Für ihr Kind

[103] [105]In einem altmodischen, vierstöckigen Mietshaus in der Frankfurterstraße stand der Thorweg weit geöffnet. Durch seine düstere Wölbung sah man von der Straße bis auf den engen, winkeligen, von hohen Mauern umgebenen Hof, auf dem trotz der scharfen Schneeluft eine Schar schmutziger Kinder ihre lärmenden Spiele trieb. Jetzt trat eine plötzliche Stille ein.

Der Vizewirt, eine gefürchtete Persönlichkeit, kam die Hintertreppe herab und über den Hof geschritten. Er inspizierte wieder mal, und da hieß es Ruhe halten. In kleinen Gruppen drückten sich die Kinder tuschelnd zusammen und verharrten so, bis der Gestrenge den Hof wieder verlassen hatte.

Draußen im Thorweg wurde der kleine, scheinbar immer bis über die Ohren in Geschäften steckende Mann von dem Briefträger aufgehalten.

»Sie haben ja höllisch vornehme Mieter jetzt, Herr Pohlmann.«

Er hielt ihm ein mit einer Firmenadresse überdrucktes Quartkuvert entgegen.

»Baron von Werbitz – stimmt das?«

Der Kleine rieb die Knöchel seiner spitzen, roten Finger vergnügt gegen einander.

[105]

»Na ob's stimmt. Vier Treppen links, vorne rauf. Giebt uns 'n höllischen Nimbus, was? Na sagen Sie mal, Sie glauben's wohl noch immer nicht? Ja, ja, hat sich manches verändert bei uns, Schimmelmann, seit Sie drüben im anderen Revier vertreten haben. Nu machen Sie aber auch, daß Sie 'rauf kommen, wird's vielleicht brauchen können, der Herr Baron, was Sie da bringen –« der kleine Mann rückte an seiner Brille – »oder sollte es am Ende wieder –? Geben Sie doch mal her, Schimmelmann! – Hol's der Deibel – wahrhaftig, schon wieder 'ne Rechnung – ne, ne, ne – wo sie blos alle herkommen? Leben doch da oben reine weg von der Luft! Die arme Frau! Miete hat sie pünktlich bezahlt, alles was recht ist. Ja, ja, die Vornehmen! Nanu aber los, Schimmelmann, kriegen müssen sie 'n ja doch mal.«

Kopfschüttelnd trabte der kleine Mann mit kurzen, schnellen Schritten davon. Der Briefträger stieg langsam die steilen Treppen bis zum obersten Stock.

Auf der kleinen, niedrigen, weißgetünchten Thür war eine Visitenkarte befestigt. Unter der siebenzinkigen Krone las er: »Baron Kurt von Werbitz, Premierleutnant a. D.«

»Ach so«, machte Schimmelmann und zog die Klingel, die einen scharfen, schrillen Laut gab. Als ihm nicht gleich geöffnet wurde, steckte er das Schreiben in den Briefkasten unterhalb der Visitenkarte.

Der Adressat des Briefes, Baron Kurt von Werbitz, saß indessen mit finster zusammengezogenen Brauen auf seinem verschlissenen Plüschsopha. Er schien die Klingel, vielleicht mit Absicht, überhört zu haben. Jedenfalls machte er keinerlei Anstalten, sich von seinem bequemen Sitz zu [106] erheben; er war abwechselnd damit beschäftigt, an der linken Spitze seines starken, blonden Schnurrbarts zu kauen und ein paar Züge aus einer Havanna zu nehmen, deren feinblumiger Duft in seltsamem Gegensatz zu der schäbigen Einrichtung des Zimmers stand.

Ein paar Mal hatte der »schöne Kurt«, wie er genannt wurde als er noch bei der Garde stand, seine abwechselungsreiche Beschäftigung auch schon mit einem lauten Gähnen unterbrochen.

Als jetzt die Thür rasch und hörbar aufgeklinkt wurde, kam zum ersten Mal ein Zug von Interesse in Werbitz' gelangweiltes Gesicht. Ein kräftiges Mädchen von etwa zehn Jahren mit einem langen, blonden Zopf im Nacken, die ganze Gestalt in eine hohe, schwarze Schulschürze gesteckt, trat lebhaft auf die Schwelle. »Ach, Du bist's, Ilse – ich dachte, es wäre die Mama.«

»Nein, ich bin's Papa,« rief das frische Kind lachend und sprang ihm ungestüm um den Hals. »Es ist doch eins vorüber.«

Werbitz sah den Wildfang mißbilligend an.

»Wenn Du nur nicht so unaristokratisch in all Deinen Manieren sein möchtest, Ilse,« und dabei seufzte Werbitz auf, als ob er das schlimmste Verbrechen zu konstatieren gehabt hätte.

Das Kind senkte betrübt den hübschen Kopf.

»Na also – vergiß nicht immer wieder, daß Du eine Baroneß Werbitz bist.«

Ilse trat ans Fenster, um auf den Zehen stehend einen Blick auf die Straße zu erhaschen.

Werbitz lehnte sich fröstelnd in die Sophaecke zurück und [107] nahm seine graubraune Jagdjoppe fester um die heraufgezogene Knie.

»Du, Ilse –«

»Papa!«

»Ich glaube, es ist wieder mal schlecht geheizt – kannst Du nicht noch ein bischen nachlegen?«

Die Kleine wandte sich um und schüttelte sehr energisch den Kopf.

»Nein, Papa, – die Mama hat's verboten, – die Brikets müssen bis zum Letzten reichen; sie hat sie schon für jeden Tag abgezählt.«

Werbitz trat heftig mit dem Fuß auf und war eben im Begriff, einen höchst unaristokratischen Fluch auszustoßen, als die Thür abermals aufging und Frau von Werbitz eintrat.

Mit einem Freudenschrei stürzte Ilse auf sie zu und umhalste sie.

Einen kurzen Augenblick hielt die stattliche, tief brünette Frau das blonde Kind warmherzig in den Armen, dann schritt sie auf ihren Mann zu, der nachlässig in der Sophaecke sitzen geblieben war.

»Ich komme spät, Kurt, hoffentlich ist Dir die Zeit nicht lang geworden.«

Er gähnte statt aller Antwort auf, dann brummte er unliebenswürdig zurück:

»Natürlich ist sie mir lang geworden, oder glaubst Du etwa, eine kalte Stube, kein anständiger Tropfen zu trinken, und immer nur die eigene Gesellschaft, das sei auf die Dauer kurzweilig?«

»Du solltest ausgehen, Kurt.«

[108] Bitte und ein ganz leiser Vorwurf paarten sich in der sanften Stimme Frau Alexandras. Kurt hörte nur den letzteren heraus.

»Natürlich – immer das alte Lied – ausgehen – Beschäftigung suchen – auf Arbeit wie ein gemeiner Handwerker – daß ich auch was anderes erwarten konnte! Hast Du etwa welche gefunden?«

Alexandra sah auf das Kind, das mit großen, traurigen Augen zu der Mutter hinblickte. Eine leise Kopfbewegung genügte, um Ilse aus dem Zimmer zu entfernen.

»Warum schickst Du sie fort, Deine Verbündete?« fuhr Kurt bitter auf.

»Kurt!«

»Nun – ist sie's etwa nicht? Und immer mit Dir gegen mich. Ein Wunder nur, daß Du ihr die Kasse nicht anvertraust und Order giebst, mich noch knapper zu halten, als Du selbst es schon thust.«

Ein unendlich schmerzlicher Zug zuckte um Alexandras Mund, aber sie erwiderte nichts.

Durch ihr Schweigen gereizt, sprang er auf und schlug auf den Tisch.

»Und wozu das Alles? – die Schulden werden von dem verfluchtem Knausern doch nicht bezahlt –«

»Aber wenigstens werden keine neuen gemacht. Und dann – vielleicht finde ich am Ende doch etwas – ich bin ja gesund und habe guten Willen – – Leider – –«

Er hatte sich wieder in die Sophaecke geworfen.

»Leider was?«

»Leider hapert's bei allem, was sich etwa böte, mit dem Wissen – Ich habe nichts ordentlich, nichts gründlich [109] gelernt als reiten, schießen, fechten, jagen – Papas Ideal für die Erziehung seines einzigen Kindes.«

»Sollte Graf Assenstedt seine Tochter vielleicht zur Gouvernante oder Buchhalterin ausbilden lassen?«

Alexandra seufzte: »Wer weiß, ob es nicht besser gewesen wäre!«

»Unsinn,« brummte Kurt, »dieser ganze neumodische Weibergelehrtenkram – gesund und kräftig bist Du, das ist die Hauptsache.«

»Was nützen mir Kraft und Gesundheit, wenn wir dabei verhungern können,« murmelte sie vor sich hin.

Er stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf und wandte den Blick.

Alexandra trat von ihrem Manne fort ans Fenster. Eine jener unbehaglichen Pausen trat zwischen den Gatten ein, da eines sich stillschweigend gegen das andere auflehnte und jeder eine Flut stummer Vorwürfe gegen den anderen durch die Seele wälzte. Wie immer unterbrach Alexandra auch heute zuerst das böse Schweigen.

»Wünschest Du noch etwas, Kurt?« fragte sie sehr sanft. »Ich möchte sonst zu Ilse hineingehen, um bis zu Tisch mit ihr zu arbeiten.«

»Wozu erst wünschen,« brummte Kurt, »da mir doch kein Wunsch erfüllt wird.«

Er wirbelte grimmig an der Spitze seines Schnurrbarts.

»Laß wenigstens noch ein bißchen heizen, man erfriert ja beinah. Wenn Du's dem gnädigen Fräulein befiehlst, wird sie's ja wohl thun – mir hat sie natürlich Opposition gemacht, wie immer.«

[110] Alexandra wollte etwas erwidern, aber sie bezwang sich und sagte ruhig: »Es soll geschehen.«

»Noch eins. Laß mir den zweiten Band der Sportnovellen holen« – er reichte ihr den ersten schmutz- starrenden über den Tisch herüber – »und dann, ich muß bei Tisch heute unbedingt einen anständigen Rotwein haben, – wenn auch weder Kaisers Geburtstag noch ein Schlachttag ist,« warf er spöttisch dazwischen – »meine Nerven sind vollkommen auf dem Hund.«

Alexandra hatte zu alledem nur stumm genickt. Nun verließ sie, ohne irgend eine der abfälligen Bemerkungen laut werden zu lassen, die ihr auf der Zunge schwebten, das Zimmer.

Ehe sie durch ihr und Kurts Schlafgemach das enge Nebengelaß betrat, in dem Ilse hauste, atmete sie, sich müde an dem Pfosten ihrer Bettstatt lehnend, ein paar Mal tief und schwer auf.

Aber nur ein paar kurze Augenblicke lang blieb sie so, fast hilflos stehen. Dann bewegte sie mit einer zuversichtlichen, energischen Geberde den schönen Kopf und trat bei ihrem Kinde ein.

Ilse warf vor ungestümer Freude fast den kleinen, wackligen Tisch zu Boden, an dem sie über ihren Heften saß.

»Kommst Du endlich, Muttchen! Was hast Du so lange bei Papa gemacht? Hat er wieder mit Dir gezankt?«

Alexandra fuhr dem Kinde liebkosend über das reiche, goldblonde Haar.

»Nichts ist geschehen, mein Liebling. Papa hatte nur noch ein paar Wünsche. Du mußt schnell einmal hinunterspringen und Frau Schmöckert bitten, daß sie nach der Leihbibliothek [111] geht und dann herauf kommt und bei Papa noch ein bischen heizt.«

»Aber Mama – Du sagtest doch –«

»Ja, mein Herzenskind – aber wenn der Papa es wünscht –«

Ilse preßte die vollen Lippen trotzig über einander.

»Soll ich gleich gehn, Muttchen?« Es kam beinahe verächtlich heraus.

»Ja, Schatz, damit wir dann hinter einander arbeiten können – gegen Abend muß ich überdies wieder fort.«

»Arme, süße Mama!«

Ilse umarmte die Mutter stürmisch und flog dann mit der schmutzigen Sportnovelle die vier steilen Treppen hinunter, um der Aufwartefrau im Keller die Aufträge zu überbringen.

Sie war im Umsehn wieder oben.

Als sie die Thür zu ihrem kleinen Zimmer aufklinkte, sah sie die Mutter mit dem Brief in der Hand dasitzen, den Schimmelmann vor einer Stunde in den Kasten geworfen hatte.

»Wie kommst Du zu dem Brief, Kind?«

»Ach, Muttchen, sei nicht bös! Ich sah ihn im Kasten stecken, als ich aus der Schule kam und da hab' ich ihn einstweilen an mich genommen, bis Du kamst.«

»Und weshalb, Ilse?«

Das Kind wurde dunkelrot.

»Ich sah doch, Muttchen, daß es wieder die Weinrechnung war, und wenn Papa die bekommt, ist er immer so furchtbar heftig – und da dacht' ich – er würde dann wieder bös gegen Dich werden – und darum –«

[112] Ilse fing bitterlich zu schluchzen an und verbarg ihren Kopf in der schwarzen Schulschürze.

»Ach Muttchen – es ist zu schrecklich!«

»Still, still, mein Liebling – weine doch nicht so – beruhige Dich – es wird besser werden!«

Ilse hob das liebe, thränenüberströmte Gesicht zu Alexandra auf.

»Bald, Muttchen?«

»Sehr bald, mein Herz. Komm, trockne Deine Thränen, wir wollen arbeiten, Liebling. Du darfst mir in der Schule nicht zu sehr zurückkommen, Kind. Gieb acht, was ich Dir sage, zu Ostern hoffe ich bestimmt, Dich wieder in eine höhere Töchterschule schicken zu können –«

Ilses Gesicht verklärte sich.

»In meine alte, liebe Schule, Mutter?«

»Das weiß ich nicht, Ilse. Wir werden vorerst nicht wieder in den Westen ziehen können – und das viele Fahrgeld –«

»Schon gut, schon gut, Muttchen – wenn ich nur aus der schrecklichen Gemeindeschule heraus darf. – Und dann – so manches andere noch – na, Du weißt schon, Muttchen.«

»Ja, ja, ich weiß. Eins nach dem andern, Liebling. O, ich will schon trachten, daß wir wieder alle vergnügt und zufrieden werden wie früher – auch der Papa.«

»Ach ja, bitte, auch der Papa,« warf Ilse mit einem resignierten Stoßseufzer dazwischen.

»Und wenn alles so kommt, wie ich hoffe –«

»Dann hab ich auch wieder Schulfreundinnen, nicht wahr, Mama? Und dann reisen wir auch wieder! Ach[113] wenn wir doch nur einmal noch zum Großpapa nach Assenstedt könnten! Nicht wahr, Mama, als der gute Großpapa noch lebte, da war noch alles anders!«

»Nicht alles, meine Ilse, aber vieles. Aber nun komm, komm! Wir vergeuden die Zeit, anstatt sie zu nützen. Auf diese Weise werden wir beide nicht weit kommen, Maus!«

Ilse schlug ihre Aufgaben für den folgenden Tag auf. Als sie den Lehrfaden für die Geographiestunde zur Hand nahm, fiel ihr ein, daß sie die Mutter noch um etwas bitten mußte, was ihr nicht leicht ward.

»Du, Muttchen, nicht böse sein, aber ich kann nichts dafür. Auch in der dummen Gemeindeschule müssen wir manchmal ein neues Buch haben. Hier,« sie wies Alexandra den geographischen Leitfaden – »einen Anhang oder so was. Fünfzig Pfennig soll jeder mitbringen.

Alexandra lächelte und zog zwei Fünfzigpfennigstücke aus dem Portemonnaie.

»Da, Quälgeist. Das übrige magst Du als Taschengeld behalten. Hast lange nichts bekommen!«

»O, Du goldne Mama! Dafür wollen wir beide uns himmlisch amüsieren. Nachher mach' ich meinen Plan. Jetzt will ich aber lernen, als ob ich gleich morgen wieder zu Fräulein Fuhrmann und in die dritte Klasse kommen sollte.«

Gegen Abend trat Alexandra nochmals zum Ausgehen gerüstet bei ihrem Mann ein, dessen Laune und Nervenverfassung sich trotz des »anständigen Roten« bei Tisch wenig gebessert hatte.

»Willst Du schon wieder fort – jetzt, bei Nacht und Nebel?«

[114] »Ich bin bald wieder hier. Man wollte mir auf dem Büreau der Versicherungsgesellschaft endgiltigen Bescheid geben, ob man mich brauchen könne oder nicht. – Adieu, Kurt –«

An der Thür drehte sie noch einmal um.

Er sah unwillig von dem zweiten Band der Sportnovellen auf.

»Was ist? Schon wieder die Weinrechnung etwa?«

»Nein, nein. Ich wollte nur bitten – sei ein bischen gut mit Ilse! Das arme Kind ist jetzt so viel allein.«

Eine Viertelstunde etwa, nachdem Alexandra gegangen war, warf Werbitz das Buch ungeduldig auf den Tisch und rief nach seiner Tochter, die im Hinterzimmer ihre Schularbeiten zu Ende machte.

»Wünschest Du etwas, Papa?«

»Meine schwarzen Sachen – ich will ausgehen!«

Ilse wartete einen Augenblick, ob der Vater ihr sonst noch etwas zu sagen haben würde.

»Na wird's bald? Du könntest schon wieder hier sein. – Ist das ein Leben ohne Diener!« seufzte er.

Ilse kam mit den Sachen über dem Arm zurück.

Kurt machte umständlich Toilette. Die enge Schlafstube und der kleine Wandspiegel reichten dazu nicht aus.

Die Kleine ging ihm geschickt zur Hand, wurde aber trotzdem unausgesetzt getadelt.

»Wenn die Mama fragt – ich bin zu einem Bekannten gegangen und werde wohl den Abend über fortbleiben.«

»Schön, Papa – und –?«

»Was noch »und«?«

»Ich meine, ob ich hier ganz allein bleiben soll?«

[115] »Selbstverständlich. Frage doch nicht so dumm. Mama wird jeden Augenblick zurück sein. Wenn es Dir zu lange dauert, kannst Du Dir ja die Schmöckert heraufholen. – Du, Ilse!«

»Papa?«

»Hm – was ich fragen wollte – hast Du vielleicht ein bischen Geld bei Dir? – ich habe nur Gold in der Tasche, und da kann man doch leicht in Verlegenheit kommen – wenn's nur 'ne Mark etwa wäre? Du kriegst sie morgen wieder.«

Ilse drehte das Geld, das die Mutter ihr heute gegeben hatte, in der Tasche hin und her. Sie war dunkelrot geworden und kämpfte einen schweren Kampf. Sie wußte genau, daß, wenn sie dem Vater die Mark gab, sie das Geld niemals wiedersehen würde. Das Buch aber mußte morgen in der Schule bezahlt werden, und der Mutter durfte sie um keinen Preis das Geld noch einmal abverlangen. Ach und ihr Taschengeld, für dessen Verwendung sie schon die herrlichsten Pläne geschmiedet hatte!

»Na, wird's bald? Hast Du kein Geld? Oder versteckst Du es schon ebenso schlau wie Deine Mutter?«

»Nein, Papa! Hier sind fünfzig Pfennig!«

»Ist das alles –?« Er sah sie durchdringend an.

»Nein – aber das Übrige gebe ich nicht her. Das ist für ein Schulbuch bestimmt.«

»Du bekommst es morgen zurück.«

»Aber nicht bevor ich zur Schule muß. Da schläfst Du noch, Papa.«

»So läßt Du Dir von der Mutter anderes Geld geben. Dir schlägt sie nichts ab.«

[116] »Nein, Papa, das thue ich nicht.«

»Eigensinnige Göre!«

Er warf die Thür hinter sich zu und eilte über den schmalen, dunklen Flur die Treppen hinunter.

Auf der Straße seufzte er erleichtert auf. Die Abende, die er allein außer dem Hause zubrachte, waren die Glanzpunkte seines jammervollen Daseins. Es fanden sich noch immer ein paar Kavaliere, ehemalige Kameraden oder alte Bekannte vom Turf her, die für den schönen Kurt von der Garde ein freundliches Gesicht und eine offene Tasche hatten.

Freilich besuchte man mit Kurt von Werbitz nicht gerade die Restaurants oder die Vergnügungslokale, in denen man Vorgesetzte oder Bekannte treffen konnte, aber immerhin, Berlin war groß und reich an unterschiedlichen Orten, an denen man sich amüsieren, oder wenn man Werbitz etwas besonderes anthun wollte, ein Jeuchen machen konnte.

Während Kurt, das Taschengeld seiner Tochter im Portemonnaie, elastischen Ganges den Weg zu einem dieser wohlwollenden Kameraden einschlug, schritt Alexandra bitter enttäuscht die breiten Sandsteinstufen des Versicherungsgebäudes hinunter.

Sie war wieder einmal abschlägig beschieden worden, hier, wo sie so gut wie sicher auf eine Anstellung gerechnet hatte! Ihre Handschrift, ihre Rechenkünste, ihr Orientierungsvermögen, alles war unzureichend befunden worden.

Was sollte daraus werden, wenn es so weiter ging!

Die tapfere, heute Mittag noch so zuversichtliche Frau überlief es plötzlich mit einer eisigen Angst.

Selbst ihr, der hoffnungsreichen, mutigen, mußte ja [117] am Ende die Einsicht kommen, daß sie auf diesem Wege niemals etwas erreichen würde. Wo aber, wo lag der Weg, auf dem sich eine Möglichkeit bot, die Ihren – wenn sie auch ihr Leben vielleicht nicht aufbessern konnte – so doch vor dem äußersten, vor der Schande und dem Verhungern zu bewahren? Wäre sie nur keine Baronin von Werbitz, geborene Gräfin Assenstedt! Könnte sie nur im groben Verbrauch ihrer körperlichen Kräfte ihr Brot verdienen, da ihre geistigen Gaben und das oberflächlich Erlernte nicht dazu ausreichten.

Wenn sie auch die lächerlichen Vorurteile ihres Mannes nicht teilte, so erkannte sie doch die Grenzen an, die ihr gezogen waren, und so, zum erstenmal nach langen Monaten des Darbens und Grübelns über eine neue Existenz, überkam Alexandra die Verzweiflung.

Welchen Wert hatte die grenzenlose Liebe zu ihrem Kinde, ihre, trotz entschwundener Neigung, noch immer willig bereite Opferfreudigkeit für den Gatten, wenn Liebe und Opferfreudigkeit sich nicht in Thatkraft umsetzen ließen, wenn sie nichts blieben als Gefühle, von denen Niemand satt oder gekleidet wurde!

Schweren, fast schleppenden Ganges schlich die sonst so kräftig, energisch Ausschreitende, die breite, glänzend erleuchtete Straße entlang, in der das Versicherungsgebäude lag.

Überall geschäftig hastende Menschen, die ihrer Arbeit, ihrem Verdienst nachgingen. Auch Dürftigkeit und Armut fehlten nicht, aber sie hatten wenigstens den Mut, sich offen zu zeigen; sie schlichen nicht verschämt unter dem Schein des Wohllebens umher.

Alexandra fühlte sich versucht, die arme Frau mit den [118] elenden Kindern an der Hand um ihren freimütigen Notschrei: »Mich hungert, liebe Dame!« zu beneiden.

Und dann schämte sie sich der Regung. Wie viel hatte sie vor diesem armen Weibe voraus! Vor allem Gesundheit und – sie fühlte es nun wieder warm zum Herzen dringen – ungebrochenen Lebensmut. Schneller wurde ihr Gang, straffer ihre Haltung. Sie wollte zu ihrem Kinde zurück, zu ihrem geliebten, gottlob gesunden Kinde! Bisher hatte es noch nicht zu hungern brauchen, die Kraft ihrer Mutterliebe würde es auch ferner davor bewahren. Nein, noch war es nicht Zeit zum verzweifeln.

Und wieder begann Alexandra von Werbitz das alte Leben, das sie nun seit Monaten, seit die Not ihnen bis an den Hals gestiegen war, führte. Tagaus, tagein klopfte sie an die Thüren von Büreaus und Redaktionen, studierte sie die Spalten der Zeitungen nach offenen Stellen, bot sie sich zu den bescheidensten Diensten an – alles vergebens. Überall dieselbe Antwort: das Angebot ist größer als die Nachfrage, wir sind vollauf, überreich versorgt.

Man riet ihr eines Tages, es mit der Konfektion, der Ladenbranche überhaupt zu versuchen.

Sie hatte geglaubt, daß man sie an der Kasse oder – und das wäre ihr das Liebste gewesen – als Buchhalterin im Kontor würde verwenden wollen – sie hatte sich getäuscht.

Ihrer schönen, eleganten, vornehmen Erscheinung hatte man sich als Lockmittel für die Käufer bedienen wollen. Man machte der Baronin Werbitz ganz kaltblütig den Antrag, »Probiermamsell« in einem großen Mäntelgeschäft zu werden. Der Besitzer des bedeutenden Kaufhauses war [119] sehr entgegenkommend, ja mehr als das, überliebenswürdig gewesen. Die Rettung schien endlich da zu sein. Und dennoch hatte Alexandra nicht einen Augenblick daran gedacht, das Anerbieten, das ihr hier geboten wurde, anzunehmen; es war, als ob sie etwas vor dem aalglatten, zudringlichen Wesen dieses Mannes, vor der ganzen fremden, unheimlichen Atmosphäre warne. Nicht einmal der Gedanke an Ilses vernachlässigte Erziehung, an ihre freudenarme Kindheit hatte sie zu halten vermocht. Sie war fortgestürzt, ohne recht eigentlich zu wissen, in welchem Sinne das letzte Wort gefallen war, und Tage lang hatte sie es nicht über sich vermocht, neue Wege, neue Versuche zu machen.

Und dennoch wurde das Leben da oben in den engen, öden Räumen der Frankfurterstraße für alle Teile täglich schwerer zu ertragen. Kurt wurde immer gereizter, immer unleidlicher in seiner nörgelnden, erbitterten Unzufriedenheit. Nichts und Niemand konnte ihm etwas recht machen. Unter dem Vorgeben, sich nach einer passenden Stellung umzusehen – unter der er etwa die eines königlichen Kammerherrn verstanden haben würde – trieb er sich oft halbe Tage lang umher und kam nicht selten nicht ganz zurechnungsfähig mehr nach Hause.

Ilse litt täglich mehr unter dem wachsenden Zerwürfnis der Eltern sowohl, als unter dem Druck der ungeeigneten Kameradschaft in der Schule. Beides verletzte unausgesetzt des Kindes Feingefühl.

Und Alexandra litt mit Ilse, nur verschärfter, qualvoller noch als sie. War Ilse verdammt, noch lange unter diesen Verhältnissen sich fortzuentwickeln, was sollte dann [120] aus dem Kinde werden? Ein für die Anforderungen des Lebens noch lückenhafter vorgebildetes Wesen, als sie selbst es bei der Erziehung ihres Vaters geworden war, nur mit dem großen, schwerwiegenden Unterschiede, daß sie dabei körperlich wenigstens kerngesund aufgewachsen und in allen Leibesübungen zur Meisterin gebildet worden war. So hatte sie wenigstens den Stürmen des Lebens eine voraussichtlich dauernde Gesundheit zu bieten, während Ilse, gerade jetzt in den Jahren stärksten Wachstums, alles fehlte, was ihr zu einer gesunden Entwickelung notwendig gewesen wäre. Bewegung in guter Luft, wo sollte sie die im Frankfurter Viertel her bekommen? Ausreichende und kräftige Nahrung – woher sollte Alexandra sie für ihr Kind beschaffen?

Der kleine Rest ihres mütterlichen Vermögens, den sie aus dem Schiffbruch noch gerettet hatte, die karge Pension ihres Mannes, sie reichten gerade noch zu dem Allernotwendigsten aus – und wie lange noch?

Daß sie selbst kein Kleidungsstück mehr besaß, in dem sie sich anstandslos vor den Leuten sehen lassen konnte, daß sie von einem Minimum von Nahrung lebte, daran dachte Alexandra nicht einmal.

So war Weihnachten herangekommen. Ein trübes, trauriges Fest.

Als sie Ilses Tisch zurecht machte und eine neue, selbstgefertigte, schwarze Schulschürze darauflegte, welche die Schäden ihrer Kleider verdecken sollte, ein paar armselige Zopfbänder, Schulhefte, Bleistifte und Federn dazu, da ergriff sie's plötzlich mit heißer Reue, daß sie die Stellung in dem Konfektionsgeschäft nicht angenommen hatte.

[121] Wie ganz anders hätte sie heute für ihr Kind sorgen, ihm den Tag zu einem Freudenfest machen können!

Ob sie nach dem Fest den Versuch machte, die Stelle noch offen zu finden?

Aber kaum, daß sie den Gedanken wieder faßte, sah sie auch schon die dreisten, zudringlichen Augen des Besitzers wieder über ihr Gesicht und ihre Gestalt gehen, ja sie fühlte sie förmlich wie widerliche Berührungen. Nein – nein, das konnte nicht sein. Ihr Leben hingeben für Ilse, jede Stunde, jede Minute – aber in einer solchen Sphäre atmen, leben sollen – das konnte sie nicht. – –

Zu Beginn des Januar war wieder ein neuer Stoß Rechnungen eingegangen.

Eines Tages hatte sich zwischen die Rechnungen auch einmal ein Brief verirrt.

Der Landgerichtspräsident von Eynern, ein Bruder ihrer Mutter, meldete sich für den kommenden Abend bei Alexandra an.

Der viel dekorierte Herr war zum Ordensfest geladen gewesen und gedachte sich danach noch ein paar Tage in Berlin aufzuhalten, ehe er wieder nach Königsberg zurückging.

»Die Neugier wird ihn hertreiben,« dachte Alexandra. »Die liebe Familie will doch wissen, wie es bei einer heruntergekommenen Assenstedt aussieht.«

Als Alexandra ihrem Mann von dem bevorstehenden Besuch Mitteilung machte, bestand er darauf, einen Kameraden dazu zu laden, dem Revanche zu geben er für durchaus nötig befand.

»Überdies, was soll man den ganzen Abend mit dem [122] steifen, alten Herrn reden. Da Du doch einmal anständiges Abendbrot geben mußt, kommt es auf eins heraus.«

Alexandra wußte genau, daß es durchaus nicht auf eins herauskam.

Den Kamerad, den Kurt laden wollte, war ein verwöhnter Lebemann. Kurt würde darauf bestehen, ihn angemessen zu bewirten, während für den sehr sparsam gewöhnten Präsidenten, der daheim nichts anderes als dünnen Thee und karg belegte Butterschnittchen kannte, ein frugales Abendbrot durchaus ausreichend gewesen wäre.

Sie versuchte Kurt umzustimmen, aber wie es gewöhnlich ging, Alexandras Widerspruch machte die Sache nur schlimmer. So schwer es ihr wurde, sie mußte sich dazu entschließen, Kurts unvernünftige Anordnungen zum Teil zu befolgen. Er selbst empfahl sich schon am frühen Nachmittag und beabsichtigte erst mit dem Kameraden zugleich zum Essen wieder zu erscheinen.

Weshalb sollte er Alexandra in ihren Familienfreuden beeinträchtigen?

So wenig herzliches Alexandra sich von dem Wiedersehen mit dem Onkel, dem letzten, lebenden Bruder ihrer Mutter, versprochen hatte, seine beklemmend frostige Begrüßung befremdete sie doch. Es schien wirklich nichts als eigene oder Familienneugier zu sein, das ihn hergeführt hatte, und doch war sie einmal, in der schönen Assenstedter Zeit, sein Liebling gewesen.

Erst bei Ilses herzigem Anblick – das Kind glich Alexandras früh verstorbener Mutter – thaute der alte Herr ein wenig auf. Nachdem er ein Weilchen mit Ilse [123] geplaudert hatte, bat er: »Schick das Kind fort, Lexi, und erzähl' mir dann, wie das alles gekommen ist. Freilich nicht allzu verwunderlich,« fügte er halblaut hinzu, »wenn man bedenkt, wie ihr Vater geartet war, und daß sie eine unverfälschte Assenstedt ist.«

Alexandra hatte das Kind mit einer Liebkosung bis zur Thür begleitet. Jetzt kehrte sie zu dem Onkel zurück. Die letzten Worte hatte sie noch vernommen.

»Lieber Onkel, ich will Dir erzählen, was Du hören willst, aber bitte, laß den Vater aus dem Spiel. Ich weiß, daß Du ihm schwere, vielleicht nicht ungerechtfertigte Vorwürfe machst. Aber er hat mich unendlich geliebt. Und heut weiß ich, daß, ein Kind unendlich lieben, auch manche Schwäche begehen heißt.«

Der alte Herr beugte so mißbilligend den Kopf, als ob er sagen wolle: »Die Schwächen überlasse ich anderen Leuten, insonderheit den Assenstedts, ich habe nichts damit zu schaffen.« Und er sah dabei in der That genau so aus, als ob er sich mit dem Luxus schwach machender Gefühle niemals abgegeben habe, noch abgeben werde. Mit der Miene eines Großinquisitors fragte er:

»Zuerst, in Eurem schlesischen Nest, da ging die Sache ja wohl noch ganz gut?«

»Ganz gut! Wundervoll war's, Onkel.« Die schönen, warmen Augen Alexandras leuchteten auf.

»Wir führten ein Leben wie die Götter – es war eine entzückende Idylle. Dort wurde, wie Du weißt, auch meine Ilse geboren. Der kleine Schatz verteuerte den Haushalt bedeutend –«

»Weil Du das Kind wie eine Prinzessin aufziehen[124] wolltest – bei uns haben die Kinder, so lange sie klein waren, so gut wie nichts gekostet – jetzt freilich –« und der Präsident seufzte schwer.

Alexandra hörte weder auf den Einwand noch auf den Seufzer.

»Bald nach Ilses Geburt mußten wir zuerst meinen Anteil an Mamas Vermögen, den Papa mir gleichzeitig als Kaution bei unserer Verheiratung ausgezahlt hatte, angreifen –«

»Sehr vorsichtig in der That – die Kaution anzugreifen!«

»Aber lieber Onkel, wir konnten doch nicht wissen, daß Papa –«

Alexandra hielt erschreckt inne. Worauf hatte sie den Onkel gebracht?

Herr von Eynern fuhr statt ihrer ironisch fort: »Freilich, Ihr konntet nicht wissen, daß Dein Vater, der sogenannte reiche Assenstedt, der gelebt hatte, als ob er Millionen zu verzehren habe, seinem einzigen Kinde nur Schulden hinterlassen würde!«

»Onkel!«

»Das muß ich aussprechen. Es ist Deine einzige Entschuldigung. Also, der Vater starb – Ihr bekamt nichts – und nochmal nichts – und Dein Mann wurde, wenn ich nicht irre, fast um die gleiche Zeit nach Berlin versetzt.«

»Ja, zur Garde. Es war Kurts heißer Wunsch gewesen. Papa hatte es kurz vor seinem Tode durch seine Beziehungen noch durchgesetzt.«

»Hätte auch was Gescheidteres thun können,« brummte [125] der Präsident, ohne daß Alexandra ihn diesmal verstanden hätte.

»Zuerst berauschte uns dies neue Leben förmlich. Auch ich ließ mich davon hinreißen, und das war ein großer Fehler. Ich hatte Kurts leichtlebige Natur hinreichend kennen gelernt; ich hätte ihn von Anfang an zurückhalten müssen. Nein, die Versetzung zur Garde war kein Glück für uns!«

Alexandra seufzte ein klein wenig auf und ließ den Kopf wie ermüdet in die Hand sinken. Diesmal sagte der Präsident kein Wort. Sie beschuldigte sich selbst, das genügte ihm.

»Ich hätte es ganz gut gekonnt,« fuhr Alexandra, ihren Gedanken weiterspinnend, fort.

»Damals noch. Da vermocht' ich noch etwas über ihn – während heute! Und es wäre auch gegangen, ohne daß wir uns geradezu etwas vergeben hätten. Man kann sich ganz gut einschränken, auch in unserer Stellung, und dabei doch standesgemäß leben. Das Gegenteil wird freilich stets behauptet, aber es ist nicht wahr.

Nun denn, wir thaten das allgemein als »standesgemäß« Erachtete. Wir lebten weit über unsere Verhältnisse. Die Kaution schrumpfte immer bedenklicher zusammen.

Eines Tages kam dann ein ganz plötzlicher Umschwung in unsere Verhältnisse.

Anfangs scheinbar zum besten – am Ende aber war's der Ruin, der uns bis hierher führte.«

Alexandra verstummte und ließ den Blick trübe durch das kahle, häßliche Zimmer schweifen.

Als sie eine längere Pause machte, gemahnte der[126] Landgerichtspräsident: »Nur weiter, Alexandra.« Etwa in dem Ton, mit dem er früher als Richter den Angeklagten aufzufordern pflegte, in einem selbstgeführten Plaidoyer fortzufahren.

»Eines Tages waren wir, wie häufig schon, zum Rennen gefahren. Einer der berühmtesten Sportsleute – Du wirst die Namen der Herren vielleicht nicht kennen, Onkel –?«

»Gott sei Dank, nein!«

»Der Reiter der Floßhilde war plötzlich krank geworden. Der ganze Rennplatz war in größter Aufregung. Wer sollte das Tier steuern, auf das die höchsten Wetten gemacht worden waren?

Das Komitee, dem auch ein früherer Regimentskommandeur Kurts angehörte, hatte sich zu einer geheimen Beratung zurückgezogen.

Plötzlich wurde Kurt in die Beratung entboten. Seinem früheren Kommandeur war es eingefallen, daß Kurt sich bei den harmlosen Regimentsjagdrennen stets als vorzüglicher Reiter hervorgethan hatte. Da fast alle übrigen guten Reiter irgendwie an der Floßhilde interessiert waren, fiel die Wahl auf ihn, man trug ihm an, die Floßhilde zu steuern, und er sagte nicht Nein.

Dieser erste Versuch nahm einen glänzenden Verlauf. Kurt gewann mit der Floßhilde den ersten Preis, und der erkrankte Besitzer beteiligte im Übermaß seiner Freude Kurt in glänzendster Weise an seinem reichen Gewinn.

Kurt jubelte – es schien, wir waren gerettet. Von nun ab warf er sich dem Sport vollständig in die Arme. Es gab keinen deutschen Rennplatz, an dem er nicht aktiv [127] oder mit großen Wetten beteiligt gewesen wäre. Die kostspieligsten Sportextravaganzen wurden mitgemacht, als ob es sich so von selbst verstehe.

Kein Bitten, kein Warnen, kein Flehen half. Besinnungslos tauchte Kurt in dem verlockenden Strudel unter. Pferde, Wetten und Totalisator – das war fortab seine Welt.

Das Glück hatte ihm gänzlich den Rücken gewendet. Überall und jederzeit war er der Geschlagene, der Verlierende.

Vier Jahre lang führte er dies tolle Leben, während ich für das Kind und mich kaum das Nötigste besaß und ängstlich den letzten, kargen Rest meines mütterlichen Vermögens zusammen hielt. Vergebens auch hatte man von oben gewarnt und lange, sehr lange ein Auge zugedrückt.

Endlich hatte er auch da verspielt – er mußte seinen Abschied nehmen, und seitdem leben wir hier ängstlich von der Hand in den Mund, von allen sogenannten Freunden vergessen oder gemieden, lebendig begraben in dem Gewühl der Millionenstadt!«

Herr von Eynern war, während Alexandra zu dem Schluß ihrer Mitteilungen kam, aufgesprungen und unruhig im Zimmer hin- und hergegangen.

Das Schicksal seiner Nichte fing nun doch wider Willen an, ihm nahe zu gehen. Aber er wehrte sich dagegen. Nein, es durfte nicht sein. Wozu sollte er Mitleid haben, da er ihr nicht helfen konnte, nicht helfen durfte. Er hatte von Haus aus nicht einmal so viel Vermögen wie seine Schwester. Dazu eine zahlreiche Familie – zum größten Teil noch unversorgt. Er war einzig auf sein Gehalt, [128] vielleicht in wenig Jahren schon auf seine Pension angewiesen.

Wer wollte im voraus sagen, was seine Töchter, trotz der peinlichsten Vorsicht, einmal für Partien machen würden, wie bald seine Söhne die wünschenswerte Selbstständigkeit erreichen würden? Nein – er durfte kein Mitleid mit seiner Nichte haben. Sein Budget ertrug absolut keine neue Belastung. Sein Soll und Haben stimmte nur gerade. Mit neuen Faktoren durfte er nicht zu rechnen beginnen. Er wünschte, er wäre garnicht gekommen.

Was ging es die Familie schließlich an, wie Alexandra von Assenstedt lebte? Er hätte sich nicht zum Ausforscher hergeben sollen.

Jetzt war Alexandra zu Ende. Was sollte er ihr sagen, um nicht geradezu herzlos zu erscheinen? Er war immerhin ihr einziger, naher Verwandter, dazu der Senior der Familie.

Ein heftiges Aufklinken der Thür befreite den Präsidenten aus seiner peinlichen Lage. Werbitz, in Gesellschaft eines ehemaligen Kameraden, trat ein.

Herr von Eynern atmete erleichtert auf und begrüßte seinen Neffen mit einer, von diesem selbst am wenigsten erwarteten Liebenswürdigkeit. Kurt hätte sich keinen gelegeneren Augenblick zu seinem Auftritt wählen können.

Während Alexandra gedrückt und verwundert über des Onkels Zuvorkommenheit gegen Kurt nach dem Abendessen sah, kamen die drei Herren bald in ein lebhaftes Gespräch, das auch während der Mahlzeit keinerlei Abschwächung erlitt.

Herr von Eynern stürzte sich ganz gegen seine Gewohnheit mit einem förmlich fanatischen Eifer in jede Unterhaltung, [129] die von Werbitz oder seinem Kameraden Lichtwark angeschlagen wurde. Er setzte alles daran, sein plötzlich erwachtes Mitleid mit Alexandras unverschuldetem Schicksal zu betäuben, den Gewissensruf zu ersticken, der ihm vernehmlich genug zuraunte: Es ist Deine Pflicht zu helfen, nun, da Du der Armen Geschick einmal erfahren hast.

Immer lebhafter wurde es an der kleinen Tafelrunde.

Auch Ilse, die anfangs still und verschüchtert am Ende des Tisches neben der Mutter gesessen hatte, um ihr, statt eines aufwartenden Dienstmädchens hilfreich zur Hand zu gehn, thaute nach und nach auf und fing, von dem Großonkel immer aufs neue dazu angestachelt, fröhlich zu lachen an, als Scherze erzählt wurden, die des Kindes Verständnis angepaßt waren.

Nur Alexandra blieb einsilbig und in sich gekehrt. Ihre Gedanken beschäftigten sich abwechselnd mit den schweren Opfern, die ihr durch die Ausgaben für den heutigen Abend für die kommenden Wochen auferlegt wurden, und dem seltsam veränderten Wesen des Onkels. War dieser joviale Mann, der Kurts und Herrn von Lichtwarks flotten Leutnantserinnerungen mit immer gesteigerter Aufmerksamkeit zuhörte, derselbe grämliche Nörgler, der kurz zuvor ohne jede Herzenswärme, ja mehr noch, ohne jedes eigentliche Verständnis den Verlauf ihres traurigen Geschicks mit angehört und statt der Teilnahme nichts als kühle Kritik dafür gefunden hatte?

Dann suchten ihre Blicke ihren Mann.

Auch er war kaum wieder zu erkennen. Wo war seine gereizte Stimmung, die üble Laune von Monaten geblieben? Sogar gegen sie begann er sich liebenswürdig [130] und aufmerksam zu zeigen, in gesteigertem Maße, je mehr Artigkeiten sein Kamerad Lichtwark ihr erwies, dessen »schneidiges Urteil« in Bezug auf Frauen maßgebend für ihn war.

Was doch ein paar Flaschen Wein und anregende Geselligkeit an den meisten Menschen für Wunder wirken!

Warum sollte sie allein unter all' den scheinbar Fröhlichen die einzige Bekümmerte bleiben? Warum nicht auch an sich dies liebenswürdige Wunder sich vollziehen lassen?

Sie hob den schön geformten Kopf mit alter Energie.

Ja, auch sie wollte sich dem kurzen Rausche hingeben, dem ihre Tischgenossen alle sich so willig überließen.

Und nun lachte Ilse wieder und dies Lachen that ihr so wohl.

Es klang wie das übermütige Sprudeln eines lang versiegt gewesenen Quells, dessen Wiederkehr mit Jubel begrüßt wird.

Alexandra schlug die warmen, leuchtenden Augen freundlich zu ihrem Nachbar auf; sie legte die Hand nicht wieder abwehrend über den Rand des Glases wie vor einer Viertelstunde, als Herr von Lichtwark ihr jetzt von dem schweren Bordeaux einschänken wollte, auch schmeckte der köstliche Tropfen nicht mehr bitter auf der Zunge wie beim ersten Glas; warm und wohlig glitt er die Kehle hinab.

Nachdem Herr von Lichtwark am Ende seiner erzählbaren Leutnantserlebnisse angekommen war, fing er an, über Paris zu plaudern, das er im Herbst gelegentlich der berühmten Rennen bei Chantilly besucht hatte.

Mehr und mehr heiterten Alexandras Züge sich auf. [131] Sie kannte Paris und liebte es schwärmerisch. Zweimal war sie mehrere Wochen lang mit ihrem Vater dort gewesen. O, was war das für eine Zeit gewesen, wie hatte sie das prickelnde, wonnige Leben genossen!

Sie fragte nach tausend Orten und Dingen. Auf die meisten ihrer Fragen konnte Herr von Lichtwark, der sich gründlich umgesehen zu haben schien, Antwort geben. Auch die Theater hatte er alle besucht.

»Haben sich Frau Baronin auch einmal die Folies Bergère angesehen?«

»O nein,« gab Alexandra lachend zurück. »So liberal mein Vater sonst war –«

Der Präsident hielt es an der Zeit, wieder einmal moralisch entrüstet aufzuseufzen –

»Von dergleichen Schaustellungen wollte er für seine Tochter nichts wissen, was ihn indeß durchaus nicht abhinderte, selbst hinzugehen und sich vortrefflich zu amüsieren.«

»Womit amüsierte sich der Großpapa, Mütterchen?« fragte da Ilses Stimme halblaut an ihrer Seite.

Es fiel Alexandra aufs Herz, daß Ilse noch am Tische saß, die vor jeder Zweideutigkeit zu hüten sie ebenso unausgesetzt bemüht war, wie ihr Vater es trotz seiner freien Erziehungsart ihr gegenüber bis zu ihrem Hochzeitstage gewesen war.

»Ilse, Herzenskind, es ist Zeit zu Bett zu gehen,« flüsterte sie dem Kinde zu.

Das hübsche, jetzt nur etwas zu blaß und schmal gewordene Gesicht des Kindes verzog sich ein wenig, aber der Mutter aufs Wort gehorsam, nahm sie verstohlen zärtlichen Abschied von ihr und verließ das Zimmer.

[132] Herr von Lichtwark hatte inzwischen seinen Bericht über die Leistungen des Pariser Ballet- und Spezialitätentheaters, gegen Herrn von Eynern und Kurt gewendet, fortgesetzt.

Nachdem Ilse das Zimmer verlassen hatte, hörte Alexandra ihren Onkel lachend sagen:

»Damit werden sie meiner Nichte schwerlich imponieren, Herr Leutnant. In dieser Kunst war sie selbst Meisterin, und mein Schwager stolzer darauf, als wenn seine Tochter sapphische Oden gedichtet hätte.«

»Worauf war Papa stolz, Onkel?«

»Auf Deine Schießkunst, Lexi, und Deine unfehlbare Treffsicherheit.«

»Ja, es war seine größte Freude –«

»Und Deine doch nicht minder, Alexandra,« unterbrach sie Kurt. »Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen, an den ersten Manövertag in Assenstedt. Dein Vater lud uns abends zur Bowle in den Garten. Da mußtest Du Deine Schießkünste zeigen, und alle Kameraden, ich natürlich an der Spitze, waren paff über Deine Schneidigkeit und Dein eigenes Vergnügen daran. Wahrhaftig, Kamerad,« und Kurt wandte sich an Lichtwark, »sie war eine famose Schützin.«

Herr von Lichtwark verbeugte sich tief vor Alexandra.

»Dann freilich, gnädige Frau Baronin, würde Ihnen die Leistung der Mademoiselle Rose Sapier nicht so imponiert haben, wie mir, aber sie würde Ihnen wahrscheinlich doppelt interessant gewesen sein. Man interessiert sich bekanntermaßen für keinen Sport mehr, als für den, den man selbst treibt.«

[133] Kurt nickte trübselig bestätigend vor sich hin, während Alexandra Herrn von Lichtwark bat, ihr von der Kunst der Sapier zu erzählen.

»Warum engagiert denn keiner Ihrer unternehmenden Direktoren – Sie haben ja, so viel ich weiß, in Berlin jetzt eine ganze Menge ähnlicher Etablissements – diese Wunderschützin?«

»Es ist schon davon die Rede gewesen, Herr Präsident. So viel ich weiß sind die Unterhandlungen im Gange. Sie wird ein great attraction sein und trotz der horrenden Gage – man sprach in Paris von über 1500 Francs monatlich – kein schlechtes Geschäft.«

»1500 Francs!«

Der Präsident machte sein Grämlichstes Beamtengesicht.

»Ein wahres Sündengeld. Wenn man dagegen unsere Gehälter ansieht, von den kleinen Beamten garnicht zu sprechen. Und welche Wissens- und Arbeitsfülle müssen wir bewältigen, wie alt werden, bis wir das erreichen! Und da kommt denn solch eine ungebildete Person, Gott weiß aus welcher Gesellschaftskaste, die nichts kann und nichts gelernt hat als mit der Pistole umzugehn und verdient spielend ein fürstliches Vermögen. Eine schreiende Ungerechtigkeit!«

»So ist's verehrter Herr Onkel,« erwiderte Kurt auch seinerseits nicht ohne Bitterkeit. »Das Pferdelaufen lassen brachte auch mehr als die Leutnantsgage – und schließlich bricht es einem doch den Hals,« murmelte er vor sich hin.

Gleich darauf hob der Hausherr die Tafel auf, ließ auf einem Nebentisch noch ein paar frische Flaschen Bordeaux entkorken und bot eine Ynclan an, wie Herr von Eynern [134] sie nur bei den reichen Grundbesitzern um Königsberg zu rauchen pflegte. Niemand hatte etwas davon bemerkt, daß die Frau des Hauses während der letzten Viertelstunde vollständig verstummt war und schließlich das Zimmer verlassen hatte.

Erst als die Herren sich eine halbe Stunde später zum Gehen anschickten, trat Alexandra wieder ein. Sie sah sehr blaß aus und in ihren Augen flackerte ein seltsam aufgeregtes Feuer.

Herr von Eynern hatte bei ihrem Eintritt sein Portemonnaie gezogen und umständlich darin umher zu suchen begonnen. Jetzt hatte er nach längerem Besinnen ein Geldstück ergriffen und trat nun auf seine Nichte zu.

»Gute Nacht, Lexi, und schönen Dank für den angenehmen Abend. Da ich morgen mit dem Nachtzug fahre und den ganzen Tag über zu thun habe, werden wir uns schwerlich mehr sehen.«

Dann dämpfte er seine trockene, knarrige Stimme, so weit es dem spröden Organ möglich war.

»Nimm Dir das, was Du mir vorher erzähltest, nicht allzusehr zu Herzen. Du weißt ja schon aus der Bibel – wenn die Not am größten –! Und hier, das thu der Ilse in ihre Sparbüchse. Ist ja am Ende meiner einzigen Schwester Enkeltochter, das Kind,« fügte er, wie sich selbst für seine unerhörte Extravaganz entschuldigend, hinzu.

Noch ehe Alexandra Zeit gefunden, dem Onkel für das Thalerstück zu danken, das er ihr in die Hand gedrückt hatte, trat Herr von Lichtwark auf die Beiden zu. Auch er wollte sich verabschieden. Kurt, ein Licht in der [135] Hand, um seinen Gästen die vier steilen Treppen hinabzuleuchten, stand schon hinter ihm.

»Allerverbindlichsten Dank, meine Gnädigste, für den charmanten Abend und die angenehme Unterhaltung. Wünsche nur, daß Lorbeern der Sapier Allergnädigste schlafen lassen. Bitte mich der gnädigen Baronesse zu empfehlen. Liegt wohl schon sanft in Morpheus Armen?«

Alexandra hatte kaum auf das Geschwätz des Leutnants gehört. Nur der Name Sapier war ihr ans Ohr geschlagen, oder hatte er noch fortgeklungen von vorher, er und die enormen Summen, die seine Trägerin verdiente, mit einer Kunst verdiente, die sie selbst in vielleicht nicht geringerer Vollendung beherrschte? Die ganze Nacht über wälzte sie sich schlaflos im Bett, unausgesetzt die Leistungen der Pariser Kunstschützin überdenkend.

Wahrlich, da war kein einziger Schuß, dessen sie sich nicht auch hätte rühmen können. Die tanzenden Kugeln in der Luft, die kleinen, unaufhörlich sich bewegenden, springenden Scheiben, der Schuß ins Schwarze der Scheibe auf eine schier ungeheuerlich erscheinende Distanz, das alles hatte sie mit ihrem angebeteten Vater im Park von Assenstedt geübt und unzählige Male tadellos ausgeführt.

Wie sie da lag und in die grauschwarze Öde ihres Schlafgemachs blickte, stiegen sie alle wieder vor ihr auf die goldenen Bilder von Assenstedt.

Der alte Park mit seinen wildverwachsenen Wegen, in denen sie mit den Kindern der Gutsnachbarn, die oft wochenlang in Assenstedt bei ihr zu Besuch gewesen waren, gespielt und getollt hatte.

Die sauber gehaltene Reitbahn, in der sie schon als[136] kaum zehnjähriges Mädchen mit ihren Vettern Wett rennen veranstaltete. Das alte Schloß mit seinen weiten Hallen, seinen gobelinbehängten Sälen, seinen Galerien und endlos langen Gängen, in denen sie ganze Wintertage lang Versteckens und »Räuber und Prinzessin« gespielt hatten.

O diese schöne, goldene Jugend!

Und was hatte sie, ihr Kind, ihre einzige, geliebte Ilse, die sie eben so abgöttisch liebte, wie ihr Vater sie selbst geliebt?

Ein Leben ohne Licht, ohne Sonne, ohne jeden Jugendzauber.

Alexandras Herz krampfte sich zusammen.

Nein – es mußte anders werden – gleich – ohne Aufschub – morgen. Die Gelegenheit, reichlich zu verdienen, die sich ihr in dem Konfektionsgeschäft geboten, hatte sie vorübergehen lassen. Schon das war ein Verbrechen an ihrem Kinde gewesen. Den Fingerzeig aber, den ihr Lichtwark heut ahnungslos gegeben hatte, durfte sie nicht ungenützt vorübergehen lassen. Versuchen mußte sie's wenigstens, ob das einzige, was sie wirklich meisterhaft ausübte, sich nicht zum Heil für ihr Kind verwerten ließe.

»Sehe jeder, wie er's treibe – sehe jeder, wo er bleibe,« das war der Wahlspruch ihres liberal denkenden Vaters gewesen. Es sollte auch der ihre werden. – Freilich hatte dieser Spruch auch einen Nachsatz:

»Und wer steht, daß er nicht falle!«

Aber sie stand nicht, so konnte sie auch nicht fallen. Tiefer konnte es ja kaum mit ihnen herabgehen, als sie bisher gesunken waren.

Und Standesbedenken – die kannte Alexandra von[137] Werbitz nicht mehr. Die Not hatte sie alle, alle erstickt.

Wohl pries sie die Frauen glücklich, denen Veranlagung und Erziehung gestattete, ihre Kinder mit den Errungenschaften ihres Geistes, ihrer Bildung zu nähren und zu kleiden, aber da sie das nicht vermochte, mußte ihr eben jede Arbeit, jeder Beruf recht sein, ihr Kind vor dem Elend zu schützen. Alexandra war weder eine Sophistin, noch gar eine moralisierende Philosophin, das aber sagte sie sich doch in dieser Nacht, daß eine rechtschaffene Frau am Ende jede Arbeit zu einer rechtschaffenen machen kann, ob sie nun Malerin, Schauspielerin, Artistin, Fabrikarbeiterin oder Waschfrau ist.

Sobald Ilse am nächsten Morgen das Haus verlassen hatte, sann Alexandra darauf, auch Kurt zu entfernen. Bevor sie den schweren Weg zu einem der Direktoren machte, die von den Herren gestern namhaft gemacht worden waren und die sie wohl gemerkt hatte, mußte sie versuchen, ob die mangelnde Übung der letzten Jahre ihre Fertigkeiten auch nicht beeinträchtigt hatte.

War das der Fall, mußten Mittel und Wege gefunden werden, sich ein paar Wochen lang wieder einzuschießen.

Kurt kam ihr auf halbem Wege entgegen. Er stotterte etwas von einem Frühstück, zu dem Lichtwark ihn geladen, und von notwendigen Gängen, die er sonst noch zu machen habe.

Alexandra hörte kaum was er sprach. Er wollte ausgehen, das war die Hauptsache. An der Thür kehrte er noch einmal um.

»Du, Alexandra!«

[138] »Was ist?« Sie fragte es hastig, ungeduldig. Er würde doch nicht zu Haus bleiben wollen!

»Wenn ich nicht irre, gab Dir der Präsident gestern beim Abschied Geld – könntest Du nicht –«

»Es ist für Ilses Sparbüchse bestimmt.«

Er trat von der Schwelle wieder vollends ins Zimmer.

»Ohne einen Groschen im Portemonnaie kann ich nicht –«

Alexandra griff hastig in die Tasche und gab ihm den Thaler des Präsidenten.

»Da, nimm!«

Er betrachtete ihn mißvergnügt.

»Na, immer besser als garnichts,« sagte er dann und ließ ihn in die Tasche gleiten.

Als Kurt fort war, atmete sie erleichtert auf und riegelte dann die Thür hinter ihm ab, damit Frau Schmöckert, die einen zweiten Schlüssel zu der Wohnung hatte, sie nicht überraschte.

Der Kasten mit den Pistolen ihres Vaters stand unter ihrem Bett. Die Läufe blitzten und blinkten. Alexandra hatte dies einzige Vermächtnis ihres Vaters stets in bestem Stand gehalten. Ilses Reißbrett mußte die Scheibe hergeben.

Mit einem Stückchen Kohle, das sie neben dem Brett auf des Kindes Arbeitstisch fand, wurde ein winziger, schwarzer Punkt markiert; die improvisierte Scheibe dann an der Hinterwand des letzten Zimmers über Ilses Bett aufgehängt. Alexandra selbst nahm an dem entferntesten Punkt, vor dem Plüschsopha des Wohnzimmers Aufstellung. Zwischen beiden Zimmern lag ihr und Kurts Schlafgemach. [139] So war trotz der beschränkten Wohnung doch wenigstens ein Distanz von 60 Schritt hergestellt.

Zuerst wollte die Hand nicht ganz parieren.

Aber schon nach dem dritten Schuß traf Alexandra unfehlbar das minimale Centrum.

Sie hätte sich gern noch auf einige bewegliche Punkte ihrer Kunst geprüft, aber das war ohne fremde Hilfe nicht zu bewerkstelligen und kostete nur Zeit, die nicht zu verlieren war.

Wenn es ihr überhaupt gelang, ein Engagement zu finden, so würde sie ja doch vorher Proben ihrer Geschicklichkeit ablegen müssen und dann am besten selbst beurteilen können, wo Lücken in ihrem Können eingetreten waren.

Sie schloß Pistolen und Reißbrett in ihren Kleiderschrank und kleidete sich dann so vorteilhaft, als ihre sehr herabgekommene Garderobe es zuließ, an.

Bevor sie das Haus verließ, gab sie Frau Schmöckert den Auftrag, daß, wenn sie nicht rechtzeitig zurück sei, man mit dem Essen nicht auf sie warten möge.

Alexandra hatte sich's vorgesetzt, soweit es in ihrer Macht lag, die Sache noch heute zu einer Entscheidung zu bringen. Sie hatte in den letzten Monaten zu oft erfahren, daß mit dem Besinnen und Hinausschieben die besten Chancen vereitelt werden.

Zuerst wandte sich Alexandra nach einem Spezialitätentheater im Südwesten der Stadt, das Herr von Lichtwark gestern als Numero eins bezeichnet hatte.

Man wies die einfach gekleidete Dame mit dem vornehm zurückhaltenden Wesen ziemlich unhöflich ab, bevor sie sich noch geäußert hatte. Der Herr Direktor sei nicht [140] zu sprechen – im übrigen sei keine einzige Vakanz vorhanden.

»Es handle sich um etwas Neues –«

»Das kenne man schon.«

Da Alexandra trotzdem keine Anstalten machte, das Büreau zu verlassen, faßte man sie fester ins Auge.

Hm, schön war die Person und prachtvoll gewachsen. Na, wenn sie den Direktor durchaus sprechen wollte. – »Heut' Abend während der Vorstellung.«

Sollte sie bis zum Abend warten? Den ganzen Tag ungenützt vorübergehn lassen? Nein! War es mit allem anderen nichts, konnte sie ja immerhin zurückkehren.

Wohin nun zunächst?

Alexandra fiel ein, daß sie auf ihren Wegen zu der Versicherungsgesellschaft in der Friedrichstadt häufig an einem Spezialitälentheater vorübergekommen war, das diesem gewiß an Rang nichts nachgab.

Dorthin also wollte sie jetzt zuerst den Schritt lenken.

Von Süden nach Norden führte sie ihr Weg.

Sie mußte die Linden überschreiten. Über eine halbe Stunde hatte sie zu gehen. Aber die rasche Bewegung in der frischen Winterluft that ihr nach der qualvoll durchwachten Nacht wohl und kräftigte ihre Energie aufs neue.

Immer schneller wurde ihr Gang, immer straffer ihre Haltung. Jetzt hatte sie ihr Ziel erreicht: ein großes Eckhaus, das an seinen beiden Stirnseiten den Namen eines berühmten Vergnügungs-Etablissements trug.

Einen Augenblick stockte ihr Fuß, als sie das mächtige Gebäude vor sich sah, in dem sich vielleicht ihr Schicksal entscheiden sollte – ihres und vor allem das ihres Kindes.

[141] Zu beiden Seiten der Eingangsthür waren rote Zettel angeschlagen, um die sich, trotz der noch frühen Vormittagsstunde, eine Menge Menschen versammelt hatten.

Die Zettel mochten wohl das Programm für die Abendvorstellung enthalten, ein Programm, das nach der Wirkung auf die Lesenden zu schließen, mehr abzuschrecken als anzuziehen schien. Wenigstens sah Alexandra, daß verschiedene Personen, die im Begriff gewesen waren, an die Kasse zu gehen, wieder umkehrten, nachdem sie eines der Plakate gelesen hatten. Auch unwillige Laute aus dem Munde der Umkehrenden wurden laut.

»Wär' doch mal was anders gewesen – nicht immer die alte Geschichte.«

»Soll in Paris doch großartige Sensation gemacht haben, die Person.«

»Ewig die Singe- und Tanzereien – kennt man schon aus- und inwendig.«

Jetzt trat Alexandra durch eine Menschenlücke an eins der roten Plakate.

Wie von einem körperlichen Schlage getroffen, fuhr sie zurück. Aus den großgedruckten Lettern starrte ihr nichts als der Name entgegen, der ihr seit gestern Abend nicht aus dem Gedächtnis gekommen war, der Name, um den sich alle ihre Gedanken wie Ranken um einen Stamm geschlungen, der Name – Rose Sapier. Also zu spät, zu spät! Wieder nichts als eine eitle, trügerische Hoffnung! Umsonst – vergebens Entschluß und Überwindung, vergebens wie alles, was sie unternahm!

Die Französin war ihr zuvorgekommen und damit Alexandras Schicksal für Berlin besiegelt.

[142] Schon hatte sie den Platz vor dem Plakat verlassen und fing an, langsam, schwerfällig zurückzuschreiten, als es sie, wie magnetisch wieder angezogen, noch einmal zu dem Namen Rose Sapier trieb. Und plötzlich färbten sich ihre bleich gewordenen Wangen, ihre Augen bekamen wieder den alten, freudigen, zu allem entschlossenen Ausdruck. – Ja, was hatte sie denn vorher gesehn? Aufmerksam, Wort für Wort erwägend, las sie den Anschlag durch:


Da die Pariser Kunstschützin

Rose Sapier

durch Krankheit am Auftreten verhindert ist, heute Abend erste Vorstellung der weltbeberühmten

Wellenkönigin Elisa.

Vorführung nie dagewesener Serpentintänze.


Alexandras Augen leuchteten auf.

Rose Sapier hatte kommen sollen und kam nicht! Die Direktion würde Ersatz brauchen! Gab es denn eine günstigere Aussicht?

Alexandra hätte laut aufjubeln mögen. Und als ob ihre unausgesprochenen Gedanken sich dem hinter ihr stehenden Publikum mitgeteilt hätten, hörte sie jetzt sagen: »Dummer Kerl, der Direktor, warum schafft er keinen Ersatz für die Sapier! Tanzen ist doch nicht schießen. Wär' doch mal was Schneidiges gewesen!«

[143] Und eine zweite Stimme, die dieser ersten antwortete:

»Was Du klug redst. Kunstschützinnen wachsen nicht auf dem Straßenpflaster.«

Alexandra hielt es kaum, sich nach dem Sprecher umzuwenden und ihm zuzurufen: »Das thun sie doch zuweilen – schau her! Da steht eine vor Dir, die direkt aus dem Straßenpflaster herausgewachsen ist, als Ersatz für Rose Sapier.«

Aber sie that nichts desgleichen, sondern trat schnell aus der Gruppe heraus und ging ein paar Schritte abseits von den Menschen auf und nieder, um noch einmal zu überdenken, was sie zu thun im Begriff stand und was in Anbetracht der seltsamen Umstände möglichenfalls noch in dieser Stunde zur Entscheidung kommen konnte.

Bei dem Gedanken, daß schon morgen vielleicht irgend ein Name, der ihre Person deckte, hier an derselben Stelle mit fetten Lettern gedruckt stehn würde, daß schon morgen vielleicht jedermann das Recht haben würde, in derselben nachlässigen Weise über sie zu sprechen, wie heut über Rose Sapier, schoß ihr nun doch eine heiße Blutwelle ins Gesicht. So nahe einer möglichen Entscheidung, erschien es ihr plötzlich ungeheuerlich, daß sie, eine geborene Gräfin Assenstedt, die Frau eines gewesenen preußischen Gardeoffiziers, sich in einem Tingeltangel als bezahlte Gauklerin produzieren sollte. Aber nur einen Augenblick. Dann verschwanden Scham und Bedenken, und nur das eine Einzige stand wieder mit zwingender Gewalt vor ihr: die Pflicht gegen ihr Kind.

Und diese Pflicht war gar nicht einmal so schwer, wie sie einen Augenblick lang ausgesehen hatte, so lange sie ihr Geheimnis blieb. Und sie konnte Geheimnis bleiben, denn [144] Alexandra war Niemanden Rechenschaft schuldig für das, was sie für ihr Kind that. Ihrem Manne nicht, der sie längst nicht mehr liebte und der die Schuld trug, daß sie bis hierher gekommen war. Ihren Verwandten nicht, die sich niemals um sie gekümmert hatten, bis auf den einen, der, nachdem er ihr Elend erfahren hatte, sie mit kühlkritischen Redensarten und einem Thalerstück abgespeist hatte. Nein, Niemand brauchte darum zu wissen, daß die Kunstschützin, die da oben an Stelle von Rose Sapier stand, Alexandra von Werbitz, geborene Gräfin Assenstedt war. Sie hatte eben endlich eine Beschäftigung gefunden, die sie abends zwei Stunden aus dem Hause führte. Damit würde es abgethan sein. Kurt würde ihr schwerlich nachforschen, der würde seine Zeit und sein erhöhtes Taschengeld besser anzuwenden wissen, und Ilse, das arme, liebe Kind, war an viel längere Entbehrung der Mutter gewöhnt.

Und dann – dachte sie weiter – würde das Opfer nur für wenige Monate nötig sein. Wenn auch der Direktor ihr, der Unbekannten, selbst in der Not um einen Ersatz, schwerlich eine Gage zahlen würde, wie der berühmten Sapier, so würde der Gewinn doch ausreichen, ihr Leben auf lange Zeit hinaus verhältnismäßig sorglos zu gestalten, ja gänzlich neu aufzubauen.

So, innerlich mit sich fertig, schritt Alexandra entschlossen der Eingangsthür zu. Noch in dieser Stunde wollte sie sich dem Direktor anbieten. Nur einmal noch, kurz vor der Schwelle, zuckte sie zurück. Es überkam sie plötzlich eine eisige Angst, daß der allmächtige Mann da drinnen sie, die in der Artistenwelt völlig Unbekannte, ungeprüft, ja vielleicht ungehört zurückweisen würde, daß auch [145] diese letzte, größte Hoffnung in wenigen Minuten zertrümmert sein würde.

Nur das nicht, das nicht! Nur nicht wieder zu ihrem Kinde zurückkehren müssen mit dem Bewußtsein, daß es verurteilt sei, das alte, elende Leben fortzuführen.

Sie rang die Hände in stummer Qual und über ihre Lippen drängten sich halblaut bittende, stammelnde Laute.

Und nun stand sie vor dem betreßten Thürsteher, der mit seinem langen Stabe in der Hand, steif, wie eingepflanzt, vor der Thüröffnung postiert war.

»Der Herr Direktor zu sprechen?«

»Zweite Thür links.«

Alexandra klopfte. Keine Antwort. Nach dem zweiten Klopfen ein übellauniges »Herein«.

Der Direktor saß, ihr den Rücken wendend, am Schreibtisch und fertigte ein Telegramm aus. Neben ihm stand ein kleiner Bursche in der Livrée des Etablissements.

Alexandras »Guten Morgen« wurde nicht einmal erwidert.

Nachdem der Bursche das Büreau verlassen hatte, trat Frau von Werbitz einen Schritt näher auf den immer in derselben Stellung am Schreibtisch verharrenden Direktor zu. Bei einer zweiten Anrede wandte der Schreibende unwillig den Kopf und streifte Alexandra mit einem kurzen Blick.

»Na, was ist denn? Freibillets giebt's nur für Angestellte, und Engagements werden nur durch Agenten abgeschlossen.«

Er schrieb schon wieder.

»Verzeihung – ich hatte geglaubt, ein rascher Ersatz für Rose Sapier –«

[146] Ihre Sprechweise, ihre vornehme Art machten ihn stutzig. Er drehte sich jetzt vollends um, die schöne, kräftige Gestalt der Frau mit kritischen Blicken musternd.

»Hm – setzen Sie sich doch. – Also Sie wollten –?«

»Anfragen, ob der Herr Direktor mich vielleicht zum Ersatz für Rose Sapier annehmen wollte, wenn die Krankheit –«

»Krankheit!« der Direktor lachte roh auf. »Im Stich hat sie mich gelassen, das verdammte Frauenzimmer, weil ihr die Gage im letzten Augenblick nicht hoch genug war – wollte mich schrauben. – Wenn ich Ersatz fände – hm – es würde mir ein ganz besonderes Vergnügen sein, ihr den Stuhl gänzlich vor die Thür setzen zu können. Wo waren Sie bis jetzt?«

»Nirgend wo, Herr Direktor – ich – ich will erst anfangen.«

Der Stuhl, auf den er gesessen, fuhr mit einem Ruck zurück. In beinah drohender Haltung stand er vor ihr.

»Sind Sie des Teufels – glauben Sie, ich hätte eine Versuchsanstalt für Anfänger!«

Alexandra war gleichfalls aufgestanden. Sie war sehr blaß geworden, aber sie beherrschte sich voll kommen.

»Ich glaube meiner Geschicklichkeit und Treffsicherheit gewiß zu sein – ich – doch gleichviel – ich empfehle mich.«

Ihre vornehme Ruhe imponierte dem Gereizten. Die Sache war am Ende nicht so von der Hand zu weisen. Vielleicht steckte irgend etwas hinter dieser schönen, vornehmen Person, aus dem sich Kapital schlagen ließ.

Eine Skandalgeschichte, Schweigegeld, das waren nicht die schlechtesten Geschäfte.

[147] Alexandra hatte die Hand schon auf der Klinke.

»Bleiben Sie noch, Fräulein – oder Frau?«

Alexandra bewegte zustimmend den Kopf.

»Ach so. – Also gnädige Frau, wenn Sie Ihrer Sache so gewiß sind, könnten wir ja morgen früh mal eine Probe riskieren. Heut ist keine Zeit dazu. Darf ich um ihren Namen bitten?«

Alexandra errötete bis an die Spitzen ihres blauschwarzen Haars. Ein kurzes Zögern.

Der Direktor hatte ein Notizbuch aus der Tasche gezogen und hielt einen silbernen Bleistift zwischen den dicken, mit Ringen überladenen Fingern.

»Julietta Eberhard,« stotterte sie.

Er lächelte verständnisinnig und notierte.


Die Probe war glänzend ausgefallen. Alexandra war von dem glückstrahlenden Direktor für die Dauer der ganzen Saison gegen eine Monatsgage von neunhundert Mark – der Hälfte des von Rose Sapier geforderten Honorars – engagiert worden.

Am nächsten Abend schon prangten neue rote Zettel an den Mauern des Etablissements, die das erste Auftreten Miß Juliettas aus San Francisco, der berühmtesten Kunstschützin der alten und neuen Welt, ankündigten.

Abend für Abend stand Alexandra nun auf dem weit ins Parket hineingebauten Steg, um mit niemals versagender Sicherheit die auf der Bühne aufgestellten Ziele zu treffen: ruhende und sich bewegende Punkte oft von einem [148] so minutiösen Umfang, daß sie dem Auge des Zuschauers nur schwer erkennbar waren.

Das Publikum drängte sich zu dem seltenen Schauspiel und belohnte es mit immer gleichem Enthusiasmus.

Die vornehme Erscheinung Alexandras, ihre ausgesucht geschmackvolle Toilette aus schwarzem Sammet und maisgelber Seide thaten das Ihre dazu, um die Nummer »Miß Julietta« zu einem Erfolg ohne Gleichen zu machen.

Der Höhepunkt war der Schluß der Produktion, bei dem das Publikum jedesmal ein prickelndes, wonniges Grauen überlief.

Unter einem in Manneshöhe auf der Bühne angebrachten, hufeisenförmigen Ziel, an dem ein Dutzend markgroßer, weißer Scheiben in schwingender Stellung angegebracht waren, postierte sich ein Angestellter des Etablissements, und zwar so, daß die vier Mittelscheiben kaum Millimeters Höhe von seiner Stirn entfernt waren.

Das leiseste Schwanken der Hand, die geringste Unsicherheit des Auges, mußte dem Manne unfehlbar den Tod geben.

Aber Alexandras Hand schwankte nicht und ihr Blick blieb von unbeirrter Sicherheit. – –

Wie Alexandra an jenem Morgen, da ihr Schicksal sich entschieden, ganz richtig vermutet, hatte Kurt ihr nicht weiter nachgeforscht. Es genügte ihm vollkommen, daß sie eine Beschäftigung gefunden, die Geld einbrachte und ihre Zeit nicht übermäßig in Anspruch nahm.

Sie war fast den ganzen Tag zu Haus, versorgte ihn aufs rücksichtsvollste, und daß sie gerade abends ein paar Stunden in Anspruch genommen war, paßte ihm außerordentlich [149] gut, besonders da sie ihn für seine abendlichen Vergnügungen mit einem ganz hübschen Taschengeld versah.

Kurt hatte mit der Zeit allerhand gute Freunde und Freundinnen, auch außer der kameradschaftlichen Kreise, gefunden, mit denen sich's beinah so lustig leben ließ als zur Zeit, da er noch der schöne Kurt war, keine Sorgen hatte, oder sich wenigstens keine machte und von allen Frauen umschwärmt wurde. Nach und nach fing er auch wieder zu spielen an. Ja, selbst die Rennbahn würde bald kein unerreichbares Eden mehr sein. Warum auch nicht? Alexandra verdiente ja kolossal, und die glückstrahlende Ilse, die seit dem ersten eine höhere Töchterschule besuchte und von der Mutter von Kopf bis zur Zeh neu ausgestattet worden war »wie eine Prinzessin«, brauchte am Ende nicht den alleinigen Vorteil von den veränderten Lebensverhältnissen zu haben.

Eines Abends, zu Ende März fand Kurt von Werbitz das Nest leer, in dem er sich jetzt fast allnächtlich zu amüsieren pflegte. War es Zufall? War die Polizei der fidelen Vereinigung auf die Spur gekommen? War man gewarnt worden? Er hielt es jedenfalls für geraten, nicht zu forschen, sondern sich auf eigene Hand einen vergnügten Abend zu machen. Langweilen konnte man sich in Berlin so leicht nicht, und Alexandra hatte ihn heute besonders reichlich versorgt. Sie war im allgemeinen doch eine ganz gute Person, bis auf ihre langweiligen, altmodisch pedantischen Pflichtgefühlsschrullen.

Unter den Linden traf er einen Kameraden in Civil, der sich ihm anschloß. Man beriet hin und her, wo sich der Abend am vergnüglichsten zubringen ließe. Schließlich [150] kam man auf den Gedanken, das nächste Spezialitätentheater zu besuchen.

»Da soll ja jetzt der Teufel los sein,« meinte der Kamerad, auf den Werbitz gestoßen war. Und als Kurt einen Augenblick zögerte: »Übrigens Kameraden von der Garde niemals zu finden, können unbesorgt hingehen.«

Trotzdem die Vorstellungen schon angefangen hatten und der Saal übervoll war, fanden sie noch zwei gute Logenplätze der Bühne gerade gegenüber. Kurt bestellte eine Flasche Heidsieck. Er hatte es ja heute dazu, und wer weiß, was morgen war!

Dann machten sie sich's bequem, steckten die Cigaretten in den Mund, die Beine lang von sich und begannen eine halblaute Unterhaltung, ohne auf die Vorgänge auf der Bühne sonderlich acht zu geben.

Eine gewisse nervöse Bewegung im Publikum, die jedesmal auf etwas Besonderes schließen läßt, machte die Beiden erst aufmerksam auf ihre Umgebung.

Auf einen schmalen Steg in der Mitte des Parkets, mit dem Gesicht der Bühne zugewendet, war eine kräftige, vornehm gewachsene Frauengestalt getreten. Werbitz sah nur einen Knoten blauschwarzes Haar und ein paar feine, von schwarzen Sammetstreifen umrahmte Nackenlinien, und jetzt eine weiße, kräftige Frauenhand, die einen Gewehrlauf lud.

Wenige Augenblicke später hatte die weiße Hand den ersten Meisterschuß gethan, dem pausenlos eine ganze Reihe anderer folgte. Werbitz war elektrisiert.

»Sie, Gröben, das ist ja ein famoses Frauenzimmer, die muß ich mir mal in der Nähe betrachten.« Er sprang auf. »Lichtwark erzählte, daß er im Herbst in Paris was [151] ähnliches gesehen habe, aber schwerlich in solcher Vollendung – und noch dazu von einer so teufelsmäßig schön gewachsenen Person.«

Dabei war Werbitz schon zur Loge hinaus und ins Parket hinunter geeilt, um einen Blick in das Gesicht der genialen Kunstschützin zu erhaschen.

Gröben immer hinter ihm her.

Die Sache war indeß nicht so leicht, wie sie aussah. Das Parket war gedrängt voll und manches Geschoß traf sein Ziel, bis es Werbitz endlich gelang, ein Plätzchen zu finden, von dem aus er der Schützin ins Gesicht sehen und alle ihre Bewegungen verfolgen konnte. Aber das Glück schien ihm nicht hold.

In dem Augenblick, als er den Platz in der Nähe des Stegs erhascht hatte, wandte die Schützin sich nach den Logen um und schritt mitten durch das mit seiner Bewunderung nicht kargende Publikum auf den Platz zu, den Werbitz soeben verlassen hatte, um sich von hier aus in ihrer sensationellen Schlußnummer zu produzieren. »Pyramidales Pech,« murmelte Kurt, ihr nachblickend. Er wollte noch etwas hinzufügen, aber plötzlich starb ihm das Wort auf der Zunge. »Miß Julietta« war in die Loge getreten, und lehnte nun, dem gesamten Publikum sichtbar, hart an der Brüstung.

Kurt schwankte – dann stieß er einen unartikulierten, halb pfeifenden, halb ächzenden Ton aus. Vor seinen Augen tanzten rote und gelbe Flammen. – War er wahnsinnig geworden? – War die Welt aus den Fugen? – Da – da – war es denn möglich? Er griff sich an die Schläfen. – Nein, er war nicht wahnsinnig und um ihn [152] her stand die Welt noch ebenso fest, als vergnüglich da – und da – da oben, durch eine tausendköpfige ihr zujubelnde Menschenmenge von ihm getrennt – stand sie – Alexandra, sein Weib, als Star eines Tingel-Tangels!

Einen Augenblick lang packten ihn Wut und Grimm so übermächtig, daß es ihn trieb, sich wie ein wildes Tier durch die Menge Weg zu bahnen, die Ehrvergessene von ihrem schmachvollen Piedestal herunterzureißen – sie zu treten – zu würgen – zu töten.

Da plötzlich donnernder Beifall um ihn her.

Die letzte Nummer hatte ihren Anfang genommen.

Unter dem hufeisenförmigen Ziel auf der Bühne stand schon der Angestellte des Etablissements. Dicht über seiner Stirne pendelten die weißen, schwingenden Scheiben.

Ein Gedanke wie ein Blitz durchfuhr Kurt. Wenn er der Ehrvergessenen dort statt des Fremden gegenüber trat, ihr schamloses Gewerbe vor der Welt, die sie bewunderte, zu Schanden machte, ihr drohend ins Auge blickte, daß sie beschämt den Lauf senkte, und ihre schmachvolle Herrlichkeit ein jähes Ende fand! Es mußte Wonne, Genugthuung sein!

Mit zwei Sätzen war er auf der Bühne. Er brauchte nicht lange zu suchen. Kurt von Werbitz kannte die Wege, die hinter Kulissen führen.

Die ersten zwölf weißen Scheiben waren abgeschossen. Eben war das Hufeisen mit neuen, noch kleineren Scheiben besteckt worden. Der junge Mensch, der sein Leben allabendlich sorglos Miß Juliettas Geschicklichkeit anvertraute, stand in der Kulisse.

Kurt flüsterte ihm mit heißem Atem etwas zu, was[153] der Ausländer nicht einmal verstand, drückte ihm eines von Alexandras Goldstücken in die Hand und stieß, da er ihm dennoch folgen wollte, ihn so heftig in die Kulisse zurück, daß er platt auf den Rücken fiel. Dann, mit wenigen Schritten, stand Werbitz unter den schwingenden Scheiben.

Wie stets, fing Alexandra auf der rechten Seite an, die Scheiben herunter zu schießen. Eins, zwei, drei, vier. Gleichmäßig ruhig, sicher, ohne Schwanken und Zögern. Jetzt lehnt sie den Lauf an die Wange – es gilt die fünfte Scheibe, die erste über der Stirn des Mannes. Das Publikum verharrt in atemlosem Schweigen – da plötzlich ein markerschütternder Schrei – die Schützin oben in der Loge bricht bewußtlos zusammen und unter dem Ziel auf der Bühne liegt, von ihrer Kugel niedergestreckt, tot der Mann, dem durch Monate kein Härchen gekrümmt worden ist. – Nein – nicht er – ein anderer – ein Fremder – der Mann – der Gatte der schönen Schützin.

Wie ein Lauffeuer hat sich die Nachricht verbreitet. Niemand weiß, woher sie gekommen ist – von Mund zu Munde läuft sie – Schaudern und Entsetzen verbreitend – »Ein Skandal ohne Gleichen – ein Roman – eine vornehme Dame – der Gemahl, der sie ertappt hat – ein Graf –«

Der Direktor reibt sich die dicken, mit Ringen überladenen Hände. Miß Julietta wird ihm bis zum Schluß der Saison ausverkaufte Häuser machen, wenn auch die Polizei für das letzte kühne Wagstück nunmehr die Konzession verweigern wird.

Der gewitzte Direktor hat sich ausnahmsweise verrechnet.

[154] »Miß Julietta« tritt nicht wieder bei ihm auf. Frau von Werbitz stellt sich den Gerichten.

Die Geschworenen sprechen die heldenmütige Frau frei, die sich für ihr Kind geopfert hat.

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TextGrid Repository (2012). Duncker, Dora. Erzählungen. Mütter. Für ihr Kind. Für ihr Kind. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-883A-F