[184] Arzt und Pferd

O armer Arzt! o armes Pferd!
Ihr fühlet gleiche Wehen.
Bis an den Tod sollt ihr beschwert
Allzeit im Trabe gehen.
Doch Pferd! dich läßt man früher ruhn,
Dich sticht man gnädig nieder,
Der Arzt doch soll noch sterbend tun,
Als hab' er leichte Glieder.
Es klopfet noch an seiner Tür,
Liegt er im Todeskampfe,
Und ruft: »Herr Doktor! kommt mit mir,
Mein Weib fiel um im Krampfe.«
Ein banger Traum gellt ihm ins Ohr:
Ja! auf! mach' deine Runden!
Ein jüngerer kommt dir zuvor
Und raubt dir deine Kunden!
Er spricht: »Stellt mich ans Fenster hin,
Daß sie von unten sehen,
Daß ich noch nicht gestorben bin
Und kann noch etwas stehen!«
Sein Angesicht wird lang und bleich. –
Ans Fenster hingetragen,
Ruft er hinaus: »Geduldet euch!
Ich komm' in wenig Tagen!«
Tot sinkt er in des Weibes Arm;
Ein Herrlein sieht man kommen:
»Ich bin der neue Arzt, den warm
Die Bürger aufgenommen!«
O Arzt! noch ärmer als dein Pferd,
Kommst wieder du zur Erden,
Fleh', daß du möchtest umgekehrt
Statt Arzt ein Pferd doch werden.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Kerner, Justinus. Arzt und Pferd. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-A5CD-A