[143] Dem Allgegenwärtigen

Da du mit dem Tode gerungen, mit dem Tode,
Heftiger du gebetet hattest,
Da dein Schweiss und dein Blut
Auf die Erde geronnen war;
In dieser ernsten Stunde
Thatest du jene grosse Wahrheit kund,
Die Wahrheit seyn wird
So lang die Hülle der ewigen Seele Staub ist.
Du standest, und sprachst
Zu den Schlafenden:
Willig ist eure Seele,
Aber das Fleisch ist schwach!
Dieser Endlichkeit Loos, die Schwere der Erde
Fühlet auch meine Seele,
Wenn sie zu Gott, zu dem Unendlichen
Sich erheben will.
[144]
Anbetend, Vater, sink‘ ich in den Staub, und fleh,
Vernim mein Flehn, die Stimme des Endlichen,
Gieb meiner Seel' ihr wahres Leben,
Dass sie zu dir sich, zu dir erhebe!
Allgegenwärtig, Vater,
Schliessest du mich ein!
Steh hier, Betrachtung, still, und forsche
Diesem Gedanken der Wonne nach.
Was wird das Anschaun seyn, wenn der Gedank‘ an dich,
Allgegenwärtiger! schon Kräfte jener Welt hat!
Was wird es seyn dein Anschaun,
Unendlicher! o du Unendlicher!
Das sah kein Auge, das hörte kein Ohr,
Das kam in keines Herz, wie sehr es auch rang,
Wie es auch nach Gott, nach Gott,
Nach dem Unendlichen dürstete;
Kam es doch in keines Menschen Herz,
Nicht in das Herz dess, welcher Sünder
Und Erd', und bald ein Todter ist,
Was denen Gott, die ihn lieben, bereitet hat.
[145]
Wenige nur, ach wenige sind,
Deren Aug‘ in der Schöpfung
Den Schöpfer sieht! wenige, deren Ohr
Ihn in dem mächtigen Rauschen des Sturmwinds hört,
Im Donner, der rollt, oder im lispelnden Bache,
Unerschafner! dich vernimt,
Weniger Herzen erfüllt, mit Ehrfurcht und Schauer,
Gottes Allgegenwart!
Lass mich im Heiligthume
Dich, Allgegenwärtiger,
Stets suchen, und finden! und ist
Er mir entflohn, dieser Gedanke der Ewigkeit;
Lass mich ihn tiefanbetend
Von den Chören der Seraphim,
Ihn, mit lauten Thränen der Freude,
Herunter rufen!
Damit ich, dich zu schaun,
Mich bereite, mich weihe,
Dich zu schaun
In dem Allerheiligsten!
[146]
Ich hebe mein Aug‘ auf, und seh,
Und siehe, der Herr ist überall!
Erd', aus deren Staube
Der erste der Menschen geschaffen ward;
Auf der ich mein erstes Leben lebe,
In der ich verwesen werde,
Und auferstehen aus der!
Gott würdigt auch dich, dir gegenwärtig zu seyn.
Mit heiligem Schauer,
Brech‘ ich die Blum‘ ab;
Gott machte sie,
Gott ist, wo die Blum‘ ist.
Mit heiligem Schauer, fühl‘ ich der Lüfte Wehn,
Hör' ich ihr Rauschen! es hiess sie wehn und rauschen
Der Ewige! Der Ewige
Ist, wo sie säuseln, und wo der Donnersturm die Ceder stürzt.
Freue dich deines Todes, o Leib!
Wo du verwesen wirst,
Wird Er seyn,
Der Ewige!
[147]
Freue dich deines Todes, o Leib! in den Tiefen der Schöpfung,
In den Höhn der Schöpfung, wird deine Trümmer verwehn!
Auch, dort, verwester, verstäubter, wird Er seyn,
Der Ewige!
Die Höhen werden sich bücken!
Die Tiefen sich bücken,
Wenn der Allgegenwärtige nun
Wieder aus Staub‘ Unsterbliche schaft.
Werfet die Palmen, Vollendete! nieder, und die Kronen!
Halleluja dem Schaffenden,
Dem Tödtenden Halleluja!
Halleluja dem Schaffenden!
Ich hebe mein Aug‘ auf, und seh,
Und siehe der Herr ist überall!
Sonnen, euch, und o Erden, euch Monde der Erden,
Erfüllet, rings um mich, des Unendlichen Gegenwart!
[148]
Nacht der Welten, wie wir in dem dunkeln Worte schaun
Den, der ewig ist!
So schaun wir in dir, geheimnissvolle Nacht,
Den, der ewig ist!
Hier steh ich Erde! was ist mein Leib,
Gegen diese selbst den Engeln unzählbare Welten,
Was sind diese selbst den Engeln unzählbare Welten,
Gegen meine Seele!
Ihr, der unsterblichen, ihr, der erlösten
Bist du näher als den Welten!
Denn sie denken, sie fühlen
Deine Gegenwart nicht.
Mit stillem Ernste dank' ich dir,
Wenn ich sie denke!
Mit Freudenthränen, mit namloser Wonne,
Dank' ich, o Vater! dir, wenn ich sie fühle!
Augenblicke deiner Erbarmungen,
O Vater, sinds, wenn du das himmelvolle Gefühl
Deiner Allgegenwart
Mir in die Seele strömst.
[149]
Ein solcher Augenblick,
Allgegenwärtiger,
Ist ein Jahrhundert
Voll Seligkeit!
Meine Seele dürstet!
Wie nach der Auferstehung verdorrtes Gebein,
So dürstet meine Seele
Nach diesen Augenblicken deiner Erbarmungen!
Ich liege vor dir auf meinem Angesicht;
O läg' ich, Vater, noch tiefer vor dir,
Gebückt in dem Staube
Der untersten der Welten!
Du denkst, du empfindest,
O du, die seyn wird,
Die höher denken,
Die seliger wird empfinden!
O die du anschaun wirst!
Durch wen, o meine Seele?
Durch den, unsterbliche,
Der war! und der ist! und der seyn wird!
[150]
Du, den Worte nicht nennen,
Deine noch ungeschaute Gegenwart
Erleucht', und erhebe jeden meiner Gedanken!
Leit ihn, Unerschafner, zu dir!
Deiner Gottheit Gegenwart
Entflamm', und beflügle
Jede meiner Empfindungen!
Leite sie, Unerschafner, zu dir!
Wer bin ich, o Erster!
Und wer bist du!
Stärke, kräftige, gründe mich,
Dass ich auf ewig dein sey!
Ohn' ihn, der mich gelehrt, sich geopfert hat
Für mich, könt' ich nicht dein seyn!
Ohn' ihn wär der Gedanke deiner Gegenwart
Grauen mir vor dem allmächtigen Unbekanten!
Erd' und Himmel vergehn;
Deine Verheissungen, Göttlicher, nicht!
Von dem ersten Gefallenen an
Bis zu dem letzten Erlösten,
[151]
Den die Posaune der Auferstehung
Wandeln wird,
Bist bey den Deinen du gewesen!
Wirst du bey den Deinen seyn!
In die Wunden deiner Hände legt' ich meine Finger nicht;
In die Wunde deiner Seite
Legt' ich meine Hand nicht;
Aber du bist mein Herr, und mein Gott!

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TextGrid Repository (2012). Klopstock, Friedrich Gottlieb. Gedichte. Oden. Erster Band. Dem Allgegenwärtigen. Dem Allgegenwärtigen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-B341-F