Georg Forster
Anrede an die Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit

am Neujahrstage 1793

[611] Mitbürger, Brüder, Freunde der Freiheit
und Gleichheit!

Die willkührlichen Zeitabschnitte des Kalenders sind Erfindungen des menschlichen Geistes, die blos auf seine beschränkte Art zu sein und zu empfinden eine Beziehung haben; an und für sich sind sie nichts; das Jahr, die Umlaufszeit der Erde um die Sonne, könnte eben sowohl vom 20. März, oder von jedem andern Tage, und bei uns freien Republikanern, vom Geburtstage der Republik, vom 10. August anfangen. Allein eben das gleichgiltige dieser Abtheilungen erlaubt es uns auch, hier dem Geseze der Gewohnheit zu folgen und so wie sich alle Völker Europens bequemt haben, die neue Zeitrechnung des verbesserten Kalenders anzunehmen, jezt bei der Eintheilungsart desselben, weil sie gerade den allgemeinen Gebrauch für sich hat, stehen zu bleiben. – Der frohen Tage in dieser trüben, kalten, kargen Jahrszeit sind so viele nicht, daß wir nicht mit Dank die Gelegenheit wahrnehmen sollten, sie durch Beobachtung des heitern Neujahrsfestes zu vermehren. – Am Neujahrstage scheint es uns, als giengen wir aus einem alten Leben in ein neues über; er ist uns ein Vorbild einer noch größern Veränderung; der alte Kreis ist geschlossen, ein neuer beginnt; die Leiden und Freuden des verflossenen Jahres sind überstanden, ein dunkles Gefühl von Erwartungen und Hofnungen füllt unsere Brust mit neuer Spannkraft; stärker, muthiger, ausdaurender stehen wir als rüstige Wettläufer da, am Anfange einer neuen Bahn, da wir gestern noch lechzend, ermattet, hinsinkend und erschöpft das Ziel der alten erreichten. Wir eilen der wärmern Sonne den längeren Tagen, dem blühenden Frühlinge, der grünen Saat entgegen, wir blicken freudiger in eine Zukunft, die uns das unwandelbare Gesez der Natur verspricht, wir harren mit Zuversicht der Wiederkehr jenes alljährlichen Wunders, womit die fruchtbare Erde ihre Bewohner nährt und beglückt, jener nie ausbleibenden Kraft, die den Halm emportreibt und die goldenen Ähren reift. – Diese frohen Betrachtungen, diese heitern Gefühle heiligten von jeher den Neujahrstag; er war unsern Vätern ein Tag des Genusses und ins besondere die Franken hielten ihn so ganz der reinen Freude gewidmet, daß sie jeden Mißton, und alle unfreundliche Gedanken von dem [611] selben zu verbannen suchten. Der Neujahrstag war ihnen und ist ihnen noch ein Tag der Versöhnung; in Familien, wo Unwillen, Zwietracht und Haß geherrscht hatten, erlosch das Andenken an alle vergangene Streitigkeiten; erlosch jede Regung von feindseliger Leidenschaft, erglühte dafür die schöne spielende Flamme der brüderlichen Eintracht, und schlug in ihrem heiligen Tempel, im Busen des Menschen, hoch empor!

Wir auch, meine Brüder, auch wir wollen diesen Tag nach alter Frankensitte begehen. Zwar erschallte hier noch nie die Stimme der Furie Zwietracht; zwar entgiengen wir bis jezt noch ihrem Geisselhiebe; allein wir waren auch nur ein kleines Häuflein, an welchem der große Haufe unserer Mitbürger, wohl nur mit einem ahndungsvollen Schauer vorüber gieng; wir fühlten also unwillkührlich, daß brüderliche Eintracht unsere einzige Stärke sei. Dennoch erlebten wir schon Augenblicke der Trennung; schwache Brüder, oder auch falsche Brüder, wandten uns den Rücken, sobald nur von fern eine Gefahr sich blicken ließ, entzogen sich unsern Versammlungen, strichen ihre Namen aus unserm Buche, und hoften durch ihr verführerisches Beispiel der Gesellschaft den Todesstoß der Auflösung zu versetzen. Muß ich nicht auch hinzufügen, Männer von allzu reizbarer Seele, von allzu empfindlichem Charakter, die sich an den freimüthigen, oft rauhen Widerspruch des Republikaners hier nicht gewöhnen konnten, fühlten sich zuweilen beleidigt, wenn ihre Meinung, sei es, daß sie wirklich die unrechte war, oder daß sie ihre Gründe dafür nicht gehörig aus einander sezten, oder daß ihre Bescheidenheit der Dreistigkeit anderer wich, die Oberhand nicht behaupten konnte. Auch diese, dem republikanischen Geiste nicht entsprechende Empfindlichkeit entzog uns schon die Mitwirkung manches sonst gutgesinnten Freundes.

Wenn aber auch die Vergangenheit für uns in unsern neuen Verhältnissen ziemlich friedsam verfloß, so lasset uns, meine Brüder, nicht uns selbst über die Zukunft täuschen, nicht mit leeren Hofnungen uns wiegen, und aus Mangel an kluger Vorausberechnung wahrscheinlicher Eräugnisse, unvermuthet durch eine erschütternde Wirklichkeit überrascht werden. Es giebt in jedem neuen Staate, der aus der Knechtschaft wiedergeboren, zur Freiheit übergeht, unvermeidliche Collisionen [612] des Eigennutzes, welche um so weniger dem allgemeinen Wohl nachstehen wollen, als die unlautern Triebfedern streitender Faktionen nicht immer verdeckt werden können, und die strenge Moralität des Republikaners in ihrer erhabenen Größe erst von der künftigen Generation zu hoffen sein wird. Oft sind auch die Gründe auf beiden Seiten so verwickelt, oft ist über die Nothwendigkeit dieser oder jener Maasregel so schwer zu entscheiden, oft wankt das Urtheil selbst des scharfsinnigen Denkers so lange zwischen entgegen gesezten Meinungen, indessen der heftige und vielleicht nicht so weit sehende Mann sich rasch auf eine Seite schlägt, an die Spitze der Partei stellt, und mit leidenschaftlicher Erbitterung die Stimme der Vernunft übertäubt, – daß bei einigem Widerstande der Gegenpartei, eine gefährliche Scheidung nicht vermeidlich ist.

Brüder! Ihr saht schon oft die große Versammlung der Stellvertreter des Frankenvolks in Factionen und Parteien getheilt; Ihr saht die Gesellschaften der Konstitutionsfreunde sich trennen, und die Partei der Feuillants sich aus ihrem Schoos entfernen; Ihr seht noch jezt, zwischen Brissot und Robespierre, zwischen Roland und Egalite die Schale schweben, und das Ungewitter selbst die Häupter unserer Brüder, theils positiv, theils negativ elektrisiren. Freilich wuchsen auch nach dem Verluste ihrer meisten Mitglieder, die ihren Grundsätzen getreu gebliebenen Gesellschaften bald wieder zu ihrer vorigen Stärke heran; freilich gereichten diese harten Prüfungen und Läuterungen nur dazu, ihre Standhaftigkeit, ihren Muth, ihre Aufopferung, ihre Vaterlandsliebe desto heller hervorleuchten zu lassen; freilich können wir uns vorhersagen, daß die Sache der Vernunft, daß Wahrheit und Freiheit endlich doch den Sieg behalten müssen. Allein wohl uns, wenn wir schon jezt dem möglichen Übel entgegen arbeiten, und uns wechselseitig ermuntern, ihm in dem undurchdringlichen Harnisch der Gesellschaft, im festen Beharren auf Freiheit und Gleichheit, auf den unverjährbaren Rechten unserer Natur, auf dem Glücke der ganzen großen Menschenrepublik, entgegen zu gehen. Wohl uns, m. Br. wenn wir uns am Neujahrstage das Wort geben, nicht nur jede kleine Animosität der Vergangenheit zu vergessen, sondern auch über [613] die Erhaltung der Eintracht unter uns in Zukunft mit Anstrengung aller Kräfte zu wachen! Wohl uns, wenn wir von heute an, einer in des andern Armen, unsern großen Beruf, zu wirken für unserer Mitbürger Glück, sie zur Freiheit anzurufen und von ihren Segnungen zu belehren, mit neuer Begeisterung auf uns nehmen, und den erhabenen Werth eines Menschenlehrers in seinem ganzen Umfange empfinden!

Werfet jezt, meine Brüder, einen flüchtigen Blick auf die Vergangenheit, und zählt die frohen Stunden, die wir seit dem unvergeßlichen 22sten October in unserm Freiheitstempel verlebten. Es ist erfreulich, die Fortschritte des Gemeingeistes zu bemerken, die, unter tausend, einem Mainzer allein bekannten Hindernissen, Schwierigkeiten, und Gegenbemühungen, auch in unserm Lande seit jenem Tage der Befreiung geschehen sind. In den Jahrbüchern unserer Gesellschaft wird es ewig zu unserm Ruhm angezeichnet stehen, daß die Beredsamkeit unserer Brüder die entschiedene Willensmeinung des Landbewohners für die Freiheit und die Vereinigung mit der Fr. Republik hervorgerufen und das Schicksal unserer Nachkommen zu ihrem unnennbaren Glück entschieden hat. Die Nachwelt wird es nicht vergessen, daß unsere Brüder zuerst die Denkmäler der Tyrannei eines barbarischen Zeitalters stürzten, zuerst unser tief gedemüthigtes Volk gewöhnten, das Haupt empor zu heben, und sich als Menschen und Freigewordene zu fühlen. Tausend und abermal tausend Begriffe, die hier ventilirt, durch vielfältige Untersuchung, Erörterung, Betrachtung, endlich der Einsicht Aller klar und faßlich hingelegt worden sind, und jezt in den Köpfen unserer Mitbürger Stoff zum Nachdenken geben, und Spinnweben des Vorurtheils aufräumen, zeugen von dem Nutzen, den Volksgesellschaften überall stiften können, und insbesondere von den zweckmäßigen und nicht fruchtlosen Bemühungen der unsrigen. Endlich unser Briefwechsel mit andern Gesellschaften, in Frankreich, Savoyen, Brabant, wie gattet er nicht das Schicksal unserer Stadt und unsers Landes mit dem Schicksale dieser freien Staaten, wie befestigt er nicht alle unsere Aussichten, wie manches kann er nicht beitragen, um uns nachdrücklichen Schutz zu erwirken, schleunigere Hülfe zu [614] verschaffen, und durch weise Vorkehrungen vor feindlichen Angriffen sogar sicher zu stellen.

Scheint es, meine Brüder, als wollte ich unsern Panegyrikus schreiben? O so will ich eilends einlenken und Euch nachdruckvoll erinnern, daß trotz diesem schönen Anfange, noch so gut als nichts von uns geschehen sei, und indem ich Euren Blick auf die Zukunft lenke, zeigen, welche ganz andere Anstrengungen unsere Mitbürger, die uns beobachten, Deutschland, das jedem unserer Schritte nachspürt, die Welt, die uns richten wird, von uns verlangen.

In einem neugebohrnen Freistaate ist eine Gesellschaft, die nach unsern Grundsätzen arbeitet, unentbehrlich, und zu keiner Zeit war das Salz, die Würze oder der Gährungsstoff, nennen wirs mit welchem Gleichniß wir wollen, unserm Vaterlande unentbehrlicher, als jezt. Die erhabene Versammlung der Stellvertreter Frankreichs hat die Einwohner dieses Landes aufgefodert, sich in Ur- und Wahlversammlungen als freie Menschen zu organisiren, und nicht länger anzustehen, sich in Besitz der Rechte, die ihnen gebühren, zu setzen. Dies, meine Brüder, ist also der wichtigste Zeitpunkt, wo auf unserm Rathe, unserer Belehrung, unserm Beispiele vielleicht das Heil des ganzen Staates beruht. Ihr kennt den Grad künstlicher Erschlaffung, den das lange getragene Joch der Unwissenheit und der Sklaverei nothwendig hat hervorbringen müssen; Ihr wißt, wie schwer es dem guten, redlichen Landmanne insbesondere werden wird, eine neue Einrichtung, sei sie auch noch so einfach, zu fassen und zu befolgen. Wie viel Gutes könnten nicht die Freunde der Freiheit und Gleichheit hier stiften, wenn sie sichs zum Geschäfte machten, ihren Landsleuten richtige Begriffe, sowohl von den Formen der Wahl, als insbesondere vom Zwecke derselben zu ihrem eignen Glücke zu geben? Wenn sie den Geist der Freiheit, das heißt, den Stolz des Menschen, der immer dem Gesetze gehorcht, übrigens aber seinen freien Willen fühlt, ihnen einzuathmen suchten, und sie anführten zu einem Sinne für die Würde und Wichtigkeit ihres Geschäfts und ihres künftigen Daseins? Wenn sie mit unermüdetem Eifer wesentlichen Unterschied zwischen der Maschine lehrten, welche ein anderer in Bewegung sezt, und dem moralischen, denkenden, [615] freien Wesen, das sich selbst durch Vernunftgründe bestimmt?

Ich nannte Euch jezt nur dieses Geschäft, das erste, das nächste, das dringendste von allen. Wie vielfältig aber sind nicht die Rücksichten, in welchen der Jacobiner auf seine Mitbürger wirken kann und wirken soll? Wie unendlich mannichfaltig sind nicht die Zweige und die Mittel der Belehrung? Welch eine schöne, thatenreiche und rühmliche Aussicht thut sich nicht für uns auf in der Zukunft, wenn unser junges Institut erst tiefere Wurzeln geschlagen, Kräfte gewonnen und selbst gefühlt haben wird, was es vermag? Einen großen Schritt hiezu können wir in kurzem von den Bemühungen unseres Unterrichtsausschusses erwarten, dessen angelegentlichstes Geschäft die Ausarbeitung unsers Gesetzbuches sein wird, worin dem eifrigen Bruder seine Pflichten von selbst entgegen leuchten werden. Jeder wird, wenn erst diese Richtschnur vor seinen Augen liegt, sich in der Ordnung der zweckmäßigen, patriotischen Geschäftigkeit üben, zu wichtigen Vorlesungen und Debatten seine Kräfte aufbieten, oder seine Aufmerksamkeit bei dem, was andere vortragen, mit so gutem Erfolg anstrengen, daß er durch ihre Gründe belehrt, sich in Stand gesetzt sieht, in seinem Kreise diese Belehrung wieder mitzutheilen, und den Samen des Wissens wuchern zu lassen.

Dann, Mitbürger, Brüder, Freunde! dann hätten die frommen Wünsche, die ich heute für den Flor unsers Bundes that, ihre ganze Erfüllung erreicht, wenn unsere Brüder jederzeit Trost den Bedrängten, Hilfe den Nothleidenden verliehen, wenn sie Muth in Gefahren zeigten, Rath in entscheidenden Augenblicken ertheilten, bei allen Unternehmungen fürs allgemeine Wohl die ersten wären, in allen Stücken gutes Beispiel gäben, wenn sie die Zuversicht ihrer Mitbürger, die Wächter über den Gemeingeist aller öffentlichen Ämter, die Erhalter der guten Ordnung, der Stolz des Vaterlandes und das Schrecken der Feinde wären!


Notes
Erstdruck: Mainz 1793.
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TextGrid Repository (2012). Forster, Georg. Anrede an die Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-B1DF-3