[41] Die Grazien

Als an einem Frühlingsabende sich die drey Grazien neben einem Walde in acidalischen Quellen belustigten, verlohr sich plötzlich Aglaja, die schönste der Grazien. Wie erschracken die Töchter der Anmuth, als sie Aglajen vermißten! Wie liefen sie durch die Bäume und suchten und riefen!


So ängstlich bebt auf Cremonesersaiten
Der zärtste Silberton.
Aglaja! – rief der Silberton.
Aglaja! – half der Nachhall sanft verbreiten.
Umsonst, Aglaja war entflohn.
»Ach, Pan schlich längst ihr nach! der Frevler hat sie schon!
Ach, Acidalia! blick her von deinem Thron!
Soll sie nach langen Ewigkeiten
Nur itzt nicht länger uns begleiten?
Zwo Grazien sind aller Welt zum Hohn,
Und ach! die dritte hat er schon! –«
So klagten sie. Umsonst! Aglaja war entflohn.

Nun schlichen sie an den Büschen herum, und[42] schlugen leise an die Blätter, und flohen nach jedem Schlage furchtsam zurück.


Denn stellten sie sich gleich, den Räuber auszuspähen,
So zitterten sie doch für Furcht, ihn nur zu sehen.

Endlich kamen sie an ein Rosengebüsche, das meine Chloe versteckte – und mich. Chloe saß vor mir, ich hinter Chloen.


Itzt bog ich schlau an ihrem Hals mich langsam über,
Und stahl ihr schnell ein Mäulchen ab;
Itzt bog sie unvermerkt den Hals zu mir herüber,
Und jedes nahm den Kuß auf halben Weg sich ab,
Den jedes nahm und jedes gab.

In diesem Spiele überraschten uns die Grazien, und sie lachten laut, da sie uns küssen sahen, und hüpften fröhlich zu uns herbey. Da ist Aglaja! – riefen sie. Die Schalkhafte! – Du küssest, da wir unruhig herumirren, und dich nicht finden können? – Und itzt liefen sie mit meiner Chloe davon.


Was! rief ich, lose Räuberinnen!
Wie sollte sie Aglaja seyn?
[43]
Ihr irrt euch sehr, ihr Huldgöttinnen!
Für Grazien ist das nicht fein!
Gebt Chloen mir zurück! Betrogne, sie ist mein!

Doch die Grazien hörten mich nicht, und liefen mit meiner Chloe davon. Zornig wollte ich ihnen nacheilen, als plötzlich Aglaja hinter einer Buche hervortrat, und mir winkte, und freundlich lächelnd also zu mir sprach:


Warum willst du zu Chloen eilen?
Beglückter Sterblicher, Aglaja liebet dich.
Küß itzt einmal statt Chloen mich;
Wünsch nicht dein Mädchen zu ereilen:
Ich, eine Göttinn, liebe dich.

Schüchtern sah ich die Huldgöttinn an.

Auf ihren Wangen sprach Entzücken,
Und Jugend und Gefühl aus den verschämten Blicken.

Gefährliche Reizungen! – Aber mit dreister Hand ergriff ich die Huldgöttinn, führte sie zu ihren Schwestern, und sprach: Hier ist Aglaja, ihr Grazien. –


O Chloe, meine Lust, mein Glück! –
Gebt meine Chloe mir zurück!
Ist dieß Aglajens Mund und Blick?
Da! nehmt die Huldgöttinn zurück.

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TextGrid Repository (2012). Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von. Gedichte. Tändeleyen. Tändeleyen. Die Grazien. Die Grazien. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-D4C7-C