück. In den nächsten Tagen wartete der Professor vergebens. Veronika ging mit dem jungen Mann spazieren, mit dem sie am Abend seiner Ankunft getanzt hatte; er hatte ein leeres Gesicht, das sie vergeblich sich vorzustellen bemüht war, sobald sie ihn verabschiedet hatte. Sie ging solange mit ihm spazieren, bis der Professor abreiste; er hatte wieder ein vorwurfsvolles, im Augenblick des Abschieds sogar unglückliches Gesicht. »Der gerettete Adam« hatte Veronika ihn bei sich benannt – aber dann war ihrer Meinung nach genug getan. Und sie blieb unsichtbar solange, bis der junge und hoffnungsvolle Kavalier vom Tag begriffen hatte, daß sein Tag zu Ende war.

Nach einem Jahr las sie in Zeitschriften und Zeitungen ein Buch angezeigt; der junge Professor hatte einen ungeheuren Erfolg. Dann sah sie nocheinmal sein Bild, mit dem eines jungen Mädchens zusammen, das seine Braut [106] war. Veronika betrachtete lange das Gesicht, ein kindlich weiches und sich bescheidendes Gesicht; sie fand, daß alles gut in Ordnung war.

Ein Jahr, das nächste und andere gingen ihr hin. Einmal war unter den Gästen des Sommers einer, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Gianni hatte; er war Südländer, tief gebräunt, sein schwarzes glänzendes Haar war stark gewellt, seine Gestalt geschmeidig, schmal wie ein Pfeil. Sein Gesicht üppig und kühn zugleich – »wie schön,« dachte Veronika, als sie es sah. Etwas störte dann, wie sie es aufmerksamer betrachtete, irgendwo blieben Gegensätze, unausgeglichen, aber es gelang ihr nicht sie zu nennen. Schließlich vergaß sie es auch, darüber nachzudenken.


(Ende der Handschrift)

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TextGrid Repository (2012). Weissmann, Maria Luise. Erzählungen. Gartennovelle. Gartennovelle. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-9C15-9