[81] Im Feuernest des Herdes

»Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir weise werden!«
(Moses.)

»Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde ...

Darum fürchten wir uns nicht, wenn gleich die Welt unterginge, und die Berge mitten ins Meer sänken.«

(Psalmist.)


Im Feuernest des Herdes ruht
Verloren mein düstres Auge;
Und grübelnd starrt die Glut
Zurück mit rotem Auge. –
Glut, was starrst du?
Draußen an der Mauer rüttelt
Der Sturm mit drohendem Gebraus;
An morschen Gliedern
Zittert das Haus, –
Wie ein zagender Greis.
Ein Bangen kommt geschlichen
Und flüstert in mein Ohr;
Und zur Decke huscht
Scheu mein Blick empor:
Wenn die Decke birst, –!
[82]
Da raunt es und zischelt:
»Ja, ducke dich nur
Und drehe die Augen nach oben!
Sieh die Faust der Vernichtung erhoben!
Horch, wie die Balken stöhnen!
Sie ahnen, daß dies Haus
Einst im Sturze dröhnen
Wird wie ein gefällter Riese.
Wenn dann der aufgewirbelte Staub
Sich senkt auf wüste Trümmer,
Kommt das Unkraut
Mit tastender Wurzel
Geschlichen und wühlt sich
In morsches Gestein;
Halb vergraben aber im Schutt,
Lugt zum mürrischen Himmel empor
Mit leeren Augenhöhlen
Ein bleicher Schädel –
Dein bleicher Schädel!
Dein kostbar Haupt!« – –
Mein Haupt! –
Was ich bedient mit täglicher Plage,
Wie eine Mutter ihr einziges Kind,
Was ich beim Rascheln der Gefahr
Geschirmt mit zuckendem Arm –
Das liegt nun hoffnungslos verworfen
Zwischen Schutt und hämischem Unkraut,
Wie ein zertrümmertes Thongefäß! ...
[83]
Im Feuernest des Herdes ruht
Verloren mein angstvoll Auge;
Und grübelnd starrt die Glut
Zurück mit rotem Auge.
Glut, was starrst du? –
Da sprüht es in dem roten Auge
Begeistert auf;
Heiliges Feuer wallt empor
Und stürzt auf meine Seele
Wie einer Sturmflut Woge;
Und die Flammen singen summend
Wie Orgelton, wie Sturmesbrausen:
»Gieb es auf, dein nichtig Haupt!
Dann magst du es getrost verlieren.
Sei gleich uns, verbrenne dich!
Viele tasten im Dunkeln und frieren.
Sieh die fromme Flammenrose
Blätterüppig blühen,
Licht und Wärme, Liebesgaben,
Ihrem Kelch entsprühen! –
Selig, wer aus enger Hülle
Freudig sich erhebt,
Zu erhabenen Himmelsweiten
Selbstverloren schwebt!
Wie ein stiebend Aschenstäubchen
Flieht die Todesnot ...
Überselig ist die Liebe,
Ist der Opfertod!«

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TextGrid Repository (2012). Wille, Bruno. Gedichte. Einsiedler und Genosse. Der Genosse. Im Feuernest des Herdes. Im Feuernest des Herdes. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A9D0-B