102. Auf vier theure Mitglieder unsrer Gemeine, so in der Christ-Woche auf den Hutberg kommen

1731.


Lämmer Christi, weinet nicht; oder weinet ihr vor Freuden,
Daß von eurer Heerde schon neunzig mit dem Lamme weiden?
Uebel angewandte Zähren, die man der Verwesung zollt!
Wem sind über Hoffnungs-Saaten Thränen auf sein Feld gerollt?
[289]
Aber, was beweget mich unsre Brüder anzuschreyen:
Daß sie ihr gesegnet Korn ohne nasse Augen streuen?
Halten sie nicht dieses Leben für die rechte Thränen-Saat,
Und hingegen das Verscheiden für den ersten Freuden-Grad?
Wahrlich! wer nur Herrnhut kennt, diese hingewagte Hütte,
Und gibt Achtung auf das Volk, und auf alle seine Tritte,
Der wird, (hat er offne Augen,) ohne grosse Mühe sehn,
Daß uns mit der Heimberufung eine Gnade kan geschehn.
Gehe hin, du Volk des Herrn, und verschleuß dich vor dem Jammer,
(Daß man Sünde sehen muß,) in die lustge Hutbergs-Kammer.
Warte, bis der Wiederbringer von dem stolzen Bogen ruft:
Judith! Jürge! Paul! Rosine! kommt ihr Tauben aus der Kluft!
Aber, wo gerath ich hin, unbeflekte Friedens-Geister!
Laßt die morschen Hütten ruhn, übergebt sie ihrem Meister,
Unser Freund ist unser Schmelzer, wer vertraute Dem nicht gern?
Lernt: Das ausserm Leibe Wallen, und daheim seyn bey dem Herrn.

Judith Kunertin. 1

Ich habe meinen Freund gesehn,
Er war noch schöner als ich dachte:
[290]
Wie ist mir doch so wohl geschehn,
Daß ich mich an die Liebe machte?
Sie stösset niemanden zurük,
Vielmehr erbarmt sie sich der Armen:
Und wenn ich Ihn ans Herze drükk';
So fühl ich freundliches Umarmen.
Ihr Lieben bleibet doch
An Seinem sanften Joch,
Und traget Seine leichten Bürden:
Wenn man mit Ihm die Last
Auf seine Schultern faßt,
So ruht man auch in Seinen Hürden.
Georg Seyfert. 2

Ich zehlte zwölfmal sieben Jahr
In dieser unbeständgen Hütte.
Der Freund, des meine Seele war,
Erhöhte meiner Brüder Bitte,
Und nahm mich in die Ruhe ein,
Dahin nur Seelen kommen können,
Die durch Sein Blut versöhnet seyn,
Und munter nach dem Kleinod rennen;
Der Herr erbarmte sich
Vor kurzem über mich:
Kaum aber, daß ichs Elend fühlte,
So war auch Gnade nah,
Und die Erlösung da,
Wornach mein Herz so sehnlich zielte.
[291] Paul Schindler. 3

Itzo seh ich, was ich solte,
Itzo hab ich, was ich wolte,
Da ich kaum noch Othem holte,
Und vor Liebe brennete.
Rosina Pieschin. 4

Bruder! bist du kommen?
Gehst du mir entgegen,
Mich dem Herrn zu Fuß zu legen?
Weißst du nicht die Arme lieblich auszuspannen?
Ja, du winkest mir von dannen.
Nun es sey, ich bin frey!
Mann und Kinder weiland,
Laßt mich itzt zum Heiland.
Nun du Saat der Ewigkeit geh in die gewünschte Fäule,
Christi Blut bedünget dich, sorge nicht für lange Weile.
Bey dem Herrn sind sechzehn Stunden gleich so kurz als tausend Jahr,
Eh es Welt und Zion glauben, ist die Saat zur Erndte klar.
Aber ihr in Herrenhut eingeschloßne Braut-Gemüther,
Die ihr euch noch schmükken laßt, gehet heim zu euerm Hüter.
[292]
Sagt Ihm: Theurester Hegai, wolln wir doch ganz leidsam seyn;
Esth. 2, 8. 9.
Mach uns feurig oder feuchte, nur mit Blut des Lammes rein!
Malach., 2, 2. c. 3, 2. Offenb. 7, 14.

Fußnoten

1 Eine Jungfrau von funfzig Jahren, welche in einer beständigen Treue gegen ihren Heiland gelebet hat, von dem ersten Augenblik ihrer Bekehrung an, die im August 1728. vorgegangen. Sie lebte aber in einer unverrükten Befriedigung mit dem Heilande, und war ihr immer wohl in der Gelassenheit; fragte man sie in ihrer letzten Krankheit, wie ihr sey, so war ihre Antwort: Die Liebe dekket mich.

2 Ein Mann von etlich und achtzig Jahren, der erst in seinem hohen Alter die Schmach Christi höher achten lernen, dann die Schätze Egypti.

3 Ein sieben und sechzigjähriger Mann, der seinen Heiland innig geliebet, und mit einer seligen Empfindung Seiner Liebe verschieden ist.

4 Eine Frau von vier und zwanzig Jahren, die eine Zierde der Gemeine gewesen, deren Bruder in den Banden das Evangelium mit seinem Tode versiegelt hat. Sie vermeynte in ihrer letzten Krankheit, ihr Bruder wartete auf sie, und freuete sich, ihn zu empfahen.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von. Gedichte. Teutsche Gedichte. 102. Auf vier theure Mitglieder unsrer Gemeine. 102. Auf vier theure Mitglieder unsrer Gemeine. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-B5CD-3