Bruno Wille
Der Glasberg
Roman einer Jugend, die hinauf wollte

Erstes Buch

Traum von Glastelfingen

Daß ich noch einmal auf den Pfaden meiner Jugend gehandelt und den Schicksalen er Tübinger Schulgefährten nachgegangen bin, hat ein Traum veranlaßt. Er weckte mir Heimweh nach einem Schatze, der mir fast unbewußt geworden war. Ich träumte den Traum an einem Aprilmorgen des Weltkrieges, in meiner Schlafkammer zu Friedrichshagen am Müggelsee. Von einem Geräusch auf dem Hausflur halb wach geworden, hörte ich eine Lerche trillern, und dieser Frühlingsherold erinnerte mich daran, daß ich gestern zu meiner Frau gesagt hatte, es sei Zeit, Hopfenknospen zu sammeln, die ein würziges Kraut für die Suppe sind. Die Lerchenmusik lullte mich in neuen Schlaf, und in den anhebenden Traum wob sich die Vorstellung von Hopfen: Ich war bei einer Hopfenpflanzung, wie ich sie einst auf sonnigen Höhen bei Tübingen erlebt hatte.

Ein Tälchen mit einem Bach, über den ein Steg führt! Der Wegweiser hat die Aufschrift: Glastelfingen. Und ein beglückendes Staunen ergreift mich: Glastelfingen? Ist das nicht jenes heimliche Dörfchen, von dem ich als Knabe geschwärmt? Zwischen Gartengemäuer auf steinerner Steige empor. Rechts und links gestaffelte Beete, Rebstock bei Rebstock; von vorgewölbter Halde [9] grüßen sonnige Weinbergshäusle. Dann säuselt ein Wald von Apfelbäumen. Erquickende Rast im Schatten und selige Schau. Durchs Tal windet sich blinkend der Fluß – der Neckar ist es, nur daß er etwas holdselig Neues hat, wie überhaupt die ganze Schwabenlandschaft in Verklärung lächelt. Aus goldigen Weizenfeldern grüßt ein Dorfkirchlein. Hinter dem Kranze der Waldhügel blaut die Alb mit ihren Schanzen und burggekrönten Kuppen.

Umfassender noch möcht' ich schauen – also hinauf ins Hohe, Freie! Je höher ich komme, desto leichter wird mir, und schließlich ist es, als ob ich schwebe – wie eine Taube, stillen Fittichs. Oder als ob die Landschaft vorüberziehe am ruhig Schauenden. Wie wallendes Gewölk. Selbst der Berg, an dem ich weile, hat etwas Wolkenhaftes. Nicht aus Erdenstoff besteht er, sondern aus Lichtduft – blaugrüner und goldiger Dunst, bildet runde Stufen, die sich himmelan häufen. Und nun sind diese Stufen Musik, ein rätselhaft süßes Gewoge von Klang ...

Das überirdische Schweben hat aufgehört, wieder bin ich Erdenwanderer. Kuhglocken läuten, ein Hirt jodelt. Die Halde, über die ich wandle, ist Vorstufe eines Gebirges, das sich weit und weiter dehnt. Klee mit summenden Bienen – lila blühendes Mohnfeld – Welschkorn, dessen schwertförmige Blätter rascheln. Dann abermals gestaffelte Berggärten, wimmelnde Rebstöcke. Südlichen Charakter nimmt die Landschaft an – geht's hier nach Italien hinab? Weinlauben, strotzend von Ueppigkeit; aus dem Blätterwerk lugen schwarzblaue Trauben. Feigengebüsch lockt mit Honigfrüchten, hochwipflige Edelkastanien wiegen sich in lauer Luft und lassen aus geplatzten Stachelschalen die braunen Kugeln fallen. Rings riesenhafte Berge. Als silberne Fäden gleiten Schaumbäche zwischen Felsen zu Tal. Aus dem Dunst der Ferne glimmert's von Gletschern ...


[10]

»Ich hör' ein Vöglein pfeifen –

Das pfeift die ganze Nacht,

Und alle Sterne lauschen,

Bis nun der Tag erwacht.

Schließ du dein Herz wohl in das mein' –

Schließ eins ins andre Herz hinein –

Daraus soll blühn ein Blümelein,

Das heißt Vergißnichtmein.«


So schallt es aus ferner Landschaft, zweistimmig. Wohl ein Liebespaar. Ja, dort erscheint der Bauernbursch mit seinem Mädel. Trägt grauen Linnenrock zu roter Weste, Kniehosen, Lederkäppchen. Sie hat über gelben Zöpfen eine schwäbische Flittertrone – blitzsauber stehen zum schwarzen Samtmieder die weißen Hemdsärmel. – Diese zwei dünken mich traute Bekannte – es bleibt mir aber unklar, wer sie sind. »Nun, Kinder?« frage ich, »hier oben soll ja Glastelfingen sein? Wie weit ist's noch?« – Sie stutzen, lugen einander an, als wüßten sie nicht zu antworten. Und das Mädel raunt mit verlegenem Lächeln: »Glaschtelfinge? Uijeh!« Der Bursch läßt die dunkelrote Rose, die er im Munde hält, fallen und späht unschlüssig nach hinten. Seufzend macht er mit dem Arm eine Bewegung, als wolle er ausdrücken: »Weit ist's, himmelweit!«

Nun bin ich mit einemmal auf öder Hochebene. Steinige Schafweide, Bergsumpf, finsterer Tannenwald, starrende Felsen. Was ragt ganz hinten? Ein kahler Schroffen, blinkend wie Glas. War's hier, wo der Vorzeit Riesen Berg auf Berg gewälzt haben, den Himmel zu erstürmen? – In die Schauer der Alpenwildnis mischt sich etwas heimlich Wonniges. Ein Jauchzen weht, verschollen fast, von oben her – als sei ein Fest im Dorfe Glastelfingen, das da irgendwo liegen muß. Oder sind's die Seligen, auf Wolken wandelnd?

[11] »Glastelfingen,« spricht eine klangvoll tiefe Stimme ... Ich glaube gar, das ist der Kandidat Hainlin! Ja, wirklich! Ich bin auf seiner Studentenbude – bin der dreizehnjährige Pennäler, dem er Nachhilfe in lateinischer Grammatik erteilt. Im Wörterbuche blätternd, belehrt er mich: »Glastelfingen – Himmelsburg altdeutscher Göttersage, auf halber Höhe des Glasbergs. Bei Dante eine Vorstufe des Paradieses – Monte Cristallo.« ...


*


In diesem Augenblick war's, daß ich erwachte und – mich in meiner Schlafkammer zu Friedrichshagen befand. In hoher Morgenluft trillert die Lerche, mir im Ohr klingen noch Hainlins Worte: »Glastelfingen ... Monte Cristallo.«

Die Gestalt des Kandidaten macht einen früheren Zug des Traumes verständlich: der Bauernbursch und das Mädel haben Aehnlichkeit mit Hainlin und seiner stillen Braut Rosel. Daß mir der Kandidat Hainlin in ländlicher Tracht erschien, hat sich aus der Erinnerung hervorgesponnen, er habe, um Rosel heiraten zu können, Gärtner werden wollen. Dazu paßt die Weise: »Schließ du dein Herz wohl in das mein', schließ eins ins andre Herz hinein – daraus soll blühn ein Blümelein ...«

Zärtliches Vergißnichtmein! Plötzlich in einem Herzenswinkel hab' ich dich entdeckt. Und staune nun darüber, daß die Lichtgestalten meiner Knabenzeit, die mir scheinbar aus dem Sinn gekommen waren, noch frisches Leben haben. Als hätten sie sich geflüchtet in ein verborgenes Wunderland, wo keine Zeit schaden kann. Heimat ewiger Jugend, wo bist du? Meint dich die Träumerei von Glastelfingen? Findet man den Zugang zum heimlichen Märchendorf im Gemüte? Ist es das verklärte Leben der Erinnerung?

Anders als dort im geschützten Bereich geht's außen her, in der Welt, die man Wirklichkeit nennt. Hier verblühen die [12] Blumen, hier bleicht das Laub, hier wütet das Stürmen der Zeit. Das Liebespaar, wie's mir im Traum erschien, gibt es nicht mehr in der Außenwelt. Während der zweiundvierzig Jahre, die ich von Tübingen fort bin, haben Hainlin und Rosel graue Haare bekommen und Runzeln. Wenn sie überhaupt noch atmen. Hainlin wird längst tot sein. Hätte er noch ein paar Jahrzehnte das Leben behalten, eine Spur von ihm wäre mir begegnet. In einer Zeitung, einem Buche. Trug ich mich doch einst mit der Hoffnung, es werde am deutschen Geisteshimmel ein Stern auftauchen, Dichter oder Philosoph, Hainlin geheißen. Weil mir dieser Name in keinem Literaturblatt begegnet ist, weil ich mir aber nicht denken kann, daß aus diesem Feuerkopf ein Durchschnittsmensch geworden ist, so muß ihn der Strudel einer Welt verschlungen haben, die ja nie das Element für Träumer war.

Rosel könnte noch am Leben sein. Vielleicht haust sie in Tübingen oder sonstwo im Ländle, als Witwe Hainlin oder als alte Jungfer ... Jedenfalls wäre sie jetzt Greisin. Seltsamer Gedanke: das frische Mädel mit den blanken Augen – das in mir so lieblich blüht wie der Traum von Glastelfingen – jetzt sitzt sie viel leicht welk und weißhaarig im Stuhle, beim Kriegskaffee – schaut wehmütig auf Hainlins Wandbild, während in der alten Kastenuhr der Perpendikel langsam tickt und tackt:


»Net lang, so geht dir's Lichtle aus,

Ond steht bei Uehrle still im Haus.

Jetzt, Menschekind: waas soll dees Ganz?

Oh, glaub: die Welt ischt Gaukeltanz,

Ischt bunter Traum, e Schattespiel ...

Du Närrle, gelt? Trau net so viel!«


Wenn das nun wahr ist, wenn alles Leben Traum bedeutet, haben wir dann Grund zur Klage? Ich glaube kaum! War die [13] Wirklichkeit schlimm, so ist es ein Trost, daß wir eben bloß geträumt haben. War die Wirklichkeit aber etwas Holdes, so blüht das Holde als Blümlein Vergißnichtmein, in Glastelfingen, wo der Jungbrunnen taut.

Viele Leute freilich, allzu viele, haben kein Verständnis fürs heimliche Dörfchen. Von der Außenwelt sind sie befangen, von dem, was die fünf Sinne erfassen als Stoff und Genuß. Dort seh' ich ein Beispiel: meinen alten Stiefelknecht neben dem Waschtisch. Er ist zwar ein geringes Möbel, hat aber nach verbreiteter Ansicht viel voraus vor Glastelfingen. Denn er ist greifbar, während das heimliche Dörfchen bloß Traum ist. Wenn jetzt ein Hausierer bei mir anklopfte, Lumpen und dergleichen einzuschachern, der gäbe was für meinen Stiefelknecht, aber aus Glastelfingen machte er sich nichts. Auslachen würden mich die Leute, wenn ich ihnen vorschwärmte, Glastelfingen sei mein heimlicher Garten Eden. Würden mich einen überkandidelten Schwärmer schimpfen. Und wenn ich eigensinnig an meinem Traume festhielte, wohl gar auf die Wanderschaft ginge, um Glastelfingens Urbild im Schwabenland aufzuspüren – was gilt die Wette? Ein Landjäger würde mich in Numero Sicher schaffen, und ein Arzt, nachdem er mich beklopft, würde meinen Geisteszustand folgendermaßen beurteilen: »Hier, lieber Mann, ist die Landkarte von Württemberg – nun zeigen Sie mir mal Ihr Glastelfingen! Ihr Land, wo Milch und Honig fleußt. In welchem Oberamtsbezirk liegt es denn, he? Gelt, da werden Sie unsicher! Geben Sie lieber ohne Umschweife zu: solch Dörfle gibt's bei uns überhaupt net! Deescht bloß Schaum in Ihrem gärende Hirn – fixe Idee nennt's der Psychiater. Drum rat ich Ihne, guter Mann, halte Se den Mund, daß er net wieder von Glaschtelfinge babble tut – sonscht lauft die Sach übel aus. Dergleiche Schwärmer steckt mr bei ons eifach ins Narrehäusle – net [14] wahr? Also gut! I han Sie gewarnt. Für diesmal wolle mr Sie laufe lasse – Sie scheine ja im übrigen e harmloser Wicht zu sein.«

Donnerwetter, ja! Fatale Geschichten können einem widerfahren, wenn man übers Wirkliche und Wahre anders denkt als Gevatter Gerber und Färber. – Aber so ist die Welt! Dem Hausierer, der für meinen Stiefelknecht ein paar schmutzige Groschen zahlt, ihm traut man gesunden Menschenverstand zu. Es hauste hingegen mal jemand in Tübingen, den ein Genius beseelte – Hölderlin nennt ihn die Geschichte. Und dieser Schwab gewordene Apoll wurde als Idiot in den Turm am Neckar gesperrt, weil sein Glaube an ein Glastelfingen, ein griechisches, ihn derart enttäuscht hatte, daß die zarten Saiten seines Herzens zersprangen. Diotima und des Menschentums adlige Schönheit bedeutete ihm wahres Sein – übers Winkelgetriebe des Krämergelichters wollte er durchaus hinwegsehen. Noch seine heisere Harfe hallte rührend, indessen um die verwitterte Stadtmauer naßkalter Herbst schnob und auf dem Turm die Wetterfahne kreischte.

Hölderlintraum! Heimweh nach dem ewigen Glastelfingen! Geglommen hast du schon hinter den Stirnen jener Weisheitsjünger, die in athenischen Säulengängen wandelten. Wahrheit ist nicht zu verwechseln mit äußerer Wirklichkeit. Willst du das Wesen schauen, so verliere dich nicht an die Erscheinung! Wie ein Bergmann tief nach Edelmetall schürft, suche du Gehalt der eigenen Persönlichkeit! Es stimmt zwar, daß man die Außenwelt nicht übersehen, daß man Boden unter den Füßen haben soll, um Reben pflanzen zu können. Doch was du geerntet, was du vom Wurzelbereich losgelöst und in höheres Leben umgewandelt hast, erst das hat Wert. Man keltert die Trauben; und ist der Saft im Keller gereift, so hat man des Erdbodens [15] heimliche Feuerseele, hat flüssiges Gold, eine Essenz aller Blumendüfte, den Göttertrank der Begeisterung.

Wohlan, Traubenblut meines Lebens, ätherisch gewordene Wirklichkeit von ehedem! Du bist's, wonach ich mich sehne, bist mein Dörfchen am Monte Cristallo. Als blumigen Wein laß dich schlürfen aus einem Edelbecher! In einer altväterischen Weinstube soll es sein, zu Tübingen, wenn ich ausraste vom Gang über sonnige Berge. – Vielleicht, daß da silberhell ein Stimmchen lacht. Mein Gott, frisch Mädel, bist du noch da, meine Jugend? – »Ha freili! Ond du? Wo bischt so lang gwä? Ond waas soll der Graubart da? Weg mit der Maskerad, domms Büble!«

[16] Wie zuerst vom Glasberg die Rede war

Im Silber des Mondes schimmerte die Sommernacht, als ein dreizehnjähriger Knabe ins Neckarstädtle einfuhr, das ihm neue Heimat sein sollte. An der Eltern Seite saß er, im Gasthofwagen, der die Gäste vom Bahnhof abholte. Hatte ich mich beim Lesen des Robinson-Buches gesehnt, auch mal als Schiffbrüchiger auf eine unbekannte Insel zu gelangen, so kam ich mir jetzt wie eine Art Robinson vor. Mich durchbebte die Lust am Abenteuer; in den Mut der Jugend mischte sich freilich auch etwas vom Zagen, das meine Eltern bedrückte. Durch des Vaters drohende Erblindung und bereits erfolgte Verabschiedung aus dem Amte war die Familie gewissermaßen schiffbrüchig geworden.

Es durchschauerte mich romantisch, als wir über die Neckarbrücke fuhren und der Blick durchs Wagenfenster auf ein nachtumwobenes Stadtbild fiel. Längs des glimmernden Flusses in dunkler Zeile altertümliche Häuser; an Fensterscheiben blinkernd der Mond. Schwarze Laubmassen am anderen Ufer. Ueber die Dächer lugt ein stumpf zugespitzter Kirchturm. Vom Berge trotzt die Burg Hohen-Tübingen. Wie ein Raunen dunkler Zukunft das Rauschen des Baches, der aus dem Schacht einer Mühle in den Neckar stürzt. Meine Eltern in düstere Schweigsamkeit versunken. – Wie der Wagen beim plätschernden Marktbrunnen hält und der Lammwirt die neuen Gäste willkommen heißt, wünschen wir uns gleich zu Bett.


*


[17] Pferdegetrappel und Peitschenknall. Die Sonne scheint zum Fenster herein, und mir kommt zum Bewußtsein: In einem Gasthaus hab' ich geschlafen. Im Nebenzimmer, dessen Tür offensteht, sind die Eltern. Noch müde, leg' ich mich aufs andere Ohr. Doch auf der Straße ist's zu lebhaft, Wagen rollen, eine Kuh brüllt, Stimmengewirr, Weibergetratsch.

»Gemüsemarkt,« hör' ich im Nebenzimmer meinen Vater sagen. »Ich will zur Zeitungsexpedition – vielleicht sind noch Wohnungsangebote eingelaufen. Bleib' du nur ruhig liegen.« – »Ruhig?« erwidert meine Mutter kläglich. »Kann ich unter diesen Verhältnissen ruhig sein? Die halbe Nacht hab' ich mich gebangt! Nun sind wir in der Fremde und wissen nicht ...« Sie bricht in Weinen aus. Ich höre, wie mein Vater aufsteht und die Verbindungstür schließt. Schwer ist mir das Herz. Frisch und froh hatte ich ins neue Leben geblickt – nun war da wieder die graue Sorge – als ob dies Gespenst die Familie Wille mit besonderer Tücke verfolge.

Als ich noch klein war, hatte die Kette des Mißgeschickes begonnen. Von seiner Kanzlei war mein Vater in einer Droschke nach Hause gekommen und gleich zu Bett gegangen. Von der Darmverschlingung, die ihm ein Fehltritt auf der Aktenleiter beigebracht, wurde er zwar gerettet; aber dann erkrankten die Augen. Um wenigstens das eine zu retten, wurde das andere herausgenommen. Mein Vater mußte seinem Beamtenberufe entsagen und wurde mit einem kargen Ruhegehalt verabschiedet.

Meiner Mutter fiel es nicht leicht, solchem Schicksal mit Fassung zu begegnen. Enttäuschungen, die ihr schon in ihrem Elternhause nicht erspart geblieben waren, hatten ihr eine Bitterkeit beigebracht, die nun überhandnahm. Ihr Vater, ein Major, hatte das Vermögen durch noble Passionen, Spiel und Bürgschaft zerrüttet. Als er plötzlich starb, blieb der Witwe mit acht [18] Kindern nur die schmale Pension und geringes Vermögen. Diese Verarmung der Familie war's gewesen, was einen jungen Rittergutsbesitzer veranlaßt hatte, seine Bewerbung um meine Mutter zurückzuziehen. Sie hatte sich dann zur schlicht bürgerlichen Ehe mit meinem Vater bequemt. Aber den früheren Freier konnte sie nicht vergessen. Wenigstens kam es mir so vor, seit ich zufällig ein Gespräch der Eltern mitangehört hatte. Seitdem bildete ich mir ein, mitschuldig zu sein an der Unzufriedenheit der Mutter. Hätte sie damals den Junker geheiratet, so hätte sie – faselte ich – ein andres Kind bekommen als mich. Es war also eine gewisse Rücksichtslosigkeit von mir, zur Welt zu kommen.

Aber nun war ich einmal da. Und hatte schon wieder eine peinliche Auseinandersetzung zwischen den Eltern belauschen müssen. Ich atmete auf, als jetzt die begütigende Art meines Vaters die Oberhand gewann. »Es wird schon gehen,« tröstete er, »man soll die Dinge nicht trüber sehen, als sie sind.« – Aber die Mutter klagte: »Brunos Schule macht mir Sorge; sie sollen hier im Latein weiter sein.« – »Ach was!« ermunterte mein Mater. »Er muß die Nase in die Grammatik stecken und seine Allotria lassen!« – »Das tut er eben nicht!« – »Na ja, er ist eben noch Kind! Auch bei mir hat sich ernsteres Streben erst nach der Konfirmation eingestellt. An Max haben sich die paar Jahre, die er vor Bruno voraus hat, auffällig bewährt.«

»Ja, Max hat Verstand – aber Bruno bleibt ein Träumer.« – »Also tröste dich mit Max! Du wirst sehen, keine drei Jahre, und er kommt nach Tübingen als Bruder Studio.« – »Medizin muß Max studieren,« sagte die Mutter. »Ich denke mir ihn als Arzt. Nur nicht in einem Bauerndorfe! Für die Großstadt bin ich!«

»Dafür mag Bruno das Landleben wählen,« meinte der Vater, »Bruno schwärmt ja fürs Idyllische. Ich sehe ihn schon [19] als Landpastor bei seinen Rosen und Bienen.« – »Pastor? Dazu kann er's allenfalls bringen. Du hättest hören sollen, wie er vor dem Küchenpersonal den Pastor gespielt hat. Deinen schwarzen Filzhut auf dem Kopfe, Krempe nach oben, das war sein Pastorbarett. Die Bäffchen aus Papier geschnitten. Sein Talar dein schwarzer Mantel; die langen Aermel schlappten, wenn er Gebärden machte und, das Gesangbuch an die Brust gedrückt, salbaderte: Geliebte in Christoph Kolumbus! Klein ist die Haselnuß. Größer schon die Walnuß. Erstaunlich groß die Kokosnuß. Aber die allerdickste Nuß in diesem Jammertal, das ist die Venus! Amen! – Die Dienstmädchen haben gejuchzt. Venus, was ist denn das? fragt eine; und der Bengel antwortet: Eine Nuß, die wehtut – das Weib ist bitter.« – »Ho ho!« lachte mein Vater. »Für solche Faxen hat der Bengel Sinn – aber Latein ist seine Liebe nicht. Hat erst neulich wieder ut mit dem Indikativ geschrieben.« – »Ja, sorge bloß dafür, daß er nicht so viel Indianergeschichten schmökert. Neulich hat er auch noch das Dichten angefangen.«

»Stimmt, der Bengel reimt! In seiner Grammatik fand ich einen Zettel: Der Glasberg, ein Heldengedicht. Und dann ging's los: O märchenhafte Ferne, ins Blaue zög' ich gerne! Ueber solche Reimerei war das Epos nicht hinausgekommen. Aber eine Zeichnung dazu gekritzelt: Kühn zu Roß sprengt ein Reiter den Glasberg hinan – stürzt jedoch ab, weil ihm ein Raubvogel nach den Augen hackt.« – »Man merkt,« sagte die Mutter, »er hat Uhlands Balladen gelesen und möchte nachäffen. Na, die Reimerei ist wenigstens eine Stilübung.«

»Die Geschichte vom Glasberg steht in seinem Märchenbuche. Uebrigens keine üble Idee.« – »Idee? Was für eine Idee?« – Nach sinnendem Schweigen versetzte mein Vater: »Wie wir gestern abend an Reutlingen vorbeifuhren, kam mir die Achalm [20] wie der Glasberg vor. Solch ein Gipfel lockt uns alle, es hat jeder seine heimliche Sehnsucht, auf eine Höhe zu gelangen, die er sich träumt. Meint nicht sogar unsere Uebersiedelung nach Tübingen gewissermaßen den Glasberg?« – Die Mutter seufzte: »Lieber Gott, ja! Wenn nur die Kinder vorwärts kommen! Das ist jetzt mein Glasberg.« – »Na, und der wird zu erklimmen sein,« sagte der Vater sanft, – »ist ja ein bescheidenes Ziel, eigentlich nur ein Hügelchen – obwohl einem kurzatmigen Manne wie mir beim Klimmen schon etwas die Puste ausgeht. Du mit den Kindern wirst hinaufkommen. Wirst mal mit Max in der Stadtwohnung hausen, während sein Wartezimmer von Patienten wimmelt. Oder wenn dir's besser paßt, kannst du auch auf Brunos Glasberg ziehn, in seine ländliche Pfarre. Der Frau Pastern ein wenig unter die Arme greifen. Bist ja noch jung und rüstig. Ich werd's nicht erleben. Und wenn auch! So würd' ich das Gärtchen vielleicht nicht sehen können und die Frau Pastern mit dem Kindchen ... Aber laß gut sein! Die Welt braucht sich nicht um mich zu drehen ...« – »Und auf solche Ideen bringt dich das Märchen vom Glasberg? Aber von deiner Lebensphilosophie hat der Junge keine Ahnung.« – »Wer weiß! Er spürt Glasberg-Sehnsucht. Auf kindliche Art hält er's mit dem Ritter, der die Prinzessin vom Glasberg holen will. Bei seiner Reimerei schwebt ihm vielleicht zum ersten Male etwas wie eine Idee vor.«

Unvergeßlichen Eindruck machte dies Gespräch der Eltern auf mich. Und als der Vater gegangen, als es still im Nebenzimmer geworden war, suchte mein Grübeln zu erfassen, was er meinte. Wenn meine Mutter zur Köchin gesagt hatte: »Es fehlt an der Suppe 'ne Idee Salz,« so hatte sie »ein ganz klein wenig« gemeint. Ich stellte mir daher eine Idee als ein verblasenes Ding vor, so etwas wie Stäubchen oder Spinnenfädchen. Einen schon [21] mehr vergeistigten Begriff hatte mir das Lesebuch meines Bruders beigebracht – in einem Aufsatz über Parzival war von der Idee dieses Heldengedichtes die Rede. Nun hatte der Vater dem Glasberg-Märchen eine Idee zugesprochen. Ich kam mir vor wie einer, der einen heimlichen Schatz gefunden hat. Und war jetzt entschlossen, nicht Landpastor zu werden, sondern ein Dichter, der Ideen hat. Eine Lebensaufgabe, würdiger als die Grammatikbüffelei. Da ich ein Bild des Parzival-Dichters gesehen hatte, wie er die Harfe schlägt, so wollte ich mir beim Weihnachtsmann eine Harfe bestellen. Ich hörte sie schon vom Glasberg raunen und vom kühnen Erlöser der Prinzessin.

[22] Auf der Wohnungssuche

Vom Schlummer, in den ich zurückverfallen war, weckte mich der Vater, und aus dem Bette fuhr ich. Lief zum Fenster und sah wimmelnde Menschen, Körbe mit Obst und Gemüse, umdrängt von kaufenden Bürgerinnen. »Flott!« mahnte der Vater. »Runter zum Frühstück! Es geht auf die Suche nach einer Wohnung.«

Unten schlürfte ich hastig den Milchkaffee und biß tapfer in den großen gelben Wecken, den mir nebst süßer Rahmbutter die neue Heimat bot.

Der angenehme Eindruck Tübingens steigerte sich noch, als ich mit den Eltern auf den Marktplatz trat. Gewühl und Stimmengewirr, ländliche Frauen und Mädchen mit langen Zöpfen. Sie schnatterten wie Enten. Viele trugen ihren Korb auf dem Kopfe. Diese süddeutsche Art war uns neu, ich machte auf das kranzförmige Kopfkissen aufmerksam, auf dem der Korb ruht: »Seht doch das Bauernmädchen! sie trägt ihn so sicher, braucht gar nicht anzufassen.« Meine Mutter blieb bei schönen weißen Rettichen stehen, lobte auch Bohnen, Kohlrabi und Zwiebeln. »Was kosten die Johannisbeeren?« Ihr Norddeutsch wurde von der Bäuerin nicht verstanden, aber ich konnte aushelfen, weil ich während der Eisenbahnfahrt auf die schwäbische Mundart gemerkt hatte: »Waas koschte die Träuble?« Nickend lachte die Bäuerin: »So isch reacht! So tuet mr bei ons schwätze.«

[23] Mein Vater war in Betrachtung des Rathauses vertieft. Ein mittelalterlicher Bau mit großem Dach. Die Kanzel an dem ersten Stockwerk kannte ich bereits aus den Bildern zu Hauffs »Lichtenstein« und fragte: »Von da hält der Bürgermeister wohl seine Volksreden? Aber was ist denn oben auf dem Dache? Sieht aus wie ein Storchnest.« – »Ist auch eins,« sagte der Vater, »heute früh war der Storch drin, hat mit dem Schnabel geklappert.« – »Wie ulkig! Ein Storch auf dem Rathaus! Vielleicht sitzt er noch drin und hat sich bloß geduckt! Aber sag', Vater, was bedeutet der steinerne Mann auf dem Brunnen da?« – »Das ist der Wassergott mit dem Dreizack.« Ich tat noch schnell einen Blick in die Runde, und die Altertümlichkeit der hochgiebligen Häuser versetzte mich in die Ritterzeit. »Mir gefällt Tübingen!« erklärte ich.

Meine Mutter schien anders zu empfinden, als wir nun durch Gassen pilgerten, die eng waren und winklig. Wie Rippen sahen die braunen Balken der Kalkwände aus. Die oberen Stockwerke der Bürgerhäuser über die unteren vorgeschoben. Der spitzige Giebel hat eine Luke, zuweilen auch einen vorspringenden Balken, um Stroh und Heu zum Dachraum emporzuwinden. Die schweigsame Mutter fragte plötzlich: »Wohin führst du mich?« Im Notizbuch blätternd, erwiderte der Vater: »Zur Bachgasse! Ich habe die angebotenen Wohnungen notiert, und da heißt es: Weingärtner Kübler, Bachgasse, zwei Zimmer, drei Kammern, Küche und Stall – auffallend billig.« Meine Mutter zog ein saures Gesicht. Bereits in Magdeburg war sie alten Stadtteilen abgeneigt, und nun waren hier lauter »olle Kabachen«, wie sie sich ausdrückte. Man sah keinen wohlgekleideten Menschen, nur Ackerbürger mit unsauberen Stiefeln, verhutzelte Weiblein, Handwerker mit Schurzfell. Herumlungernde Kinder gafften uns an, und freilich waren wir eine [24] auffallende Erscheinung. Meine Mutter in modischer Tracht, ihr Kleid war billig, sah aber wie graue Seide aus, und der Strohhut mit dem Schleier erregte hier Aufsehen. Mein Vater hager, schwarz gekleidet, blaue Brille, Binde vor dem Auge. Ich ein hochgeschossener Junge mit himmelblauer Schülermütze.

Einen Ackerbürger, der vom Karren Klee ablud, fragte mein Vater: »Wie kommt man zur Bachgasse?« In der rauh schnatternden Mundart des Tübinger Weingärtners erfolgte die Antwort unter beschreibenden Gebärden: »Graad naus! beim Schneider Lämmle oms Eck num! Na tut mr sich ebbes links drehe – ond widder ebbes rechts. E Seitegäßle – dees ischt aber net die Bachgaß – noi! Erscht kommt die Froschgaß ...«

Meine Mutter, den Mann anstarrend, bekam ihren roten Kopf und ging übellaunig. Bestürzt folgte ihr mein Vater, während der Mann hinter uns her rief: »Erscht die Froschgaß!« Die aufgeregte Mutter war zwischen einen Karren und einen Misthaufen geraten und kam über eine Pfütze nicht hinweg. Der Vater wollte ihr beistehen, wurde aber ungnädig empfangen: »Was mutest du mir zu! Hier soll ich wohnen?« – »Aber das ist ja noch gar nicht die Bachgasse ... Erst kommt die Froschgasse.« – »Ach was! Frosch oder Bach! Mistgassen sind das! In die wilde Walachei bin ich geraten. Hier soll ich finden, was du unsern Glasberg nennst? Ach lieber Gott!« Sie schluchzte auf, während mein Vater traurig den Kopf schüttelte.

[25] Einschulung

An meine Einschulung, die eine Stunde später erfolgte, knüpfte das Schicksal bedeutsame Fäden. In der Wilhelmstraße, wo das Gymnasium gelegen war, gab es kein Alt-Tübingen mehr, sondern freien, lichten Raum, breite Bürgersteige, schmucke Häuser. Im Erdgeschoß wohnte der Direktor, wir kamen gerade zur Sprechstunde. Ein kurzer, rundlicher Herr; schon weißhaarig, mit einer Samtkappe, rasiert wie ein Pfarrer alten Stils. Freundlich ließ er meinen Vater Platz nehmen und setzte sich ihm gegenüber: »So so! Einen neuen Schüler bringe Sie mir? Ond woher denn?« Mein Abgangszeugnis wurde ihm gereicht, er prüfte es in kurzsichtiger Betrachtung, wobei er die Brille auf die Stirn geschoben hatte. »Aus Magdeburg komme Sie? Ond Kloschter Onser Lieben Frauen heißt die Schul? Ischt aber doch proteschtantisch, net wahr? Säkularisierter Kirchenbesitz ... I bin Hischtoriker, gelt? Aber jetzt wolle mer höre, ob onser Schüler imstand ischt, onserm Onterricht in der sechste Klass z' folge ... So heißt mer bei ons die Onter-Tertia.«

Er schlug ein Buch auf und gab mir einen lateinischen Text zum Uebersetzen. Es haperte, und der Direktor fand heraus, daß mir gewisse Kenntnisse der Grammatik noch fehlten. »I han mer's denkt. Onser Lateinpensom hat en Vorsprong vor em preußische. Die Lück muß Ihr Bub gschwind ausfülle, [26] gelt? Gut wär's, Sie ließe ihm Nachhilfe erteile.« – »Sofort, Herr Direktor! Wenn ich nur jemand wüßte! Vielleicht könnte ein Student ...?« – Der Direktor nickte: »Vorausgesetzt, daß Sie an den Rechten kommen. Vielleicht, daß Herr Präzeptor Bock ... Aber freili ... ha ...« Er wollte nicht mit der Sprache heraus. Als ihn mein Vater gespannt ansah, fuhr er fort: »'s wär bloß, daß e Student billiger käm! Soviel i weiß, nimmt der Bock einen Gulde für die Stond! I han's als Heidelberger Student billiger tan – zwanzik Kreuzer han i kriegt.«

»Ein Gulden – hm! Das ist allerdings viel für meine Verhältnisse. Ich lebe von meiner Pension. Möchte also lieber einen Studenten ausfindig machen. Ob ich im hiesigen Blatt inseriere?« – »Warom net? Uebrigens wüßt i en Studente für Sie. Nur brauchte Sie net grad den Bock merke z' lasse, daß i's gewese bin, der Ihne den Kandidaten Hainlin empfohle hat. Der Bock hat e Vorurteil gegen studentische Nachhilfestonde. Besonders gegen den Kandidaten Hainlin.« – »Heißt so der Herr, den Sie mir empfehlen?« – »Ja, den Hainlin kann i empfehle – mit beschtem Gewisse. Wenn's Ihne recht ischt, könnt i ja mit dem Kandidate rede. Den muß mr vorsichtik behandle. Was der net mag, dees tut er halt net. Aber vorerscht gilt's ja Ihren Sohn eiz'schule, gelt? I bitt um Geburts-ond Taufschei!« Als ihm diese Urkunden gereicht waren, begab er sich zum Schreibtisch, schlug ein Hauptbuch auf und war mit Eintragen beschäftigt. Ich sah dem langsam tickenden Pendel der großen Kastenuhr zu, verstohlene Blicke glitten über Büchergestell und Bilder.

Der Direktor unterbrach sein Schreiben: »Ha, deescht mir sähr interessant! I les auf dem Schein da, daß Ihre Frau eine geborene von Kotze ischt. Da regt sich in mir der Hischtoriker. [27] Ischt sie verwandt mit dem Kotze, der an der hiesigen Stiftskirch den Grabstei hat?« – »Grabstein? Wir haben die Stiftskirche heute zum erstenmal gesehen, ganz flüchtig.« – »Ein Junker Jakob Kotze aus Groß-Germersleben liegt drin begraben.« – »Groß-Germersleben bei Magdeburg? Das war ein Schloßgut des Kotze-Geschlechts, wie der Familienstammbaum ausweist. Darin kann ich ja nachsehen, ob der Junker Jakob erwähnt ist.«-»Maas? e Buch hänt Sie über die Vorfahre? Derf i dees glegentlich durchblättre? Dees trifft sich gut! Jetzt wüßt i, wie mr den Kandidate zum Onterricht bestimme könnt. I will Ihne verrate, daß dr Hainlin, e talentierter Hischtoriker, über die Grabdenkmäler von Sankt Georgen schreibt. Jetzt, wenn er hört, daß Ihr Sohn blutsverwandt ischt mit dem Junker Jakob, und wenn er in Ihrem Familienbuch nach m Junker forsche derf – dees wird den Hainlin begeischtere, so tut er Ihne wohl den Gfalle ... Ein ausgezeichneter Pädagog! Dem Uli Ritter, der mit saumäßigem Zeugnis vom Stuckrter Gymnasium komme ischt, dem hat er Nachhilf erteilt – mit beschtem Erfolg. Da fällt mer übrigens ei, i könnt den Hainlin geschwind holen lasse – gelt?« Und die Klingel zog der Direktor – ein Dienstmädchen erschien: »Spring, Mädle, nüber zom Pfleghof! Beim Fechtmeischter Wühscht ischt der Hainlin – en schöne Gruß von mir, ond ob er net geschwind mal komme möcht – wegen eines Buches, das ihm arg lieb wär ... Diplomatisch muß mr verfahre,« nickte der Direktor lächelnd, als die Magd gegangen war.

Das Gespräch kam auf Vaters Augenleiden. Der Direktor bot meinem Vater eine Prise. Nicht lange, so ging draußen die Flurtür – es trat ein junger Mann herein, der vom Direktor als Kandidat Hainlin vorgestellt wurde. Eine hohe, schlanke Gestalt – blonder Christuskopf, träumerische Blauaugen, [28] eingehöhlt unter einer lichten Stirn. »Es wird Sie interessiere, Herr Kandidat,« – sagte der Direktor – »daß die Gattin dieses Herrn der Familie des Junkers Kotze von der Stiftskirch ahnghört. Ond ein Ahnenbuch, das vom ganze Kotze-Geschlecht handelt, dürfe Sie durchlese – gelt, Herr Wille?« – Mein Vater stimmte verbindlich zu: »Sobald ich es mit meinem Gepäck erhalten habe, soll's mein Junge dem Herrn Direktor und Ihnen bringen.« – »Ja, dieser Knabe«, sagte der Direktor, »ischt soebe von mir ins Gymnasiom aufgnomme, in die sechste Klass. Ischt aber ebbes rückständik im Latei. Es fehlt net arg viel – fünf bis acht Nachhilfestonde könnte ihm die paar Regele geläufik mache. Die Sach ischt bloß die, daß mer niemand wisse, der ... das heißt, empfehle könnt i schon jemanden ... i weiß bloß net, – ob er mag!«

Hainlin hatte begriffen. Er sah mich prüfend an, ich fühlte, daß ich errötete. »Wenn's Herr Wille wünscht,« sagte Hainlin bescheiden – »so wär i bereit, mich des Knaben ahnzunemme. Er könnt glei morge zu mir komme.« Dankend war mein Vater einverstanden. Ich schrieb mir Hainlins Wohnung auf und die Schulbücher, die ich brauchte. – »Und wo wohne Sie, Herr Wille?« sagte der Direktor. »Dees müeßt mr doch ins Schülerbuch eitrage.« – »Augenblicklich im Gasthof zum Lamm. Erst gestern abend sind wir hier angelangt. Ich bin auf der Suche nach einem Heim. Wir sind allerdings sehr darum in Verlegenheit.« – Hainlin schien zu überlegen. »Eine Wohnung wüßt i schon – aber bloß drei Zimmer sind's. In Luschtnau – das ist ein Dorf, ein freundliches, nur e halbe Stond entfernt ...« – »Luschtnau?« fragte der Direktor. »Bei wem wär dees?« – »Beim Kuttler.« – »Dem Rosen-Kuttler? Dem sein Enzio Schüler in meiner Anstalt ischt? Dann wär der ja Klassekamerad vom Bruno. Und könnt ihm in dr [29] Grammatik zeige, wie weit die sechste Klass komme ischt. Also, Herr Wille, 's könnt sich Ihne verlohne, nach Luschtnau zu spaziere.« – »Ich könnt Sie führen,« meinte Hainlin, »wenn's Ihne gfällik wär. I möcht ohnehi nach der Richtung.«

»Also!« ermunterte der Direktor und blinzelte vergnügt meinem Vater zu. Dann zu Hainlin gewandt: »Wie komme denn Sie an die Bekanntschaft mit dem Kuttler? Hänt 's die schöne Rösle tan?« Errötend lächelte Hainlin: »Die Rösle net – aber daas Rösle! Nemmlich Rosel Funk, mei Spielkameradin. Ihr Mutter ischt die Schulmeischterswitwe von Lauffe an der Eyach. Net weit drvon ischt mei Heimatsdörfle glege. Seit eme Jährle ischt die Frau Funk wieder verheiratet, ond zwar mit dem Rose-Kuttler.« – »Ond gelt, Herr Kandidat? Alte Liebe roschtet net!« schmunzelte der Direktor. Dann nickte er meinem Vater zu und scherzte: »Dies Kind, kein Engel ist so rein, soll eurer Huld empfohlen sein.« Nun verabschiedete sich mein Vater – alle waren wir sehr befriedigt von dieser Einschulung.

[30] Lustnau

»Bitte, links!« sagte Hainlin, als wir auf die Straße kamen. Er ging zwischen Vater und mir. Ich beobachtete ihn verstohlen. Er war noch größer als mein Vater, von einer graden Haltung. Ein edelschöner Mensch. »Wenn's Ihne paßt, gange mr's näckschte Wegle nach Luschtnau – dicht unterm Oehschterberg – Oesterberg,« verbesserte er seine schwäbische Mundart. – »Sie sind der Führer,« antwortete mein Vater, und wir bogen von der Wilhelmstraße ab. Steil erhob sich über uns eine Bergwiese mit Obstbäumen.

»Ist der Oesterberg hoch?« fragte ich schüchtern – worauf Hainlin den Bescheid gab: »Bei Tübingen sind die Berge überhaupt net hoch, und der Oesterberg ist hier net grad die höckschte Erhebung. Hat aber umfassende Aussicht. In langer, blauer Kette sieht mr da die Alb – au ebbes vom Schwarzwald. Du kennscht ›Des Knaben Berglied‹, gelt? Ich bin vom Berg der Hirtenknab, schau auf die Schlösser all herab ... Dees hab d'r Uhland, sagt mr, auf dem Oehschterberg gmacht.« – »Oh!« staunte ich – »dann muß es wunderschön da oben sein! Aber wo sind denn hier die Schlösser, auf die man herabschaut?« – »Ha, Büble!« lächelte Hainlin. »Net grad die Aus sicht vom Oehschterberg hat der Uhland schildre wolle – bloß daß ihn dieser Berg in Stimmung versetzt hat. Uebrigens sieht mr drobe Schlösser gnug. Da wär vor allem unser Tübinger [31] Schloß, gelt? Aus der Ferne winkt das Zollernschloß – auch der Neuffen – die Achalm – auf der andern Seite die Weilerburg und noch andre Ruinen.«

»Das muß ja großartig sein,« bemerkte mein Vater. »So recht was für uns! Naturfreunde sind wir, der Junge schwärmt auch noch für Romantik.« – »Recht so!« meinte Hainlin. Und meinen Vater teilnehmend von der Seite betrachtend, fügte er hinzu: »Es ist nur gut, daß Ihr Augenleiden Sie net allzu arg stört!« – »Na ja, in die Ferne sehe ich leidlich, der Blick ins Grüne tut mir sogar wohl. Nur daß im Bild ein Flimmern ist, das beunruhigt. Immerhin! Meines einen Auges will ich mich freuen, solange es noch brauchbar. Wie lieblich ist nun dieses Bild!« Mein Vater blieb stehen, wie er gern tat, wenn er betrachten wollte. Nach links deutend, fuhr er in wehmütiger Freude fort: »Oh, diese blumige Wiese – und der Bach, hindurchgeschlängelt – mit den silbernen Weidenbüschen! Drüben der Baumweg führt also nach Lustnau? Oh, und dahinter die sonnigen Berghalden! Obstgärten, Weinberge mit niedlichen Laubenhäuschen. Alles so duftig zart ...«

Trunkenen Blickes nickte Hainlin: »So zart, als wär's kein Erdenstoff – als wär's eitel Himmelsglascht!« – »Glas?« fragte ich. – »Du denkst wohl an deinen Glasberg?« scherzte Vater. – »Nicht Glas,« sagte Hainlin in norddeutscher Aussprache, »sondern Glast – das bedeutet bei uns Glanz. Ich meine, wie körperloser Himmelsglanz wirkt dieses Bild.« – »Paradiesisch!« schwärmte mein Vater. »Recht hat Ihr Uhland, seiner schwäbischen Heimat mit den Worten zu huldigen: Man sagt, du seist ein Garten, du seist ein Paradies.«

»Sie brauchten den Ausdruck Glaasberg, Herr Wille – was meinen Sie damit?« – »Der Junge faselt vom Glasberg. Dichtet ihn sogar an. Kennen Sie nicht die Sage?« – »Im [32] alten Gedicht Titurel kommt ein Glasberg vor,« erwiderte Hainlin. »Und irre ich nicht, auch im Märchen von den sieben Raben, das die Brüder Grimm aus Volksüberlieferungen geschöpft haben. Unsere Urväter meinten, das Firmament sei aus Glaas. Ein Wipfel der Esche, die nach germanischem Glauben das Weltall bedeutet, heißt Lichtelfen-Heim – es glastet hoch über der Menschenwelt und hat eine Götterhalle namens Gladsheim.« – »Sie sind wohl Germanist?« sagte mein Vater bewundernd. Hainlin lächelte: »Es gibt hier noch Studenten, die auf Uhlands Pfaden wandeln. Ihr Glaasberg – möcht ich zusammenfassend sagen – bedeutet das Himmelsgewölb – eine Glast-Elfenburg – auf gut schwäbisch könnt mr sage: Glaschtelfingen. Sie wissen ja, im Ländle enden die Ortschaftsnamen gern auf ingen: Tübingen, Reutlingen, Böblingen ...«

»Glastelfingen!« sagte mein Vater und nickte den sonnigen Berghalden zu. »Ich möchte die Weinberge erklimmen, nur sind sie mir zu steil – es würde mir gehn wie den Abenteurern, die den Glasberg hinabrutschen. Aber köstlich müßt' es sich droben hausen, in solch einem Laubenhäuschen zwischen Reben und Apfelbäumen.« – »Sind die Häuschen bewohnt?« fragte ich, und Hainlin erwiderte: »Die Wengerthäusle? Dooch net! Das Erdgeschoß dient zum Verwahren von Frucht und Gerätschaft. Darüber ischt bloß e Stüble, eng wie e Schneckehäusle. I denk allweil dabei an des Reimle: Waas ischt das im Schnützelputzhäusel? Da pfeifen ond tanzen die Mäusel.« – Gemütlich lachte mein Vater vor sich hin: »Schnützelputzhäusel? Der Ausdruck erinnert mich an meine Kindheit. Damals putzte man die Talglichte mit der Schnützelputzschere, und diese hatte für den abgeschnützelten Docht eine Art Kasten, ähnlich allerdings einem Haus für Mäusel.«

[33] »In solch einem Schnützelputzhäusel«, schwärmte ich, »möcht' ich hausen.« – »Warom au net? Ond manch e Tübinger Studio hat so denkt. Der Wieland – wisse Sie, der den ›Oberon‹ gedichtet hat – er hat in einem Wengerthäusle gewohnt – auf dem Oeschterberg!« – »Schon wieder ein Dichter auf dem Oesterberg!« scherzte mein Vater. »Das scheint ja der hiesige Musensitz zu sein, der schwäbische Parnaß.« – »Ha freili!« lachte Hainlin. »Und dr Wieland, so geht die Sage, der hab drobe die Verse gschriebe, mit dene sein Heldenmärle ahnhebt: Noch einmal sattelt mir den Hippogryphen, ihr Musen – zum Ritt ins alte, romantische Land!« Ich war in heller Begeisterung. Mein Bruder hatte ein Bild aus einer »Oberon«-Ausgabe abgezeichnet, das hatte mir Gelegenheit geboten, die Dichtung durchzupeitschen. Das Flügelroß der Musen war auch meine Passion, und mit dem alten romantischen Land schien mir eigens das Schwabenland gemeint zu sein. Welch ein Zauberland war das, und was für ein Glück für mich, da hinein versetzt zu sein! Ueberall Wälder von Obstbäumen, Weinberge, blaue Höhen mit Burgen – man träumt von Rittern und Märchenhelden, von Dichtern, die im Schnützelputzhäusle unsterbliche Heldengedichte gereimt haben.

»Wie heißt der Berg dort links?« fragte ich ehrerbietig. Hainlin wußte es nicht. »Vielleicht hat er gar keinen Namen!« Mein Vater spähte hin. »Wo die drei Pappeln stehn, scheint die Spitze zu sein.« – »Dees ischt bloß e Vorsprung, dahinter geht's noch höher. Dann kommt, hinter Obstgärten versteckt, e winziks Dörfle, bloß e Weiler – i bi noch net drobe gwä ...« – »Wie heißt es?« – »Ha, wie mag's gheiße sein? Dees heimlich Neschtle droben im blauen Himmelsglascht?« – »Sagen wir also Glastelfingen!« scherzte mein Vater, und Hainlin freute sich über die Verwendung seines spielerischen Einfalls:

[34] »Wissen Sie, Herr Wille, wie ich mir Glastelfinge vorstelle tu? Aehnlich wie mei Albdörfle am Lochstei' – bloß daß es in Glastelfingen Traube habe müßt ond Kaschtanie wie am Südhang der Alpen. Ein Freund von mir ischt in Friaul gwese. Ha, dort ischt das wahre Glastelfingen. Ein Berg in Friaul soll Dante als Modell vorgeschwebt haben, um das Paradies zu schildern. In den Südalpen hat's au en Berg Monte Cristallo, zu deutsch Glaasberg – und da sieht mr, wie innik die Sinnbilder der Völker zusammenhängen. In den verschiedenen Menschen schlägt halt im rund einziks Herz.«

Gedankenvoll nickte mein Vater: »Und darin ist was, das immer ins Weite schwärmt. Um so feuriger, jemehr es unter der Enge leidet. Zum Glasberg will's empor, die Prinzessin zu erlösen. Oder wenn's Herz nicht so sehr dem stürmischen Abenteuer als dem Sanften geneigt ist, seufzt es nach dem Höhendorfe Glastelfingen, als ob das heimlich seine Heimat wär'! Doch ach, wer weiß, ob solche Sehnsucht erfüllbar ist, ob nicht vielmehr der Pilger bei Schiller recht hat: Der Himmel über dir kann die Erde nie berühren, und das Dort ist niemals hier.«

»Er hat recht!« meinte Hainlin – »dort, wo dunicht bist, dort ist das Glück! Aber was folgt draus? Daß mer besser tät, den Himmel net über sich zu suche.« – »Wo denn aber sonst?« fragte mein Vater, worauf Hainlin zögernd, schüchtern, wie verschämt antwortete: »Net drauße! Da wird mr alleweil enttäuscht. Es bleibt nicks übrik, als im eigenenInnern zu suche – wie der Bergmann nach den Schatz der Tiefe schürft.« In feierlichem Ernst blickte mein Vater auf den jungen Mann: »Sie sind früh reif! Und es scheint, Sie haben das bessre Teil erwählt. Ja, schürfen Sie innen! Aber ganz verachten soll man die Umwelt nicht. Sie kann ja dazu beitragen, daß man den Himmel im eignen Innern findet. Oder [35] freilich: ihn verfehlt!« In stiller Beschaulichkeit schritten wir nebeneinander her. Nur daß Hainlin noch die Bemerkung fand: »Am beschte wär's scho, wenn mr sichohn abhängik mache könnt von dr Außenwelt!«

Mein Vater schwieg und sann – lächelte hierauf wehmütig: »Ich sonderbarer Schwärmer! Rede da vom heimlich holden Dörfchen, unserer wahren Heimat – und weiß nicht mal, wo ich mit Frau und Kind morgen das Haupt niederlegen werde. Von Glastelfingen träumen wir – und haben nicht mal unser bescheidenes Ziel Lustnau erreicht.« – »Da liegt es!« sagte Hainlin hindeutend. Hinter Wiese, Bach und Obstgärten ragte ein schmucker Kirchturm inmitten freundlicher Bauerndächer. Nebst den Weinbergen blickten waldige Höhen hernieder. »Welch reizende Lage!« bemerkte mein Vater. Als wir den Bachsteg überschritten und durch Wiesen mit Obstbäumen kamen, kreuzte den Weg ein zweiter Bach, er rauschte ziemlich breit über steinigen Grund, wo Forellen huschten. »Der Goldersbach,« sagte Hainlin, und wir gingen übers hölzerne Brücklein.

Nun waren wir in der Dorfgasse. Enten schnatterten, im Dünger scharrten Hühner, braune, barfüßige Kinder gafften. Die Häuser waren leidlich sauber, wenn auch Misthaufen davor nicht fehlten. An einer breiten Gasse lagen ein paar Häuschen, die nichts Bäurisches hatten. Das eine, von einem Rebstock umschlungen, enthielt einen Kramladen mit der Aufschrift: Josua Kuttler. »Daß hier der Rosen-Kuttler wohnt,« bemerkte mein Vater, »erkennt man sofort an den Rosen im Garten. Welche Pracht!«

Aus dem Garten kam ein junges Mädchen; es stutzte bei unserm Anblick, blickte zärtlich auf Hainlin und sagte errötend: »Mei Jörgle!« Freudestrahlend ergriff er ihre Hand: »Grüß di Gott, Rosel! Was treibscht? Ischt dei Stiefvatter [36] daheim? Net? Dr Herr da möcht ...« Indem trat aus der Ladentür, die unter Anschlag einer Klingel aufging, ein andres Mädchen. Sie hatte glühend schwarze Augen und konnte für hübsch gelten. »Deescht aber nett, Herr Kandidat! Ond waas verschafft mir die Freid?« Hainlin stellte meinen Vater vor und bezeichnete das Mädchen als Fräulein Kuttler. »Der Herr möcht die Wohnung ahnschaue, wo bei Ihne zu vermiete ischt – net wahr?« – »Zu vermiete hänt mr scho!« erwiderte Fräulein Kuttler. »Wenn's gfällik wär, ganget mr nauf! Durchs Lädle da!« Als Hainlin mit Rosel zur Seite trat, fügte sie etwas spitz hinzu: »Ond Herr Hainlin? Wolle denn Sie net mitkomme?« – »I möcht derweil mit dr Rosel rede.«

Wir traten in den Laden – hier gab es Waren, wie sie ein Dorfkrämer feil hat: Kleiderstoffe, Werkzeuge, Zucker, Briefpapier; es roch nach Essig, Tabak und Seife. Von da ging es in einen schmalen Flur und die Treppe hinauf zum Oberstock. Die leerstehende Wohnung war klein, doch zur Not ausreichend. Uns fesselte besonders der Blick in den Rosengarten und über Obstbäume hinaus auf gelbes Korn und grünes Hügelland. Der Mietspreis war billig, und so erklärte mein Vater, er werde voraussichtlich am Nachmittag mieten – nur müsse seine Frau die Wohnung erst besehn.

Im Garten wandelte Hainlin mit Fräulein Rosel zwischen Gemüsebeeten. Mit Vergnügen hörte er, daß uns die Wohnung zusage. Dann bat er meinen Vater, sich gleich beurlauben zu dürfen. Er wolle im Gasthof einen Imbiß nehmen, dann nach Einsiedel spazieren, wo sein Onkel wohne. Wir begaben uns zur Gartenpforte, und hinter den beiden Mädchen hergehend bemerkte ich, wie die Schwarzäugige ärgerlich der Blonden etwas zuraunte. Mein Vater dankte Herrn Hainlin, und wir verabschiedeten uns. Diesmal wollten wir den andern [37] Weg nach Tübingen gehen, die breitwipflige Allee. In der Mittagsonne tat es wohl, von den Kastanien- und Ahornbäumen beschattet zu sein. Uns begegneten Fuhrwerke und Fußgänger, vom Tübinger Markte heimkehrend. Den Korb auf dem Kopfe, schritten Landmädchen und ältere Frauen wacker daher. Keine unterließ »Grüß Gott« zu sagen, und jedesmal erwiderten wir diese Höflichkeit, als ob wir uns schwäbisches Wesen rasch zueigen machen wollten. »Grüß Gott – das klingt so treuherzig,« sagte ich und blickte schwärmerisch zur Glastelfinger Höhe hinauf – dort war ja mein Wunderland.

[38] Jakobskindle

Als wir mittags im »Lamm« eintrafen, empfing uns meine Mutter mit der Nachricht, unser Hausgerät sei auf dem Tübinger Bahnhof eingetroffen. Vollends atmete sie auf, als Vater über die Erfolge des Vormittags berichtete. Meine Mutter war fast ohne weiteres entschlossen, die Lustnauer Wohnung zu mieten. Ich sollte sie nach dem Essen hinführen, während Vater die Besorgungen auf dem Güterbahnhof zu verrichten hatte. In guter Stimmung setzten wir uns zu Tische. Die Kellnerin hatte in der gemütlichen Gaststube gedeckt. Zu lebhaft war's nebenan im Speisesaal; an langer Tafel schwadronierten da Studenten, die grünseidne Mützen hatten. Tafelgerät klapperte, man witzelte und lachte, und immer von neuem erscholl es: »Prosit!« »Gestatte mir!« »Ich komme nach.« – »Frankonen nennt der Wirt diese Studenten,« bemerkte die Mutter, »es muß eine wohlhabende Verbindung sein.« Und der Vater meinte: »Ja, diese Jugend läßt Gott einen guten Mann sein und fragt: Was kostet die Welt?«

Es war noch heiß, als die Mutter mit mir nach Lustnau wandelte. Die schmucken Häuser der Wilhelmstraße und die Universitätsgebäude beschwichtigten einigermaßen ihre Abneigung gegen Tübingen. Auch die schattige Allee gefiel ihr, aber den landschaftlichen Reizen, auf die ich hinwies, widmete sie nur flüchtiges Hinblicken. Ein schiefes Gesicht zog sie, als vor den [39] Lustnauer Bauernhäusern die Misthaufen erschienen. »Ach du lieber Gott! Der Geruch! Und die Fliegen!« Beruhigt wurde sie, als Kuttlers Häuschen mit dem Rosengarten erschien und dann die Wohnung einen leidlichen Eindruck machte. Fräulein Kuttler benahm sich gefällig, führte uns in die Laube und gab der Mutter Auskunft über Angelegenheiten des Haushalts.

Nicht lange, so erschien mein Vater. Einigermaßen erschöpft, jedoch in guter Stimmung. Der Möbelwagen, so berichtete er, werde in einer Stunde eintreffen, das Mobiliar habe er auf dem Güterbahnhof gesehen, es sei heil geblieben.

Jetzt lernten wir Frau Kuttler kennen. Eine angenehme, blonde Frau. Hainlins Jugendfreundin Rosel brachte Brotschnitten und einen Steinkrug mit Gläsern. Als sie die Platte auf den Laubentisch gesetzt hatte, machte sie einen schüchternen Knicks, und Frau Kuttler stellte vor: »Deescht also Rosel Funk, die Tochter von meim erschte Ma, Gott hab ihn sälik! Jetzt aber müsse die Herrschafte ebbes veschpere! Onsern Moscht versuche – ond's Luschtnauer Baurebrot, gelt?« Rosel füllte die Gläser und bot an. Ihre Stimme hatte einen weichen, tiefen Klang, hold war der warme Ausdruck der goldig-braunen Augen. Apfelmost hatten wir noch nie getrunken. Den Vater erfrischte das Getränk, ich fand es sauer, doch in Verbindung mit dem trocknen nüchternen Brote schmackhaft; übrigens kam ich allem Schwäbischen willig entgegen.

Peitschenknall und Hühruf. Ich eilte durch den Garten zur Straße. Vor dem Hause stand der Möbelwagen, und ich erkannte die alten Heimgenossen: den großen Kleiderschrank, den Mahagonitisch, das Sofa, dessen Seidenbezug unter einer Linnenhülle hervorlugte. Meiner Mutter fiel ein Stein vom Herzen, als sich die Sachen unbeschädigt erwiesen. Beim Abladen half ich mit Feuereifer. Aber als mich die Mutter mit [40] einem Spiegel auf der steilen Treppe sah, untersagte sie mir solche Betätigung.

Ich ging wieder zur Laube und fand einen Knaben mit dem übriggebliebenen Most beschäftigt. Da er Fräulein Kuttler ähnlich sah, fragte ich: »Ist Herr Kuttler dein Vater?« Er nickte, wir streiften einander mit Blicken. Er war in meinem Alter, klein und zierlich, ein Krauskopf, mit einem Zug von Wildheit im hübschen Gesichte. »Du gehst auch ins Gymnasium?« fragte ich. – »Freili! In die fünfte Klass.« – »Famos! Dann gehen wir zusammen.«

»Wie heißt du mit Vornamen?« fragte ich weiter. – »Enzio!« Ich musterte ihn von neuem: »Das klingt romantisch! Hieß nicht wer im Mittelalter so?« – Er suchte seine Gestalt zu recken: »Könik Enzio, der Hohenstaufe. In der Alb drüben ischt die Stammburg. Die Staufe sind die beschte Kaiser gwä. Aber dem Enzio hänt die Italiener den Kopf abgschlage, die Ssaukerle miserable! Mei Mueter sälik hat e Gedichtle gwußt: Könik Enzios Tod – das fangt ahn: ›O Könik, schöner Könik mit deinem goldnen Haar‹. Drum hat sie mi Enzio gheiße.« – »Du hast aber dunkles Haar.« – »Von meim Vatter! Mei Mueter ischt blond gwä – ond i han als Milchkindle goldige Häärle ghätt. Zu de Germane ghöre mir Schwabe. Drum, wenn i Student bin, geh i zu dene Schwabe! Suevia sei's Panier! Schwarz-weiß-rot – kneipe tun's beim Müller.« – »Was willst du studieren?« – Er stutzte und schien unsicher, antwortete aber stolz: »Staatskarriär!«

Unvermittelt kam nun sein Vorschlag: »Ganget mer fechte!« – »Fechten?« fragte ich verdutzt, hielt es aber für angebracht, selbstbewußt fortzufahren: »Natürlich! Fechten wir!« Er eilte ins Haus und brachte ein paar Ledermappen, wie sie Studenten für ihre Hefte haben. Wir begaben uns nach einem entlegenen [41] Teil des Gartens. Den Rasen beschatteten breitwipflige Apfelbäume. Dran hingen Aepfel, daß die Aeste mit Stangen gestützt werden mußten. Ein Schuppen war da, für leere Kisten und Tonnen. »Deescht onser Paukbode! Da hoscht dei Schlägerle!« Er gab mir eine der Mappen in Form einer Rolle. Die andere Rolle nahm er wie einen Säbel in die Faust, hob den Arm zur Fechtstellung und tat etliche Lufthiebe.

»Erst mußt du mir zeigen, wie ihr in Tübingen fechtet,« bemerkte ich etwas kleinlaut. »In Magdeburg hatten wir diese Waffe nicht.« – »Mr hänt dees von dene Schtudente glernt,« erwiderte er stolz. »I han schon richtige Mensure ghätt. Komm daher! Dei Fechtmeischter bin i.« Und er machte mir vor, wie man mit dem Rapier auslegt, um dem Gegner eine Hochquart zu versetzen oder eine Terz. Ich ahmte alles nach, und bald traute ich mir zu, einen Waffengang mit Enzio zu bestehen. Wie die Wilden hieben wir aufeinander los, und bald knallte ein Durchzieher auf meine Backe. – Allmählich begriff ich, worauf es ankommt – ich erfand sogar einen Kniff: Wie zur Quart ausholend, kehrte ich die Waffe blitzartig zu einer Terz, und jedesmal erhielt Enzio einen schallenden Hieb. Er behauptete zwar, dees seien »Ssauhieb«, war aber außerstande, mich zu überzeugen, daß meine Finte inkommentmäßig sei. Ihm an Armlänge überlegen, brachte ich seinem dunklen Krauskopfe immerfort Hochterzen bei. Fuchsteufelswild warf er seine Waffe weg.

»Derf mer mitmache?« sagte eine tiefe Stimme. Es war ein stattlicher Knabe, sonnenverbrannten Gesichtes. Freundlich blitzten die wasserblauen Augen. Vom blonden Kopfe nahm er die grüne Schülermütze, warf sie auf den Rasen und bückte sich nach Enzios Waffe. Ich hielt es für passend, dem Ankömmling Bescheid zu tun, und rasch waren wir zwei Kampfhähne. Hier[42] hatte ich den Meister gefunden und erhielt Schmiß auf Schmiß, bis ich meine Waffe streckte. Der Schüler hieß Schmidt und wohnte in Lustnau. Er war uns eine Klasse voraus, bereits konfirmiert.

Sich in die Brust werfend, fragte Enzio, ob ich rauche. Was ich verneinen konnte, seit mir Onkels Tabakspfeife, die ich neugierig versucht hatte, übel bekommen war. »Aber i,« sagte Enzio. »Gänget mer zom Tempel! I hol den Schlüssel.« Was er mit dem Tempel meinte, verstand ich nicht. Schmidt erklärte, es sei eine Scheune, von Enzios Vater werde sie benutzt zum »Stondehalte«. Es stellte sich heraus, das Stundenhalten sei eine Andacht der Separatistengemeinde, unter Führung unseres Hauswirts Kuttler. – Den Schlüssel des sogenannten Tempels hatte Enzio geholt und führte uns durch eine Lücke des Gartenzauns zum »Tempel«, zu jener Scheune. Der spärlich erhellte Raum sah aus, als solle hier Puppenkomödie sein. Bänke für ein Schock Leute, eine Bühne mit Vorhang. Dahinter verschwand Enzio – ich fragte Schmidt, was es denn nun gebe. »Blödsinn!« raunte er; »aber mer derf's net laut sage. Wirscht glei sehe! Grad tut dr Enzio den Spiegel richte. So Theater ghört zom Gootesdinnscht der Separatischte.«

Indem scholl ein Glöckchen, der Vorhang ging nach beiden Seiten voneinander, und, von Oberlicht bestrahlt, war etwas auf dunklem Grunde wie ein lebendes Bild, aus Puppen zusammengestellt. »Der da im roten Rock,« erklärte Schmidt – »deescht der Erzvatter Jakob – er schläft – und rings ischt all's Wüschte ond Felsen.« Ich nickte, mir gefiel das abenteuerliche Bild – und nun wurde mir auch klar, daß die goldene Strickleiter mit weißgekleideten Flügelengeln die Himmelsleiter vorstellt, die Jakob im Traume sieht. Ich erfuhr noch, die grelle Beleuchtung von oben werde durch einen Spiegel bewirkt, der [43] den Strahl der abendlichen Sonne nach unten werfe. Seinen Eindruck auf mich verfehlte dieser Tempel nicht – Puppentheater und Zaubervorstellung gehörten ja zu meinen kindlichen Schwärmereien. Nicht gerade feierlich war das gottesdienstliche Möbel, das ich schließlich noch kennen lernte: eine Truhe, die vor dem Vorhang stand, bedeckt mit einer schäbigen Samtdecke. »Dees ischt die Bundeslad,« sagte Enzio, tat die Decke weg und öffnete die Bundeslade. Drin war eine Likörflasche, leider schon leer, wie Enzio feststellte. Aber aus einem Zigarrenkistchen nahm er sich einen Glimmstengel, biß kunstgerecht die Spitze ab und strich ein Schwefelhölzchen an seinem Hosenboden an.


*


Für den folgenden Tag, einen Sonntag, war vom Kandidaten meine erste Nachhilfestunde angesetzt, und gleich nach dem Frühstück brach ich auf. Enzio begleitete mich und hatte seine Lateinbücher mit. Unter den Bäumen der Lustnauer Allee begegneten uns Landleute im Sonntagsstaat. Die Mädchen hatten Mieder aus schwarzem Samt, dazu weiße Hemdärmel, die Burschen kurze Jacke, rote Weste, Kniehosen, auf dem Kopf ein Lederkäpple. Ein paar grauhaarige Männer trugen den weit ausladenden Dreispitz des alten Schwabentums und einen blauen Rock mit langen Schößen. »Die gehn zur Kirch, wohl gar zur Hochzeit oder Kindtauf.« Diese Bemerkung Enzios veranlaßte mich, zu fragen: »Wie kommt es, daß Herr Hainlin während der Kirchzeit Nachhilfe erteilt? Wir halten ihn doch von der Kirche ab!« Abweisend erwiderte Enzio: »Aus der Kirch macht der sich nicks! Mei Vatter hät gsait, der sollt eigentlich Heidlin heißen – e richtiger Heid sei der, wo net emol an Jakob ond Esau glaube tut. Pfarrer derf so euner net sei'.« – »Und hat doch Theologie studiert – wie?« – »Ja, im Stift ischt 'r gwä. Aber aus ischt dees – die [44] Freistell ischt er los. Sein Onkel in Pfrondorf tut ihm jetzt zahle, waas 'r braucht. Ond efreier Bursch hat's besser als wie in dr Stift-Kloschterei, der elendigen. Au i tät's net aushalte bei dene langweilige Repetente, beileib net!«

Wir waren in der Stadt angekommen. An der Stiftskirche, die für die Kirchgänger offen stand, bewunderte ich die Fenster mit den gemeißelten Gestalten. Da war der Drachentöter Sankt Georg, Schutzpatron dieses Gotteshauses. Auch der heilige Martin, wie er einem Bettler die Hälfte seines Mantels reicht. Und da war ein aufs Rad geflochtener Mann. »Das Wahrzeiche von Tübinge,« sagte Enzio. Schräg gegenüber dem Geburtshause Uhlands war ein altes Gebäude, das neben der Haustür ein blankes Messingschild mit dem Namen »Schneckle« hatte. »Georg Hainlin,cand. phil.« stand auf dem beigehefteten Kärtchen. Dunkle Treppen stiegen wir empor und klopften an.

Im sonnigen Zimmer saß der Kandidat am Schreibtisch und begrüßte uns munter. »Zunäkscht beschaut euch, wien i da wohn!« Ueber Hainlins Bett hingen die Bilder seiner Eltern. Auf dem Tisch lag eine Flöte, parademäßig standen Bücher im Glasschrank. Wir gingen auf die Veranda und hatten einen Augenschmaus: Gärten, an denen der Neckar vorbeirauschte – jenseits prachtvolle Alleen – über die Platanenwipfel lugt als blauer Streifen die Rauhe Alb.

Ins Zimmer zurückgekehrt, setzten wir uns um den Tisch, und das Arbeiten ging los. »Sag mir, Enzio, wie weit euch der Naso gebracht hat.« Enzio gab Bescheid, legte Bücher und Hefte vor, und Lücken meines Lateins wurden festgestellt. Hainlin verstand die grammatischen Regeln nicht bloß gut zu erklären, sondern diesen für Knaben langweiligen Stoff sogar fesselnd zu gestalten. Setzte zum Beispiel auseinander, »nunquam« könne in »ne unquam« aufgelöst werden. Kam dann [45] auf das deutsche Wort »niemals« zu sprechen; es laute ursprünglich »nie jemals« – wie »niemand« aus »nie jemand« entstanden sei, was »nie je e Mann« bedeute. Hatte ich bisher Grammatik für eine verschmitzte Erfindung der Schulmeister gehalten, in boshafter Laune ausgetüftelt, um dem Schüler Fallen zu stellen, so begann ich unter Hainlins Führung zu ahnen, es sei jede Sprache ein lebendiges Gewächs, das seine Formen folgerichtig aus Geist und Volksgemüt hervortreibt.

Im Fluge war uns die Zeit vergangen, und weitere Arbeit wäre mir nicht unwillkommen gewesen, hätte nicht Hainlin jetzt ein Kapitel zur Verhandlung gebracht, auf das ich mich besonders gespitzt hatte. Nach dem Familienbuch fragte er, und aus dem Ranzen holte ich den Band in Leder mit Goldschnitt. Vom Vater, der in der Frühe nach Junker Jakob geforscht hatte, waren die betreffenden Buchstellen mit Zeichen versehen. Aus der Stammtafel derer von Kotze und aus den Regesten ging hervor, daß Hans von Kotze, Erbherr von Groß- und Klein-Germersleben, Lüttgen-Oschersleben, Halle usw., diese Güter seinem Sohne gleichen Namens hinterließ, und daß dessen ältester männlicher Sprosse, der edle und veste Junker, als Studiosus zu Tübingen seliglich im HERRN entschlafen und daselbsten in der Pfarrkirchen Sankt Georgen ehrlich zur Erden bestattet worden. Die Leichenpredigt, gehalten durch Johannem Georgium Sigwarten, der H. Schrift Doktorn, Professorn, Pfarrherrn und Superattendenten zu Tübingen, sei getruckt zu Tübingen in der Cellischen Truckerei. Ihr angehängt sei ein lateinisch Poem, so vom Junker zur Vermählung seiner Schwester Ursula gedichtet worden. »Das muß ich haben!« sagte Hainlin eifrig. »Diese Druckschrift wird sich wohl in der Universitäts-Bibliothek finden. Auf nun, Pennäler! Zur Kirch! Da zeig i euch den Graabstein.« Und wir gingen.

[46] Auf der Südseite der Kirche waren etliche Steinplatten mit Inschriften in die Mauer eingelassen. Vor solch einem Denkmal blieb Hainlin stehen. Darauf war das Kotze-Wappen. Ich kannte es gut. Auf dem Sofakissen der Großmutter war's ja in bunter Stickerei. Ein bärtiger, langlockiger Mann, angetan mit dem kuttenähnlichen Staatsrock. Auf dem gekrönten Ritterhelm kauert ein Hund. Die Mitte des Denkmals bildet die lebensgroße Figur des Junkers. Zu seiner wuchtigen Tracht, dem breiten Federhut, den ausladenden Pluderhosen und dem drohenden Stoßdegen stimmte nicht das bartlos zarte, wehmütig träumerische Gesicht. »Wie kommt es, daß er in der Kirchengruft liegt, nicht draußen in der Erde?« fragte ich. – »Er war Student im Collegium Illustre. Diese Gründung Herzog Ludwiks, wo junger Adel des In- und Auslandes Rechts- und Staatswissenschaft studierte, wurde auch Fürstenschule genannt, weil daselbst manch junger Fürst seine gelehrte Ausbildung erhielt. Ein paar dieser Standespersonen sind in der Gruft zu Sankt Georgen beigesetzt.« – »Mein Gott, ja!« seufzte ich und glaubte einen Anhauch von Moder zu spüren. Während hier oben die Sommersonne drei frische Menschenkinder umlohte, lag der Junker, sechzehnjährig verstorben, bereits ein Vierteljahrtausend in der kaltfinstern Gruft, und vor lauter Vornehmheit durfte sein verdorrter Leib nicht einmal Gras und Blume werden. – In der Kirche war die Orgel verklungen, nun stimmte die Gemeinde an: »Wer nur den lieben Gott läßt walten.« Nach gleicher Melodie hatte ich zu Magdeburg am Grabe eines Sextaners im Schülerchor gesungen:


»Das Grab ist da – oft bei der Wiegen.

Wie manches Kind sieht kaum die Welt,

So muß es schon im Sarge liegen ...«


*


[47] Im Lustnauer »Ochsen« hatten wir zu Mittag gespeist, dann brachte uns die Ochsenwirtin den Kaffee in die Laube. »Also beim Kuttler wohne Sie? Ond wie gefallt's Ihne da?« – »Wir sind eben erst eingezogen,« antwortete meine Mutter. – »Ha no, die Wohnung ischt sauber.« – »Und die Leute gefällig. Herrn Kuttler allerdings kennen wir noch nicht.« – »Grad ischt er da vorbei,« sagte die Wirtin. »Verreist war er – hält aber nachmittags Stond.«

»So eine Art Betstunde, wie? Ist also sehr fromm?« – »Ha, wie mer's nimmt,« entgegnete die Wirtin kühl. – »Hoffentlich ist es kein überspanntes Getue – kein Lippendienst,« sagte mein Vater. – »Lippedinnscht!« nickte sie bedeutsam. – »Sie meinen?«

»Ha, nicks mein i! Die Frau ischt herzensgut – ond die Rosel e arg liebs Dingle. Wenn bloß der Kuttler begreife tät, daß die zwei besser imstand send, ihm zum Himmelreich z' verhelfe, als die Engel auf seiner Theaderleiter.« – »Er weiß die Seinen also nicht zu schätzen?« – »Er ischt halt e Reutlinger! So sagt mer in Tübinge von eme Hitzkopf ond Grobian. Zudem tun die Pharisäer ond Sadduzäer niemols aussterbe. Aber i will nicks gsagt han. Onsereim goht's Rübele noh übers Brühele. Beehre ons die Herrschafte öfters! Guete Nachmiddaag!« Sie knickste und ging. Die Mutter sah den Vater bedeutsam an. Er meinte: »Na ja! Wir werden selber sehn – in solch einem Nest gibt's viel Geschwätz.«

Weiteres über die Sekte der Jakobskindle erfuhr ich ein paar Stunden später. Ich verzehrte den Abendimbiß, vergnügt, wieder am trauten Familientische zu sitzen, als Enzio im Garten den zwischen uns verabredeten Pfiff tat. Ich schlüpfte hinunter; Enzio sagte: »Glei geht's los! Im Tempel hänt die Jakobskindle Gootesdinnscht!« – »Jakobskindle? Nennen sich so die [48] Anhänger eurer Gemeinde.« – »Ha freili! Dem Vater Jakob tun sie folge.« – »Und gehst du jetzt auch hinein?« – »Noi! Erscht nach der Konfirmatio derf i nei. Aber komm du! losne wolle mer.«

Neugierig folgte ich, bei der Scheune lagerten wir uns auf Ackerklee. »Ist das dein Vater, Enzio, der da predigt? Aber er ist doch kein richtiger Pastor, wie?« – »Bei dene Jakobskindle tut predige, wen der Geischt treibt. Meischtens ischt dees mei Vatter.« – »Hat er denn einen Talar?«- »Pfaffe hänt mir koine.«

»Ist euer Glaube sehr verbreitet in Württemberg?« – »Mir send die allererschte Gemein in ganz Europa. Aber drübe gibt's meh.« – »Wo drüben?« – »In Amerika! Da ischt mei Vatter viele Johr gwä – ond hat sich erfülle lasse vom Jakobsgeischt. Wie er na zurückkomme ischt, hat er in Luschtnau den Tempel eigricht.«

Jetzt ging der Gesang in der Scheune los. Männer-und Weiberstimmen plärrten einen schleppenden Choral. Den Text las ich in Enzios Gesangbuche nach:


»Wo im Lande der Zibeben

Milch und Honigbäche gehn,

Durfte Vater Jakob leben,

Blieb jedoch allhie nicht stehn,

Sondern sprach: in Gottes Heim

Fleußt der wahre Honigseim.


Suchend zog er weit und weiter,

Schlief des Nachts auf rauhem Stein.

Und er sah im Traum die Leiter

Mit beschwingten Engelein,

Winkend schwebten sie empor,

Und da war des Himmels Tor.


[49]

Ach und ich? Wo bleibt mein Rater?

Immer geht's durch Wüstensand.

Jakob, frommer Völkervater,

Nimm dein Kindlein bei der Hand!

Hier sei Bethel! Auf, mein Herz!

Stuf' um Stufe himmelwärts!


Nur wer solchem Heimweh trauet,

Hat den besten Feiertag,

Hat den Tempel, der sich bauet

Ohne lauten Hammerschlag.

Fragst du, wie der Tempel heißt?

Menschenherz voll Jakobsgeist.«


Obwohl bäurisch gesungen, hatte dies Lied etwas Rührendes. Besonders weil ich den Flüchtling in der Wüste, der im Traume den Himmel offen sah, in Verbindung brachte mit Vaters Idee vom Glasberg: Es hat jeder seine Sehnsucht, die ihn auf eigne Weise lockt. Die Himmelsleiter war Jakobs Glasberg.

[50] Die Ungebärdigkeit

An den Gartenrosen perlte Morgentau, als ich mit Enzio zur Schule aufbrach, unter dem Arm den Ranzen mit Büchern. Auf dem schmalen Holzsteg, der über den Goldersbach führte, blieben wir ein Weilchen stehen, um die Forellen zu beobachten, die sich gleich dunklen Stäbchen vom grauen Steingrund abhoben. Es kam eine Entenmutter mit ihrer Nachkommenschaft geschwommen, und die piependen, von Flaum bedeckten Kindlein wußten ihre Paddelbeinchen schon geschickt zu regen. Nicht ohne Wehmut betrachtete ich das gemütliche Bild. Meine Freiheit sollte ja nun beschränkt werden.

»Wer hat die erste Stunde?« fragte ich. – »Der Naso – Latein!« – »Ist er streng?« – »Ha! Tatze gibt er keine.« – »Tatze, was ist das?« – Verdutzt sah mich Enzio an: »Hat's denn bei uich Norddeutsche keune Tatze? Mit em Röhrle auf d' Händ! Brenne tut's!« – »Na, ich danke! Und so was soll man sich gefallen lassen?« – »Waas soll mr mache? Geduld, Enziole, sag i mir – bis du im Obergymnasium bischt! Da muß der Lährer zum Schüler Sie sage – da ischt mr scho halber Student.«

Unter solchem Gespräch hatten wir die schattige Baumstraße, die von Lustnau nach Tübingen führt, zurückgelegt und waren am Botanischen Garten vorbei zum Gymnasium gelangt. Es lag damals in der Wilhelmstraße, wo vom Oesterberg der Fahrweg[51] kommt. Ehemals Privathaus, war das Schulgebäude ein nüchterner Bau. Im Erdgeschoß wohnte der Direktor mit dem Schuldiener, der sich gern Pedell nennen ließ. Die Treppe führte zu drei Stockwerken. Zur Seite der Flurgänge lagen die Klassen. Wir kamen zu einer Tür mit der Aufschrift »6. Klasse«. So nannte man die Untertertia. Nicht ohne Beklommenheit trat ich ein. Die Klasse war hell und sauber. Meine neuen Kameraden gafften und wiesen auf den letzten Platz der Vorderbank: »Wer neu ischt, kommt ultimus!«

Ausgefragt, woher ich sei, antwortete ich kleinlaut und begegnete einem grinsenden Staunen über meine Mundart. Mir fiel es nicht leicht, die Knaben zu verstehen, wenn sie Tübingisch sprachen. Mein Nachbar, ein stämmiger Dickschädel namens Wurschterle, schien ein Rädelsführer zu sein und machte sich besonders mausig. Ein Mitschüler hatte schon eine Baßstimme und war stattlich wie ein Student. Alle schienen ihn gern zu haben, sie nannten ihn Ritter Uli.

Die Turmglocken hatten Acht geschlagen, da ging die Tür auf, und ein kurzer, ältlicher Herr in einem schäbigen Schwarzrock trat ein. Sofort erhob sich die Klasse und blieb stehen. Der Professor hatte seinen Filzhut an den Kleiderpflock gehängt und bestieg das Katheder. Seine Brillengläser glommen, als er die Klasse überschaute. Diese stand in Demut – die Hände gefaltet, die Köpfe geneigt, und ich merkte, es solle gebetet werden. Rasch hatte ich noch einen prüfenden Blick für des Professors Gesicht. Harmlos kam es mir vor, etwas einfältig, wenn auch gelehrt. Naso war glatt rasiert – nur eine Halsfräse war stehen geblieben. Die faltige Haut war braungelb und hatte unter der Nase einen schwärzlichen Schimmer; sie erinnerte mich an den Ledereinband eines Gesangbuches, das mein Großvater hinterlassen hatte. Und aus dieser altmodischen [52] Postille schien das Gebet zu stammen, das Naso jetzt sprach. In einer wunderlichen Spielart des Schwäbischen:


»Du hoscht eun heulik Amt,

O Herrgott, mir gegäben

Im Schulstand dieser Welt

Zu schwärem Dinscht zu läben

Die Ohngebärdigkeut

Mit eufrigem Bemühn

Zu Kunscht ond Wissenschaft

Ond Tugend zu erziehn.


So nimm, meun Heuland du,

Der selber eunscht gelähret

Ond Lährer eungesetzt

Ond ihren Stand geähret –

Der du den Kindern selbscht

Gar liebreuch wohlgetan –

So nimm auch meuner dich

Ond dieser Schüler ahn!


Amen!«


Rauschend, hüstelnd, scharrend setzte sich die Klasse. Nun entnahm der Professor dem Deckelfach des Katheders das Klassenbuch, eine Eintragung zu machen. Nachdem er sich aus seiner Schnupftabaksdose gestärkt hatte, schlug er das Buch auf – es war der Cäsar – und sagte: »Fange mer ahn! Ricker!«

Im Laufe der Verhandlungen kam Naso vom Katheder herunter und pflanzte sich vor mich hin, den kurzen Körper an die Bank gelehnt, wovon der Stoffüberzug eines Westenknopfs abgeschabt war. Auf mein aufgeschlagenes Buch fiel bisweilen etwas von seiner Prise – behutsam blies ich's weg – und das [53] war ein bescheidener Zeitvertreib. Was im Cäsar stand, fesselte mich hier so wenig wie auf dem Magdeburger Gymnasium – zumal man hier in derselben langweiligen Art den Unterrichtsstoff behandelte. Wie der Botaniker eine Blume zerpflückt, um Blütenblättchen, Kelch, Staubgefäße besonders zu beäugeln, und wie schließlich vom schmucken Naturkinde nichts bleibt als ein Häufchen Gemüll, so wurde jeder Satz sprachlich zerfasert, jedes Lateinwort konjugiert oder dekliniert und als Vorwand benutzt, um Grammatik zu pauken.


»Bei a und e in prima hat

Das Femininum allzeit statt –

Die übrigen auf as und es

Bedeuten etwas Männliches.«


Ich dummer Junge konnte mich für solche Männlichkeit nicht begeistern. »Us quartae lasse männlich sein.« Unsinn! Was schert mich Us quartae! Jung Siegfried, der den Amboß in den Grund schlug, und Wildtöter mit seiner unfehlbaren Büchse, das waren Vertreter der Männlichkeit, für die ich schwärmte. Julius Cäsar gehörte nicht dazu. Diesem Römer mit der Adlernase war allerdings eine gewisse Schläue nicht abzusprechen, aber mit seinem nackten Schädel und den dünnen Lippen sah er wie ein Geizhals aus, wie ein gieriger Raubvogel, und ich gönnte ihm, mal tüchtig verhauen zu werden von den wilden Galliern. Diese waren mir eher leidlich – sie hatten doch etwas Indianerhaftes.

So kam's, daß meine Gedanken zu den Indianern schweiften. Und auf einmal glaubte ich, nicht den Cäsar vor mir zu haben, sondern Coopers Lederstrumpf-Erzählungen. Und ich phantasierte: »Nur einen Moment hatte das Auge des Mingo aus den dichten Blättermassen hervorgefunkelt, als auch schon die [54] lange Büchse knallte ... paff!« Ja, so etwas fesselt einen dreizehnjährigen Teutonen. Aber, ach, in diesem Latein-Zuchthaus hört er immerzu Geleier wie: vinco vicu victum vincere! Dann kommt der nächste Satz an die Reihe – der wird ebenso langweilig abgehandelt – uff! Stöhnen möchte man, hat auch noch Angst, daß man wegen Unwissenheit reinfallen könnte. Und auf diese Weise sollen die Jungen zu Helden werden nach dem Muster der Römer? Was tun übrigens die römischen Kohorten? Ein Lager schlagen sie auf, brechen es wieder ab und schleppen sich etliche Meilen weiter. Trockenes Kommißbrot ist das. Die Indianer im Lederstrumpf, das sind Kerle! Von Ast zu Ast stürzte der Körper des erlegten Mingo – die Rothäute brachen in ein Wutgeheul aus – Falkenauge aber tat auf einmal einen grellen Pfiff: »Fuit!«

»Waas? Waas? Jetzt – wer onderschteht sich da z'pfeife, he? Euner, wo graad daher komme ischt von Preuße? Graad daß mer über die Ohngebärdigkeut klagt, da tut der pfeife! Ond macht e domms Gesicht, wie euner, wo vom Traum erwacht. Dem rappelt's, scheunt's!« – Ich atmete wie ein Erlöster, da soeben die Schulglocke läutete.

[55] Der Ssaubock und die frische Wirklichkeit

Nun kam Französisch beim Ssaubock. Daß dieser Spitzname den Nagel auf den Kopf traf, bestätigte die Erscheinung des Präzeptors. Ein kurzer, feister Kerl, schwammig das Gesicht, rasiert bis auf zwei Koteletts. Seine Schweinsäugelchen hatten etwas Lauerndes. Der breite Mund mochte manchen Humpen Bier genehmigt haben. Einen Stoß Hefte, den Bock mitbrachte, warf er aufs Katheder und setzte sich: »Grammatik! Seite siebenondfufzik!« grunzte er, indem er eins seiner Schreibhefte aufschlug. Hastig blätterte alles in der Französischen Grammatik, und der Primus begann vorzulesen, was auf der bezeichneten Seite stand. Indessen hatte Bock eine Gänsefeder in rote Tinte getunkt und kratzte in einem der Hefte herum Offenbar korrigierte er die schriftliche Arbeit einer anderen Klasse. In dieser Weise ging die Stunde hin. Nur daß Bock ab und zu sagte: »Der näkschte!« und daß dann ein anderer Schüler vorlas. Das Hefte-Korrigieren ging maschinenhaft, dabei hörte man grunzen: »Ssimpel! Idiot! Dackel!« Um durchgesehene Hefte zu ordnen, klemmte der Ssaubock zuweilen die Gänsefeder zwischen seine Lippen und sah aus wie eine breitmaulige Kröte.

Uff! War das Wetter heiß! Wir schwitzten wie im Backofen – einschläfernd wirkte das Vorlesen – auch nicht gerade belebend der Gesang, der von einer benachbarten Klasse zur [56] Violine erscholl: »Ahnungsgrauend, todesmutig« ... Ich kannte die Weise, steif und schleppend kam sie mir vor, es plärrten die Schüler, und ein Ton wurde regelmäßig zu niedrig gesungen. Dann brüllte der Gesanglehrer: »Höher!« und die Violine schrie den Ton nunmehr übertrieben hoch. In einem fort kratzte die Gänsefeder, und der Ssaubock auf dem Katheder grunzte: »Ssimpel! Idiot!« Ich brachte die Zeit herum, indem ich Ssaubocks Konterfei entwarf.

Abermals kam die Pause; diesmal war's die große. Die Pennäler trotteten die Stiegen hinab und stöhnten über den heißen Tag. Da das Gymnasium keinen Hofraum hatte, wo wir uns hätten tummeln können, standen wir auf der Straße herum und verzehrten unsern Wecken. Vorübergehende Studenten wurden angestarrt und beschwatzt; besonders solche, die Farben trugen und Schmisse hatten. Von einem gedunsenen Kerl mit zerhauener Nase hieß es, er habe schon achtundzwanzig Semester. Er hatte Aehnlichkeit mit seiner Bulldogge, die hinter ihm drein schnaufte. »Ajax!« riefen die Pennäler – aber das dicke Vieh blieb stumpfsinnig. »Bier kann der Ajax saufe,« behauptete Wurschterle, »des hat er von seim Herrle glernt ...«

»Grieß di Goot, Uli!« Ich wandte mich nach dem Angeredeten um, den sie auch »Ritter Uli« nannten – sein Vatersname war Ritter. Etwas Ritterliches hatte die Erscheinung. Eine Turnergestalt, so kraftvoll und geschmeidig wie hochgeschossen. Mit dem sonnengebräunten Gesicht, den kühnen Blauaugen machte er mir Uhlands Ballade lebendig: »Jung Siegfried war ein stolzer Knab'.« Erinnerte auch an seinen Namensvetter, den feurigen Schwabenherzog Ulerich.

Die dritte Stunde war Rechnen. Da ich auf dem Magdeburger Gymnasium bereits Anfänge der Mathematik gehabt hatte, glaubte ich, das hiesige Rechnen werde mich vor vertraute [57] Aufgaben stellen. Doch wie betreten war ich, als sich meine völlige Ungewandtheit in den Künsten des »Gsunden Menscheverstandes« herausstellte. So nannten wir den Rechenlehrer, weil er diesen Ausdruck gern gebrauchte. An Freundlichkeit ließ es Herr Präzeptor Fausel nicht fehlen. Ein rüstiger Mann heiteren Gesichts, setzte er sich neben mich und nahm meine Schiefertafel, mich persönlich zu belehren. Die Proportion, die ich zusammengestoppelt hatte, wischte er aus, zog einen Bruchstrich und warf mit Windeseile Zahlen bald oben, bald unten hin, während er ebenso hurtig sprach: »Wenn zwanzik Hektolitter Wei 1600 Mark koschte, na kommt ein Hektolitter zwanzik mol weniger – ond ein Litter noch Hundertmol weniger – also 55 Litter so viel mol mähr ... net wahr? Gsunder Menscheverstand!« Und schon saß Fausel bei einem anderen Schüler, mit dem Schieferstift auf dessen Tafel klappernd.

Nicht bloß diese Rechenmethode hatte mich verblüfft, auch das Wesen des Lehrers. Er hatte etwas aufdringlich Klärendes, eine selbstgefällige Verschmitztheit. Sein hellgraues Auge zwinkerte, und während er rechnete, machte das blondbärtige Kinn gemeinsam mit der rasierten Oberlippe fortwährend die Bewegung des Kauens. Daß ich diese Seltsamkeiten sowie den dicken Siegelring auf seiner rechnenden Hand beobachtete, trug nicht gerade zu meiner Sammlung bei. Was mich vollends zerstreute, war sein pädagogischer Grundsatz, den Unterricht, damit er nicht trocken wirke, durch Anschaulichkeit zu beleben. »Frische Wirklichkeit!« fing er an. »Der Wirt zum Poschthörnle kauft sechs Hektolitter Moscht om acht Mark fufzik. Den Schoppe möcht er om sechs Pfenning ausschenke – ond will dabei hondert Prozent profitiere. Wieviel Wasser muß er neischütte? Gsunder Menscheverstand!«

[58] Auf der Mensur

Aus Anlaß dieser Prositberechnung meldete sich Wurschterle und gab zum besten, wie sich auf spottbillige Weise feinschter Kunschtmoscht bereiten lasse. – Als ich nach Schluß der Stunde mit der Bemerkung herausplatzte, hier im Ländle scheine man's nicht minder hinter den Ohren zu haben als sonst in der Welt, trafen mich flammende Blicke, und: »Ssaupreiß!« hieß es, »hättscht solle in deim Makdeburk bleibe!« Wurschterle wollte witzig sein: »Bei uich heißt mr alle Städt' Burk! Makdeburk! Hamburk!« – »Und bei euch«, erwiderte ich, »heißt man alle Ingen! Tübingen! Reutlingen! Bopfingen! Tropfingen!« Hier bekam ich von Wurschterle einen Rippenstoß, und es wäre zu weiteren Tätlichkeiten gekommen, hätte nicht das Erscheinen des »Pedells« in der Klasse ablenkend gewirkt. Dieser »Puddel«, wie wir ihn nannten, war ein ausgedienter Unteroffizier, das Feldwebelhafte seines Auftretens war gemildert durch die wenig soldatische Troddelmütze auf dem ergrauten Haupte. »Achtong!« kommandierte er. »Ond heut wär Hitzvakanz!« – »Hurra!« johlte die Klasse, hurtig zum Abzug bereit.

Auf der Straße war ich umringt von Mitschülern, die Händel mit mir suchten. Ich kam mir vor wie einer, den die Bremsen stechen wollen. Man belästigte mich durch Zupfen und Knuffen. Und vortretend krähte mir Quenstedt, ein Klassengenosse, ins Gesicht: »Wart no, du Ssauballa! Der Wurschterle wird di [59] verschlage! Sein Kartellträger bin i! Gfordert bischt! Die Mensur steigt onter der Neckerbrück!« – »Gänget mr!« heulte die Knabenrotte, und es wälzte sich der Auflauf die Mühlgasse hinab. Auf Wurschterle redete man ermunternd ein, während mich tückische Blicke streiften. Aber da ging neben mir der Mitschüler, den sie Ritter Uli nannten, und raunte wohlwollend: »Immer tapfer! Aber Vorsicht! Der Wurschterle hat Ssauhieb!«

Von der Neckarbrücke führte eine hölzerne Seitentreppe zum Ufer des Flusses, und unter der Brücke war eine Sandbank, wohin man von oben nicht sehen konnte. Hier entstand um mich und Wurschterle ein Kreis von Pennälern, und leidenschaftlich ging das Hetzen los: »Auf, Wurschterle! Bach em ois! Tu em d' Gosch verschlage!« – »Net lang dischkuriere!« prahlte mein Widerpart. »Fanget mr ahn!« Auch ich war für rasche Entscheidung und machte mit meiner entleerten Büchermappe eine Rolle, in der Meinung, mit dieser Waffe solle die Fehde ausgefochten werden. Kampfesmutig legte ich aus und sann schon auf meine Hochterz. Hohngelächter belehrte mich, daß ich den Ernst der Lage verkannte. Mit geballten Fäusten lauerte Wurschterle, und auf einmal traf mich ein Stoß auf die Nase, daß mir war, als sei sie zerschmettert. Gleich im nächsten Augenblick knallte meine Faust auf Wurschterles Backe. Er prallte zurück und spuckte – Zähne schienen ihm wacklig geworden zu sein.

Mit mir drehte sich alles, mein Schädel brummte, die wirren Rufe der Pennäler klangen wie aus der Ferne. Dann unterschied ich Ritter Ulis gutmütige Stimme: »Gib dei Sacktüchle her!« Er netzte mir's mit Neckarwasser und kühlte die blutende Nase. Auch Enzio stand bei mir, mit Kennermiene betrachtete er meine Abfuhr: »Tut's arg weh? Gelt?« Ich schüttelte den Kopf: »Ha – a!« Der indianerhafte Held darf ja nicht merken [60] lassen, wenn's weh tut. »Net lang gaffe!« rief Uli den Knaben zu. »Beiderseits Abfuhr! Mensur ex!« – »Himmel Herrschaft, dees hätt mir passiere solle!« prahlte Enzio, als er mich heimbegleitete. »Metzelsupp tät i aus dem Wurschterle mache!«

Als ich zu meinen Eltern kam, waren sie entsetzt über die Nase, die angeschwollen war wie ein Gebäck. »Du führst dich ja nett ein, Lümmel du! Nach dem Essen gehst du in die Laube und steckst die Nase in die Grammatik!« – »Er soll aber die Wasserschüssel mitnehmen!« fügte Mutter hinzu. »Nase kühlen!« In der Laube kam ich mir vor wie eine geknickte Lilie und legte triefende Umschläge auf das mißhandelte Organ. Bald aber wurde ich guter Dinge. Vom nahen Beete nickten mir Rosen schelmisch zu: »Du mit der komischen Nase! schnüffle mal, ob du uns riechen kannst!« Eine Lerche, die trillernd ins Blaue stieg, erinnerte mich an Jakobs Himmelsleiter. In einer Anwandlung von Frömmigkeit kam ich auf die Idee, den lieben Gott, den ich durch meine Flegelhaftigkeit gekränkt hatte, zu bitten, durch ein sichtbares Zeichen mir anzudeuten, wie er's mit mir meine. Zwischen die Blätter meiner Bibel wollte ich mit der Feder stechen, und die Zeilen, die ich dann zu lesen bekäme, sollten mir Orakel sein. Und ich las: »Selig sind die Friedfertigen!«

[61] Die Schöpfung der Welt

Mit geschwollener Nase kam ich am andern Tage zur Schule, wurde aber von den Mitschülern nicht ausgespottet, eher mit Achtung behandelt. Wurschterle, der eine bläuliche und geschwollene Backe hatte, ging mir aus dem Wege. Die erste Stunde war beim Naso: Geschichte. Er begann mit seinem Gebet: »Du hoscht eun heulik Amt ...« Das darin vorkommende Wort »Ohngebärdigkeut« sprach er mit einer anzüglichen Strenge, und nach dem Amen lenkte er sein glasiges Auge auf mich: »Heut repetiere mr Gschichtstabelle – fange mer ahn, Wille! Sag du mr, wann ischt die Welt erschaffe?«

Ich war aufgestanden und starrte den Professor an, wie er mich. »Ja ja, i frag nach der Schöpfung der Welt! Wann ischt die gwä? He?« Ich wußte, die Geschichtstabelle, die ich jüngst angeschafft hatte, begann mit diesem Datum; dann kam eine Jahreszahl für die Sintflut und eine für Abraham. Ich hatte über diese Zeilen hinweg gelesen, ohne sie ernst zu nehmen. Naso weidete sich an meiner Ratlosigkeit: »Also, wann hat Gott ... He, du?«

Dumme Frage! dachte ich. Wer kann das wissen? Als durchschaue Naso meinen Widerspruchsgeist, wurde seine Stimme streng: »Das allererschte Datom der Weltgschicht? Ond daas weischt du net emal?« Ich zuckte die Achsel und meinte kleinlaut: »Das – weiß – niemand!« Naso riß die Augen auf – ich [62] hatte noch die Frechheit, fortzufahren: »Es gab ja damals überhaupt keinen, der die Jahreszahl hätte notieren können!«

Eine Bewegung des Staunens und der Heiterkeit ging durch die Klasse. Naso war so verblüfft, daß er sich sammeln mußte, dann aber ging sein Schnauzen los: »Gschwätz, domms! Gschaffen freili war damals noch niemand. Aber der Herrgott selber war da, ond der hat net nötik ghätt, sich 's Datom zu notiere! Der Allwissende braucht kei Notizbüchle. Aber sein Gschöpf, du hoscht die Pflicht, dir's Datom einzupräge! Drum nimm di zamme, du! Also – wann hat Gott –?«

Da glaubte ich eine Ausrede gefunden zu haben. »In vorsündflutlicher Zeit!«

Wieherndes Gelächter der ganzen Klasse – Nasos Mund stand offen: »Waas? In vorsünd ...? I glaub, du selber ... dei Nas, die scheunt mir vorsündflutlich zu sein.« Dröhnende Heiterkeit. Schmunzelnd betrachtete der Professor meine Nase. »Blau ischt sie, grün, gel – ond der Wurschterle da, der hat auf seiner Backe die Komplementärfarb? He, Wurschterle, versuche mer's mit dir! Wann hat Gott die Welt erschaffe?«

Wurschterle, der Zeit gefunden hatte, in seiner Tabelle nachzusehen, sprang soldatisch auf: »Viertausendeinhondertzweuondachtz'g!« – »Ond?« fragte der Professor lauernd. Wurschterle lugte nochmals in die Tabelle – und wiederholte störrisch: »Ond achtz'g! Zweuondachtz'g! So steht's bei mir.«

»Schafskopf, dees mein i net! Die Zahl tut stimme – aber ohnvollständik bleibt jedes Datom, wenn mr net dabei sage tut, ob's vor Krischtus gwä ischt oder nach Krischtus.« Wurschterle stutzte. Mitleidigen Spottes Naso: »Tut der Ssimpel net emal begreife, daß die Schöpfung der Welt vor Krischtus muß gwä sein.« Der gekränkte Wurschterle zuckte die Achsel: »Ha no! Selbschtverständli!« Naso krähte: »Wenn's selbschtverständlich [63] ischt, warum sagscht es denn net glei? Wiederhol!« Und Wurschterle patzig: »Viertausendeinhondertzweuondachtz'g vor Krischtus war die Schöpfung der Welt.«

Ich muß wohl ein erstauntes Gesicht gemacht haben, denn der Professor wandte sich plötzlich an mich: »Dees glaubscht wohl net?« Aufrichtig schüttelte ich den Kopf. Nasos Stimme wurde hart: »So so! Ond warom glaubscht net?«

Warum? Ich dachte noch, und da kam mir ein seltsames Steingebilde in den Sinn. In einem Steinbruch bei Magdeburg war's gefunden und dem dortigen Gymnasium geschenkt. Unser Lehrer der Naturgeschichte hatte gesagt: »Das ist eine Urweltsschnecke, über hunderttausend Jahre alt.« So wagte ich die Antwort: »Wenn's versteinerte Schnecken gibt, die hunderttausend Jahre alt sind, muß doch die Schöpfung älter sein.«

Die Klasse horchte auf – es war ganz still – Naso schien betroffen. Er nahm seine Zuflucht zur Witzelei: »An Schneckle, an so domme Viecher glaubscht? Also geh zu deim Schneckle ond laß dir von dem Gschichtsonterricht erteile! Es weiß wohl bessere Tabelle, als mir da hänt, gelt?«

Plötzlich starrte er einen Schüler an und keifte: »Du da, Quenstedt! Waas hoscht du frech z'lache?« Quenstedt erhob sich und zeigte grinsend seine etwas schadhaften Zähne: »Mei Vatt'r hat au so Schneckle!« Quenstedts Vater war Geologe und hatte aus dem Kalkstein der Alb manche Versteinerung urweltlicher Tiere geholt. Es war dem Naso peinlich, daß diese geologische Autorität als Trumpf gegen ihn ausgespielt wurde: »Bleib mir vom Leib mit so ausgegrabene Knoche! Als ob mr beweuse könnt, wie alt so Versteunerunge sind!«

»Ha, dees kann mr,« entgegnete Quenstedt keck. Und Naso gereizt: »Ein vernönftiger Mensch tut sich net auf so Schneckle verlasse – wo auch noch versteunert sind, wie Lots Weib zur [64] Salzsäule ward. Versuch's ond frag dei Schneckle, wie alt es sei! Meinscht, es werd antworte: Du, Quenstedtle! Tu mer gratuliere! Heut vor honderttausend Jahr ischt mei Versteunerungstag gwä –?« Durch den Beifall der Klasse ermuntert, fuhr Naso von oben herab fort: »Hoscht denn du überhaupt so Schneckle schon gsehe?«

»Ha freili! Ins Hebsackers Gärtle liegt eus. E Theolog hat im Neckrbaad gewohnt – dem hat's e Keemiker dediziert. Wie na der Theolog hat fortmüsse, war's versteunerte Schneckle zu schwär für sei Köfferle. Na hat er's dem Hauswirt dediziert. Der hat's ins Gärtle gelegt, zur Verzierung zwische die Rose.« – »Schwär, sagscht, sei dees Schneckle gwä?« meinte Naso lauernd, »wie schwär denn?« – »Ha, an die fufz'g Pfund!«

Alles staunte, und ungläubig Naso: »Eun Schneckle, eunen halben Zentner schwär? Onsinn!« – »Ha, dees Schneckle, dees Ammonshorn – so heißt mr's in der Geologie ...«

»Ammonshorn? Weuscht denn du überhaupt, wer der Ammon gwä ischt?« – »E Schafbock, mit so runde Hörnle!« grinste der Bengel. Die Blöße, die sich Quenstedt gegeben hatte, nutzte Naso aus: »Selber bischt e Schafbock! Lern du erscht Mythologie! Na kascht von Ammon rede!« Milderen Tons wandte er sich jetzt an Flammer, der wegen seiner vielseitigen Kenntnisse allgemein bewundert wurde: »Also Flammer! Red jetzt du

Flammer erhob sich, ein Hauch von Röte überflog sein kluges Gesicht: »Ammon ist ein Beiname Jupiters. Als Zeichen der Würde trug er Widderhörner am Kopf. Nach denen heißt eine große Schneckenart der Urwelt Ammonshorn, weil sie so geformt ist. Beim Hebsacker, dees stimmt, liegen e paar Ammoniten. Und Herr Kandidat Hainlin hat gsagt, ihr Alter sei kolossal!«

[65] Naso wurde unsicher: »Kolossal? Ha no! Dees möcht stimme! Aber net honderttausend Jahr!« – »Eine Million, sagt Herr Kandidat Hainlin.« – »Ond mei Vatt'r,« platzte Quenstedt dazwischen, »der sagt, auf e paar Millione mähr oder weniger käm's net ahn – so alt sei dees Schneckle.«

Einen krebsroten Kopf bekam Naso, seine Augen glotzten bestürzt auf Quenstedt: »Dei Vatt'r? Der kommt hier gar neu in Betracht! Der'scht ja Nadurforscher! Ja, wenn ihr Nadurkond habt, im Obergymnasium, na mögt ihr vom Ammonsschneckle schwätze! Vorausgsetzt, daß sich der Herr Professor Wildermut überhaupt auf so Sächle einläßt. Ond sollt der alsdann für die Schöpfung der Welt ein anderes Datom ahngebe, als in der Tabell steht – na gilt dees halt für die Nadurkond! Aber jetzt hammr Welt gschicht! Da wolle mr uns an dees halte, waas Hischtoriker feschtgstellt hänt. Zom Ueberfloß ischt dees amtlich ahnerkannt – onser württebergisch Minischteriom hat die Tabell da drucke lasse. Ond wer onser Minischteriom net reschpektiere tut, bleibt halt sitze

Schon glaubte Naso, mit der Genugtuung eines Siegers die Klasse überschauen zu dürfen, da hob Flammer den Finger. »Waas, Flammer?« Und Flammer: »Woher wissen denn die Hischtoriker dees Datom?« Naso erstarrte, Augen und Mund aufgerissen: »Woher sie dees wisse? Ha no – glaubscht denn du net an die Bibel? Aus dem Buch der Bücher hänt die Hischtoriker das Datom ausgrechnet! Der Moses zählt ja die Jahr auf, wo seit der Schöpfung verstriche sind.« – »Aber woher weiß es denn der Moses?« – »Ha,« eiferte Naso, »von Goot selber! Der hat ihm ja die Bücher Mose in die Feder diktiert! Wer also net ans Datom der Schöpfung glaubt, der glaubt net an Moses! Wer aber net an Moses glaubt, der'scht eunfach ... der'scht e Lausbub!«

[66] Etwas erschöpft schien Naso von solcher Abkanzelung. Doch einmal im Zuge, schwang er sich noch zu einem majestätischen Finale auf: »Oh freili,« höhnte er, »Gootsleugner gibt's in der Welt! Aber net bloß, daß so Atheischte ohnverschämt dreischt sind, sie sind au ssaumäßik domm! Hier vor euch, Kinder, steht ein lebendiger Beweis dafür, daß es einen Gootgibt! Wenn's nämlich keunen gäb', waas wär dann i?« Gespannt starrte alles auf seine Brillengläser, hinter denen ein heiliger Eifer lohte. »I wiederhol die Frag: Waas wär dann i? Waas wär euer Professor? Ihr wagt's net auszuspreche – na werd i's selber sage: e Ssimpel wär i! Wenn i mir bloß einbilde tät, daß e Herrgoot ischt, wie er in der Bibel steht, na wär i nicks wie e bemitleidenswerter Idiot

Der Professor nahm offenbar an, schon die leise Vorstellung, er könne ein Idiot sein, müsse wie eine Ungeheuerlichkeit wirken, dabei müsse den Pennälern der Verstand stillstehn. Den Zeigefinger an der Nase, dozierte er weiter: »Weil aber dies – ohnmöglich – gradezu eun Widerspruch in sich selbscht wär, lautet der Vernonftschloß: Also – quod erat demonschtrandom – also gibt es einen Goot!«

[67] Studentle der Hexerei

Kind einer Großstadt, hatte ich Dorfleben immer nur in den Ferien und auf Spaziergängen kennen gelernt, also bei Gelegenheiten, die der Erholung dienen. Kein Wunder, daß ich mit dem schwäbischen Dorfe, wo ich wohnhaft geworden war, die Vorstellung verband, es komme hier hauptsächlich auf Naturschwärmerei an. Sah ich die Wiesen mit den Obstbäumen, die ländlichen Gärtchen oder auch nur blühendes Gestäude am staubigen Wege, sah ich die Enten zum Goldersbach watscheln und vernahm ich das Muhen von Nachbars Kuh, so ging mir gleich das Herz auf, und ein Glück glaubte ich zu versäumen, wenn ich nicht der Lockung zum Idyll Folge leistete.

Begünstigt von der Ländlichkeit, der ich ergeben war, schoß jenes Benehmen ins Kraut, das den sogenannten Flegeljahren eigentümlich ist. Der Umgang mit anderen Halbwüchsigen trug auch dazu bei. Wohl hätte der ältere und sehr verständige Schmidt erziehlich auf mich einwirken können; aber sein gesetztes Wesen war mir bald langweilig, und es verdroß mich, daß mir von den Eltern immer seine Bravheit vorgehalten wurde. Das einzig Flotte, das er hatte, sein Fechten, verlor den Reiz, als wir einander unsere Finten abgelernt hatten. Eine Störung war's auch, daß Enzio, wenn wir fochten, mit Verdrossenheit dabei stand, weil er wegen seiner kleinen Gestalt nicht mithalten konnte.

[68] Enzio gehörte keineswegs zu den Musterknaben. Immerhin kam er in der Schule leidlich vorwärts – er fürchtete seines Vaters Drohung: wenn er sitzen bleibe, müss' er Kaufmann werden. Das genügte seinem Ehrgeiz nicht, Student wollt' er werden. »Und was willst du studieren?« fragte ich. Stolz lautete die Antwort: »Staatskarriär!« – »Also Jura?« – »Iura et cameralia.« – »Was ist das, cameralia?« – »Dees sind die Koriehs, wo cameralia studiere, Grafe ond Millionär. Ond du, Bruno? Waas willscht du studiere, he?« – »Ich, oh! Mein Vater rät zur Theologie – aber im Puppentheater hab' ich den Doktor Faust gesehn – der hat alles mögliche zusammenstudiert. Und leider auch Theologie! hat er gesagt. Auch ich kann mir nicht denken, daß an der Theologie viel dran ist. Na ja, ein Landpastor lebt gemütlich, sein Garten könnte mich schon locken. Aber die vielen Kirchenlieder, die man sich einpauken muß, und der Katechismus, so was ist furchtbar langweilig.« – »Dees scho! Naa wirscht halt Philosophie studiere, gelt? Der Doktor Fauscht war e Philosoph!« – »Nein, die Philosophie hat ihm auch nicht gepaßt. Drum hab' ich mich der Magie ergeben, sagt er ja. Und Magie, siehst du, die möcht' ich auch studieren. Schade, daß man's auf den heutigen Universitäten nicht mehr kann, wie in der guten alten Zeit, wo es noch Ritter und Hexen gab.«

»Aber waas tut mr denn mit der Magie? Kann mr davon gut lebe?« – »Und ob! Magie ist einfach Hexerei – und wenn ich hexen kann, hexe ich mir gradezu her, was ich wünsche.« – »Aber zaubern kann heuer kein Mensch mehr – verlernt hat mr dees!« – »Verboten hat man's,« sagte ich; »die Theologie hat schuld, die ist giftig auf die Zauberei. Luther sagt im Katechismus: wir sollen nicht fluchen, schwören, zaubern! Ich finde das kurios. Meine Mutter sagt: Fluchen tun ordinäre Leute, das schickt sich nicht. Aber wenn ich Donnerwetter sage oder [69] Verflucht und zugenäht, das sind einfach derbe Redensarten, sie tun doch keinem was. Warum machen nun die Theologen aus der Mücke einen Elefanten? möcht' ich wissen. Und wie steht's denn mit dem Schwören? Warum soll das eine Sünde sein? Wenn doch, jeder, der als Zeuge vorGericht kommt, schwören muß! Na also! Nun kommen wir zum Zaubern. Das soll auf einer Stufe stehen mit Lügen und Betrügen? Unsinn! Die Zauberbuden auf den Jahrmärkten sind meine Schwärmerei, und dagegen hat sogar die Polizei nichts. Ich selber zaubere mit meinem Zauberkasten, den hat mir meine Großmutter zu Weihnachten geschenkt. Das ist doch kein Betrug! Und ich meine sogar: Jammerschade, daß ich nicht allen Ernstes zaubern kann! Kennst du das Märchen vom Knaben, der hexen lernen wollte?«

Sinnend meinte Enzio: »Wenn i hexe könnt, honderddausend Dukate tät i mir wünsche, besser no, daß mei Geldbeutel nimmer lär werde tät. Na hätt i ällweil Geld – ond wär e nobler Korieh mit roter Kapp, Samtjäckle ond Kanonestiefel, gelt?« – »Welches Kor trägt denn rote Kappen?« – »Suevia sei's Panier!« sagte Enzio prahlerisch und holte aus seiner Westentasche ein Stückchen Band schwarz-weiß-rot: »Mei Bändle ischt dees, ond älleweil bei mir han i's. Später trag i's om die Bruscht, ond als Renommierbursch stolzier i durch Tübinge – mit meim Reißebeiß!« – »Wer ist denn das?« – »Mei Hund heißt so, e kolossale Dogg, auf Mensche dressiert. Deescht e rechts Zauberviech – wie der Reißebeiß im Märle vom Metzgergsell – den hat der Reißebeiß begleitet auf seiner Wanderschaft – ond wie der Gsell in eine Räuberherberg graten ischt, wo ihn die Räuber hänt schlachte wolle, na hat der Reißebeiß die Räuberverrisse

Auf Räuber kam Enzio auch sonst gern zu sprechen; einmal deutete er nach einem Bergwalde: »Dort hinter Kirchetellinsfurt [70] hat's no richtige Räuber.« Ein zerlesenes Buch lieh er mir, es handelte vom Räuber Schinderhannes. Ich peitschte den Schmöker durch, habe indessen nichts davon behalten als eine spannende Szene – im allgemeinen fand ich diese Geschichte verworren und wüst.

Neuerdings hatte sich Enzio einem rotköpfigen Realschüler angeschlossen, der auch in Lustnau wohnte. Auf Obst und süße Erbsenschoten waren diese zwei erpicht, ohne den Unterschied von mein und dein sonderlich zu achten. Sie hatten am Pfrondorfer Berge gelbe Rüben gemaust, und meine Tasche war prall von Fallobst, das ich in kindlichem Sammeleifer aufgelesen hatte. Da sah ich, wie der Feldhüter geduckt heranschlich. Gleich darauf kratzten meine Gefährten aus, und ich langbeinig wie ein Hase hinterdrein, schnurstracks immer bergab – Steinhaufen übersprang ich, durch Gebüsche brach ich, eine Gewandtheit entwickelnd, die ich mir bisher nicht zugetraut. Bald war ich außer Gefahr und wieder vereint mit den nicht minder leichtfüßigen Spießgesellen.

Nun bargen wir uns in einer Grube, die zum Flachsrösten hergerichtet war. Die Aschenreste brachten uns auf den Einfall, hier ein Feuer zu machen. Als das zusammengesuchte Holz flackerte, schlug Enzio vor, Frühkartoffeln zu rösten, und wollte sie mausen. Hieran mochte ich mich nicht beteiligen, übernahm es aber, das Feuer zu unterhalten, während die anderen gingen. Als ich neuen Reisig zusammengesucht hatte und behaglich die qualmende Glut nährte, stand auf einmal ein bäurisches Weib bei mir und überschüttete mich mit Entrüstung. Wie sie gar mit ihrer Hacke auf mich losging, zog ich es vor, Fersengeld zu geben. »Fuirlesmacher!« hatte mich das Weib geschimpft, und als ich andern Tags durchs Dorf ging, riefen die Kinder hinter mir her: »Fuirlesmacher!« Anfangs war ich in Sorge, meine Schandtat [71] könne dem Naso kund werden. Doch hatte sie keine andere Folge, als daß ich hinfort bei der Lustnauer Jugend der Fuirlesmacher hieß.

Solch wilde Geschichten wechselten mit Erlebnissen von sanfter Schönheit. In der Richtung nach Bebenhausen streifte ich gern, längs des rauschenden Baches, wo Forellen schlüpften. Ueber die großen Klettenblätter des Ufers erhob sich wallender Weizen, Mohn und Flachs. Das ganze Talgelände ein einziger Obstgarten. Manche Apfelbäume derart mit Frucht beladen, daß die hängenden Aeste ein Dutzend Stützen nötig hatten. Die Wiesen strotzten von Halmen und hochgeschossenem Kraut. Falter gaukelten über die bunten Blumen, Hummeln summten, vom Feldrain schwirrten Grashüpfer, so zahlreich, daß sie förmliche Wölkchen bildeten.

Vater, der mich gern auf seine Spaziergänge mitnahm, fand im Naturgenuß einzig ungetrübtes Lebensglück. Er machte mich mit der Vogelwelt bekannt, wußte mit seinem einen Auge Erdbeeren zu entdecken und zeigte mir schmackhafte oder heilkräftige Kräuter. Am Saum der Wälder, die auf den Höhen beiderseits des Goldersbaches säuselten, fand er Haselsträucher und freute sich der Nüsse, wenn sie auch noch nicht reif waren. Das lebhafteste Behagen widmete er den Pilzen, von denen die Buchen- und Nadelwälder wimmelten.

Ging ich allein in die Landschaft, gab ich mich weniger dem Ausnutzen der Natur hin, was Vaters Spezialität war, als dem Träumen und einem Umherschweifen, das bloß der Stimmung folgte. Ich konnte mich derart an die Dinge verlieren, daß ich mein Alltagsdasein vergaß und geradezu in einer andern Welt lebte. Einmal hatte ich den Goldersbach aufwärts verfolgt, war hinter dem Kirnbache abgebogen, in einen domartigen Wald. Die Säulen waren dicke Buchenstämme, hart wie grauer Stein. [72] Die Wurzeln überkrustete Moos, Efeu rankte zum Gezweig empor. Den steil abfallenden Boden deckte braunes Laub, und wo die Sonne durchs grüne Dach lugte, hatten sich Gewächse angesiedelt, lila Glockenblumen, Waldmeister und zarte gelbe Blüten. Nahe dem Berggipfel war ein Gewimmel starrender Felsen, zwischen denen Farne ihre grünen Wedel breiteten. Als ich auf bemoostem Blocke saß, war mir's, als rege er sich, und ich wurde die Vorstellung nicht los, diese Felsen seien eines Ritters Reisige, von einem Zauber versteinert. Den verwunschenen Ritter entdeckte ich in Gestalt eines hoch über den Wipfeln kreisenden Raubvogels. In einem Banne hielt mich die Träumerei, so daß ich mir selber schier versteinert vorkam und mit diesem Walde verwachsen. Als unweit eine Ringelnatter in der Sonne lag, beobachtete ich sie, ohne mich zu regen, und glaubte, sie werde mir wunderbare Heimlichkeit offenbaren, etwa ein Krönlein aus einem Loche holen oder ein Kraut pflücken, mit dem man die versteinerten Ritter nur zu berühren brauche, um sie wieder zum Leben zu erwecken.

An einem strahlenden Sonntagmorgen hatte ich einen Abstecher ins Neckartal gemacht und am Fuße eines Waldberges die Blaulach gefunden, einen langgestreckten Sumpf, von Rohr umflüstert. Durch diese Wildnis führte ein bretterner Steg, und auf das vorspringende Ende setzte ich mich, ins Wasser zu starren. Es fesselte durch seine dunkelblaue Farbe, mit breiten Flächen grüner Linsen bedeckt. Geheimnisvoll war eine Stelle, wo der Wasserspiegel Perlmutterglanz hatte, ein grünblaues und lilarotes Schillern. Ein Zauber muß hier im Spiel sein, dachte ich. Aus der Wassertiefe kommt das bunte Flimmern, drunten haben die Seejungfern ihr Schloß von Kristall, und wenn's für gewöhnlich unsichtbar bleibt, so bin ich doch vielleicht ein Sonntagskind, weil ich Nixen und Elfen so gern habe und mich sehne, [73] das Zaubern von ihnen zu lernen. Libellen kamen geschwirrt und zitterten wie Hauch über duftigen Wasserdolden – ich bestaunte den blauen, biegsamen Leib, die langen Flügel, wie aus Glas gesponnen. Und nun tauchte aus dem Wasser ein buntes Entlein, schwamm näher, mit munteren Aeuglein mich betrachtend. Mein Herz pochte, da die ersehnte Zauberwelt fast greifbar war. Ich brauchte dem Entlein nur ein magisch Reimlein zu sagen und durfte dann mit ihm hinabtauchen zum gläsernen Schlosse. Sagt nicht die Bibel, man könne Berge versetzen, brauche nur an die eigene Kraft zu glauben? – Und ich reimte:


»Blaulach-Entle,

Du Wasserfei!

Bin ein Studentle

Der Hexerei!«


Aber die Ente tauchte blitzschnell unter, weil ich eine Armbewegung gemacht hatte. Dafür regte sich etwas in einer braungelben Masse, die zwischen den Wasserlinsen schwamm: ein dickköpfiger Frosch kroch aufs breite Blatt der Seerose und meckerte fettes Spottgelächter: »Na – a – arr!« Und zerstoben war die schillernde Seifenblase der Träumerei – ganz gewöhnlich war auf einmal die Welt – es glühte die Sonne, eine Bremse stach mich, mein Magen knurrte.

[74] Hainlins Gärtnerei

So lagen in meiner Seele verschiedene Elemente durcheinander wie Kraut und Rüben, und ich litt darunter, daß ich keinen Ausgleich fand. Der Gegensatz zwischen dem Nixenschloß und dem Schlamm des Frosches wurde täglich von mir erlebt, wenn ich aus der wundervollen Landschaft in die öde Schulstube kam. Die Gabe, daselbst mich anzupassen, war meiner Kindheit derart versagt, daß der Unterricht verschlossene Ohren fand. Ich lebte zu sehr innen. Wo ich nicht in freier Teilnahme den äußeren Einwirkungen entgegenkam, stießen sie auf Gleichgültigkeit oder auf Ablehnung. Bereits als ich die Schulbank der Sexta gedrückt hatte, war mir die alte Linde auf dem Klosterhof, wie sie knospete und blühte, wie sie im Herbst gelb wurde und das Laub verlor, ein würdigerer Gegenstand der Teilnahme als der Lateinlehrer mit seinem mensa- und amo-Geschwätz.

In Tübingen zog ich mich während des Unterrichts in mich selbst zurück wie eine Schnecke in ihr Haus, sobald man ihre Fühler anrührt. Auf den Lehrstoff der Klasse pflegte ich weniger zu achten als auf die Mundart der Mitschüler und Eigenheit der Lehrer. Mit ihrer graugrünen Fläche lud mich die Schulbank ein, Gestalten darauf mit Tinte zu kritzeln – den Glasberg mit der Prinzessin und dem emporsprengenden Ritter. War ich aber zu spöttischer Beobachtung aufgelegt, so malte ich den borstenköpfigen Wursterle mit seinen abstehenden Ohren, den schnupfenden[75] Naso, den feisten Saubock. Sobald ich annehmen durfte, der Lehrer würde mich nicht mit Aufrufen belästigen, ergab ich mich dem Verseschmieden und schuf Gestalten meiner eigenen Welt. In meinen Schulbüchern lagen Zettel, denen Zeilen meines »Epos« anvertraut waren. Zu Hause fügte ich die Entwürfe in den Zusammenhang des Ganzen, und solcher Betätigung wie auch dem Lesen von Märchen und Indianergeschichten widmete ich meinen Eifer, während Schularbeit übers Knie gebrochen wurde.

Hainlin, der meine Art ausgespürt hatte, sprach mit meinem Vater darüber, als er gekommen war, sich für das Kotze-Buch zu bedanken. In der Weinlaube saßen die beiden, ohne zu merken, daß ich mir in der Nähe zu schaffen machte.

»Ihr Sohn ist ein Sinnierer und Eigenbrödler – einer von denen, die ihren Gang nicht durch die Schule nehmen, sondern nebenher. Gelingt solchen Naturen ihre Entwicklung, so ist's gut – aber sie kann auch mißlingen, und jedenfalls haben sie viel Widrigkeit und Seufzen durchzumachen.« Sorgenvoll nickte mein Vater: »Sie haben den Jungen durchschaut. Ich kenne seine Kuriosität. Ich selber habe etwas davon – habe mich nie recht einschmiegen können ins Getriebe der Leute. Bei mir hat sich verständiges Wesen einigermaßen erst eingestellt, als ich die Schwelle zur Mannbarkeit überschritten hatte. Vorher weiß man kaum, was man ist und was man im Leben soll.«

Der Kandidat spann den Faden weiter – ich konnte nicht alles hören, und manches blieb damals noch dunkel – allein später, als mir Hainlins Ansichten klarer wurden, war ich imstande, das belauschte Gespräch zu deuten. Es sei herkömmlich – so meinte er – einen jungen Menschen mit einer frisch aufgeblühten Blume zu vergleichen – doch er gleiche eher einem Schutthaufen, darauf allerlei Gewächs durcheinander wimmelt: Nesseln und [76] Grashalme; neben giftigem Nachtschatten blüht das heilkräftige Johanniskraut, die himmelblaue Zichorie, süßduftend die Königskerze. Wohl haben Kinder glatte Gesichter und klare Augen, während der alte Mensch durchfurcht von Leidenschaften erscheint und vom Schicksal zersplissen wie ein Weidenstumpf. Doch trügt der Schein. Mancher Alte birgt unter den Runzeln eine abgeklärte Seele, und manch äußerlich hübsch blühendes Menschenkind ist innen wüst. Ein Neugeborener bedeutet kein unbeschriebenes Blatt, eher ein vielbändiges Buch, eine uralte Historienbücherei; oder auch ein Papier, das zwar weiß ist, aber geheime Schriftzeichen trägt, mit einer Tinte geschrieben, die anfangs unsichtbar, erst durch längere Belichtung Deutlichkeit erlangt. Was dem Neugeborenen solche verstohlene Ueberlieferung beigebracht hat, ist sein Vorleben, das er innerhalb seiner Ahnen geführt hat. Mit dem Blute haben sie ihm Gefühle, Tüchtigkeiten und Laster vererbt. So kommt es, daß ein Kind zuweilen eine ganze Rotte wilder Triebe darstellt. Mit Bestürzung entdeckt es in sich ein heftiges Durcheinander, wie wenn eines Vielgespanns Pferde unverträglich hierhin und dorthin zerren. Arme Jugend, die ihr Inneres noch nicht begreifen kann und nicht weiß, was sie anfangen soll mit den erwachenden Anlagen und Trieben! Kläglich verlassene Jugend, die in solcher Hilfsbedürftigkeit nicht verstanden wird! Eltern und Lehrer, die ihre Ueberlegenheit über die Unreifen wohltätig machen sollten, indem sie in deren seelische Gründe ordnend, entwickelnd eingreifen, haben dazu selten Beruf. Sie beschränken sich dann darauf, rauh zu unterdrücken, was ihnen unpassend erscheint, und Heranwachsendes in Schablonen zu pressen. Statt mit den Kindern jung zu sein, wie die Katzenmutter mit ihren Jungen tollt, setzen sie die Miene einer Ueberlegenheit auf, die sie schroff scheidet von der unteren Stufe, so daß sich Kinder und Erwachsene wie zwei[77] einander fremde Welten gegenüberstehen. Der Erwachsene befiehlt, tadelt und straft. Gestattet sauersüß oder gönnerhaft. Läßt oft nur deshalb die Jugend gewähren, weil ihm das Gängeln lästig ist. Seine Sonderinteressen gehen ihm vor, er fachsimpelt mit seinesgleichen und überläßt die Kinder jener Heranbildungsfabrik, die sich Schule nennt.

»Um nun wieder auf Ihren Knaben zu kommen,« so wandte Hainlin seine Darlegung an, »möcht' ich fast raten, Sie sollten ihm unter Anleitung eines geeigneten Privatlehrers möglichst freie Entwicklung lassen. Neigungsstudien, die allein passen für ihn. Aber freilich, wo den Pädagogen hernehmen?« – »Ich wüßte schon einen,« sagte mein Vater, »doch den zu honorieren, gebricht es mir an Mitteln ...« Abermals machte Hainlin die freundlich ablehnende Gebärde: »Wenn Sie mich meinen, so muß ich gestehen, daß ich nur Gelegenheitspädagog sein kann, Dilettant – dies Wort meint einen, der etwas bloß aus Liebhaberei treibt – bloß! sagt mr – als ob Liebe ein geringes Motiv wär – komisch sind die Leut! Nun also, die Nachhilf hab ich Ihrem Bruno gern erteilt. Aber die muß nun ein End haben. Zum Oktober gang i nach Stuggart ...« – »Was? Sie wollen fort von hier? Und Fräulein Rosel? Und Uli Ritter? Was fangen die ohne Sie an? Wir alle werden traurig sein ...« Während mein Vater so sprach, fühlte ich, wie mir heißes Bangen zur Kehle stieg, und ich war versucht, weinend hinwegzuschleichen.

»Ja, ja!« fuhr Hainlin fort, »den bunten Rock will ich anziehn – einmal muß der Militärpflicht genügt werden. Auch für Rosel wird's gut sein, wenn i jetzt geh' – da mag sie sich besinnen. Und der Uli? Er muß lernen, ohne mich zu arbeiten. Nun fragen Sie mich nach Ihrem Sohn. Wie die Dinge liegen, wag' ich nicht zu raten, den Bruno von der Schule wegzutun.[78] Lassen Sie ihn ruhig im Drill bei den anderen Schülern – er wird net erheblich hinter ihnen zurückstehen, wenn er auch mal kleben bleibt – wie möglicherweise demnäkscht. Ihre Uebersiedelung von Norddeutschland in die hiesigen Schulverhältnisse stellt an seine Anpassungsfähigkeit Ansprüche, wie sie bloß ein Knabe bewältigt, der sich ganz in die Hände seiner Exerziermeister gibt. Dees aber tut er net, der Bruno net!« – Mein Vater tat einen Seufzer: »Ach ja! Wie man's anfängt – es hapert überall! So ist die Welt! Ein Rezept haben Sie also nicht für mich?« – »Nach einem Rezept kann der Poet, der Maler, der Tondichter nicks Lebendiks zustandebringe. Ebensowenik der Pädagog, dessen Beruf ich Erziehungs kunscht nenne möcht.«

»Wie hoch, Herr Hainlin, fliegt Ihr Idealismus! Die Wirklichkeit kann da nicht mit! Bedenken Sie, daß der Lehrstand nicht aus Künstlernaturen bestehen kann.« – »I weiß! Fabrikwerker sind die weischte. Wer's net sein möcht, wird's mit der Zeit. Das Getriebe macht ihn zu eme Rädle an der Maschin.« – »Die Schüler tragen auch nicht wenig dazu bei, einem Pädagogen den Idealismus zu versauern,« – meinte mein Vater – »als Außenstehender hat man's leicht, sich idealen Träumen hinzugeben. Steht man aber vor der Aufgabe, die Rotte Korah zu bändigen ... Herr Kandidat, Hand aufs Herz!« – »O freili! I selber würd verzage, begab i mich ins Fabrikgetrieb.« – »Das wollen Sie also nicht? Sind Sie vom Theologen zum Lehrer umgesattelt? Ich meine gehört zu haben, daß Sie eine Anstellung an der Töchterschule erstreben? Oder was möchten Sie werden?«

Wie ein verlegenes Kind sah Hainlin aus, als er zögernd erwiderte: »Ha, auf der Flöte spiel i gern – mach au Verse – halte Gespräche mit den Ideen, die mich besuchen, wenn ich über Büchern und Papier brüte. Weil aber onsereins davon net lebe kann, ond weil i vollends net auf diese Art mei liebs Rosel [79] ernähren könnt, so muß i halt schaun, wie ich das Brotmachen lern. Am liebschte möcht i zur Gärtnerei omsattle. Ob mir's glingt, ob überhaupt ebbes Leidlichs aus mir wird, dees weiß der Himmel.« Betroffen hielt mein Vater das Auge auf den seltsamen Kandidaten gerichtet: »Gärtner? Hm! Nun ja, ein schöner Beruf! Aber dafür brauchten Sie nicht auf die Universität zu gehen.« Nicht ohne wehmütigen Spott war Hainlins Lächeln, als er erwiderte: »I hab halt mei Studiom ganz und gar net als Mittel zum Broterwerb betrachtet, sondern als mei geischtiks Bedürfnis. Verloren ischt's also net, wenn i schließlich zu der Einsicht glang, daß es mir besser paßt, Pflanzen aufzuziehen, als Menschenkinder im Drill zu peinigen und zu verhunzen.« Mitfühlend, als ob er ihm Halt geben möchte, ergriff mein Vater des schwärmenden Jünglings Hand: »Mein lieber Herr Hainlin! Möchten Sie Kraft finden, die Entsagung zu bestehen und die Enttäuschungen, die Ihnen ein so seltsamer Lebensweg nicht ersparen wird!«

Seine Rührung konnte Hainlin nicht verhehlen. Er schwieg und sann. Dann kam noch ein Hauch seines Geistes: »Net um mich handelt es sich, sondern um Ihren Knaben. Wenn ich nun fort bin, könnten Brunos Freunde ihm beistehn. Vom Segen der Freundschaft halt i viel. Im Umgang mit Altersgenossen, zu denen er begeischtert emporschaut, wächst der junge Mensch Ond selbst, wo's auf Studiom ahnkommt, können ihm Mitschüler Lährmeischter sein, wofern sie herzlichen Willen dazu hänt. Wo junge Leute mitsammen schwärmen, sind sie wie ein Kriegshaufe im heroischen Erstürmen einer Bergfeste – es wetteifern die Knappen, ond einer hilft dem andern. Kein Volk hat solch erzieherische Freundschaft so vorgelebt wie Athen und Sparta. Das preisen nun zwar unsre Schulmeischter – doch ach, wie kläglich sind sie vom Geischt der Antike entfernt. Wenn sie mit [80] ihren Pennälern Griechisch büffeln, haben sie keine Ahnung von der freien Natürlichkeit und Kraft derer, die Plato schildert. Helenas Gewand haben sie in Händen, während die Göttin ihnen entschwunden ist – mit den alten Lappen treiben sie einen lächerlich traurigen Götzendienst, indem sie die Nähte studieren, auftrennen und wieder zusammenflicken. Wenn i mich zu dem Ohnfug hergebe soll, den mir onsre Bildungspfaffe zumute, Himmel Herrgott! Dann werd i Rebell.« Bei diesen unwirschen Worten war Hainlin aufgesprungen. Nun nahm er Hut und Stock: »Nicks für ungut! Bin halt kei Normalmensch! Was aber den Bruno betrifft, so seien Sie wegen der Schul net arg in Sorg! Es genügt, wenn er leidlich mit ihr fertik wird. Im übrigen halten Sie darauf, daß er Ihnen Vertrauen schenkt – ond daß er sich zum Wendelin Flammer hingezogen fühlt. In dem lodert Begeisterung – er hat ebbes Emporreißendes. Der Uli Ritter ischt aue Kerle. Der Enzio ...« Hier machte Hainlin eine Pause des Bedenkens ... »Ha no! Der Enzio möcht wohl! Eine Art Nobleß ischt ohnverkennbar am Enzio. Doch am albernen Ich hangt er – ond hat in seim Blut e gefahrvolle Erbschaft.«

[81] Justinus und Rickele

Spätnachmittags wollte ich mit meinem Vater einen Spaziergang unternehmen. Wir standen vor dem Hause, warteten nur auf einen Brief, den meine Mutter noch unter der Feder hatte – in den Postkasten wollten wir ihn befördern. Fräulein Rosel kam aus dem Haus, auf dem Kopf einen leeren Korb. Ihre rotgeweinten Augen erinnerten mich an Scheltworte, die ihr Stiefvater wieder einmal herausgepoltert hatte. »Noch fleißig, Fräulein Rosel?« fragte mein Vater freundlich. – »Kohlräble muß i hole – vom Haseläckerle.« So ging sie. Ich empfing nun Mutters Brief, aus dem Fenster warf sie ihn.

Als wir ihn zum Postkasten gebracht hatten, wurde auf der Dorfstraße Herr Hainlin sichtbar. Da er auf Kuttlers Haus zuging, erlaubte sich mein Vater die Bemerkung: »Fräulein Rosel ist eben fortgegangen, zum Haseläckerle.« Sein Gesicht drückte Enttäuschung aus. Dann meinte er: »Und wo ischt sell Aeckerle?« Ich wußte das, und mein Vater bot unsere Führung an.

Unter dem waldigen Hange des Dentzenbergs war der Acker gelegen, bei Haselgebüsch. Vom Fußpfade sahen wir auf Gemüsebeete, und da hantierte Rosel gebückt. Hainlin rief sie an – sie richtete sich auf: »Grieß Goot! I komm glei.« Mein Vater war im Begriffe, sich zu verabschieden. Aber der Kandidat schaute, in Sinnen versunken, auf die im Tale liegenden [82] Gebäude: »Also da beim Kloschterhof ischt sell Ackerle? Sonderbar!« Was er meinte, blieb vorerst dunkel. Träumerisch fuhr er fort: »Drunten die dicke Währmauer und die zwei Türm stammen aus dem Mittelalter. Seit der Reformatio ischt's e wirtschaftliche Gütle, ond jetzt werden Waisenkinder drin verpflegt ... Aber schau, mei Rosel kommt.«

Ihren mit Gemüse gefüllten Korb hatte sie auf den Kopf genommen und kam de.. Pfad zur Halde herauf. Als sie vor uns stand, hatte ihr Gesicht noch immer Spuren von Leid. – Hainlin schien das sofort zu bemerken und meinte sanft: »Sitz nieder, Rosel! I möcht dem Herrn Wille und dir e Gschichtle verzähle, gelt? Also – vor etlichen Jahren ischt's Rickele verstorbe – als Greisin ... von ihrer Jugend aber will i verzähle ...« Am kleebewachsenen Hange saßen wir und blickten auf den Klosterhof, ins dunkelnde Tal des leise rauschenden Goldersbaches.

»In eme Gütle da in der Näh hat dr Oberamtmann wohnt mit seiner Tochter Rickele. Des liebe Mädle ischt emal bei em Ausflug zur Reutlinger Achalm gwä. Munter hat die Gesellschaft vom Berg ins prangende Land gschaut. Aber's Rickele hat e wehmütigs Gsichtl gmacht – grab wie jetzt mei Rosel – als wär's Leben nicks als Trauerspiel ...« – »Ischt's net so?« seufzte Rosel.

Unbeirrt fuhr Hainlin fort: »Trat zum Rickele e junger Mann, seines Zeichens Student, ond sprach zur Schönen, die ihm noch fremd:


Wie kommt's, daß du so traurig bist,

Da alles froh erscheint?

Man sieht dir's an den Augen an:

Gewiß, du hast geweint.


[83] Nicht als Zudringlichkeit, sondern als Teilnahme hat's Mädle solche Ahnnäherung empfunden – und, vertraut mit ihrem Goethe, die schlagfertige Antwort gegeben:


Und hab' ich einsam auch geweint,

So ist's mein eigner Schmerz;

Und Tränen fließen gar so süß,

Erleichtern mir das Herz.


Hinfort hat den Jüngling innik verlangt, es solle Rickeles Herz sich auftun ond ein ander Herz in sich aufnemme – wie's dr altdeutsche Sänger meint: Ich bin dein, und du bist mein, des solltu gewiß sein – du bist beschlossen in meinem Herzen, verloren ist das Schlüsselein, nun mußtu ewik darinnen sein.«

»Ond ischt's denn so bliebe?« fragte Rosel bewegt – »hat er's Rickele in seim Herz behalte?« – »Er hat's! Abends hat er oft gelauert beim Haus von Rickeles Vatter – ond sälik ischt er gwä, wenn er nur's Lichtle hat sehe könne ins Mädles Kämmerle, ihren Schatten am Vorhang. Ond allerlei zärtlich Geschreibsel hat sell Liebespaar zu tausche ghätt. In einer zerfallenen Kapelle beim Haus, unter eine lose Stein hat der junge Mann seine Briefle niedergelegt, ond's Rickele hat auf die gleiche Weise geantwortet. Drei Jahr hernach hat sie e Ringle von ihm trage dürfe – ond wie er seine medizinische Prüfung bestanden hat, na ischt's Rickele die Frau vom Juschtinus worde.« – »Also Arzt ist er gewesen?« fragte mein Vater – »und Justinus hieß er?« – »Ja, Juschtinus Kerner.« – »Wie? Der berühmte Dichter?« – »Ha freili! Sie aber ischt selles Reckele gwä, des mit ihm in d Literaturgschicht kommen ischt. Wie der Kerner später als Arzt in Weinsberg ghaust hat, ischt beim Rickele mancher berühmte Gascht gwä – zum Beispiel dr Lenau. In äußerlichen Dingen [84] sind die Ehejahre des Kernerpaares zunäkscht dürftik gwä. Im Dorfe Welzheim hat es beim Ochsenwirt bloß zwei Zimmer ghett ond e winzige Küch. An den größeren Raum, der Schlafzimmer gwä ischt, hat dr Wirt die Bedingung knüpft, an Markttagen, bei Hochzeiten, Kindtaufen und Tanzvergnügen sei er zu räumen, um als Tanzsaal zu dienen. Aber glücklich wie Kinder sind Juschtinus und sei Rickele gwä zwischen weiß getünchten Wänden, hinter dene blinde Bleifenschterle. Rickele hat als Beistand e Laufmädle ghätt, zum Wasser und Holz bsorgen, hat aber sonscht älls selbscht tan – und der Kerner, besonders auch jeder Gascht, hat net gnug rühme könne, wie schmackhaft und wie vergnügt mr beim Rickele könn tafle.«

Rosel war aufgeheitert: »Ha, warom au net? Viel braucht mer net, um froh zu sei.« Beifällig bemerkte mein Vater: »Raum ist in der kleinsten Hütte für ein glücklich liebend Paar. Humor muß man haben – dann wird das Enge, Dürftige weit und reich.« Hainlin nickte: »Heitre Laune, Schelmerei hat ihm net gfehlt. Ischt übrigens e rechter Träumlesschwob gwä, den Kopf alleweil im Wolkenkuckucksheim. Spaßik ischt dees manchmal gwä. Zom Beispiel bei seiner Hochzeit. Sei Bruder, e Pfarrer, hat ihn wolle traue. Wie aber der Bräutigam mit der Braut vor dem Altar gestanden – ond jetzt des Pfarrers entscheidende Formel kommen ischt: ›Ich frage dich, Justinus Kerner, ob du ...‹ – da ischt där so in Rührung aufgelöst gwä, daß er einfach fortglaufen ischt vom Altar. Die Braut aber ischt stehn bliebe – ond jetzt hat der spröde Bräutigam gestutzt – hat sie beobachtet und ist, wie sie ihm immerfort zugewinkt hat, schließlich wieder, wenn auch zögernd, an ihre Seite getreten. Nochmals allerdings hat er sich einen Verstoß gegen die Form zuschulden kommen lassen.« Nämlich, wie jetzt der Pfarrer von neuem seine Frage gestellt hat, ist der Kerner [85] in seiner Scheu verblieben – hat net geantwortet, wie's vorgeschrieben ischt: ›Ja, ich will‹ – vielmähr verstockt gschwiege ond hat's em Rickle überlasse, von Herze laut zu versichern: ›Er will scho!‹ Später hat ihm's Rickele oft im Spaß vorghalte, ihre Ehe sei eigentlich ongültik, er hab net ja gsagt. Dann hat er sich verteidikt: »Dees ischt mir halt zudumm gwä, zu sage, wie jeder hausbackene Ehema', als ob mei Glück nicks weiter sein sollt als eins unter Millione.«

»Echt ist das empfunden,« meinte mein Vater – »einem Liebhaber, wie er sein soll, kommt seine Liebe immer wie ein Wunder vor, das nie dagewesen ist.« – »Und ischt's dees net?« bemerkte Hainlin ernsthaft. »Ischt Liebe net erhaben über alle Zeitlichkeit, Erlebnis des Ewigen?« – »Scho recht!« seufzte Rosel – »aber wir Menschekinder hänt unser Leben halt in der Zeitlichkeit. – Jetzt, Jergle, tu uns au sage, wie's dem Kernerpaar weiter gange ischt in der Zeitlichkeit.«

»Ha, woisch du dees net? Die Formel, die dr Juschtinus verfehlt hat bei seiner Trauung in Enzweihingen?« – »Wo?« fragte mein Vater belustigt, und auch ich stutzte über den seltsamen Ortsnamen. »Enzweihingen – so heißt's Dörfle, wo die Ehe gschlossen worden ischt, noch dazu unter Verstößen gegen das Herkommen. Entzwei ischt sie aber keineswegs gangen – treu und schön ischt sie bliebe – bis über die goldene Hochzeit naus. Da ka mer sehe, worauf's ahnkommt, Rosel, gelt?«

Mein Vater bemerkte: »Es wäre wunderschön, wenn auch dieser Ausgang der Liebesgeschichte als ein Typus gelten dürfte, auf den Ihre Worte, Herr Kandidat, passen: Erhaben über alle Zeitlichkeit ein Ausdruck des Ewigen. Leider jedoch bleiben die Ehen solcher Art recht vereinzelt.« Als spräche er besonders zu Rosel, erwiderte Hainlin: »Zu so me Vorbild sollt jedes Paar gläubik aufschaue, wie zu me Stern. Und wenn's au im [86] Leben oft anders kommt, als wir Menschen hoffen, dees bleibt sicher – Onkel Guhl hat mir's verraten: Von allem Haben in der Welt macht bloß eins glücklich: das Liebhaben.«

Forschend sah ihn Rosel an: »Jetzt aber, Jergle, sag mer au: warom tuscht uns dees verzähle? Worom grad jetzt?« Nicht ohne Schelmerei war Hainlins Lächeln: »Weil grad an dieser Bergeshalde der Juschtinus gsessen ischt – zum Kloschterhof spähend – eben da hat's Rickele gewohnt. Ihr Vatter ischt Verwalter vom Kloschterhof gwä – und der Stein, wohin das Paar seine Liebesbriefle tan hat, im Kapelleturm drunte liegt der Stein – Trohscht und Wahrzeichen für eine Liebe, die noch gar keine Aussicht hat, 's Neschtle zu baue – gelt, Rosel?« – Sie lächelte wehmütig.

»Ich danke Ihnen, Herr Hainlin! Wenn man hört, was sich in solcher Landschaft Schönes zugetragen hat, vertieft und verklärt sich die Landschaftsseele.« Mein Vater gab den beiden die Hand, wir überließen sie ihrer Zwiesprache. Der Abendhimmel war erblichen – im Tälchen rauschte der Goldersbach, ein Grillenkonzert scholl von den Apfelbäumen. Da der Weg schon etwas dunkel war, stolperte ich über eine Wurzel. »Junge!« mahnte mein Vater – »stolperst ja über deine eigenen Beine.« – »Weil ich noch an die Geschichte denke. Weißt du, wie mir Herr Hainlin und die Rosel vorkommen? Wie Justinus Kerner und seine Braut.«

»Möchten sie sich finden wie das Paar vom Klosterhof!« – »Finden? Wieso? Gefunden haben sie sich, schon als Kinder! Jetzt brauchen sie bloß noch zu heiraten.« – »Bloß? Du scheinst dir das Heiraten recht einfach zu denken.« – »Na ja, etwas Geld ist nötig. Aber der Kerner und seine Frau haben mit ganz wenig angefangen, und es ist ihnen doch geglückt ... Ach, sieh mal, Papa, da ist der Abendstern! Wie 'ne weiße Rose. Ist [87] es wahr, daß Abend- und Morgenstern dasselbe sind?« – »Es ist die Venus. Wenn sie im Sonnenuntergang steht, heißt sie Abendstern, im Osten Morgenstern.« Ich hielt inne und starrte hin: »Das also ist die berühmte Venus?« Mein Vater lachte kurz auf: »Ja, das ist sie – von der du deinen Kusinen und den Dienstmädchen gepredigt hast: die allergrößte Nuß, dicker noch als die Kokusnuß, sei die Weh-Nuß. Hast gar nicht unrecht! Um so eher solltest du begreifen, warum es keine einfache Sache ist zu heiraten. Mancher stolpert dabei über seine eigenen Beine – wie du vorhin! Und daß es welche gibt, die vom Altare weglaufen, statt ja zu sagen, hast du gehört. Der Hainlin ist auch so einer. Dazu auch ein Sterngucker. Starrt nach der Venus gen Himmel, statt mit der Nase zum Erdboden zu zielen. Oben, wo die ewigen Sterne leuchten, hat er herrlichste Aussicht – hienieden aber tappt der Träumlesjörg und kann mal böse hinpurzeln. Ach ja, das Reich der Guten ist nicht von dieser Welt.«

[88] Wasserscheide

Obwohl ich mich bei meinen Eltern zu Hause fühlte und eine Schwärmerei hatte für schwäbische Landschaft, regte sich zuweilen ein Bangen, für das ich keine andere Deutung wußte als das Wort Heimweh. Ich sehnte mich nach den Spielplätzen meiner Magdeburger Zeit, nach engen Gassen, dumpfigen Winkeln, nach dem Geruch der Elbe, der geteerten Kähne. Malte mir den Anblick aus, den die Vaterstadt darbietet, wenn man sie vom Roten Horn betrachtet. So heißt eine große Elbinsel, deren weite Grasflächen und wildnisartige Weidengebüsche uns Knaben ein Indianer-Territorium waren. Traumhaft spiegelte sich im buchtigen Gewässer das Abendrot, hinein ragte eine Pappelgruppe. Wehmütig gedachte ich meiner Großmutter, der gütig und klar blickenden Frau mit den blondweißen Locken an der Schläfe. Stellte mir ihre gemütliche Wohnung vor. Das blaue Empfangszimmer: aus dem Goldrahmengemälde überm Seidensofa blicken die Blauaugen des soldatischen Großvaters. Ein bezopfter Chinese aus Porzellan, Amoretten, Zwerge und Rokokokavaliere. Gern war ich beim Glasschrank, drin sich schmuck die Bücher reihten – poetische Taschenbücher aus der Biedermannszeit, in Schweinsleder eine Geschichte Roms, auch ein dicker Band der Fliegenden Blätter. Selbst die Leierkastenmelodien, die Magdeburgs Straßen durchgellten, dünkten mich schön, seit ich sie nicht mehr vernehmen durfte. [89] Und so war mir die alte Heimat zum verlorenen Garten Eden geworden. Ich war hinausgestoßen in die Fremde. Denn fremd, bang-fremd berührte mich die Tübinger Schule; wenn ich hin sollte, wurde mir das Herz oft schwer wie Stein. – »Auf, Junge! Schon halb Sieben! Mußt dich sehr beeilen!« Noch am Waschtisch stand ich, als unten Enzio pfiff; bald darauf rief er, er müsse gehn. Unterm Packen meines Schulranzens schlürfte ich hastig den Milchkaffee, und dann fort! Enzio war nicht mehr einzuholen.

Fast schadenfroh strahlte der Sommermorgen, als ich durch das Obstwiesenland gen Tübingen trabte. Die Sorge malte mir aus, welchen Eindruck es auf Naso und die Klasse machen würde, wenn ich nach Beginn der Schule außer Atem einträte und eine faule Ausrede stammelte. Schadenfroh würde man grinsen, Naso würde mich anstarren, als wär' ich ein Verbrecher, und meine Klassenarbeit wäre verpfuscht, die lateinische Klassenarbeit, die heute geschrieben werden sollte, und auf die so viel ankam, o je! Das Herz krampfte sich mir zusammen, ich mußte einen Augenblick verschnaufen. – Aber das prangende Gelände der Berge, die Halde mit den Weinbergshäuschen, lächelte zu meiner Not. Es war ein Leuchten ohne Stoff, ein Duft und Hauch. »Glastelfingen« – dies Wort Hainlins hallte mir durch den Sinn, und es raunte das Märchen vom heimlichen Höhendorf.

Unter den schattigen Kastanien der Landstraße war ich, nahe dem Gutleutehause, als eine Turmuhr von Tübingen erscholl: Sieben Uhr! Und wie zum Hohne wiederholten die anderen Glocken: Sieben –! sieben! Jetzt läutet der Schuldiener, kurz darauf wird Naso in die Klasse eintreten! Ich war stehn geblieben, es wankten mir die Knie. Was nun? Soll ich die Viertelstunde, die der Weg noch erfordert, weiter durchhasten? [90] Soll ich dann als armer Sünder vor Naso stehn und auch noch Spott ernten? Nein! schrie es in mir auf. Nicht zur Schule! Uli hat recht, sie ist ein Buben-Zuchthaus – ich will kein Zuchthäusler sein. Fratzen sind der Naso und der Saubock und der gesunde Menschenverstand. Ich mag nicht mehr Grammatik büffeln! Ich brenne durch! Gehe nach Amerika – wie Lenau. In Gottes freie Natur will ich.

Einen Weg, der von der Landstraße zu den Bergen führt, schlug ich ein. War an der Mündung eines Bachtälchens – schräg am Hange stieg der Pfad empor. In der sanften Landschaft fühlte ich mich geborgen – hörte den Bach drunten – hoch im Blauen einen Lerchentriller – ich atmete auf. An Obstgärten führte der Feldweg vorbei, an hochgemauerten Beeten. Da sind Bohnen, teils blühend, teils mit Schoten – Zwiebeln und Salat, Mohnstauden mit silbernen Köpfen – Gartenlauben, davor leuchten Feuerlilien, gelbe Astern. Nun kommt Haferfeld, raschelnder Mais, eine Hopfenpflanzung – um die hohen Stangen schlingen sich die großen, dunkelgrünen Blätter mit den gelblichen Blütentrauben. Brombeerhecken, auch weiße Dolden, lila Rittersporn, duftendes Labkraut. Kohlweißlinge taumeln drüber hin, Bläulinge, Pfauenaugen. Im Gras ein Flirren, Zirpen – da kriechen bunte Käfer, Grashüpfer hopfen. Hoch schrillt ein Habicht – ich blinzle hin, sehe nur weiße Wolkenballen im Blau.

Schon auf halber Höhe fesselt mich die Aussicht: Lustnau mit seinem Kirchturm, die schmucken Dorfhäuschen zwischen Gärten und Wiesen. Hinterm Oesterberg lugt die Alb hervor. Das Herz geht mir auf, und seine Ueberschwenglichkeit will Klang werden. Den Schulranzen werf' ich hin, aus einem Schulhefte reiß ich ein Blatt – die Verse von gestern abend will ich zu Rande bringen. Um besser sinnen zu können, streck' ich mich [91] ins Gras, den Ranzen unterm Kopf. Nicht weit ist meine Reimerei gediehen, als die Lage, der ich mich hingab, meine Augenlider schwer macht. Sie fallen mir zu – ich reiße sie wieder auf – blinzele und schließe sie fest. Im Apfelbaum schmettert der Buchfink: »Zie zie zieh, Melodie! mit Trillern verziert!«

Auf einmal ein sanfter Alt: »Ha! wie wär denndees?« Ich schlage die Augen auf – Rosel Funk steht vor mir: »Schau! Ischt dees net der Bruno? Ha freili! Ond g'schlafe hat er! Aber sag mer du, warom bischt net in deiner Schul?« – »Ach, Fräulein Rosel, ich – ich ...« Zu meiner Verlegenheit lächelt sie. Mich tröstet ihr Anblick. Wie ein hochgeschossenes Maiengewächs steht sie da, straff und stolz, dabei zart und biegsam. Aus dem frischen Gesicht lächeln die Vergißmeinnicht-Augen. Ihre Blondzöpfe hat sie vor die Schultern gelegt. Wie ein Landmädchen ist sie gekleidet; aus kurzem Hemdärmel lugt der braune Arm, zum Korb erhoben, den sie auf dem Kopfe trägt.

»Also, erklär' mir, Büble!« – »Ach, Fräulein Rosel!« Ich erhebe mich beschämt – »die Schule hab ich geschwänzt. Und mag gar nicht wieder hin – verleidet ist sie mir – ich ...«

»Oha!« begütigt sie, als wär' ich ein scheues Pferd. »Ischt die Sach so arg? Folg du dem Jörg Hainlin! Jetzt aber gehscht mit mir, gelt? Zom Häusle da nauf!« – »Zum Schnützelputzhäusle?« – »Waas? Schnützel ...?« lächelt sie. – »Sie meinen doch das Weinbergshäusle? Oben, wo's nach Glastelfingen geht?« – »Wie sagscht? Glaschtel? So ebbes gibt's da net!«

»Zu finden ist Glastelfingen allerdings nicht! Es bleibt ein heimliches Dörfchen.« – »Heimlich? Wie wär denn dees?« – »Man sucht immer – man ahnt das Wunder – man sehnt sich – kann's aber nie erreichen. So meint wenigstens Herr [92] Hainlin.« Sie errötet: »Hat dr Hainlin so geschwätzt? Sieht em ähnlich, dem Träumlesjörg! Also, Büble! Auf, nach Glaschtelfinge!«

Ich nahm meinen Ranzen und ging mit Rosel. Nach etlichen Schritten kehrte sie zu der Stelle zurück und bückte sich nach dem Zettel, den ich vergessen hatte. »Waas? Versle? Tuscht scho Liebesreimle mache, du?«

Ich fühlte, wie mir das Blut zu Gesicht schoß: »Aber nein, Fräulein Rosel! Mein Gedicht handelt bloß von einem sterbenden Ulanen. Wie der blaß daliegt, einsam im Vogesengebirge, beugt sich sein Pferd über ihn. Das Bild ist in der Gartenlaube – es kommt mir so rührend vor – eine Ballade möcht' ich draus machen. Und darüber bin ich eingenickt.« Gutmütig lachte sie mir ins Gesicht: »Bischt mir e netts Dichterle! Mach's fertik! Im Häusle drobe! Aber die Schulschwänzerei muß aufhöre, gelt? Willscht e Dichter werden, na ghört sich, daß du Studentle wirscht. Der Uhland war sogar Professer!« Dieser Hinweis machte Eindruck – zu erwägen begann ich, ob ich mich nicht des weiteren zur Pennälerei bequemen solle.

Heiter zerstreuend wirkte das Gelände, das wir nun durchschritten. Schräge Wiesen – auf der Höhe ein Wald von Obstbäumen, geheimnisvoll ins Weite gedehnt. Unter den Wipfeln Rasen, Klee, manchmal Weizenfeld, ein Mohn- oder Gemüsebeet. Aus diesem Garten Eden, der von gefiederten Sängern erscholl, lauschte hin und wieder ein laubenartiges Häuschen hervor. Nun kam gemauertes Rebengelände. Zwischen den stufenförmigen Beeten führten die Steinplattensteige aufwärts. Ich freute mich der Weinblätter, zwischen denen die Trauben schwollen. »Ist das Ihr Weinberg und Ihr Häuschen?« Sie nickte lächelnd. Ein stattlicher Traubenstock umarmte den oberen Teil des Baues – durch seine Laubmassen [93] lugte die hell getünchte Mauer mit schwarzbraunem Balkenwerk. Der grüne Fensterladen geschlossen. Auf der einen Seite des Häuschens eine gemütliche Bank, überwölbt von einem Zierstrauch, um dessen Blüten ein Volk von Bienen summte.

Wie ich auf der Bank saß und schaute, offenbarte sich erst recht die Pracht der Landschaft. Gleich einem blühenden Flachsfelde blaute weithin die Alb. »Wie Schanzen sehen die Berge aus,« sagte ich – »einer ist wie ein Sarg! Aber der hohe runde Berg da vorn, wie heißt der?« – »Der Roßberg!« – »Da sind auch ein paar spitze Kegel.« – »Die Salmendinger Kapelle. Rechts der Hohenzollern. Ka'scht die zackige Türmle erkenne?«

Ich nickte – musterte auch die nähere Umgebung. Ueber Tübingens Dächer hebt sich die Stiftskirche. Auf dem Schloßberge trotzt die Burg mit den dicken Türmen. Am Ende des langgestreckten Schloßberges eine kegelförmige Höhe, auf deren Spitze ein leichter Bau schwebt. »Was ist denn da?« – »Droben stehet die Kapelle, schauet still ins Tal hinab. Dees Liedle hat der Uhland auf die Wurmlinger Kapelle gemacht.« Ich war entzückt. Welch ein romantisches Land! Ueberall sagenumwobene Burgen, Kapellen und Klöster, von Dichtern unsterblich besungen. Es war doch wohl ratsam, das Gymnasium durchzumachen, um Landpastor im Schwabenländle zu werden.

»Was will Herr Hainlin eigentlich werden?« Ein forschender Blick streifte mich: »Eigentlich? Ha – eigentlich ischt er, scheint's, e Könikskindle im Märchenreich. Aber du meinscht wohl, womit er sei Brot erwerbe soll? Gärtner möcht er werden.« – »Gärtner?« Ich stutzte – bedenkend, daß ich sein Gespräch mit dem Vater belauscht hatte. »Und Sie, Fräulein Rosel? Möchten Sie Gärtnersfrau werden?« – »I?« sagte sie. [94] – »Kennen Sie das Lied vom Wandersmann, der die Gärtnersfrau anspricht? Warum weinst du, schöne Gärtnersfrau? Weinst du um der Veilchen Dunkelblau? Oder um die Rose, die du brichst? Nein, um diese Blumen wein' ich nicht.«

Rosel schien verwirrt, wohl etwas traurig. Schweigsam starrte sie nach den blauen Bergen. Leise fing sie wieder zu reden an: »Dort hinte – schau! Der letzte Berg dr Alb! Der Lochen ischt dees, da bin i zu Haus, i ond mei Jörgle, dr Herr Hainlin. Im Dörfle Thieringe, hoch am Lochestei ischt er aufgewachse. I bin oft naufgestiege mit meim Vatter, der ischt Freund gwä mit Jörgles Vatter. Kamerade sind au der Bue ond's Mädle gwä, hänt mitenander Feld ond Wald durchstreift. Auf ere sumpfigen Au drobe hat's zwei Quelle – die eine fließt gen Mitternacht zur Eyach, die andere gen Mittag zur Beera. Solchene Höh, wo sich die Bächle vonenander scheiden, nennt mer e Wasserscheid, gelt? Dees hat mir dr Jörgle erklärt. ›Schau, Rosel,‹ hat er gsagt, ›die zwei Wässerle sind beisammen entsprungen ond Spielkameraden – alsdann tun sie sich trennen – eins geht zom Neckar ond Rhei, zuletscht in die Nordsee, 's andere zur Donau, ins Schwarze Meer.‹ – Aber Jörgle! han i erwidert – die beiden Wässerle könnt mr ja durch e Gräbele verbinden, gelt? – Gut, dees hänt mr probiert. Ischt aber vergrate! Auswärts kann's Wasser ja net fließe – nimmer kommt's über die Wasserscheid – ewik getrennt bleiben drum die beiden Quellen ... Ha, Büble! tuscht jetzt begreife, warom ich nimmer glaub, daß i Jörgles Gärtnersfrau werd? Die Gärtnerei möcht er zu seim Beruf mache – i weiß wohl – er denkt, so könn er im stand sein, mich z'ernähre. Aber so Opfer derf i net ahnemme. Sei Sinn strebt nach freier Geischteswelt – die Richtung derf mr ihm net störe. Jörgle soll seinen Weg gehn – mi wird's Schicksal anders führe. So, [95] Büble! Jetzt han i mei Herz ausgschüttet. Der Heimatberg drübe hat mi derzu verlockt – ond deine Schulschwänzerei, Dichterle! Du bischt, scheint's, gleichfalls e Träumlesjörg, wo sich net füge will in die Welt da. Aber laß di verwarne, Büble, solang 's noch Zeit. Schick' dich in die Welt!« – »Ach, Fräulein Rosel! Wenn ich's doch nicht kann? Sie sprechen von Wasserscheide! Zwischen mir und den andern istauch ne Wasserscheide – ich bin anders – ich fühle mich – sagen wir, nach Süden gezogen wie der eine Bach – andere gehn nach anderer Seite.«

Sie stutzte. Blieb indessen mit Entschiedenheit dabei: »Schick' dich in die Welt!« Und dann legte sie die Hand auf meine Schulter: »Jetzt hör aber, du! Derfscht mir kein Streich spiele ond ausbabbele, was i dir gsagt han! Hand aufs Herz ond abgemacht! Gelt du?«

Wie sie so vor mir stand, wie ihr Auge strahlte von Liebe für ihren Jörgle – zugleich von einem tiefen Geheimnis, von einem Verzichten, gütig und hoheitsvoll – kam sie mir vor wie die Glasberg-Prinzessin, die heimliche Königstochter zu Glastelfingen.

[96] Vom abgerissenen Bändel

Daß sich der römische Machthaber Antonius mit der ägyptischen Königin Kleopatra einließ, hat die Weltgeschichte erschüttert. Hätte er's nicht getan, ihr wär's nicht gelungen, ihn gegen Cäsar aufzuputschen, und dann wäre die Völkerschlacht zwischen Rom und dem griechischen Orient vermieden worden. Ein Bienenstich auf der Nase der Fürstin, eine entstellende Geschwulst hätte wohl genügt, ihn vor den Schlingen ihrer Liebespolitik zu bewahren. Jede Laune des Zufalls hat unabsehbare Folgen.

Solch eine Laune des Zufalls war's, als ich an einem freien Nachmittag zu meiner Mutter sagte: »Nun möcht ich auch mal die Burg von Tübingen besichtigen.« – »Laß dir aber erst das Bändel annähen.« Ein Gummibändchen war gemeint, das meiner Schülermütze besseren Halt auf dem Kopfe gab. Ich war zu ungeduldig, die Reparatur abzuwarten, und nun werden wir sehn, welche Schicksale sich hieraus entspinnen.

Zunächst bescherte mir der Gang zur Burg, daß ich sie in der Nähe betrachten konnte. Hinter einem gemauerten Graben, über den die Zugbrücke führt, ist das erste Burgtor. Die Steinmetzarbeit staunte ich an: Schnörkel und Fratzen – das württembergische Wappen – rechts und links steht ein Landsknecht in Lebensgröße – der eine schwingt ein gewaltiges Schwert, der andere zielt mit der Hakenbüchse. Als ich das Tor passiert hatte, ging's noch höher. Vor dem kantigen Eckturm eine knorrige [97] Linde mit einer Bank. Hinter dem zweiten Graben baut sich die eigentliche Zwingburg auf – dicke Mauern mit Schießscharten und Zinnen – eiserne Drachen speien vom Dach. Das Schloß, in die Festung eingebaut, ragt übers Gelände einer Plattform. Es hat nur ein Stockwerk mit Wohnungsfenstern. Ueber dem Tor ist wieder ein gemeißeltes Wappen, diesmal von Hirschen flankiert und zwei geharnischten Bannerträgern.

Ich kam in den Schloßhof – er ist geräumig und viereckig. Der einen Front entlang zieht sich eine Galerie. Zwischen den Steinen, die den Schloßhof bepflastern, wuchert Gras. Es plätschert aus den Rohren eines verzierten Brunnens – auf dem Rand des runden Beckens sitzt gurrend eine Taube. Durch einen dunklen Gang, der fast zu niedrig für meine Länge schien, kam ich zu einem Söllergärtchen, und hier erschien der dritte Turm, ein runder, sehr dicker – ich kannte ihn vom Titelbilde der Tübinger Zeitung. Und malte mir aus, welche Rolle er zu spielen hatte in Ulerichs Kriege mit den Städten – wie damals aus den Schießscharten die Büchsen knallten – eine feindliche Steinkugel schlug dumpf an den dicken Turm, prallte ab und polterte den Hang hinunter ...

Nein, das Poltern kam vom Gewitter, das rasch heraufzog – ich betrachtete die schwarze Wolkenwand. Mach lieber, daß du fortkommst! sagte ich mir. Ohne Verzug ging es zurück über den Schloßhof und die Grabenbrücken. Die Luft war schwül, ohne Regung. Da ich hastig gegangen war, wollte ich ein wenig verschnaufen. Bei der Schloßküferei stand ich, gefesselt vom Anblick eines üppig entwickelten Weinstocks, der ein Haus berankte. Ich freute mich über die Trauben, die reichlich daran hingen.

Da kam ein Windstoß und riß mir die Mütze ab. In die Luft gewirbelt, hing sie auf einmal im Weinlaub unter einem Fenster des ersten Stockwerks. Mir blieb nichts übrig, als in das Haus [98] zu gehen, vom Inhaber der Wohnung wollt' ich mir die Mütze ausbitten. An der Tür befand sich ein Kärtchen mit dem Namen: Bolkendorf. »Herein!« sagte eine Baßstimme. Eintretend bemerkte ich einen starken Mann, der beim Fenster an einer Malerei arbeitete. In blaues Gewölk gehüllt, das er aus langer Pfeife qualmte. Zerstreut blickte er auf – er hatte ein gutmütiges, etwas aufgeschwemmtes Gesicht, einen dicken Knebelbart, braune Künstlerlocken.

Ich bat um Entschuldigung – an der Kammerz sei meine Mütze hängen geblieben. »Kammerz? Was ist denn das?« fragte er, und ich erwiderte: »Die Wandberankung draußen.« – »Nennt man die hier so? Der Ausdruck ist mir neu. Ich bin kein Schwabe, Schlesier bin ich!« – »Mein Vater ist auch aus Schlesien,« sagte ich erfreut, – »aus Neumarkt!« – »Donnerwetter!« rief Herr Bolkendorf, »Neumarkt bei Breslau? Daher bin ich ja ebenfalls!« – Wir staunten vollends, als sich herausstellte, daß Bolkendorf als Kind den Bruder meines Vaters gekannt hatte. »Nächstens besuche ich deinen Vater,« versicherte Herr Bolkendorf.

Dann öffnete er das Fenster – die Mütze hing da, vom Regen triefend. Die langrohrige Tabakspfeife mußte Bolkendorf zu Hilfe nehmen, um die Mütze zu angeln. Da es tüchtig goß, lud mich der freundliche Herr ein, noch etwas zu bleiben. Von meiner Familie mußte ich berichten, und er sprach von seiner Lebensart. Maler sei er – auf einer Studienreise habe ihn Tübingen, Altstadt und Landschaft, derart gefesselt, daß er hier hängen geblieben sei. Er zeigte mir sein Wanderbuch mit Skizzen malerischer Stadtwinkel und überzeugte mich, daß er zu den echten Schlesiern gehöre, deren Urgemütlichkeit mein Vater rühmte.

Die Bekanntschaft mit Bolkendorf, durch den Zufall vermittelt, bildet das Anfangsglied einer Kette bedeutungsvoller [99] Begebenheiten. Hätte mich nicht das abgerissene Bändel zu Bolkendorf geführt, manches wäre anders gekommen – in seinem Schicksal, desgleichen in Hainlins und Rosels Leben, selbst in mei nem. Doch diese Dinge wollen ausführlicher dargelegt sein.


*


Als ich nach Abzug des Gewitters zu den Eltern zurückgekehrt war und mein Abenteuer erzählt hatte, freute sich mein Vater, daß außer ihm noch ein zweiter Sohn des Schlesierstädtels in Tübingen hause. Wie dann Herr Bolkendorf bei uns erschien und sich von seiner angenehmsten Seite zeigte, hatten die beiden Landsleute viel zu plaudern. In der Laube des Rosengartens saßen sie, und da mein Vater dem Gaste gern etwas Rauchbares angeboten hätte, bat er Fräulein Rosel, die gerade Gemüse begoß, aus dem Laden Zigarren zu holen. Herr Bolkendorf und Fräulein Rosel wurden einander vorgestellt – und hier begann ein wichtiges Glied in der Kette von Folgen, die der Windstoß eingeleitet hat: Wieder und wieder kam Bolkendorf zu meinem Vater, und bald hatte meine Mutter heraus, daß seine Besuche weniger aus schlesischem Patriotismus erfolgten als aus Schwärmerei für Rosel Funk.

»Warum soll er nicht?« hatte mein Vater erwidert. »Ich würde mich freuen, wenn dieser ältliche Junggeselle eine so liebe Frau fände, wie ihm die Rosel gewiß sein würde. Unser guter Hainlin hätte dann freilich das Nachsehen.« – »Ach, mit dem und der Rosel wird ohnehin nichts! Ein Mann, der keine Anstellung hat – wie könnte der ernstlich ans Heiraten denken!« – »Vielleicht bekommt er die Stelle an der Höheren Töchterschule!«

»Zunächst muß er Soldat werden. Na, und dann? Wie lange, meinst du wohl, würde er die Stelle festhalten? Solch ein Schwärmer paßt in keinen Brotberuf ... Sieh bloß, daß unser Junge nicht auf Hainlins Ueberspanntheiten kommt! [100] Studieren aus bloßer Neigung – brotlose Künste darf sich nur leisten, wer das nötige Kleingeld hat. Ja Bolkendorf! der mag pinseln und in den Tag hineinträumen – der hat seine gute Rente. Das wäre ein Mann für Rosel.«

»Und ihr wär's allerdings zu gönnen, daß sie aus diesem Hause käme. Sie würde dann gewiß ihre Mutter zu sich nehmen, die wäre erlöst von ihrem Ehetyrannen. Neulich hat dieser rabiate Kerl sie wieder geschlagen – und auch heute ist wohl Krach gewesen. Wenigstens hatte Frau Kuttler, als ich vom Spaziergang kam, verweinte Augen.« – »Ja, Kuttler hat getobt. Rosel war natürlich wieder mal Stein des Anstoßes. Linda, diese Giftnudel, möchte durchaus Rosel aus dem Hause beißen. Sie hetzt den Vater auf.« – »Na ja – Stiefgeschwister!«

»Ich sage, es ist auch Eifersucht! In Hainlin ist Linda verschossen.« – »Aber sie sieht doch, daß dieser Kandidat nicht gerade als Heiratskandidat gelten kann.« – »Vater Kuttler, dieser Wucherer, hat Geld zusammengescharrt.« – »Wird er damit herausrücken?« – »Der Linda zuliebe wohl, von der läßt er sich regieren. Uebrigens mag sie sich einbilden, auch über Hainlin Macht zu gewinnen. Es ist ein dämonisches Frauenzimmer.«

»Oh, diese Kuttlerei!« seufzte mein Vater. »Die arme Frau! Wie konnte sie einen solchen Schwupper machen, den Kuttler zu heiraten! Sie soll doch etwas Geld gehabt haben.« – »Das gerade war ihr Malör – darauf war der Kerl aus!« – »So soll sie endlich energische Schritte tun, sich scheiden zu lassen!« – »Ja, wenn der Kerl einwilligen würde! Aber er läßt sie nicht aus den Klauen! Das von ihr eingebrachte Vermögen hat er auf dem Dentzenberge angelegt. Der Obstgarten soll hübsch sein, soll auch ein Wengerthäuschen haben – so hat mir die Bäckersfrau gesagt. Und dies Grundstück will Kuttler eben nicht [101] verlieren – Hopfen will er da pflanzen, hat er gesagt – das ist seine Spezialität, den weiß er geschäftlich zu verwerten.«


*


So standen die Dinge, als ich eines Nachmittags, von der Schule kommend, durch den Rosengarten ging und eben ins Haus treten wollte. Da hörte ich auf dem Flur über der Treppe heftige Männerstimmen. Gleich darauf fiel eine Gestalt polternd die Treppe herab – und da lag vor mir Herr Bolkendorf – stöhnend, zuckend, dann regungslos. Frau Kuttler, von oben herzugeeilt, war schreckensbleich, als sie sich über den anscheinend Toten beugte: »Herr Bolkendorf! Hören Sie doch! O Herrgoot! Er hat sich, scheint's ...« Verzweifelt schrie sie auf. Nun war Fräulein Rosel zur Stelle – und es kam noch meine Mutter. Mein Vater, sagte sie, sei spazierengegangen. Man spritzte Herrn Bolkendorf Wasser ins Gesicht – er kam zu sich. Aber sprechen konnte er kaum, stöhnte nur und rollte die Augen.

Weinend wandte ich mich ab, ratlos, wie hier zu helfen sei. Als aber meine Mutter sagte, ein Arzt müsse geholt werden, erbot ich mich dazu. Herr Bolkendorf, der diese Worte verstanden hatte, brachte heraus, seinen Freund solle ich holen – in der Chirurgischen Klinik sei er Assistent. Unverzüglich eilte ich nach Tübingen. Unterwegs suchte ich mir klarzumachen, wie das Unglück gekommen sei. Deutlich erinnerte ich mich, wie Bolkendorfs Baßstimme entrüstet gerufen hatte: »Was? Sie unterstehen sich, mich anzupacken?« Dann hatte Kuttler gebrüllt: »'nunter mit ihm!« Er mußte ihn also die Treppe hinuntergeworfen haben. Dieser Wüterich! Und so was will ein Jakobskindle sein! Salbadert von der Himmelsleiter, dran die Engel auf und nieder steigen!

Den Klinikassistenten fand ich, und wie er vom Unglücksfall gehört hatte, entschied er sich, den Patienten sofort mit Krankenbahre zur Klinik zu schaffen. – Wir fanden den Verunglückten [102] in derselben Lage – nur hatte man ihm ein Kissen unter den Kopf gesteckt. Aechzend schilderte er dem Assistenten, wie er unfähig sei, sich aufzurichten. Dann huben ihn die Wärter auf die Bahre und trugen ihn fort. Fräulein Rosel ging mit.

Andern Tages hatte Kuttler eine Geschäftsreise angetreten. Die Gelegenheit benutzte Frau Kuttler, ihre Habe zu packen und das Haus zu verlassen. Weinend hatte sie meiner Mutter gesagt, unter keiner Bedingung kehre sie zurück – und habe vor, die Scheidung zu betreiben.

Das Befinden Bolkendorfs, den mein Vater in der Klinik besuchte, war bedenklich. Er lag im Gipsverband, die Bewegungsfähigkeit der Beine war völlig gestört. »Ein rührend guter Mensch,« sagte mein Vater. »Denkt mehr an Rosel und ihre Mutter als an sich. Was ihn tröstet, ist die Hoffnung, es könne sein Mißgeschick ein Mittel werden, um Frau Kuttlers Scheidung durchzusetzen.« – »Wie wäre das möglich?« – »Wenn Kuttler in die Scheidung willigt, verzichtet Bolkendorf darauf, gegen ihn Antrag auf Strafe und Entschädigung zu stellen.« – »Und du meinst, das könne Kuttler bestimmen? Wäre denn seine Bestrafung erheblich?« – »Glaub's schon! Wenn der arme Bolkendorf lahm bleibt – und das ist möglich –, wenn er gar auf Schadenersatz klagt! Das träfe den Kuttler viel, viel härter als der Verlust des Obstgartens, den ihm die Frau eingebracht hat.« – »Dann wird also die Scheidung zustandekommen!« – »Wenn die Frau fest bleibt, ja!«

Was nützet mir ein schöner Garten -
[103] Was nützet mir ein schöner Garten –?

»Ach, Uli –,« begann ich. Da legte er düstern Blickes die Hand auf meine Schulter. »I weiß!« – »Und läßt sich nichts dagegen tun? Es hieß doch immer, bis Ostern habe er Zeit mit dem Soldatwerden – und nun auf einmal will Hainlin schon Herbst nach Stuttgart – warum hat er's so eilig?« Mit großen Schritten ging Uli im Zimmer umher, blieb dann vor mir stehen und meinte dumpf: »Warum? Errate kann mr's. Wegen der Rosel!« – »Das vermut' ich auch. Bloß daß mir nicht klar ist, warum er gerade setzt die Rosel allein lassen will.«

Raunend, als ob ein Geheimnis zu wahren sei, fuhr Uli fort: »Warom? Weißt du net, daß der Vollendorf jetzt eine Wohnung gemietet hat, wo ihm d' Frau Kuttler mit dr Rosel die Wirtschaft führt?« – »Weiß ich! Und mein Vater sagt, dem armen Bolkendorf sei das zu gönnen – er habe so die beste Pflege.« – »Dees hat er! Dem Bolkendorf paßt es.« – »Der Rosel wohl auch! Sonst wäre sie nicht zu ihm gezogen. Na, und der Frau Kuttler? Mein Vater meint, für die sei's geradezu eine Erlösung, daß sie von ihrem Wüterich losgekommen ist und beim Bolkendorf den guten Unterschlupf hat.« – »Stimmt! Aber ...«

»Na ja, einen Kranken pflegen, ist keine leichte Sache. Aber mit der Zeit wird er ja wohl wieder gesund.«

»Ha no! Wenn der Bolkendorf schließli gsund ischt – ond wo er doch die Rosel so lang bei sich ghabt hat, na wird er sage, [104] er könn sie nimmer lasse, seine Frau soll sie werde.« – »Leicht möglich!« versetzte ich – »er ist ja verschossen in die Rosel. Aber sie! Wenn sie doch den Hainlin lieb hat! Dessen Frau möcht sie werden – das weiß ich ganz genau – wenn sie auch zurückhaltend ist. Sie kann ja gar nichts anderes wünschen. Oder bist du anderer Meinung?«

Bedenklich hatte Uli den Kopf gewiegt: »Lieb hat sie ihn – natürli! Aber graad deshalb!« – »Was denn?« fragte ich, obwohl ich ungefähr erriet, was ihm vorschwebte. Und Uli fuhr fort: »Graad deshalb!Weil sie ihn lieb hat, mag sie ihn netbinde.« – »Binden? Na ja, gebunden wär' er, wenn er sie heiratet. Das geht ja gar nicht anders. Und so allerdings – hm! Du magst recht haben. Die Rosel ...« Und ich bedachte, was sie mir anvertraut hatte. Indessen wollte ich hören, wie sich Uli die Sache zurechtlegte. Stellte mich daher, als ob ich den Zusammenhang nicht recht begriffe: »Immerhin! Wenn Rosel den Hainlin lieb hat, und er sie auch – so gehören die zwei zusammen, und er soll sie einfach heiraten.«

Einen geringschätzigen Blick hatte Uli, als ob er sagen wollte: Du sprichst, wie du's verstehst! Und abermals lief er im Zimmer umher, überlegend, wie die Sache verständlich zu machen sei. »Ein – fach hei – rate? So spricht e Kindskopf! Heirate, dees ischt dorchaus net eifach! Zom Heirate ghört Geld! Hausrat muß mr habe, Wohnung muß mr miete, Frau ond Kinder nähre könne!« – »Kinder? Sie haben doch keine Kinder!« – »Bählämmle du! Freili hänt sie koine – aber wenn sie heirate, kriege sie min – desch – tens – sieben Kinder.« Ich merkte, daß ich rot wurde: »Na ja, natürlich! Aber ...« – »Nicks aber! Mach dir klar: Der Hainlin – wo sich doch selber kaum durchbringt – soll Brot schaffe für Frau ond – sie – ben Kinder! Und net bloß Brot! Die hänt ja au Kleider nötik – Schühle, Strümpfle [105] ond so Zeugs. Jetzt sag mr du: woher soll er's Geld nemme, dees alles zu zahle? he?«

»Er müßte dann allerdings eine Lehrerstelle annehmen – die was einbringt.« – Mit dieser Bemerkung brachte ich Uli in Harnisch. »Lährerstell? Ond dees sagscht du? Zom Präzeptor willscht ihn mache? Philischter du! Ein Genie wie Hainlin ond Schulmeischter werde? Ah bah!« Und er spuckte aus. – »Ich? Aber nein!« stammelte ich. »Ich denke nicht dran! Ich will ihn nicht dazu machen. Ich meine bloß: wenn er die Rosel heiraten will, wird ihm nichts übrig bleiben, als eben ... na ja!« – Wütend schrie mich Uli an: »Als Zucht – haus – auf – säher zu wer den im Latei-Zuchthaus, gelt?« – »Ich bin's ja nicht, der ihm das zumutet.« – »Ond die Rosel? Du meinscht, die wird ihm dees zumute?« – »Zumuten? Auch sie tut das nicht.« – »Also! Wenn sie's ihm net zumute will, na bleibt ihr nicks, als zu entsage! Die Heirat mit dem Genie muß sie sich aus dem Sinn schlage!«

»Wenn man's so ansieht, dann allerdings ... Ach ja! So ist das Leben! Die Wasserscheide ...« – »Wasserscheide?« meinte er befremdet, und ich wurde verlegen, war ja in Versuchung, mich zu verplappern – während mir Rosel Verschwiegenheit auferlegt hatte – »Ich – ich stelle mir zwei Bäche vor, die – die können nicht zusammenkommen – weil ... weil ne Wasserscheide dazwischen ist ...« Uli nickte – das Bild schien ihm einzuleuchten. »Ond dees ischt graadezu tragisch, daß sie net zusammekomme – obwohl sie sich lieb hänt, als wäre se füreinander bestimmt.« – »Ach ja, es ist hart!«

»Ond noch tragischer – daß jetzt dr Hainlin – graad weil er's so guet mit ihr meint – daß er jetzt wünsche muß, sie soll den Bolkendorf bekomme – weil der e braver Kerl ischt, bei dem sie versorgt wär.« – »Oh! Ich hätte nie geahnt, daß es so [106] schwer sein kann zu heiraten. Früher dacht' ich mir die Sache ganz einfach: wenn einer heiraten will, sieht er sich ne Masse Mädchen an und – die ihm am besten gefällt, die wählt er sich. Weil doch die Leute sagen: die Braut ist seine Auserwählte ... Aber jetzt sehe ich ein, die Sache ist anders. Ach, der arme Hainlin! Grämen wird er sich.« – »Grämen ja! Aber e sendimendaler Weichling ischt er dooch net! Wie i den Hainlin kenn, beißt er die Zahn z'samme ond denkt: Jetzt, Jörgle, gilt's! Deiner Rosel derfscht net im Weg sein! Gang still bei Seit! Ongebunde soll sie sein! Ongstört soll sie die Sach überlege – onbeeiflußt sich entscheide – so oder so!« – »Hast recht, Uli! So wird er denken! Aber woher weißt du das alles? Hat dir Hainlin Andeutungen gemacht?«

»Nicks hat er gsagt! I tu mir die Sach so z'sammenreime. Eins aber steht bombefescht: Nach Stuggart will er jetzt, weil ihm der Bolkendorf in die Quer kommen ischt.« – »Ach ja!« seufzte ich – »der Bolkendorf! Und daran bin ich schuld!« – »Schuld? Du meinscht das abgerissene Bändel?« – »Allerdings! Das hat die ganze Geschichte angestiftet! Daß ich zu Bolkendorf gekommen bin – und daß er durch mich die Rosel kennen gelernt hat.« – »Schicksal!« brummte Uli.

»Und wir?« fuhr ich beklommen fort – »was fangen wir an? Sollen wir nicht zum Kandidaten gehn und es mit 'ner Bitte versuchen?« Uli blickte mutlos: »Helfen wird's nicks. Aber freili – schuldig sind mr's ihm – zu sage, wie mr's meine.« – »Ja, sagen wollen wir's!« – »Gänget mr!« Und Uli machte sich zum Ausgehen fertig.

Er hatte bereits die Schülerkappe auf, als er zu einem Schlußwort vor mich hintrat: »Noch eis. Mach dir klar, wie dem Hainlin zumut wär, wenn er jetzt –da blieb! Wenn er alsdann beobachte müßt, wie dr Bolkendorf auf seim Schmerzelager [107] – wie er's Aug auf die Rosel gerichtet hält, glühend ond bittend, daß sie ihm soll bleibe! Ond wie die Rosel alsdann denkt: Der guete Mann! Leiden muß'r, weil'r für Mueter ond für mi eigstande ischt! Dank sind wir dem schuldik! Zudem tut er schwärme für mich! Ond jetzt, den soll i verlasse? Dees bring i net übers Herz, onrecht wär's! Für waas denn au? Auf mei Jörgle kann i dooch net warte, der kann nimmer heirate!« – Ich nickte: »Ja! so wird sie denken!«

»Ha, freili!« fuhr er düster fort. »Ond den Gedanke soll dr Hainlin älleweil in ihrem Gesicht lesen? Vielleicht bildet er sich au noch ei, er hab sich z'schäme – weil halt jedes Baureknechtle sei Mädle heirate kann, er aber, dr Hainlin, wagt dees net! Weil'r sich selber im Weg steht!« – »Stimmt! Er steht sich selber im Wege.« – »Ueber sein Genie kommt der net hinweg! Drum bleibt'r einsam. Mag die Rosel – so tut'r denke – mag sie dem Bolkendorf ghöre! Dulde will i's, ihr zulieb! Aber für sich sollen die zwei sein! I gang fort – ganz auf mei Stüble – ond pfeif auf meiner Flöt:


Was nützet mir e schöner Garte, Wenn andre drin spaziere geh'n Ond pflücke mir die Rösle ab, Daran i meine Freude hab.«

[108] Bertas Glasbergle

Als wir bei Hainlin anklopften, war nicht er im Zimmer, sondern die Tochter seiner Wirtin, die kleine blasse Berta Schneckle. Bei'nem Eimer kniete sie auf der Diele und wischte auf. Daß wir sie überraschten, machte sie verlegen.

Uli sagte, wir möchten net stören, Herrn Hainlin hätten wir gern gesprochen. »Der Herr Kandidat« – entgegnete sie – »kann jeden Augenblick komme.« – »Wir möchten ihm eine Bitt vortrage,« fuhr Uli fort – »Sie errate wohl, welche...« Traurig schlug Berta die Augen nieder.

»Gelt, Fräulein Schneckle? Ihne geht's au nah, daß 'r uns verlasse will!« – Schmerzlich verzog sich ihr schmaler Mund – in der Schürze barg sie ihr Gesicht. Dieser Schmerz wirkte ansteckend. »Oh!« stöhnte ich – »Scha-Schafe sind wir – oh – ohne Hirten!« In mein Jammern stimmte Uli ein – dumpf und rauh war seine Stimme: »Unsern Meischter, den solle mr verliere? Sind wir net seine Jünger?« – »Oh – hu – huh!« schluchzten wir drei zusammen.

Da ging die Tür auf, Hainlin stand vor uns. »Aber – Kindle!« begütigte er – mit beiden Händen nach Bertas Köpfchen greifend, als wolle er's zurechtrücken. Sie erhob die nassen Augen und lächelte weh. Das unansehnliche Mädchen kam mir auf einmal verklärt vor. Ich sah nicht die schwächliche Gestalt mit der schiefen Schulter – sah nur das engelhaft-zärtliche Auge und fühlte mich ihr verbunden durch unsere Liebe für Hainlin.

[109] Dieser wandte sich zu mir und Uli mit weichem Lächeln: »Ond ihr, Büble? Weswege ihr da seid, braucht ihr net zu sage. I dank euch! Aber macht net so Gschichte! Macht mir's Herz net schwär! Aendern läßt sich dooch nix! Gemuschtert bin i scho – Oktober bin i Rekrut – Sela!« Diese Aeußerung seiner Entschiedenheit hatte eine Wirkung, wie wenn einem, der Zahnweh hat, mit 'nem Ruck der Zahn ausgerissen ist. Gefaßt blickten wir auf. Und des weitern ermunterte Hainlin: »Wenn i scho jetzt den bunten Rock ahnzieh, bin i ein Semeschter früher zrück. – Ohnangnehmes soll mr sich rasch vom Hals schaffe, gelt?« – »Ondnach Ihrem Jahr, Herr Hainlin?« fragte Berta hoffend – »komme Sie na wieder zu ons?« – »Uebers Jahr, übers Jahr, wenn mr Träubele schneidt!« scherzte Hainlin. »Aber so lang brauche mr net z' warte! Stuggart liegt net aus dr Welt – in fünf Stonde lauft dr Uli durch den Schönbuch – mit 'm Zügle hat mr's no viel kürzer ond ganz bequem, gelt, Bertale? So mach i glei jetzt den Vorschlag, ihr Kinderle: Sonntags, wenn mei Hauptma Urlaub gibt, marschier i Tübinge zue – ihr aber kommt mir entgege – ond in Waldebuch treffe mr ons! Im Gaschthaus zur Krone! Am runde Eichetisch, wo viel Musensöhn ihrer Flamme Namen eigschnitte hänt ... Glaube, Liebe, Hoffnung – gelt?«

Wir wollten nun Herrn Hainlin nicht länger behelligen und verabschiedeten uns.

Als wir durch die Gassen gingen, erkundigte ich mich bei Uli nach Berta Schneckle. Ob sie schon konfirmiert sei? – »Ha freili! Sie ischt scho siebzehn Jahr – schaut allerdings zurückgeblieben aus, schmächtik.« – »Sie ist wohl kränklich? Ihr Rücken scheint verkrümmt zu sein.« – »Ja, 's arm Dingle hat sich verletzt – ischt gfalle! Hätte bald's Leben verlore. Ond dees ischt so komme: In ihrem zwölften Jahr ischt's Bertale zu [110] Besuch beim Großmütterle gwä, die wohnt im Gäßle da nooch drbei – mr wolle durchgehe, gelt? Na zeig i dir, wo's Bertale abgestürzt ischt.« – »Abgestürzt? Hoch herunter?« – »Vom Hausdach! 'em Bertale sei Großmueter wohnt im dritten Stock, gegenüber steht e Häusle mit zwei Stockwerk, ond im Dach hat's noch e Wohnung, Frau Pfeifer wohnt da mit ihrem Kindle. Diesmal war sie fort – ond's vierjährige Mariale allei z' Haus. Jetzt waas gschieht? ... Aber da hänt mr ja die Gaß! Jetzt lueg, die zwei Häusle strecken ihre Köpf so weit vor, daß sie enander fascht berühre. Drobe rechts wohnt's Bertales Großmueter – links aber, schau dees Dachgärtle! Die Käschtle vor dene Fenschterle? Da wohnt die Familie Pfeifer.«

Ich beschaute die Situation. Drei aus dem Dach vorspringende Fenster, außen durch wagerechte Bretter verbunden – die entstandene Plattform bildet ein schwebendes Gärtlein. Aus Kästen, die mit Erde gefüllt sind, wachsen Bohnen, rotblühende Kresse und blaue Winden. Holzstänglein mit Fäden gewähren zwar den Gartenpflanzen Halt, nicht aber einem Menschen, wenn er sich anklammern wollte. Nur wer sich schwindelfrei fühlt, kann droben verweilen. »Und von da ist die Berta ...?« fragte ich beklommen. Uli nickte: »Nämlich wie die Pfeifersleut fort sind, klettert's Mariale vom Stuhl aus 'm Fenschter aufs Dachgärtle, wohin sie dr Vatter öfters mitgnommen hat. Die Blümle hat sie gern – munter spaziert sie herum, ohne die Gefahr zu ahnen. Bertas Großmueter sieht's auf einmal – schreit auf – Berta springt die Stiege nunter ond zu Pfeifers 'nauf. Findet aber die Wohnung abgsperrt, den Schlüssel hat Frau Pfeifer mitgnomme. Waas tun? Die Großmueter lauft zum Schlosser. Berta ruft dem Kinde zu: ›Glei gehscht zom Fenschter 'nei! In die Stub zruck!‹ Mariale lacht bloß. Da weiß sich Berta net anders Rat, als e Bügelbrett zu nemme ...« – »Bügelbrett? [111] wozu?« – »Dees tut sie zom Fenschter 'nausschiebe – zom Dachgärtle 'nüber – ond wagt's, auf'm Brückle 'nüber zu krac ksle ...« – »Um Gottes willen! und?« – »Abgerutscht ischt 's Brett – ond 's Bertale ... e Glück noch, daß unte grad e Wägle Klee gstande ischt. Da drauf stürzt die Berta. Ond schlagt mit der Schulter aufs Holz – dr Knoche bricht.« – »Oh! Die arme Berta!« – »Ja, aber weiter hat's ihr nicks gmacht.«

»Die brave Berta! Und 's Mariale?« – »Ischt ruhik weiter spaziert. Mr sagt, onschuldige Kindle behütet ihr Schutzengel. Wie mr's Mariale endlich vom Dach hat hole könne, hat sie gar net zruck wolle ins Stüble, so gut hat ihr's drauße gfalle. Unser Bertale aber hat als Ahdenke die Schulter schief bhalte.«

»Die schiefe Schulter kommt mir jetzt rührend vor. Ein Held ist die Berta, ein rechter Glasbergritter. Zwar abgestürzt ist dieser Ritter, wie die andern auch – seine Tat war aber nicht vergebens, sondern hat was Großes ausgerichtet.« – »Ausgerichtet? Für's Mariale war Bertas Expedition überflüssik.« – »Und doch hat sie gewissermaßen die Prinzessin erlöst.« – »Prinzessin? Wen meinscht? 's Mariale, wie gsagt ...«

»'s Mariale nicht! Die Prinzessin, die Berta erlöst hat, sitzt anderswo als auf'm Dach.« – Nachdenklich sah mich Uli an: »Wo denn?« – Erst war ich verwirrt, ich fand die Worte nicht. Dann pochte ich auf meine Brust: »Hier sitzt die Prinzessin! Ich weiß mich nicht recht auszudrücken. Aber man spürt, daß hier im Herzen etwas erlöst ist durch Bertas Heldentat. Findest du nicht, Uli?« – Er nickte – sein Auge war geweitet, als ob er nach innen schaue und da etwas Großes betrachte: »Hascht recht, ond jetzt rat ich dir, Bruno – tu weiter dichte an deim Epos! Schilder' Bertas Glaasbergle! Stelle klar heraus, welche Prinzessin sie erlöst hat durch ihre Heldentat. Nenn die Prinzessin einfach Menschenseele.«

[112] Adelaïde

Das Ammonshorn, von dem Wendelin Flammer so klug zu reden wußte, bildete den Anlaß, daß ich mich zu ihm hingezogen fühlte. Dies um so mehr, als Flammer der Intimus Ritter Ulis war, dem ich Schwärmerei entgegenbrachte. Es freute mich daher, als Wendelin Flammer, im Anschluß an ein Gespräch über Versteinerungen, mich einlud, ihn zu besuchen. Ein Buch wolle er mir zeigen, das auch die Ammoniten behandle. Es heiße Evangelium der Natur, setze also der Bibel die Offenbarung der Natur entgegen. Er lese dies Buch heimlich – sein Onkel, katholischer Pfarrer, dulde keine Ketzerei. Der möchte ihn geistlich machen, doch ihm passe dieser Beruf nicht, er wolle Mathematik und Naturwissenschaft studieren. Ich solle – sagte Wendelin – gleich nächsten Samstag kommen. Da sei auch Herr Hainlin anwesend, und es werde musiziert. Ich erfuhr noch, daß Wendelin keine Eltern mehr habe und mit seiner Schwester Pia bei der Witwe Häfele wohne. Verdrossen erwähnte er, Pia habe sich in den Kopf gesetzt, Nonne zu werden. Aber er und Uli hätten sich zugeschworen, sie davon abzubringen.

Die Nachhilfestunde, die ich am Samstag hatte, schloß Kandidat Hainlin: »So, Büble! Bischt erlöst! Ins Ränzle mit Buch ond Heft! Komm jetzt zu unsrer Frau Musika, gelt? Ganget mr zom Wendelin! Von der Adelaïde zu schwärmen – kennscht du dees Tongedicht, dees wunderbare, vom Beethoven? [113] Text von Matthisson.« Und aus einem Stoß Noten suchte Hainlin die Blätter. »Eigentlich soll das Lied gesungen werden – aber Wendelins Schwester hat 'ne zu leise Stimme. I selber möcht scho singe, aber mein Organ reicht net aus. Dafür soll jetzt die Flöte her. I han dees Lied für Flöte, Gitarr und Harmonium bearbeitet. Heute wolle mer probiere, ob's klingt.«

Hainlin hatte seine Flöte in eine Wachstuchhülle getan, und da ich bereit war, gingen wir die Stiegen hinab. Das Haus, wo Flammer wohnte, war unweit gelegen, in der Münzgasse, wo ihre wallartige Höhe zum Neckartal abfällt. Ein altertümlicher Bau von gediegener Eigenart. Ueber dem Rundbogen der eisenbeschlagenen Haustür sind zwei Wappenschilde aus Stein – das eine führt ein Winkelmaß, das andere einen Stern. Nicht in einen Hausflur traten wir, sondern auf die Plattform einer Steintreppe. Vom Vorderhaus überbaut, war sie nach dem Hof ohne Wand, so daß dieser zur Schau lag wie eine Theaterbühne. Was ihn besonders traulich machte, war ein vollgewipfelter Nußbaum, unter dem die Bank zum Träumen einlud. Den breiten Rahmen dieses Stillebens bildete das schwarzbraune Gebälk des Treppenüberbaus. »Den Blick da han i jedesmal gern,« sagte der Kandidat, und wir gingen die Treppe hinab zum Hof.

Aus offenen Fenstern, auf deren Blumenbrettern Geranien glühten, erklang ein sanftes Zusammenspiel von Harmonium und Gitarre. Der Kandidat lauschte, dann rief er hinauf: »Flotter!« Gleich darauf erschien Wendelin Flammer und gab Herrn Hainlin herzlich die Hand, auch mir: »Grüß Goot!« – »Am Tempo fehlt's!« mahnte der Kandidat – »Fräulein Pia soll net elfenhaft zirpe – sondern au Temperament ... E Jungferle von Sechzehn kann doch scho Leidenschaft entwickele – gelt, Pia?« Das Mädchen, das gleichfalls heruntergekommen [114] war, errötete. Ihres Bruders Zierlichkeit hatte sie – dazu etwas rührend Kindliches, um den holden Mund einen wehmütigen Zug. Ich fühlte, wie mir das Blut ins Gesicht schoß, als mich ein Blick ihrer Rehaugen streifte, während der Kandidat meinen Namen nannte. »Setz dich onter den Nußbaum, Bruno! Vielleicht, daß dir beim Zuhören ein Ahnhauch kommt vom göttlichen Beethoven.«

Nach oben gingen die drei, während ich unterm Baume Platz nahm. Eine der Steinplatten, die den Hof bepflasterten, war ausgehöhlt zu einem Wassertröglein für Enten und Hühner – weil aber solch Nutzgeflügel zurzeit fehlte, zu einem kleinen Aquarium hergerichtet, vom Naturfreunde Wendelin. Farne hoben ihre lichtgrünen Wedel, es regte sich was im Wasser. Als ich beobachtend saß, kam ein Spatz, zu trinken und zu baden. Eine Dohle, deren Flügel beschnitten waren, hüpfte herbei und vertrieb mit eiferndem Schnabel den Eindringling. Deutlich war zu vernehmen, was der Kandidat im Musikzimmer verhandelte: »Alle Kunscht ischt Ausdruck der Seele! Ond der kann bloß glücke, wo's Innerliche sich durchringt zur äußern Gestaltung – wie die Blüte ihre Knospenhülle sprengt. Also, Kinder! Erfasset jetzt das Erlebnis, das onser Dichter meint: Einsam wandelt Adelaïdes Freund im Frühlingsgarten – mild von lieblichem Zauberlicht umflossen, das durch wankende Blütenzweige zittert: Adelaïde!« Er hatte das singend gesprochen mit seiner wohlklingenden Stimme. Um auch rein musikalisch den Ausdruck anzudeuten, erklang nun seine Flöte. Bebend schwollen die Töne – Sehnsucht wogte und wuchs, als lohe eine Feuersbrunst in weiten Nachthimmel. Das Gedicht malte die Kette der Alpen. Schneeberge erglühn im Sonnenuntergang – Goldgewölke. Abendlüftchen im zarten Laube flüstern, Silberglöckchen des Mais im Grase säuseln, Wellen rauschen und Nachtigallen [115] flöten: Adelaïde! Wie dann der Himmel dunkelt, ragen in blaue Nacht die Zypressen eines Friedhofs, und Sterne glimmen wie zärtliche Augen. Engel sind die Sterne, und es neigt sich ein Engel über den Grabhügel, zu küssen die Blumenknospe, die ihren Purpurkelch öffnet: Adelaïde!

Im kühlen Hofe war's lauschig unter dem Nußbaum, der mich mit grüner Dämmerung umfloß, während im höchsten Wipfel Sonnengold träumte. Es jauchzten Schwalben, die von oben in den Hof schossen und die Wände entlang streiften. Wenn die Musik eine Pause machte, regten sich flüsternd die duftigen Nußbaumblätter. Zuweilen unterbrach Hainlin die Musik, – im Eifer wurde seine Stimme befehlerisch: »Mit Glut, Pia!«

Allmählich hatte jeder seine Partitur ziemlich beherrschen gelernt, und nun erfolgte das Zusammenspiel. Daß Musik imstande sei, derart zu bezaubern, hatte ich zuvor nicht gedacht. In eine andere Welt war ich versetzt, in Gefilde von himmlischer Klarheit.

Dann kamen die drei Musikanten in den Hof und setzten sich zu mir. Als sie fragten, ob mir's gefallen habe, nickte ich in wortloser Begeisterung.

Frau Häfele, eine behäbige Alte, brachte ein Körbchen Kirschen: »Jetz probieret onser Gwächs, Herr Kandidat! So fromm hänt ihr musiziert – beim Lausche han i mei Rosenkränzle hernemme müsse. Dees Ave sollt in onserer Kirch zom Vortrag komme!« – »Hoho, Frau Häfele! Dafür tät sich euer Pfarrer bedanke. Weltliche Musik ischt dees, e Liebeslied.« – »Liebeslied?« staunte Frau Häfele einfältig. »Hänt Sie denn net gsunge: Ave Maria?« – »Adelaïde! Net Ave Maria! Aber die benedeite Himmelskönigin hat an der Adelaïde ihr Wohlgefallen. Für euch Katholiken heißt sie Maria – für mich Frau Musika. Lebt in Gottes Herzen und ist aller Musen göttliche Mutter. Demgemäß hänt die alten Griechen in ihren Schulen viel auf [116] Musik gehalten. Wer die Harmonie der Töne liebt, wird für den Einklang der Seele ond der ganzen Welt empfänglich – ond waas die Menschen heilik nennen, ischt eigentlich nicks als e bsondere Erscheinung des einen Einklangs, des göttlichen ...«

»Piale,« warf Frau Häfele dazwischen, und ihre Miene war bedenklich, »geh gschwind! 's Tellerle han i vergesse für die Kirschestoi.« Als Pia gegangen war, eiferte die Alte: »Aber, Herr Kandidat! 's Piale hat noch ihren Kinderglaube, gottlob! Aber guet kann ihr's net tun, wemmer die Musik mit onsrer Gottesmueter gleichstellt – wo doch in der Musik allerlei Weltlichs vorkommt, wie Walzer ond so Sächle.« – »Ha, om Gotts wille, Frau Häfele! Von mir aus wird niemandem e gueter Glaube gnomme, ond net ärmer soll's Menschenherz werde, nur reicher – net wirr ond trüb, sondern klar ond schön.«

Wendelin blickte düster auf Frau Häfele und nagte an seiner Lippe.

Pia kam mit dem Teller – Frau Häfele suchte dem Gespräch eine Wendung ins Harmlose zu geben. »Gelt, Piale? Morge beim Onkel hat's bessere Kirsche – die pflückt mer vom Bäumle glei ins Schnäble.« – »Also geht's morge nach Wurmlinge? Solltescht den Bruno mal mitnemme, Wendelin!« – »Ha, freili!« sagte Wendelin herzlich zu mir. »Komm morge mit!« – »Danke! Morgen soll ich mit den Eltern gehn.« – »Also ein andermal,« meinte der Kandidat. »Wurmlinge ischt ebbes für den Bruno – der schwärmt romantisch. Wenn der auf dem spitzen Hügel die Kapelle sieht, kommt sie ihm vor wie sein Glaasbergle.«

Die Anspielung auf meine Träumerei vom Epos ließ mich erröten. »Waas für e Glaasbergle?« fragte Wendelin. Meine Verlegenheit bemerkend, antwortete der Kandidat: »Dees bleibt onser Geheimnis – gelt, Brunole?«

[117] Frau Häfele, der nicht entgangen war, daß ihre Mahnung, Pias religiösen Glauben nicht zu stören, verstimmend auf den Kandidaten gewirkt hatte, sagte versöhnlich: »Ond gelt? Herr Kandidat – auf den Kirscheschmaus folgt e Ohreschmaus. Tun's ons noch e bißle flöte!«

Der Kandidat hob die Querflöte an den Mund – sie war aus schwarzem Holz mit silbernen Klappen. Er blies eine wehmütige Volksweise – dabei zogen sich seine goldigen Augenbrauen an der Nasenwurzel wehmütig in die Höhe. Phantasierend ging er in die Melodie der Adelaïde über – dem Hauchen hingegeben, als wolle seine Seele in die Unendlichkeit fluten, zum Herzen Gottes. Wie der letzte Ton verzittert war, träumten die Vergißmeinnicht-Augen dem Entschwebenden nach, und sanft sprach der Jüngling:


»Einst, o Wunder, entblüht auf meinem Grabe Eine Blume der Asche meines Herzens, Deutlich schimmert auf jedem Purpurblättchen: Adelaïde!«

[118] Die verlorene Kirche

Den Ausflug zur Wurmlinger Kapelle hatten meine Eltern erlaubt – an einem Sonntage, gleich nach Mittag, hatte ich mich aufgemacht. Auf dem Schloßberg betrachtete ich die alte Burg von Westen. Hinter dem breiten und tiefen Graben, den man Bärengraben nennt, hebt sich trotzig die alte Feste. Bei näherer Betrachtung bemerkte ich im Graben Pflaumenbäume, Obstgesträuch, Gemüsebeete – in Staffeln klettert die Gartenanlage das Mauerwerk hinan, jedes Fleckchen Erde nutzend. Bäume, die auf der Bastei wachsen, gaben mir eine unbestimmte Vorstellung von »hängenden Gärten«, wie sie die Königin Semiramis angelegt haben soll. Im Durcheinander dieses Burgbildes unterschied ich Pfade und Treppen, angeklebte Kleinbauten, ragende Giebel und Schornsteine, wimmelnde Fenster, drohende Schießscharten. Eine Kanonenscharte des dicken Turms sah aus wie ein brüllendes Maul. Welch Tummelfeld für die Einbildungskraft eines Knaben, der gern von Ritterzeiten träumt.

Auch der Weg über den langgestreckten Grat des Schloßberges bescherte dem Auge genug des Bunten. Obstgärten gab es da, Gemüsebeete, Bohnen, die an Stangen rankten, Hopfenpflanzung und Rebengelände. Hinter einem Aussichtsplatz mit Bänken kam Buchenwald, dann Heidekraut, Kiefernschonung, Oedland mit schilfigen Halmen, Binsen und rostrote Tümpel. [119] Undeutlich wurde der Pfad. Kein Mensch, der mir hätte Bescheid geben können. Aber Wendelin hatte gesagt, man brauche nur auf der Höhe weiterzugehen – zur Kapelle führe da jedes Wegle.

Am Fuße des Kapellenberges, bei einer Bank, sollte ich zu bestimmter Zeit Wendelin und Pia treffen, die von Wurmlingen kommen wollten. Allmählich senkte sich der Bergrücken – verschnaufend blieb ich im kühlen Hochwalde stehen. Es troff mir von der Stirn – heiß war der Tag, hastig war ich gelaufen. Der Waldeinsamkeit bangsüßer Schauer wehte mich an – Glocken schienen fern zu läuten, ein verworrenes Raunen! Oh! dachte ich – die Kapelle wird das sein! Mein Zutrauen wurde gedämpft, als nur ein dunkles Summen sich erlauschen ließ. Das war entweder gar kein Geläut oder ein sehr entferntes.

Ich war fast ratlos – glaubte die Richtung verfehlt zu haben – Flammers zu versäumen, wäre mir recht leid gewesen. Immerhin empfand ich im Verirrtsein den Reiz des Abenteuerlichen. Wer den Glasberg sucht, dachte ich, sei auf Dinge gefaßt, die noch weit mühseliger und gefahrvoller sind als diese simple Verlegenheit. Indem ich aufs neue horchte, kamen mir Verse in den Sinn, die ich bei Uhland gelesen hatte:


»Man höret oft im tiefen Wald

Von oben her ein dumpfes Läuten;

Doch niemand weiß, von wo es schallt,

Und kaum die Sage kann es deuten.

Von der verlor'nen Kirche soll

Der Klang ertönen mit den Winden;

Einst war der Pfad von Wallern voll,

Nun weiß ihn keiner mehr zu finden.«


Was ich hörte, war also die verlorene Kirche! Hier wird's gewesen sein, wo Uhland ihr Summen erlauscht und sein Gedicht [120] gemacht hat. Welch ein wundervolles Abenteuer war mir da beschert! Bangfroh setzte ich meinen Weg fort. Wo der Hochwald eine Lücke zeigt, ging ich pfadlos – leisen Hoffens, das Märchenkirchlein zu entdecken. Vielleicht ist's ein Klösterlein, wie's Pia träumt. Dann hat sie recht, für fromme Einsamkeit zu schwärmen. Süß muß es sein, dort den Himmel durch Glockenläuten zu preisen, durch Sang zur Orgel und Gitarre.

An einer Geländesenkung war plötzlich der Weg zu Ende. Eine Halde ging's steil abwärts, dann stieg kegelförmig ein Hügel empor, und droben – wundervoll! – da schwebte die Kapelle, eine schimmernde Krone. Mir war zumute wie dem Kreuzfahrer, wenn vor ihm endlich das Ziel seiner Sehnsucht ragt: die Burg Zion – verklärt wie Goldgewölk.

Nahe der Bank streckte ich mich an den Waldrand, das liebliche Bild zu betrachten. Die vom spitzen Berg himmelan getragene Kapelle hob sich sonnig von einer dunklen Wolkenwand ab; ein Schweben war sie, ein lächelndes Schimmern. Schmal gereckt das Dachtürmlein; und wenn auch das Glöcklein schwieg, kam mir's vor, als ob es leise singe wie ein Engelchen.

Der Hang des Kapellenberges war Schafweide, und ich meinte, der Hirtenknabe, den das Lied erwähnt, müßte bei seiner Herde zu entdecken sein. Obstbäume, Klee- und Welschkornfeld, Hopfengärten und Weinterrassen. Zur Seite des Berges offen das Tal –, Wiesen und Aecker grün und gelb gemischt. Das Bild schimmerte, als sei's mit Hauchen gemalt; am tiefblauen Himmel schwammen Haufenwolken, ähnlich zackigen Schneegebirgen. Während mir die Augenlider schwer wurden, sah ich droben weißgekleidete Gestalten, lange Flügel an den Schultern. Und selber schwebte ich zu diesen seligen Inseln des Aethers empor. In einer Flut von Harmonie. Es läutete die Waldkirche, [121] Hainlins Flöte schluchzte, zur Gitarre sang Pia, und – auf einmal helles Lachen ... Ich schlage die Augen auf – da stehen Wendelin und Pia.

»Jesses, Maria und Joseph! Da liegt er! Ond hört net, daß es scho donnert! Und wie ihm die Sonne 's Gsichtle verbrennt hat! Wirscht wacker Durscht habe, gelt du? Da eß Kirsche!« Und ein Handkörbchen mit dunkelroten, saftigen Kugeln stellt mir Pia hin, während Wendelin, auf den Rasen gestreckt, schmunzelnd zusieht, wie mir das Labsal mundet.

»Lange muß ich geschlafen haben!« gestand ich – »inzwischen ist diese dunkle Wolke am Himmel hochgezogen – ein richtiger Gewitterkopf!« – »Es zieht vorbei!« meinte Wendelin, während Pia vorschlug, lieber nach Wurmlingen zu eilen. »Und wenn wirklich ein Schauer kommt, mr hänt ja Onterschlupf in dr Kapelle.« Also gut! ich schmauste weiter. Und berichtete nun mein Abenteuer. Als ich das geheimnisvolle Läuten schilderte, horchten Wendelin und Pia auf, ich mußte ihnen Uhlands Verse sagen. Sinnend nickte Wendelin: »Einscht war der Pfad von Wallern voll – nun weiß ihn keiner mähr zu finden.«

»Waas mag dr Uhland meinen mit der verlorenen Kirche?« fragte Pia – nach etlichem Sinnen fügte sie hinzu: »Den Glauben meint er!« – »Welchen Glauben?« fragte Wendelin. Stutzig sah ihn Pia an: »Welchen? Den rechten Glauben, unsern Glauben!« – Mit leisem Spotte Wendelin: »Ischt denn dei Glaube ein verlorener?« – »Verlorener? Wer hat dees gsagt?« – »Du! Wenn der Uhland mit der verlorenen Kirche deinen Glauben meint, na wär dein Glaube ein verlorener.«

Pia suchte dieser Folgerung auszuweichen: »Du mit deiner Spitzfindikkeit! I will bloß sage, der rechte Glaube hat heuer net mähr die Geltung wie in der guete alte Zeit ... Einscht war der Weg von Wallern voll.« – Wendelin wiegte den Kopf:

[122] »An Wallfahrern und Betern fehlt's auch heuer net – aber von denen findet keiner 's Pfädle zur Waldkapelle. I glaub, an du net, Piale?« – Pia schmollte: »Dees willscht mr abspreche?«

Sinnend blickte Wendelin zum Walde, durch den ich gekommen war: »Ha no! Vom Waldkirchle rede mer, wie's der Uhland meint. Heimlich tut dees läute ... Selten, daß es ebber vernimmt. Ondwenn – so hat er noch lang net 's Waldkirchle. Zu dem führt e schmals Pfädle, überwachse, verstohle.Zeig mir's Pfädle, Piale!« – »I brauch kei Pfädle! Mei guete Straß han i.« – »Dei Straß, die führt net zum Waldkirchle.«

»Mei breite Straß führt sicher.« – »Ja, zum Dom aus Stein. Wenn du keinen andern suche tuscht ...« – »Waas für einen tuscht denn du suche?« – »Den Waldesdom, den lebendigen Dom! Kalt ischt dei Tempel aus Stein, ja, kalt und tot.«

Betroffen schwieg Pia – dann warf sie's Näsle hoch: »Und dei Waldesdom? Wühscht ischt der! In der Wildnis hat's net emal eine Orgel.« – »Wühscht kann's au im steinerne Dom hergehe!«

Da Pia verstimmt war, suchte ich abzulenken: »Wild kann der Waldesdom allerdings sein – und manchmal ist man zufrieden, wenn man aus dem Irrsal rausgefunden hat. Mir ist es vorhin fast unheimlich geworden. Drum seh' ich in der lieblichen Kapelle drüben mein verlorenes, schließlich gefundenes Kirchlein.«

Freundlich nickte Pia. Wendelin betrachtete mich: »Mit so Märle, scheint's, hascht gern zu tun, gelt? Hat net dr Kandidat Hainlin von eme Glaasberg gsproche? Der sei dein Geheimnis. Waas für Bewandtnis hat's denn mit dem Glaasberg?« Als [123] ich zögerte, meinte Pia ein wenig spitzig: »Darf i's net höre? Na gang i!« Da mußte ich schon mit der Sprache heraus: »O freilich dürfen Sie's hören! Es ist ja gar kein eigentliches Geheimnis. Bloß ein Märchen. Den Glasberg denke ich mir steil und spitz – ganz aus Glas, hart und glatt – und kein Pfad führt hinauf. Wer es wagt, hinanzuklettern, rutscht ab – Hals und Beine bricht er.«

Pia hatte sich hingekauert: »Ha, warum will er denn naufklettre? Wenn's so gfährlich ischt!« – Nicht ohne Verlegenheit erwiderte ich: »Wegen der Prinzessin! Die soll oben hausen. Herr Hainlin nennt sie eine Walküre.« – »Walküre? Ischt dees net eine Oper?« – »Walküre ist eine starke Jungfrau, die im Himmel wohnt. Den tapferen Krieger beschützt sie. Wenn er im Kampfe fällt, nimmt sie ihn auf ihr fliegendes Roß und trägt ihn zur Walhalla. Das ist der himmlische Freudensaal. Solch eine Walküre ist die Prinzessin auf dem Glasberg. Herr Hainlin sagt, jeder Mensch, dem ein Traum von Glück vorschwebt, meint die Prinzessin auf dem Glasberg – und wagt den Versuch, hinauf zu klettern.« – »Ond verunglückt dabei,« bemerkte Pia ein wenig spöttisch – »dees hat na dr Held von seiner Schwärmerei!«

Geringschätzig bemerkte Wendelin: »Was verstehscht denn du von Helde!« – Pia gereizt: »Oh, warum soll i nicks dervo verstehe? Es gab au Glaubenshelde! Denk' an den heiligen Franz! Für sein Ideal hat der die Welt drahngebe.« – »Also,« erwiderte Wendelin – »seine Walküre war die Jungfrau Maria!« Schwärmerisch hob Pia den Blick zur Kapelle: »Dees Marienkirchle ischt mei Glaasberg.«

Wendelin und ich sprangen auf, munter ging's den Berg hinan. Hinter der Mauer, die den Gipfel umzingelt, waren Gräber mit Holzkreuzen, dran hingen Kränze aus blauweißen Perlen. Stiefmütterchen [124] und Nelken blühten. Auf dem Holze las man den Namen des Ruhenden, seinen Geburts- und Sterbetag. Pia zeigte mir ein Grab: »Da ruht unser Großvatterle!« Die Inschrift nannte ihn den Storchenwirt zu Wurmlingen. »Ein schöner Platz zum Schlafen, gelt?« fuhr sie zärtlich fort. »Hier obe möcht i au begrabe sein. Wenn's in mei'm Kloschterle net sein dürft ...«

Ich schwieg – über das Kloster zu sprechen glaubte ich nicht befugt zu sein. Sie kam mir wie eine Heilige vor. Und weiter schwärmte sie, mit einem weichen Frohsinn: »Es muß schön sein, so ganz still zu liege – und gar kei Unruh mehr zu habe! Wenn dann mei Tant mei Hügele bsucht, bricht sie e Zweigle Immergrün, ond na heißt's: Da schlaft unser Piale.« Sie mochte wohl merken, daß ich ein ernstes Gesicht machte, und nun war auf einmal ihr Ton verändert – schelmisch ahmte sie die Redeweise geschwätziger Rührseligkeit nach: »Ach ja, 's Piale! War dees e bravs Mädle! Ond e fleißiks, e sparsams Mädle!« – »Ach nicht doch!« bat ich. Doch sie gefiel sich in der Rolle: »Ond klugs Mädle! Ha, warom dees net au? Zu Lebzeiten freili hört mr's anders – da heißt's immer bloß: Pia, sei net so domm! Pia, ohgschickts, leichtfertiks Mädle! Ha ja, erscht wenn mr tot ischt, tun sich die Leut bsinne – ond da machen sie's gnädik. Schon aus Neugier möcht i verstorbe sei – bloß daß i höre möcht, waas alls die Leut vom Piale schwätze. Wie Weihrauch soll mir die Lobhudelei oms Näsle wehe. Ui jele!« Lachend brach jetzt der Uebermut hervor: »Aber aufspringe möcht i uf oimal ond die Leut auslache: Gelt ihr? Verstorbe muß mer sein – na gilt mer ebbes – eher net! Verstorbe oder wenikschtens krank, gelt? Wenn mr krank ischt, hört mr gleichfalls viel Schmeichelhafts. Da heißt's: Werd mer bloß wieder gsund, mei Herzblättle ... O Herrschaft!«

[125] »Jetzt aber, ihr zwei, kommet da her!« rief Wendelin, über die Mauer schauend, die den kleinen Kirchhof umfriedet. Wir gingen hin – ich ward von der Aussicht ergriffen.

Unter den Weingärten des steilen Berghanges wimmelnde Dächer – rechts ein zweites Dorf – weiter hinten eine Stadt – in heller Beleuchtung hoben sich Türme und Dächer vom dunklen Waldgebirge. »Das ist Rottenburg mit dem Rammertwald!« sagte Wendelin – »der Turm auf dem Berge die Weilerburg ... Grad unter uns liegt Hirschau – rechts Wurmlingen – weiter hinte Wendelsheim – die Seebronner Warte.« – »Geht mich nichts an!« erwiderte ich. »All die Namen kann ich nicht mal fassen.« – Im Eifer fuhr er fort, quer über den Friedhof deutend: »Pfäffinge!«

»Sag lieber Monsalwatsch!« – »Waas?« – »Monsalwatsch! Märchennamen sind mir lieber! Geographie versetzt uns übermorgen der Naso – heute mag ich keine. Was geht es mich an, wie die Stadt daheißt und das Dorf! Vielleicht hat Herr Kuttler da Hopfengeschäfte gemacht, und der Braten, den meine Mutter heute aufgetischt hat, stammt von einem Kalbe aus dem Dorfe drüben. Will davon nichts hören. Lieber bin ich im Wunderlande.« Und ich starrte zur Gebirgskette, die hinter breitem Tale, das der Fluß durchquert, über dunklen Waldbergen blaute. Die Höhen wie lange Schanzen geformt, – vorn ein kuppelförmig gewölbter Berg – ganz fern ein spitzer Kegel. »So ungefähr sieht der Glasberg aus!« sagte ich.

Jetzt war die Stadt Rottenburg nebst ihren Waldhöhen vom Dunst der Wetterwolke verhüllt – man sah, wie der Regen in schrägem Fall über die Landschaft zog. Während hier graublaue Düsterkeit lag, strahlte weißlich die Sonne über den westlichen Teilen des Neckar- und des Ammertals. Hügel [126] wallten – grüngolden flirrten Felder – hell und braunrot die Dörflein –, dann kamen dunkelgrüne Wälder – bis der Schwarzwald die blaue Grenze bildete. Da wir's donnern hörten, suchten wir am Zuge des Gewölks zu erkennen, ob uns Regen beschieden sei. Und zur Kapelle wandten wir uns. Ein weißgetünchter Steinbau vom Umfang einer kleinen Dorfkirche. Zwei gotische Pforten, vier hohe Fenster. An der Außenwand Grabsteine bevorzugter Gräber.

Beim Eintreten in den Kirchenraum tunkte Pia den Finger ins Weihwasserbecken und bekreuzigte sich. Da ihr Bruder dazu keine Anstalt machte, betupfte sie ihm Stirn, Schulter und Brust, was er sich stumm gefallen ließ. Dann trat Pia zum Altar und neigte sich demütig. Ich war noch nie in einer katholischen Kirche gewesen; die beflitterten Figuren am Altar und an den Wänden, die starken Sinnfälligkeiten, die für manchen etwas Bestrickendes haben, verfehlten auf mich ihre Wirkung nicht, obwohl ich das bäurisch Grelle nicht mochte. Die Mutter Jesu spielte hier die erste Rolle. In dreifacher Gestalt, bunt bemalt und blinkend, zierte sie die Hauptwand: links als Mutter des Kindleins; rechts als Schmerzenreiche, das Herz von Schwertern durchbohrt; in der Mitte als Himmelskönigin mit goldener Krone.

Der Regen war nun doch gekommen, durch die offene Pforte hörte man 's tröpfeln, dann brach ums Gemäuer rauschendes Gießen los. »Mer werde doch net eiregne?« raunte Pia schüchtern. »I mein bloß ... weil der Uli halt gsagt hat, er woll nach Wurmlinge komme.« – »Ha freili, der Uli!« nickte Wendelin. Gleich darauf gab's einen krachenden Blitzschlag, – Pia bekreuzigte sich.

Aber schon wirbelte das Wetter seitwärts, und in den abziehenden Regen lugte die Sonne. Ermuntert traten wir aus [127] der Kapelle in erfrischte Luft und bejubelten den Regenbogen der sich vor der Dunstwand wölbte.

»Ganget mer!« sagte Pia, – und als wir den Kirchhof verlassen hatten, hüpfte sie wie ein Reh den steilen Hang hinab, wo schimmernde Tropfen an Halm und Blume hingen. Ihr sinniger Ernst kehrte zurück, als sie mir die Bildnisse erklärte, die längs des Abstieges in gemessenen Abständen angebracht waren; Stationen seien das, die den Martergang Christi schildern, da bete der Wallfahrer. Aufs neue zur Ausgelassenheit gestimmt, schlug Pia einen Wettlauf vor, und wir rannten bergab. So waren wir bald im Dorf. Bei der Kirche hatten sich geputzte Landleute versammelt, wohl zu einer Kindtaufe.

Da war nun das Gasthaus zum Storchen. Herr Müller, der Onkel Flammers, bediente Gäste und nickte uns zu. Im Saal neben der Schankstube war ein Klavier. Pia schlug Akkorde an und sang ein wehmütiges Lied:


»Ich armes Klosterfräulein!

O Mutter, was hast du gemacht!

Lenz ging am Gitter vorüber,

Hat mir kein Blümlein gebracht.


Ach wie weit, weit dort unten

Zwei Schäflein gehen im Tal!

Viel Glück, ihr Schäflein! ihr sahet

Den Frühling zum erstenmal.


Ach wie weit, weit dort oben

Zwei Vöglein fliegen in Ruh!

Viel Glück, ihr Vöglein! ihr flieget

Der besseren Heimat zu ...«


Auf einmal fühlte sie sich bei den Schultern ergriffen – sie wandte sich um – Uli war's. Strahlend in Jugendfrische, [128] begrüßte er Pia, nahm die dunkle Rose aus seinem Knopfloch und überreichte sie dem errötenden Mädchen. »Aufgespielt, Wendelin!« kommandierte er jubelnd.

Und wie ein Walzer erscholl, wirbelte das Paar durch den Saal. Ich dachte an Schmetterlinge, die einander umgaukeln. Mit Verwunderung sah ich Pias Art auf einmal verwandelt. War denn hier noch das Klosterfräulein, das von der Gottesmutter geschwärmt hatte? Nach dem Tänzchen setzte sich Uli an das Klavier, trommelte auf den Tasten einen Militärmarsch und ging in die Volksweise über: »Wie kommt's, daß du so traurig bist und auch nicht einmal lachst?« Die Antwort summte sein wohlklingender Baß:


»Und wer 'nen stein'gen Acker hat

Und einen brochnen Pflug,

Und wem sein Schätzel untreu wird,

Der hat wohl Leid genug.«


»Ha, dees kommt davon!« scherzte Pia, – »waromhat er e Schätzel!« – »Es geht noch weiter,« sagte Uli und sang:


»Hab all mein Tag kein gut getan, Kommt mir auch net in Sinn. Die ganze Freundschaft weiß es ja, Daß ich ein Unkraut bin.«

[129] Der Drache

Die letzten Getreidegarben waren eingeheimst. Ein Knabe, der im Flachland aufgewachsen ist, spürt um diese Zeit eigene Sehnsucht, nun er über Stoppelfeld und Anger schweifen darf, unbehindert wie der kühle Wind, indessen am mattblauen Himmel Wandergänse mit den Wolken um die Wette reisen. »Hier oben ist's herrlich!« locken Vögel und Wolken und der Knabe sehnt sich empor. Befreit von Schwere, möcht' er das Luftreich durchschweben, möchte ein schweifendes Schauen sein.

Außerstande, selber zu fliegen, will er wenigstens einen Boten zur Höhe haben, – der soll ihm das Fliegen veranschaulichen, damit er sich hineinträumen kann. Der Drache aus Papier ist dieser Bote; ihn verfertigt der norddeutsche Knabe mit Sorgfalt – und stolz schaut er empor, wenn der Liebling in die Lüfte saust und immer mehr Faden nimmt. Als wir noch in Magdeburg ansässig waren, hatte mein Vater seinen zwei Knaben jedesmal im Herbst einen Drachen gebaut, und ein Fest war's für meine Phantasie, wenn unser Drachen die ganze Fadenrolle abgewickelt hatte und nun unter den Wolken stand, in der Entfernung ganz klein, lauernd wie ein Falke, der zum Niederstoßen zielt.

Kulturell rückständig kam mir die Lustnauer Jugend vor, weil sie keine Ahnung davon hatte, daß man einen Vogel aus Papier steigen lassen kann. Enzio, der mir in der Laube zusah, wie ich einen kleinen Drachen zusammenbastelte, empörte mich durch die dummspöttische Bemerkung: »Ond wenn er fliege tut, waas [130] hoscht na du dervon?« – »Blödsinn! Es macht mir eben Freude!« – »Ja, wenn du selber fliege könntescht! So aber geht nicks in die Höch als bei Papierle!« Solche Einrede verdroß mich. Immerhin hatte ich die Genugtuung, daß Enzio ein Zuschauer voll neidischer Bewunderung war, als ich hinterm Garten, auf Stoppelfeld mein Kunstwerk erprobte und nun der Drache munter im Winde wirbelte, ohne daß ich mich zu bemühen brauchte. Er hielt sich wacker, und wenn er zuweilen etwas wackelte, mit dem Schweife wedelnd, so schien das auszudrücken, wie behaglich ihm droben die frische Luft sei.

»Zu klein ischt er!« meinte Enzio geringschätzig. Doch ich konnte demonstrieren, was für ein Teufelskerl solch ein fliegender Zwerg sei. »Ich telegraphiere hinauf,« sagte ich. Während nun Enzio den Drachen hielt, schnitt ich mit der Schere ringförmige Scheiben aus Papier. Sie wurden über den Faden gezogen und glitten, vom Winde getrieben, am sogenannten Telegraphendrahte hinauf. Schließlich hingen oben so viel Depeschen, daß der Drache nieder mußte, um Erleichterung zu finden.

Eine neue Kunst mußte er jetzt produzieren, – einen »Brummer« brachte ich ihm bei – so nannten wir eine Papierzunge, die unter der Wölbung des bogenförmig gekrümmten Drachens schnarrend schwirrte. Mein Drache brummte in der Höhe wie ein Maikäfer. »Gewaltiger müßt' mir dees Brummerle sein! Wenn i en Drache baue wollt, der müßt groß sein wie e Scheunetor! Na könnt er einen Menschen hebe. I tät mi dra feschthalte – ond wenn er hochgeht, na tät er mi mitnemme. Ha, dees riskier i!« prahlte Enzio. Etwas Verlockendes hatte dieser Gedanke, und im Gerede spannen wir ihn weiter. Ich malte aus, wie mir zumute sein würde, wenn ich von einem Drachen in die Höhe getragen und vogelgleich bei den Wolken schweben würde, tief unten die Fluren mit den [131] winzigen Menschlein. »I hab's erfunde!« protzte Enzio – »ja, i krieg's Patentle – Millionär werd i!«

Auch ich nahm die Sache wichtig, tagelang berieten wir, suchten Material, bastelten und probierten. Von einer alten Mosttonne ergatterte Enzio einen Reifen, der sollte die Stirn unseres Drachens bilden. Zum Rückgrat schien eine Dachlatte verwendbar, dickes Packpapier gab es in Kuttlers Magazin. Schwierig war die Beschaffung hinreichend starken Fadens. Es bedurfte eigentlich schon eines Strickes, um des Riesenvogels Zugkraft auszuhalten. Das Geld, das der Seiler verlangte, brachten wir nicht zusammen, trösteten uns aber mit ein paar Waschleinen, wie sie im Haushalt gebraucht werden. Da meine Mutter die große Wäsche kürzlich erledigt hatte, merkte sie nicht, daß wir ihre kostbaren Stricke, auf denen sonst Hemden und Laken hingen, für unsern tollen Plan in Anspruch nahmen.

Als wir die Flugmaschine nahezu fertig hatten, war der Wind günstig. Zufällig kamen Uli und Wendelin; da gab's neues Geschwätz. Uli erklärte sich ebenfalls zum Fliegen bereit und wollte sich am Drachen festbinden lassen. Wendelin gab zu bedenken, einen so ausgewachsenen Kerl zu tragen, sei das Gestell zu schwach; lieber solle mit dem leichten Enzio der Versuch gewagt werden. Zur Anerkennung seiner kühnen Bereitschaft verlangte Enzio, das Flugzeug solle »Hohenstaufen« genannt werden, weil ja Enzio der letzte Hohenstaufe gewesen sei. »Taufen müssen wir allerdings!« erklärte Uli, »jedes Schiff trägt am Spiegel einen Namen, so darf der Name unserm Luftsegler net fehle! Bloß kann i mi net für Hohenstaufe begeischtere – dees wär ebbes gschichtlich Ueberlebtes, während unserm Werk die Zukonft ghört.« – Ich stimmte bei: »Ja, die Zukunft! Eine fabelhafte Zukunft! Vogel Rock soll der Drache heißen, nach dem Märchen in Tausendundeiner Nacht.« Wendelin[132] schlug den Namen Ikarus vor – aber Uli entgegnete: »Onsinn! Der Ikarus ischt e schlechter Flieger gwä – abgestürzt ischt er.«

Ich befürwortete die Namen Pegasus und Gigant, die Giganten hätten bekanntlich den Himmel erstürmen wollen.

»Wieso bekanntlich?« wandte Uli ein. »Von Mythologie hat der schwäbische Bauer keinen Schimmer – nur's Maul wird er aufreiße, wenn er auf dem Ding in den Wolken die Inschrift entziffert: Gigant! Sage mr lieber Wolkestürmer! deescht allgemei verständlich.« Einstimmig wurde dieser Name gewählt, nur daß Wendelin zu bedenken gab, die Schrift auf dem Flugzeug werde nicht zu entziffern sein, wenn's in den Wolken schwebe, – ratsamer sei, ein deutliches Wappen auf die Fläche zu malen, etwa das Zollernwappen, vier Quadrate, schwarz und weiß abwechselnd. Enzio murrte etwas von Preußentum – das sei in Schwaben net beliebt. Uli trat für Bismarck ein, und ich wandte meine Glasberg-Idee auf die Hohenzollern an, denen es jedenfalls gelungen sei, ihren Glasberg zu erklimmen. »I mein's gar net politisch!« entschied Wendelin. »Schwarz- weiße Quadrate hat's ja auf dem Schachbrett, ond im vorliegenden Fall wären sie ein Sinnbild der Berechnung. Net der Zufall, net Glück bringt dem Schachspieler Erfolg, bloß Verstand. Drum wolle mer onsern Wolkestürmer mit dem Schachbrett ziere – Symbol des Erfindergenies!«

Leuchtenden Auges betrachtete Uli das Ungeheuer, für das die Laube viel zu klein war. Im Warenschuppen hatten wir's fertiggestellt, und da lag es in Läng' und Breite – neben ihm der mächtige Schweif, ein Strick mit Papierbüscheln – er brauchte nur noch angeknüpft zu werden. Mit seinem Schachbrettwappen war der Wolkenstürmer versehen, auch mit zwei Schlingen, durch die Enzio die Arme stecken sollte, um in die Luft getragen zu werden.

[133] Die Ueberführung auf Stoppelfeld blieb nicht ohne Schwierigkeiten. Der starke Wind packte die Fläche, Wolkenstürmer war in Gefahr, in den Wipfel eines Apfelbaumes geschleudert zu werden. Stemmen mußten wir uns gegen die brausende Luft, wild umher blickten wir, wenn ein Windstoß die Obstbäume schüttelte, daß die Aepfel niederprasselten. Aufgeregt waren wir wie Krieger vor dem Angriff, wie Seeleute, wenn ein Orkan heranbraust. Wie ein sich bäumendes Schiff kam uns Wolkenstürmer vor. Dann wieder wie der Riesenhengst Bayard, dessen Ungestüm sich kaum zügeln läßt – nein wie Pegasus, das Flügelroß der Begeisterung. Welterschütternd war unser Vorhaben: ein Mensch sollte fliegen – wie einst Dädalus, dessen Erfindung verloren gegangen ist – an die abgerissene Tradition knüpften wir ein neues Glied. Unter dem grauen Gewölk trieb eine Krähe im Sturme. So wollten wir selber schweben. – Unwillkürlich breiteten sich mir die Arme wie Flügel, dann fuchtelte ich mit den Armen und schrie: »Ho! hoch!«

Auf dem Stoppelfeld postierten wir uns. Das Ende des Strickes, dran ein Querholz festgeknotet war, sollte Uli halten, alle Kraft aufbietend, daß ihm der Sturm den Drachen nicht entreiße. Wir anderen schleppten das Fahrzeug in wagerechter Haltung, bis der Strick gestrafft war. Schräg gegen den Wind wollten wir die Fläche stellen, sobald Enzio in den Armschlingen hangen würde. Doch obwohl von Uli »eins, zwei, drei« kommandiert war – und abermals kommandiert war, blieb Enzios Verhalten schleppend. Wie er endlich die Arme in den Schlingen hatte, rief Uli »Los!«, wir richteten den Wolkenstürmer auf und ließen los. Er stieg sofort – doch ohne Enzio, der sich im letzten Moment freigemacht hatte. Obwohl nicht programmmäßig, war's ein großartiger Moment, als Wolkenstürmer sich bäumte wie ein Hengst – dann brausend einen Bogen [134] himmelan beschrieb und – wieder zur Erde schoß. Ein dumpfer Krach, zertrümmert auf dem Acker lag der Gigant. Mit Mühe entwanden wir dem Winde sein Opfer, das er gänzlich hinzumachen beflissen war.

»Der Enzio hat schuld!« tobte Uli – »der Feigling hat gekniffen!« Der Angeschuldigte wehrte sich: »Deescht verloge! Gekniffe hat mi der Strick – die Schlinge war zu eng – da han i gschwind Ordnung schaffe wolle – aber der Uli hat los' brüllt. Zu rasch! Dees war der Fehler!« – »Schwätz net so fad! Kei Schneid hoscht – deescht die Sach! Im letzte Moment ischt dir's Herz ins Hösle gfalle, ond weil der Wolkestürmer zu leicht ischt, hat er den Salto mortale gemacht.«

»I glaub, die ganze Erfindung taugt nicks,« entschied Wendelin. – »Wohl taugt sie!« trotzte Enzio, – »bloß, daß mer sie noch verbessere mueß!« – »An der Berechnung fehlt's! Die Windstärke muß mr genau in Rechnung stelle, auch die Schwäre des Apparats nebscht seiner Fracht. Dann erscht ka mer beurteile, wie groß die Fläche sein muß, und was für Maderial geeignet wär. Papier ka mer net brauche – dees zerreißt halt bei solcher Belaschtung. Sägeltuch, dees tät scho halte – wär' aber zu schwär. An der Berechnung fehlt's dem Wolkestürmer.«

Die traurigen Reste unserer verunglückten Erfindung bargen wir im Schuppen. Ich war froh, daß die Waschleine meiner Mutter keinen Schaden genommen hatte. Die übrigen Materialien durfte Enzio behalten, der sich nicht ausreden ließ, seinen Wolkenstürmer zu verbessern und patentieren zu lassen. Da er sein Schmollen noch nicht abgetan hatte, mochte er nicht länger unsre Gesellschaft teilen und drückte sich, unter dem Vorwand, er habe eine Besorgung für Vaters Geschäft.

[135] Ikarus

»Solle mr Schach spiele?« schlug Uli vor – ich holte mein Schachbrett, und im Schuppen, wo es windstill war, kauerten wir um das schwarz und weiß karierte Feld. »Dies könikliche Spiel« – sagte Uli, die Figuren aufstellend – »ischt e Schleifstein des Verstandes; besonders solchen zu empfehlen, die Feldherren werden möchten oder Regenten. Napoleon ischt e gueter Schachspieler gwä, drum hat er so viele Schlachten gewonnen. Pädagogisch hat Schach viel mähr Wert als lateinische Grammatich, die zwar wegen ihrer Logik gelobhudelt wird, aber Onlogisches enthält. Waas hilft's, daß mr dem Pennäler einpauke tut:


Viele Wörter sind auf is

Masculini generis:

Panis, piscis, crinis, finis


I glaub 's scho, daß sie masculini sind. Aberwarom sind sie's? Ha, warom ischt panis, das Brot, männlich? Sonscht sind die meischte Wörter auf is weiblich! Jetzt, wo bleibt die Logik? möcht i wisse. Reimereien drüber hänt die Grammatiker zustandebracht – aber die Sach bleibt eigentlichongereimt.«

Diese Bemerkung verblüffte mich, und ich meinte: »Stimmt! Daß piscis, der Fisch, männlich sein soll, will ich gelten lassen – auch wir Deutschen sagen ja:der Hecht, der Karpfen, der Aal. Wie aber crinis, das Haar, zu der Ehre kommt, grade männlich zu sein, und wieso es auch dann männlich bleibt, wenn'sWeiberhaar ist, das wissen die Götter.« – »Hier[136] liegt der Stumpfsinn auf der Hand,« entschied Uli, »ond i sag euch: wenn i Minischter bin oder mindeschtens Reichstagsabgeordneter, i sorg dafür, daß net mähr so blöde Regle den Pennälerverstand mißhandle. I werd's Schachspiel zom Unterrichtsgegenstand mache – an Stell von der lausigen Grammatich, gelt?« Das war nun wieder eine von Ulis Großzügigkeiten; in ihm sahen wir einen künftigen Bismarck oder Napoleon.

Weil so die Gedanken auf die Zukunft gerichtet waren, äußerte sich auch Wendelin über sein Lebensideal: »Der Bruno dichtet an seim Epos – mir ischt Mathema tik die schönschte Reimerei. Mei Glaasbergle hat auf der Spitze einen Krischtall.« Fragend starrte ich diesen geistigen Wolkenstürmer an, und er fuhr fort: »Aber der Krischtall dürft net so winzik sein wie Diamant! Bergkrischtalle hat's schon in beträchtlicher Größe, manche sind dick wie der Apfel da! Aber bedeutender müßt mei Krischtall sein ... wie der Schuppen! Ja größer noch! Wie die Wurmlinger Kapelle!« – »Und?« fragte ich gespannt. – »Ond ganz scharf und spiegelblank müßt mei Krischtall sein – spiegeln müßt er mir älles rings. Ja 's Weltall müßt er abspiegele! Na tät i älles im Spiegel betrachte. Und die Hauptsach wär, daß sich älles, was irgendwo geschieht, berechne ließ, warom's grad so ond net anders hat müsse komme ond wie's weiter geht.«

Ich bestaunte die Kühnheit dieses Ideals, und Uli meinte mit Genugtuung: »Dann wär das Leben eine Art Schachspiel!« – »O freili! Wär's net schön, wenn mr die Nadur- ond Weltgschicht studiere könnt, wie mr Schachaufgabe löst?« – »Dann möchtest du also ein Staatsmann werden? Als Politiker tut mr die Weltgschicht vorher berechne – ond die Mensche tut mer schiebe wie Schachfigure.«

»Man glaubt zu schieben – ond mer wird geschoben – hab der Goethe gsagt.« – »Oho!« muckte Uli auf. »Meinen [137] Weg gang i – und den möcht i sehe, der mi als Schachfigur schiebe dürft!« – Unbeirrt fuhr Wendelin fort: »Ja, wenn das Schicksal net wär! Daas tut's!« – »I selber will mei Schicksal sein!« – »Dees sagt sich leicht – doch vieles läßt sich net durchsetze – auch wemmer in der Wahl seiner Eltern vorsichtik gwä ischt.« – »Du meinscht, weil mei Vatter Geld hat?« – »Ha jo! Waas aber soll denn i abfange? Eltern han i koine – Geld an koins! Bleibt mir der Onkel Gaschtwirt ond der Onkel Kaplan! Deeschtmei Schicksal! Ond schiebe tut mi dees!«

»Dann tät ich mich wenigstens net als Bauer schieben lassen,« erklärte Uli trotzig – und schrägen Blicks Wendelin: »Bauer? Noi! Dees bin i net! Der tut immer bloß e Schrittle vorwärts.« – »Sei Königin, Läufer oder Turm!« riet Uli. Aber Wendelin schüttelte den Kopf: »So zu fliegen, hat mir's Schicksal versagt. Aber Springerle kann i sein. Dees tut einen Schritt gradaus ond einen schief.« Mit zwei Fingern das Pferdchen haltend, veranschaulichte Wendelin auf dem Schachbrett, wie's nach allen Seiten hüpfen kann: »Springe tut 's, wohin der Gegner net denkt – oms Eckle 'num kann 's schieße – waas im Weg steht, weiß 's zu omgehe – schlau ond schmiegsam ischt 's – wie e Pfaff!« An diesem Vergleich fand er Behagen: »Schwierigkeite zu omgehe, darauf versteht sich niemand so gut als wie mei Springerle ond dr Pfaff.« Mit pfiffigem Blinzeln fügte er noch hinzu: »Ja, dr Pfaff – ond die Weible! Die können noch konkurrieren mit dem Pfaffen, gelt?«

Unsicher blickte Uli, er wußte nicht, wohin diese Anspielung ziele. Dann raffte er sich zum Spott auf: »Waas weißt denn du von Weible? Von Pfaffe magscht ebbes verstehe – von Weible nicks!« – Verlegen zuckte der andre die Schulter: »Ha [138] no! Mei Schweschter ischt doch au e Weible! Ond i sag dir, vom Pfaffegeischt hat die schon ebbes. Ond wenndie erscht im Kloschter ischt ...«

Da gab's einen Krach, als sei aus heiterm Himmel ein Blitz herabgefahren. Die Schachfiguren hüpften – mit der Faust hatte Uli aufs Brett geschlagen – von einem Dämon der Wildheit schien er besessen, wie er hochgereckt, flammenden Auges im Schuppen stand. Gelähmt vor Schrecken starrte Wendelin. »Himmelkreuz!« knirschte der Jähzornige, seine Augen rollten. Dann griff er sich an die Stirn, als ob er aufwache: »Verzeih mir, Wendelin!«

Wendelin schwieg traurig, und kleinlaut fuhr Uli fort: »Der Rappel hat mi packt. Daß du aber so rede tuscht – so von der Pia! Dees han i net vertrage.« – »Ha warom denn net?« – »Warom? Weil dees aufkeunen Fall gschehe darf, daß die Pia ins Kloschter kommt! Hörscht? Als Bruder bischt du verpflichtet, dafür z'sorge!« – Um den Mund hatte Wendelin ein schmerzliches Zucken: »I? Mir selber weuß i net z' helfe!«

»Aber i werd helfe!« entschied Uli. »Von mei'm Vatter werd i fordere, daß er's Geld hergibt für dich ond die Pia – na könnet ihr andre Wege gehn!« – Düster hatte Wendelin seinen Kopf gestützt: »Und wenn mei Vormund, der Kaplan, sich weigert, von deim Vatter 's Geld zu nemme? Und wenn die Pia ins Kloschter will? Bedenke doch: Wenn sie haltwill

Tonlos stammelte Uli: »Sie will? Warom denn?« – »Ha no! Familiensache sind dees!« – »Familiensache? Du kascht doch net dulde, daß dei Onkel, der Kaplan, 's Piale beherrscht! sie ond dich!« – »Der Onkel? Der spielt bloß die zweite Geig'. Aber 's Mütterle, onser lieb's Mütterle, onser armes ...« Ergriffenheit erstickte ihm die Stimme, sammeln mußte er sich, um den Bescheid zu finden: »Du [139] meinscht, von so Weible tät i nicks verstehe? Aber ischt net mei Mütterle e Tochter Evas gwä? Schön und hold, so heißt's, sei die Eva gwä – mei Mütterle war's au –, deshalb hat mei Vatter net könne von ihr lasse, obwohl sie net ...« Wendelin wollte nicht heraus mit der Sprache.

Uli war sanft geworden: »Brauchscht net weiter zu rede – ebbes davon han i läute hören. Dei Vatter hat dei Mütterle heiraten wolle, hat's aber zu lang verschobe ...« Weinend platzte Wendelin heraus: »Ja, verschobe! Ond ischt drüber hi'gstorbe! So ischt's komme, daß i ond's Piale mit dem Makel ... ja mit dem Makel ... Warom aber hat mei Vatter so lang zögert? Weil sei Vatter gegen die Heirat mit der Schauspielerin war.« – »I weiß, Wendelin! Ja, du könntescht jetzt Majoratsherr sein – mei Vatter hat mr's gsagt. Wenn aber niemand von deines Vatters Verwandten das Onrecht, das an euch begangen ischt, wieder gutmachen will, i möcht helfe, i! Ond werd's durchsetze! Ins Kloschter zu gehe, soll die Pia net nötik habe.«

»Ha ja!« meinte Wendelin bitter, »nötik hat sie's grad net – kann ja Kellnerin werde beim Onkel Gaschtwirt.« – »Onsinn! 's gibt an passende Stellungen für sie – ischt sie net e feins Mädle?« – »Grad deshalb! Fein ischt die Pia – e zarte Dame! Waas soll jetzt die in onsere Verhältnisse? Ja, wenn sie zur Bühne könnt, wie's Mütterle! Aber Onkel Flammer hat den Riegel vorgschobe. Hat der Pia ins Gewissen geredt – hat gewarnt, um Gottes wille solle sie net 's Mütterles Weg gehe – sie müß vielmähr wieder guet mache, waas Mütterle in der arge Welt verfehlt hab.«

Uli wurde abermals unwirsch: »Pfaffegschwätz! Da wär nicks guet zu mache! Schuld hat dei Mütterle keune! Schuld hänt bloß andre Leut! Und andre Leut send an jetzt wieder [140] schuld, daß dem Piale 's Köpfle verdräht wird. Aber i tu's net leide, daß sie im Kloschter versauert.« Als Wendelin den Einwand tat: »Waas willscht tun?« brauste Uli auf: »Heirate werd i's Piale!« Wendelin stammelte: »Hei – rate?Wann denn dees, Uli? Vielleicht in zehn, zwölf Jahre. Inzwische hat's Piale den Schleier gnomme.«

»I duld's net! Und wenn i's Piale mit Gewalt raushole müßt!« drohte Uli, blaß vor Verbissenheit. – Wendelin zuckte die Achsel. »I selber – i bin dann selber in eme Kloschter.« – »Du, Wendelin? Du, der Mathematiker? Der Freigeischt?« – »Mathematik ka mer au in der Kloschterzelle treibe. Der Freigeischt aber, der sieht grad, wie's Schicksal on – ent – rinn – bar ischt, onentrinnbar – dees kann mrbeweise! Ond Pater Vinzenz hat mir prophezeit, in eme Kloschter werd i sterbe.« – »Pater Vinzenz? Wer ischt denn dees?« – »E Mönch! Hat wiederholt im Rotteburger Dom geprädikt – dann send die katholische Leut von weit und breit hergepilgert. Eine Stimm hat der Pater – wie ne Orgel! Locken kann er, donnern kann er. Wenn er die Arme mit den Schleppärmeln breitet ond mit sei'm Feueraug die Kirche durchrollt, na ischt älles wie behext, sei Wort tut herrsche, daß sich kei Zweifel herauswagt. Ja, der versteht sei Handwerk! Ond au dem Piale hat er's ahtan – wie bsesse ischt die vom Geischt des Paters.«

»Und dich sogar hat er zom Narre gmacht? Daß du glaubscht, mer könn seim Schicksal net entrinne? Blödsinn! Bloß recht z' wolle braucht mer!« – Wehmütig schüttelte Wendelin den Kopf: »Ob du wolle tuscht oder net, ob du Meischter oder Stümper bischt – älles kommt vom Schicksal! Du selber bischt nix – ond ausrechne könnt i, warom dees älles grad so kommen mueß ond net anders – konstruiere könnt i's – wenn i auf meim Glasbergle wär, wo der Krischtall die [141] ganze Welt abspiegelt.« – »Dei Glaasbergle kann mir gstohle bleibe!« meinte Uli patzig. Er bereute aber sofort seine Schroffheit und streckte dem Freunde die Hand hin: »Nicks für unguet, Wendelin! I kenn mi selber net, so wild bin i heut. Waas du gsagt hascht von Pia und der ganzen Kloschterei, dees macht mir haltelend z' schaffe.«

Versöhnt ergriff Wendelin die Hand: »Guet meinscht du's, Uli ... Ond wer weiß, ob dir's net glückt, die Pia zu rette. Du bischt e Mann der Tat, ha ...« Wie Sonnenschein glitt es über Ulis Gesicht; sein herzliches Verhältnis zu Wendelin war wiederhergestellt. Und dieser schien seine beschauliche Art wiedererlangt zu haben. Als handle sich's um eine Schachaufgabe, fragte er: »Mit Gewalt würdescht die Pia befreie, wenn sie im Kloschter wär? Wie meinscht dees?« – »Mei Revolverle nimm i!« – »Ond?«

Die Abenteuerlichkeit des Plans schien Wendelin mehr zu fesseln als ein praktisches Interesse. In einer Stellung, als drohe er mit gespanntem Revolver, fuhr Uli fort: »Der Aebtissin sag i: Heraus mit der Pia! Sonscht ...« – »Sonst tätest du sie verschieße?« – »Die Aebtissin? Auf Weible schieß i net!« – »Waas willscht na mit deim Revolverle?« – »Mi tät i verschieße – mi!« stieß Uli heftig hervor. – »Uli!« sagte ich in zärtlicher Bewunderung, – »brav von dir, so ritterlich aufzutrumpfen – aber laß es lieber! Eine Aebtissin läßt sich nicht erweichen – du würdest in der Aufregung vielleicht wirklich die Pistole losdrücken.«

»Keine Ueberspanntheit, Uli!« meinte Wendelin. »Uebrigens könnt mer die Pia vielleicht dooch noch rette: mit dem Wolkestürmer könnt mer sieentführe!« Uli horchte auf: »Hast du ihn verbessert?« – »Einen ganz neuen han i austüftelt! Ihr wisset ja vom Dädalus? Wie der auf der Insel [142] Kreta gefangengehalten wurde, aber entfliehen wollte. Da verfertikte er für sich ond seinen Knaben Flügel und flog über die See. Diese Erfindung ischt der Menschheit verlore gange, i aber bin ihr auf die Spur kommen. Wenn i sie herausbracht hab, könnte mer's Piale aus dem Kloschtergarte entführe – durch die Luft! Na braucht sich mei Uli net tot z' schieße!«

Forschend starrte Uli den Freund an: »Ond wie denkscht du dir den neue Wolkestürmer?« – »E Krähe han i fliege sehn – na han i mir denkt: Nachahme kann i den Vogelflug net – aber benutze! Einen Schwebe-Apparat han i mir austüftelt – davor tu i große Vögel spanne, ond ziehe müsse sie den.« So hatten wir abermals etwas zu bestaunen. Ein schwebender Wagen, von Vögeln gezogen! Aber wir wollten's auch begreifen. Und Wendelin entwickelte seine Erfindung: Ein Ballon mit recht leichtem Gas sei nötig, nicht sonderlich groß brauche der zu sein ... habe ja nichts weiter zu leisten, als etwa drei Zentner in der Schwebe zu halten. Um diesen kleinen, spitz geformten Ballon durch die Luft zu bewegen, bedürfe es keiner erheblichen Triebkraft – drei vorgespannte Schwäne würden genügen. Die Vögel seien an einem Drahtgestell befestigt und würden vom Luftfahrer, der in einer Hängematte unterhalb des Ballons hängt, am Zügel, wie Pferde, gelenkt.

Freudetrunken machte mich diese Idee – das Märchen war Wirklichkeit geworden. Auch Uli schwärmte, obwohl ihm Bedenken kamen: »Werden die Schwäne net widerspenstik sein?« – »Dressiere müßt mer sie halt! Es wird eine Zeit kommen, wo jedes Haus seinen Schwanenstall hat. Will mer na durch die Luft fahre, spannt mer eifach die Schwäne vor's Wägle.« – »Und du meinscht, die Schwäne wären stark genug?« – »Wenn drei net ausreichen, nimmt mer halt fünf. Oder zwei Lämmergeier! Die sind so stark, daß sie ein Lamm durch die [143] Luft trage.« – »Aber wild sind Lämmergeier!« – »Ha, zähme müßt mer die! Onser Ackergaul stammt vom Wildpferd – durch Züchtung hat mer e geduldiks Viech erzielt.« – »Wendelin!« rief ich, »großartig! Zauberei ist das! In der guten alten Zeit, als es noch Feen gab, hatten die einen Luftwagen mit Pfauen bespannt. Auch heutzutage ließen sich Pfauen verwenden – prachtvoll würde das aussehn!«


*


Durch dies Gespräch aufgeregt, hatte ich nachts einen lebhaften Traum: Wie ein Vogel konnt' ich fliegen, mit den Armen flattern. Auch die Füße ließen sich dabei verwenden. Bewegte ich sie wie ein Schwimmer, der Wasser tritt, so schwebte ich sanft aufwärts. Freilich nur in höheren Regionen gelang dies Lufttreten. Wendelin, mit dem ich durch die Gassen einer alten Kleinstadt flog, hatte Mühe, sich zu erheben. Beängstigend wurde die Geschichte, als Spießbürger empört gelaufen kamen und nach Wendelin langten. Er strengte sich an, daß er keuchte, kam aber eher rückwärts als vorwärts, und fast konnte die schimpfende Volksmenge seine Füße berühren. »Tritt Luft!« rief ich ihm zu und war selber schon bei den Dächern. Vergebens, daß man aus Dachluken mit Stangen nach mir schlug, leichter wurde mir das Fliegen, freier hob ich mich empor. Doch ach, der unselige Wendelin geriet in die Klauen des Gassenvolkes – es war, als ob Hunde kläffend ein Edelwild zerfleischen.

[144] Die Mühlspinne

Ein Nachmittag in den Herbstferien war's, als unten bei Kuttlers ein Geschimpfe und Geschrei losging. Enzio war unter der Faust seines Vaters, der mordsmäßig wetterte. Gellend ging die Ladenklingel, und wie ich zum Fenster hinausblickte, flog Enzio, von einem Arm geschleudert, auf die Dorfgasse, daß er der Länge lang in den Staub fiel. Als er aufstand und in ohnmächtiger Wut plärrte, wurde hinter ihm drein, kaum minder unsanft, ein Handwägelchen expediert, dann unter einer wilden Androhung die Ladentür wieder zugemacht.

»Was ist los, Enzio?« fragte ich. Ein scheuer Blick aus den schwarzen Augen, und mürrisch wandte er sich – schämte sich offenbar vor meiner Mutter, die soeben gleichfalls am Fenster erschien und teilnehmend fragte: »Du sollst wohl etwas holen, Enzio, mit dem Wagen da?« – Er würgte sein Schluchzen hinunter: »Zur Neckermühl soll i! Mehlhole.« – »Na und? Das möchtest du nicht? Warum denn nicht?« Er schien unschlüssig, wie er seine Widersetzlichkeit begründen solle. »I ... i ... bi ... Gymnasischt! Dees ... Mehlhole im Wägle da ... paßt sich net ... für unserois!« – »Ach, dummes Zeug! Du bist ja noch ein Junge! Obendrein Dorfjunge! Geh getrost und hole das Mehl! Arbeit schändet nicht.«

»Ich komme mit!« rief ich, um Enzio zu trösten. Und weil meine Mutter nichts einzuwenden hatte, nahm ich meine [145] Schülermütze und lief hinunter. Enzio hatte seine Tränen getrocknet und blickte schon zuversichtlicher. Beide faßten wir den Griff der Wagendeichsel und einträchtig nebeneinander zogen wir los. Auf der Lustnauer Baumstraße raschelte welkes Laub, und aus den geplatzten Stachelschalen der Kastanien fielen die braunen Früchte, so daß davon unsere Taschen prall wurden. Enzios Gram war verflogen, und auch als wir in die noble Wilhelmstraße kamen, bekam er keinen Rückfall. Hinter dem Gymnasium ging's die Mühlgasse hinab. So hieß sie, weil es da mehrere Mühlen gab, die das Gefälle des vom Ammertal hergeleiteten Grabens ausnutzten. Wie eine Schlucht sah die Mühlgasse aus; sie bebte vom Rauschen und Surren der Mühlen. »Bischt in dr Neckrmühl scho gwä?« fragte Enzio, »der Müllergsell heißt Louis Gassenmeier – ischt bloß e Prolet, doch e gscheiter Kerle.« Die Steilheit der Gasse benutzend, setzten wir uns auf das Wägele – Enzio an die Deichsel, um sie zu lenken – und von selber rollten die Räder. Als das Wägele auf den Platz schoß, wo die Neckarbrücke beginnt, stand da der Torwart Fuchs, um von einem haltenden Zweispänner das »Pflaschtergeld« zu erheben. Da wir ihn fast anrannten, schimpfte er – worauf Enzio mit Frechheit diente.

»So isch reacht! Gib's em, Enzio!« hetzte der Müllergesell, der am offenen Tor der Neckarmühle lehnte. Sie war ein nüchternes, nicht hohes Gebäude mit abgeschrägtem Dachgiebel, an den Stadtmauerturm gelehnt, der in alter Zeit die Brücke beherrschte. »Das ist wohl der Gassenmaier?« raunte ich, und Enzio nickte. Eine verkümmerte Gestalt, bleich, bartlos. Mehlbestaubt die schlaffe Mütze, mehlbestaubt die nachlässig hängende Hose. Das graue Hemd, an der Brust offen, war über hagere Arme aufgekrempelt. »Dem Fuchs mueß mr eis drauf gebe auf sei borschtige Ssaukopf!« Nach diesem Giftworte streckte [146] Gassenmaier grinsend die Hand zum Willkommen. Etwas Lauerndes hatten die kleinen, graugrünen, rotumränderten Augen. Auffallend waren die Pockennarben, die das fahle Gesicht übersäten, als ob darauf Erbsen gedroschen wären. Eine Narbe am Halse schien von geschnittener Drüse herzurühren.

Spähend blinzelte mich Gassenmaier an: »Der Gymnasischt aus Norddeutschland? Dem's Wurschterle d' Nas verschlage hat, gelt?« Ich quittierte mit saurem Lächeln. Wir folgten in die Mehlstube, wo uns Surren und Tosen empfing. Nach Mehl roch es, gereiht standen weiße, pralle Säcke. Steinscheiben konzentrisch ineinander, von Treibriemen in Drehung versetzt. Aus dem Trichter darüber rieseln die Körner. Leert sich ein Mahlgang, so läutet eine Glocke automatisch, sobald die Mehlfalle nicht mehr belastet ist. Dann muß neue Frucht aufgeschüttet werden.

»Und's Mühlenrad?« fragte ich. – »Kommet!« erwiderte er und führte zu einer Falltür – eine Treppe ging hinab. Aus der dunklen Tiefe hauchte es feucht, laut war nun das Rauschen, Plätschern und taktmäßige Stampfen. »Lauschet, ihr Studentle!« sagte der Müllergesell behaglichen Spottes – »lauschet, waas die Räder schwätze? Dr Müller, dr Müller – stiehlt tapfer, stiehlt tapfer – e Sechstel vom Achter – hoho!« Indem wir hinabstiegen, wurde das Tosen so stark, daß man die Worte schreien mußte. Die Bretter, über die wir gingen, waren lose auf die Balken gelegt. Unter ihnen schoß das Wasser dahin, dunkelblank im Schein der Laterne.

Ich beugte mich übers Geländer, da donnerte der breite Schwall auf Schaufelräder – ächzend wälzten sie sich und trieften. Unter dem Gischt schimmerte grün die Flut. Einen so mächtigen Eindruck hatte ich nicht erwartet und riß die Augen auf. Nickend schrie mir Gassenmaier zu: »Gelt? Dees ischt e Mühlwerk!«

[147] Als er in die Höhe leuchtete, sah ich Seile, Balken, Zahnräder. Von oben dämmerte Tageslicht – ich spähte hinauf – wir waren in einem Schacht, durch die Oeffnung oben blaute der Himmel herein.

Nahe bei mir bemerkte ich etwas, das mich peinlich berührte: ein ausgebreitetes Spinnengewebe, mitten drin eine dicke Spinne. Gassenmaier, der meinem Blick gefolgt war, leuchtete mit der Laterne hin: »Mei Glücks-Spinn ischt dees!« Es war eine unheimliche Kreuzspinne, schwarz und weiß gestreift, graubepudert wie der Müllergesell. Regungslos lauerte sie, – hier und dort hingen im Netz ausgesogene Fliegen. Anzuglotzen schien uns das Raubvieh, zugleich nach einer Motte schielend, die um die Laterne taumelte. Da die Motte meinem Gesicht nahe kam, wehrte ich mit der Hand ab. Gassenmaier meinte, ich wolle seiner Spinne etwas tun, und hielt mir den Arm fest: »Spinne am Abend, erquickend und labend, gelt?« Dann haschte er die Motte, drückte sie tot und gab sie der Spinne ins Netz. Durchs Schallrohr seiner Hände rief mir Gassenmaier zu: »Au e Mühlteufel han i! Willscht sehe?« Und er drehte mich einer Tür zu, die mit Eisenblech beschlagen war. »Da tut der Mühlteufel wohne ond sei Großmütterle. Glaubscht net? Beileib! Mühlteufels Großmütterle ischt nämlich die Mahlkrott – e quappiks Viech – grad' scheint's, spaziert se irgendwo.«

»Eine wunderliche Mühle haben Sie da, Herr Gassenmaier. Uebrigens ist es schon mehr eine Fabrik.« – Er hielt das für ein Lob und nickte: »Net wahr! Ond viel besser tät sich die Fabrik rentiere, wenn mei Kabidalischt schlauer wär. Schlau mueß dr Mensch sei, wenn er's zu ebbes bringe will.« Er tippte sich auf die Stirn, als ob er da einen Schatz habe. Und wir begaben uns wieder zum obern Raum.

Das Knappenstüble war im Turme, den die Mühle in den Neckar vorschiebt. Eine Bank war durch übergebreitete Kissen [148] zum bequemeren Liegen hergerichtet. Bei einem Fenster lag auf dem Werkeltisch Hobel, Axt, Bohrer. »E rechter Müller mueß au Zimmerma sein. Hier gibt's auweil ebbes zu repariere. Aber jetzt kommt 's Bescht!« Aus einem Wandschrank holte er eine Flasche: »Schwarzwälder Kirschegeischt!« Ein Schnapsgläschen voll kippte er in seinen Mund, den Kopf zurückwerfend: »Ha! dees tut guet!« Das zweite Glas bot er Enzio an und dieser ahmte dem Beispiel forsch nach. Auch ich erhielt mein Glas und nippte vorsichtig. Feuer rann mir durch die Kehle, ich hustete.

Des Müllergesellen Gastlichkeit vergalt Enzio nobel mit Zigarren, und die beiden setzten ihre Glimmstengel in Brand, indessen ich durchs Fenster blickte. Drüben, jenseits des Neckars, war die Platanenallee, links die Brücke. Dicht unter dem Fenster kam grünweiß das Mühlwasser herausgeschossen, in den Fluß. Paffend bemerkte der Gesell: »So läßt sich's Müllerdasein ertrage – aber e Ssauerei ischt's dooch! E guets Kräutle! Davon derfscht mer e Kischtle besorge, Enzio! Ond waas macht dei Schweschter, die Linda? Blitzsaubers Weibsbild! Potz Wetter, hat die Auge! Wie Kohle! Ond tanze tut se! Himmel-Ssackerle, dees wär e Bräutle für mi! Wann i die hätt! Ka'scht net e Wörtle für mi einlege, Enzio? Sag, i wär ganz verschosse! Ond Geld han i au! Wer weiß, wozu i's noch bring! Mei Glücks-Spinnle tut für mi spinne. Enzio – wir send ons einik, gelt? Einschtweile bin i noch Galeeresträfling in der Mühl da – aber's kommt e bessre Zeit! Der Johann Moscht wird dem Kabidal den Garaus mache. Ssauhund send die Kabidalischte! Bloß daß mir's zu lang dauert mit dem Moscht sein Omsturz. Drum bin i net grad Sozialischt – bin au net Kabidalischt. Sozial-Kabidalischt bin i – ond wenn Linda ihre Aussteuer bringt, werd i Milljonähr!«

[149] Beim Madeere-Beck

»Die schönen Tage von Aranjuez sind nun zu Ende!« seufzte mein Vater, als er mit mir von Lustnau nach Tübingen ging, wohin wir übersiedeln mußten. Die Bäume der Landstraße griffen mit leeren Armen in kalten Herbstdunst, dürr raschelte das Laub unter unseren Füßen, geschorene Wiesen waren von Reif versilbert. Dem Fuhrwerk, das unsern Hausrat zur neuen Wohnung beförderte, folgten wir in gedrückter Stimmung, als wär's ein Leichenwagen. Und allerdings wurde unser schwäbisches Dorfidyll gewissermaßen zu Grabe getragen. Aus dem Obst- und Rosengarten, wo Immen summten, aus der Nachbarschaft sonniger Weinberge und Schnützelputzhäusel sollten wir unser Heim in die Altstadt verlegen, in die Neckargasse, wo Marktleute strömten und Wagen rasselten.

Das Haus lag dicht gegenüber dem Chorschiff der Stiftskirche und war ein uraltes Kleinbürgernest. Mit vorgekragten Stockwerken, krummen, rissigen Balken und einem steilen, schadhaften Ziegeldach. An der Außenwand war in Stein gemeißelt: Dies haws ward 1493 erbawt. – Ein daneben befindliches Holzschild nannte die »Bäckerei von Forstbauer«. Gebacken freilich wurde hier nicht, bloß Backware verkauft. Dazu Getränk, das mit Nachsicht zu genießen war. Weil der Beck einmal – vor Jahrzehnten – einen gezuckerten Krätzer als »Madeira« verzapft hatte, war er von den Studenten »Madeere-Beck« getauft, [150] und so hieß er seitdem im Volksmunde. Wer das Haus zum Madeere-Beck betreten wollte, stieg vom schmalen Bürgersteig ein paar Steinschwellen empor und war nun in einer Nische. Rechts führte die Tür zur Gaststube, wo der Madeere-Beck, ein gebeugtes Männlein mit wirrem Grauhaar, den Marktleuten seine Wecken auftischte, dazu Schwartemage, Backsteinkäs und einen sauren, desto mehr angepriesenen Moscht. Links bei der Hauspforte war das Fenster, hinter dem die Madeere-Beckin zu sitzen pflegte, eine knochige Alte mit einem hängenden Kropf. Ihre fischartig vorstehenden Augen lugten durch die Scheibe nach der Kundschaft. Dem Mädle, das Brot holen wollte, reichte sie durch die Fensterklappe den Brotlaib und strich das Geld vom Außenbrett ein.

Des Hauses Haupttür war aus schwerem Holz, mit großköpfeten Nägeln beschlagen. Ueber der Eisenklinke befand sich ein Klopfer aus Eisen, wie er in alter Zeit statt der Klingel diente – eine Art Hammer, mit dem man pochte, daß es durchs Haus dröhnte. Vom dunklen Hausflur, der eine Falltür zum Keller hatte, gelangte man auf abenteuerliche Weise zu den oberen Stockwerken. Aus wackligen Steinplatten war die Treppe gefügt, ähnlich einer Wengert-Steige. Nahezu ohne Licht, bog sie nach links, und die auf dieser Seite schmalen Stufen machten das Emporsteigen für den Uneingeweihten bedenklich. Wenn die Hand nach einem Geländer tastete, fand sich nur ein Strick – mittels dieses urwüchsigen Anhaltes mochte man sich emporarbeiten. Die ersten Bewohner des Oberhauses, die sich bemerkbar machten – durch Laute und durch Duft – waren eine Kuh, ein Schwein und ein paar Gänse, untergebracht in einem finstern Stalle, der hier im ersten Stockwerk lag. Wand an Wand mit solch wirtschaftlicher Einquartierung, nach der Straße zu, hatte das madeerebecksche Ehepaar seine Privaträume. Sie dienten zugleich als Speicher für Mehl, Bohnen, Erbsen und [151] getrocknetes Obst. Vor den Fenstern hingen an Schnüren Maiskolben, schön gelbe Reihen, an dicke Halsketten aus Bernstein mahnend.

Zum zweiten Stockwerk führte eine steile Holztreppe, und hier war die neue Wohnung der Familie Wille. Die drei Vorderzimmer ließen es an Breite und an Helligkeit nicht fehlen, waren aber niedrig und bäurisch. Die Wände ungeschickt mit Kalk beworfen, weiß getüncht. Die Decke ruhte auf ungeschlachten, etwas krummen Balken. Vor der kalten Küche hatte meine Mutter eine Scheu. Mit Backsteinen war sie gepflastert, hatte einen Ausguß, der durch eine Mauerlücke in den Hof führte, und diese Oeffnung stand in peinlich ventilierender Wechselwirkung mit einem Herdrauchfang, der so frei in den Schornstein führte, wie's unsere Altvorderen eben gewohnt waren.

Was im Hinblick auf die rauhe Zeit tröstete, war unsere Holzkammer überm Salon der Madeere-Kuh. Gleich nach vollendetem Umzug war sie mit zersägten Buchenstämmen angefüllt. Mit dem Beile waren die Blöcke noch zu zerscheitern, und das geschah auf einem Hackeklotz, der sich in der Holzkammer befand.

Daß diese derbe Hantierung mir von der Mutter anvertraut war, paßte dem Betätigungsdrange des hochgeschossenen Jungen. Das Beil in der Faust, kam er sich mannhaft vor und hieb, daß die Scheiter flogen. Einen Dämpfer erhielt mein Eifer durch eine Entdeckung: die Holzdielen der Kammer waren vor Alter so morsch, daß ich mit aufgestampftem Stiefelabsatz einen Eindruck machte, als sei Pferdehuf in Erde gedrückt. Indem ich einen tüchtigen Buchenknubben vorhatte und das Beil mit äußerster Gewalt hindurchkeilen wollte, tat ich einen Hieb, daß der Hackeklotz in die Diele einbrach. Ein Glück, daß darunter noch Balken lagen – sonst wär' ich wohl durchgebrochen und der Madeere-Kuh auf die Hörner gepurzelt.

[152] Als die Familie bei der Abendlampe um den Tisch saß, brachte meine Mutter, der ich gebeichtet hatte, den Vorfall zur Sprache und jammerte: »Mit dieser Wohnung sind wir gründlich reingefallen. Ich glaube, der Schwamm ist drin. Da hinten ist alles verstockt und zermürbt. Das kommt von den feuchten Stalldünsten, kommt von der Madeere-Kuh. Eine unerhörte Verschrobenheit, im ersten Stock, in der Beletage, eine Kuh zu halten. So was kommt nur in diesem Spießernest vor.«

Mein Vater antwortete nach Ueberlegung: »Bedenke, wie Tübingen mit der Landwirtschaft verwachsen ist. Jeder Hausbesitzer hat vor der Stadt ein Aeckerle oder Weingärtle – und unserm Madeere-Beck ist durch seine kropfige Ehehälfte ein Stück Land eingebracht, das eine Kuh nähren, dazu noch Kartoffeln und Welschkorn tragen kann, um Schweine und Gänse zu mästen. Die Kuhmilch kann er für seine Kaffeegäste brauchen. Uebrigens beziehen wir die Milch von der Madeere-Kuh. Was mir, nebenbei gesagt, nicht koscher vorkommt. Das arme Vieh, das so gut wie gar keine Sonne kennt und keine frische Luft, kann nicht gesund sein wie eine Kuh, die ins Freie kommt.«

»Wie?« fragte ich – »die Madeere-Kuh kennt keine Sonne und kommt nicht ins Freie? Wird sie denn nicht von Zeit zu Zeit auf die Weide geführt?« – »Sprich nicht gedankenlos, Junge!« sagte die Mutter. »Die Kuh kann doch nicht die Treppe 'runter spazieren und wieder herauf.« – »Es gibt noch einen andern Zugang zum Stall –,« entgegnete ich – »dies Haus ist an den schrägen Schulberg gebaut – zu dem führt vom Kuhstall eine bretterne Brücke – ich habe mal gesehn, wie von dort ausgemistet wurde.« – »Das mag sein,« – sagte mein Vater – »aber mit der Kuh machen die Leute nicht solche Umstände, daß man sie spazieren führt. Die hat wohl kaum als Kälbchen die Wiese gesehn. Sie kommt mir vor wie [153] Kaspar Hauser.« – »Wer ist denn das?« – »Den hatte man bald nach seiner Geburt geraubt und in ein finsteres Gefängnis gesteckt – da ist er aufgewachsen, so daß er als Jüngling von der Welt nichts kannte als seinen Wärter und die lichtlos öde Enge. Wie er nun auf einmal freikam, war er taumlig vor Verwirrung über all das Neue, Großartige, das ihm begegnete. Sonne, Blumen, Kornfeld, Himmelblau mit Wolken, nachts das prangende Sternenmeer, alles sah er jetzt zum erstenmal. Die Madeere-Kuh ist eine Art Kaspar Hauser.«

»Rasch verkaufen sollten sie das Vieh – oder schlachten,« meinte die Mutter. »Abgesehen von der Milch, die sie uns gibt, ist sie eine üble Eigentümlichkeit dieses Hauses. Nicht bloß den Stalldunst verbreitet sie, stört auch zu nachtschlafender Zeit mit ihrem Kettengerassel ... Oh, dies Tübingen! Hier ist alles rückständig und vermurkst. Die Gassen eng, ohne Sonne; die Häuser uralt, dumpfig, elend bäurisch. In manchen Quartieren soll der Krebs hausen. Wenn wir nur nicht in ein Krebshaus geraten sind! Oh! Daß uns das Schicksal in dies Schwabennest verschlagen mußte! Weißt du, wie es mir vorkommt? Wie die Madeere-Kuh!« – Mein Vater seufzte und blieb zuerst stumm, meinte dann: »Schade, daß wir nicht in Lustnau bleiben konnten! Da hatten wir Sonne und Luft. Freilich muß ich gestehn: Da hocktest du in der Wohnung, statt dich im Rosengarten zu sonnen. Aber so ist der Mensch! Was er hat, nimmt er nicht genug wahr!«

»Du redest, wie du's verstehst!« erwiderte meine Mutter. »Wenn ich im Haus zu tun habe, kann ich nicht wie eine Gräfin im Park sitzen. Uebrigens vertrage ich Gartenfeuchtigkeit nicht. Wir hätten eben weiter nach Süden ziehen sollen.« – »Wohin denn aber? Freiburg hatten wir in Betracht gezogen. Aber die Verhältnisse waren da nicht so günstig.« – »Sonne! Sonne [154] tut mir not!« klagte die Mutter leidenschaftlich. »Ich kann nicht genug Sonne kriegen, hat auch der Arzt gesagt. Schmoren möcht' ich in Sonnenglut. Südfrankreich wäre was für mich – Nizza, Avignon, Montpellier. Da gedeihen Apfelsinen und Feigen wie bei uns die Aepfel. Solch ein Sonnenland ist ein richtiger Garten Eden. Ja, wenn wir dahin gezogen wären!«

»Aber bedenke doch die Kinder!« – »Na ja! Ich weiß!« antwortete die Mutter bitter, »es ist eben ein Traum! Das beste Leben bleibt immer Träumerei. Das Schicksal narrt uns! Sein Glück phantasiert man sich zusammen – dann stellt sich heraus, daß es Seifenblase ist oder – wie du sagst – ein Glasberg. Manchmal denk' ich: Unsereins ist dazu verurteilt, im Engen, Dumpfen, Finstern zu hocken. Ein Kaspar Hauser ist man hier! Eine Madeere-Kuh! Hier versauert und verbauert man!« Schweigend stand der Vater auf, zündete sich ein Licht an und ging ins Nebenzimmer. Ich wußte, daß er an seiner Augenhöhle mit Höllenstein zu beizen hatte.

In dieser Nacht träumte mir von einer paradiesischen Landschaft. Sie hatte etwas vom Wengert an der Waldhäuser Halde, auch Schnützelputzhäuser waren da. In weißer Sonne saß die Mutter, ich hatte ihr Apfelsinen gebracht, wie sie leuchtend an allen Bäumen hingen. Feigen schmauste ich, die wild an den Wegen wuchsen. Meine Mutter sagte zu mir: »merci, mon enfant,« und ich dachte: So wird hier ohne Grammatik parliert – hier braucht man keinen Ssaubock!

Es war mir aber, als ob jemand riefe »Ssau-Beck« – und plötzlich zerstob mein Traum wie eine bunte Seifenblase. Als ob ihn jener Schlag zertrümmert hätte, den ich dröhnen hörte. Es war ein Schlag des Klopfers an der Haustür. Und ich war nicht im Südenparadies, sondern lag in meiner Kammer, die vom Hofe her einen matten Abglanz des Mondes bekam, so daß [155] ich den krummen Balken unterscheiden konnte. – Unten ging neues Klopfen los – Studenten waren's. Sie schwatzten, johlten; einer rief: »Aufgemacht, Madeere-Beck! Bring' uns Moscht ond heiße Weck!« Gelächter lohnte den Witzbold. Die Zechkameraden hatten sich darauf versteift, ihren Rausch mit einem derben Katerfrühstück zu dämpfen. Fanden aber keine Gegenliebe beim Wirt. Als er nicht erscheinen wollte, schwatzten sie noch eine Weile dummes Zeug; ein Baß blökte: »Im tühfönn Köll – lör sütz üch hür ...« Dann war die Bande wie tobsüchtig und brüllte: »Ssau-Beck!« Endlich entfernte sie sich – die Stimmen verhallten. Zuweilen kam noch ein Gemurmel. Aber nein, das war Novemberwind. Dann dumpf ein Stampfen, Kettenrasseln – unsre Madeere-Kuh!

[156] Robinson im Winkel

Wie meine Mutter von ihrem Sonnenland, schwärmte ich von urwüchsiger Natur, von Seefahrt, Steppen-und Waldläuferei, von einem Leben, das alle brauchbaren Kräfte in freier Betätigung heranbildet. Früchte wollte ich pflücken, wo sie wild wachsen, oder durch Anbau gewinnen; Tiere jagen und züchten, die Hütte mir selber bauen, mein Boot zimmern, Kleidung und Gerät verfertigen. Mein Held war Robinson, der durch Selbsthilfe ein von Kultur unberührtes Eiland zum tropischen Glastelfingen gestaltet.

Unter den Freunden war's besonders Uli, der mich in solchem Idealismus bestärkte. Wendelin liebte weniger das Urwüchsige als Kunst, Wissenschaft, feine Lebensart. Immerhin spendete er Beifall, wenn Uli grollend loslegte: »Engbrüschtige Menschheit! Deine Gesittung mag i net! Die Naturkinder in der Südsee ond in Afrika laß du in Frieden, statt deine Missionare ond Krämer auf sie zu hetzen. Was mr Kultur heißt, bringt dene nicks Guts! So wenik, wie's den Büffeln der Prärie gut getan hat, daß sie der Kulturmensch umgewandelt hat in Stallviecher, in Madeere-Büffel. Auch ons Pennäler will mr so komme. Aber wir dulden's net, gelt? Zum Kaschpar Hauser, der die Sonne net kennt, laß i mi net mache! Unsre Hörner wolle mr brauche! Die freie Welt tun mr dooch entdecke, gelt?«

Dieser naturhafte Trieb ins Freie regte sich auch in anderen Mitschülern. Einer namens Gaiser war plötzlich verschwunden – »durchgebrannt«, wie man raunte. Aus dem Brief, den er [157] hinterlassen hatte, ging hervor, daß er gegen die Schule eine unbezwingliche Abneigung habe. Er wolle – schrieb er – nach Brasilien, auf dem Rio Negro im Kanu als Fellhändler leben. Man möge ihm nicht nachsetzen – eher werde er sich totschießen als zurückführen lassen. Merkwürdig, daß Gaiser keineswegs zu den schlechtesten Schülern gehörte und durch seinen Schritt alles verblüffte. Seine Schweigsamkeit hatte bewirkt, daß er keinen Vertrauten hatte, und daß die Lehrer, obwohl sie seine Leistungen anerkannten, ihn fast übersahen. War nun Gaiser durch seine Tat der Held des Tages geworden, so stürzte er rasch von seinem Glasberg ab. Keine Woche nämlich war vergangen, so erschien er wieder in der Klasse, als sei nichts vorgefallen – hatte sogar einen Entschuldigungszettel von seinen Eltern. Er machte dasselbe gleichgültige Gesicht, das er immer gemacht hatte. Von den Schülern war nichts aus ihm herauszubringen. Durch seine Eltern wurde bekannt, in der Nacht hab' er geklopft und sei, wie man geöffnet, schweigend eingetreten. Ohne weiteres hab' er sich seiner nassen Kleider entledigt und ins Bett ge legt. Kaum daß er etwas Nahrung, die ihm die Mutter reichte, hinuntergeschlungen habe, so sei er in schnarchenden Schlaf verfallen. Da die Lehrerschaft dem Ausreißer weiter nichts vorzuwerfen hatte, ging sie achselzuckend über den Fall zur Tagesordnung über. Ulis Versuch, Gaisers Vertrauen zu gewinnen, erzielte nichts, als daß dieser mit verlegenem Lächeln meinte: »Wemmer koi Geld hat, kammer nicks mache!«

Das war ein ernüchternder Wasserstrahl für meine Robinson-Schwärmerei. Enzio meinte, Gaiser sei e Stümper – mit Geld müss' mr halt hinreichend versehen sein – das hab' auch Gassenmaier gesagt.

Meine Robinsonade spielte sich, während der Winter ins Land geschnoben kam, zahm hinterm Ofen ab – in Gestalt von Handwerkerund [158] Erfinder-Basteleien. Es reizte mich, Ideen aus mir heraus zu verwirklichen. Ich tüftelte schnurrige Mechanismen zusammen: Windmühlenflügel bewegten sie, durch den Luftstrom am heißen Ofen getrieben. Aus Pappe, die ich bemalte, wurde ein Schmied, der beide Arme bewegte: während der linke die Zange mit dem glühenden Eisen zum Amboß streckte, schlug der rechte mit dem Hammer drauf. Das pinkende Geräusch brachte ich durch eine Drahtsaite heraus, gezupft von einer Federpose, die mit der Mühle zusammenhing. Variante dieser Grundidee war eine singende Harfenspielerin: Taktmäßig riß sie den Mund auf, verdrehte das Auge und griff in die Saiten – diese spannten sich von ihrer ellenlangen Nase nach dem ebenfalls langen Fuß, so daß Harfe und Sängerin in einer Gestalt vereinigt waren; hinter ihr war natürlich wieder ein Klimperwerk.

Was dazu beitrug, daß ich mich auf solche Basteleien warf, war das Gefühl meiner Unfähigkeit, das Epos vom Glasberg herauszukriegen. Die Poesie, die mir in Worten nicht gelang, wollte sich plastisch ausdrücken. In dieser Hinsicht fand ich besondere Freude an der Gestaltung einer Weihnachtskrippe. Unterm Tannenbaum auf Waldmoos war der Stall von Bethlehem mit der heiligen Familie, mit Engeln von oben, Hirten und allerlei Getier. Der Hintergrund zeigte, vom Monde beflimmert, den steilen Glasberg. Das Erfinden, Zeichnen und Tuschen, Kleben und Ausschneiden, diese Robinsonade im Winkel, verwob sich gemütlich mit den Stimmungen, die das Weihnachtsfest herbeiführte. Während der Adventzeit erwachte ich vom Chorsingen der »Pauper«. So nannte man ärmliche Knaben, die sich unter Führung ihres Gesangmeisters durch religiöse Morgenständchen etwas Geld verdienten, das ihre Hauskollekte zusammenbrachte. Aus hellen Kehlen scholl es bald fern, bald nah: »Vom Himmel hoch, da komm' ich her.«

[159] Auf die Weihnachtsromantik erfolgte eine neue Periode meiner Robinson-Schwärmerei, als wir Anfang März das Haus zum Madeere-Beck verließen – wir hatten einen Ersatzmieter gefunden. Unsere neue Wohnung war im Hause des Malermeisters Hebsacker im »Neckarbad«; so genannt, weil sich da ein paar hölzerne Badehäuschen befanden. Westliche Nachbarschaft war jenes Haus, wo nach seinem Verunglücken Herr Bolkendorf gemietet hatte, um Raum für Frau Kuttler und Rosel zu haben, die ihn pflegen sollten. Die zu beiden Häusern gehörigen Gärten bildeten ein einziges, durch keine Abgrenzung geteiltes Gelände, wo es Gemüsebeete, Rosen, Obstbäume und Lauben gab, auch eine ragende Tanne. Jenseits des rauschenden Flusses hob die Platanen-Allee das noch kahle Gezweig. Mit seinem Rücken drängte sich das Hebsackersche Haus an die Stadtmauer, und diese schob, nur einen Steinwurf von uns ostwärts, den alten Befestigungsturm vor, wo Hölderlin, der irre Dichter, lange gehaust hat. Dorthin erstreckte sich, unterhalb der Mauer, an sie gebaut, ein nach der Neckarseite offener Schuppen, wo früher einmal, wie es hieß, Tuchmacher ihre Gewebe gespannt hatten.

Jetzt gab es da Gerümpel und Brennholz. Aber noch etwas Seltsames: eine Kiste, so groß, daß ein Mensch darin Platz fand, wenn er sich zusammenkrümmte. Tatsächlich diente die Kiste selbem Zwecke. Einen Sonderling beherbergte sie nachts, sogar im Winter. Gewähren ließ man den »alten Faulhaber«, weil er arm war und es im »Gutleuthaus«, wo man ihn früher untergebracht hatte, nicht aushielt. Mit anderen Menschen zusammenhausen und nach Vorschrift leben, war ihm zuwider. Im Schuppen, sagte er, sei's gemütlich. Die frische Luft sei er gewohnt, in einer Kammer würd' er ersticken. Den Neckar hör' er gern rauschen, der Garten komm' ihm wie sein eigener vor, [160] hier dürf' er leben, wie's ihm passe, hier hab' er seine Heimat. Niemand legte dem alten Faulhaber etwas in den Weg, da er still für sich lebte und den Nachbarn gefällig war, obwohl ihm keine vorgeschriebene Arbeit paßte. Man gab ihm Essen und abgelegte Kleidungsstücke; etwas Geld verdiente er sich, ein Bettler mochte er nicht sein.

Als ich ihn mit Wilhelm Hebsacker, dem Sohn unseres neuen Wirtes, besuchte, saß der Graubart vor seiner Bettkiste und flickte einen zersprungenen Topf mit Draht. Willkommen schien ihm der Besuch nicht zu sein, scheu lugten die Augen unter grauen Augenbrauen. Einsilbig antwortete er auf Hebsackers Fragen, geriet aber schließlich ins Plaudern. Vom Fischfang erzählte er, den er mit Vorliebe betrieb. Nächstens werde er viel Fische fangen, meinte er; einen Nachen wolle er bauen. Auf die Frage, wie er das anzustellen gedenke, winkte er geheimnisvoll und führte uns zum Winkel des Schuppens, hinten beim Hölderlin-Turm. Da lag die Ruine einer Bodentreppe, bestehend aus zwei Balken mit aufgenagelten Brettern. Und es erklärte Faulhaber, wie sich draus das Fahrzeug zimmern lasse. Ich war vom Alten begeistert und raunte Hebsacker zu, das sei ein Robinson im Winkel.

Ihn allein zu besuchen, wagte ich bald, und es gab eine leidliche Verständigung. Ich erzählte vom weisen Diogenes, zu dem, als er sich grade sonnte, König Alexander herablassend sprach: »Ich möchte dir eine Gnade erweisen – was soll ich tun?« – »Mir aus der Sonne gehn,« antwortete Diogenes, der ebenso freimütig wie bedürfnislos war. Die Hofschranzen waren entrüstet über den Grobian, doch der König sprach: »Lassen wir ihn in Frieden! Er hat recht und könnte mich fast beschämen. Während ich unersättlich die Welt erobern möchte, hat er sich freigemacht von allen Dingen, an denen unsereins hängt. Wenn ich nicht Alexander wär, möcht' ich Diogenes sein.«

[161] Gespannt und nachdenklich hatte der alte Faulhaber zugehört; er nickte und nickte. Noch einmal mußte ich die Geschichte erzählen, und wie er alles begriffen hatte, blitzten seine Augen, er kicherte in sich hinein, wohlerhaltene Zähne zeigend. Als ich bald darauf wiederkam, grinste er: »Grieß di Goot, mei Alexanderle!«

Es war das letztemal, daß ich ihn sah. In der Frühe andern Tages fand man ihn tot. Am Neckar lag er, das Gesicht im Wasser. Er hatte sich waschen wollen, war ohnmächtig geworden, vielleicht infolge Schlaganfalls, und ertrunken. Den Leichnam tat man in die Bettkiste, darin hat man ihn begraben. Wären wir Knaben nicht durch die Schule verhindert gewesen, unserm Diogenes hätten wir die letzte Ehre erwiesen.

[162] »Ich bin ein Christ«

Confirmatio heißt Befestigung im Glauben. »Wer da will selig werden,« versichert ein Bekenntnis der Kirche, »muß vor allen Dingen den rechten christlichen Glauben haben – wer den selbigen nicht ganz rein hält, der wird ohne Zweifel ewig verloren sein.« – Ewig verloren! Unheimlich düstres Wort – ich konnte daran nicht glauben, so wenig ich im Grunde meines Herzens Beifall für Luthers Formel fand: »Wir sollen Gott fürchten und lieben.« Herrn Hainlin liebte ich, fürchtete ihn aber nicht im mindesten – wußte ich doch, daß er's immer gut mit seinen Schülern meint. Und nun sollte ich Gott fürchten? Ihn, der die Liebe ist? Als ob er geringer sein könnte als Herr Hainlin! Und zutrauen sollte ich dem guten Hirten, er lasse ein Schäflein ewig verloren gehen, bloß weil's nicht den Konfirmandenglauben hat?

Strenge Formeln wie jenes athanasische Kirchenbekenntnis paukte Naso mit dem Eifer eines Anwalts, der Gottes Sache führt. Sein Religionsunterricht galt ihm als die Vorbereitung auf das allerhöchste Examen. Die Braven befördert es zur Engelsklasse, die andern fallen durch, in den Schlund der Hölle. Dieser graulige Hinweis machte mir allerdings keine Kopfschmerzen. Mein Herzensgärtlein bewahrte sich einen Winkel, wo zwischen allerlei Eigengewächs das Blümlein Vertrauen blühte. Der liebe Gott – sagte ich mir – ist doch kein Schulmeister, der die Schüler mit albernen Formeln quält, mit Examenangst und mit einer Strafe, die noch viel bösartiger ist [163] als Tatzen mit dem Rohrstock. Dazu ist Gott viel zu gutmütig und weise! Sollte er wirklich am Jüngsten Tage ein Glaubensgericht veranstalten, das die Böcke von den Schafen absondert, so wird's damit nicht schlimm gemeint sein. Es wird mir schon gelingen, durch ein Gnadenpförtlein ins Himmelreich einzuschlüpfen – und schließlich dürfen Böcke wie Schafe auf der Aue bei den Sternblumen herumspringen. Ich stellte mir dies Gefilde als eine Art Glastelfingen vor. Allerdings schwärmte ich nicht bloß engelhaft, sondern oft recht bengelhaft. Zu Widerspenstigkeit reizte der Religionsunterricht. Für manches Lehrerwort hatte der Pennäler ein überhebendes Lächeln. Bisweilen stupfte einer verstohlen dem Nachbar in die Seite: »Glaubst du das?« Einmal, wie von der Hölle die Rede war, grunzte ich halblaut: »Bangemachen gilt nicht!« Die Beweggründe zu solchem Verhalten lagen mehr im Gemüt als im Verstande. Ich war kein Vernünftler. Die biblischen Wunder verwarf ich nicht. Befriedigten sie eine Sehnsucht in mir, so glaubte ich daran, wie an die Glasbergprinzessin und ihren Erlöser. Sonst schüttelte ich den Kopf.

Zum Beispiel die Verfluchung des Feigenbaums wollte mir durchaus nicht einleuchten. Den Feigenbaum soll Christus verflucht haben? Dies schöne, dies unschuldige Gewächs? Und weshalb? Weil keine Feigen an ihm waren zu einer Zeit, wo überhaupt keine Feigen gewachsen sein konnten! Für ein ganz ordentliches Verhalten wird also der arme Baum abgestraft, so schrecklich, daß er verdorren, ja ewig keine Frucht tragen soll. Das paßt nicht für einen Heiland! Wärich Christus, die Feigen, auf die ich Appetit hätte, würde ich rasch an den Baum zaubern – würde dann sprechen: Sei gesegnet, lieber Baum! Nun sollst du immer schon im Frühling Feigen tragen! Ja, ich würde die ganze Gegend in einen Garten Eden verwandeln. Dann könnten sich die Leute fein gütlich tun. Solche [164] Wunder würde ich tun, und so was traue ich auch dem Heiland zu. Wenn er das Töchterlein von der Totenbahre auferweckt – das ist ein gutes Wunder, daran glaube ich!

Statt der biblischen Geschichte, die meinem Herzen willkommene Anregung gab, machte sich in Nasos Religionsunterricht der Katechismus breit. Der kam mir vor wie ein verdorrter Feigenbaum. Luthers Werk bleibt mir groß und schön. Aber in der vorliegenden Form ist sein Katechismus für Kinder kaum geeignet. Manche Idee veraltet; und zuweilen befremdet die altertümliche Ausdrucksweise. Durch den Katechismus- Drill fühlten wir Schüler uns zur Gedankenlosigkeit angehalten, und das verdroß uns. Wenn die Klasse den Katechismus im Chorus plärrte – was Naso liebte – und die bei Luther übliche Formel kam: »Das ist gewißlich wahr,« sagten etliche Schlingel: »Das ist gewiß net wahr!« Schelmerei gab es auch beim Pauken der Kirchenlieder, deren wir die schwere Menge »auswendig« zu lernen hatten, während die Inwendigkeit zu wünschen übrig ließ. »Himmelan, ja himmelan soll der Wandel gehen,« begann ein Choral, und wenn diese Worte papageienhaft geplappert wurden, erfolgte verstohlenes Kichern – wir hatten nämlich einen Mitschüler namens Wandel; den stellten wir uns vor, wie er himmelan ging. Ein gleicher Fall war mir in Magdeburg vorgekommen. Da gab es einen Knaben namens Freudenthal – und wie eine Zwangsvorstellung trat mir der krummbeinige Freudenthal vor Augen, wenn's im Liede hieß: »Von uns weiche Jammertal! Zu uns komme Freudental.«

Der Konfirmandenunterricht trug nicht zur Vertiefung meines Glaubens bei. Wie hätte das auch sein können? Da war zunächst der »Helfer«, ein junger Hilfsgeistlicher, der männliche und weibliche Jugend in der Stiftskirche auf den Bänken der Sakristei versammelte. Während er seinen Nürnberger Trichter [165] ansetzte, um hier oder dort Kirchenweisheit einzuflößen, waren die übrigen Konfirmanden fast durchweg in andrer Richtung beschäftigt. Sie tuschelten, gaben einander Zeichen, spielten den Hanswurst, prügelten sich sogar, wo's verstohlen anging. Der Helfer hatte eine verschmitzte Art, seine Herde zu überwachen. Das eine Auge auf den Zögling gerichtet, der seine Frage zu beantworten hatte, luchste er mit dem andern seitwärts, wo sich ein paar geduckte Schlingel verdächtig machten. Ein drittes Auge schien er im Nacken zu haben; damit bemerkte er manches, das hinter ihm geschah – wandte sich dann blitzschnell und hatte den Sünder ertappt. Anscheinend mit Gleichmut trat er nun vor ihn hin – nur daß in seiner Miene Schadenfreude lauerte: »I tu's net gern,« – begann er salbungsvoll – »doch wer sein Kind lieb hat, der –züchtige es!« Zum richtigen Schlagwort wurde solch ein salbungsvolles Wort, und es erfolgte der Schlag mit einer Hurtigkeit, die den Delinquenten, wenn er auch den Arm zur Abwehr hob, stets überrumpelte. Manchmal pürschte sich der Helfer unauffällig an sein Opfer heran und mit dem Zitat: »Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs« war, schwapp! die Exekution erfolgt.

Da ich in Magdeburg keine »Kinderlehre« genossen hatte, die in Württemberg die Vorstufe des Konfirmandenunterrichts bildet, so wurde ich vom Herrn Dekan, dem geistlichen Oberhaupt Tübingens, beordert, noch besondere Stunden von ihm zu erhalten. Nebst drei anderen Pennälern, die ebenfalls rückständig waren, saß ich in seinem Studierzimmer um den runden Tisch, wo die Lampe in gemütlicher Dämpfung leuchtete. Seine dicke Bibel hatte jeder aufgeschlagen, und abwechselnd wurde daraus vorgelesen. Kapitel aus Paulus-Briefen. Sie blieben mir ein salbungsvolles, sonderbar dunkles Gerede, das nicht zu Herzen ging. Dem Dekan kann ich nichts weiter nachsagen, als [166] daß er zu den vielen Geistlichen gehörte, die ihres Berufes mit lederner Amtlichkeit walten. Schuld hat die Ausartung der Religion in einen von oben angeordneten Formeldienst. Anstatt vor allem darauf auszugehen, das Sehnen und Suchen der Menschen, die höhere Seele zu wecken und zu entwickeln, stellt sich der Kirchenbetrieb als ein Gemächte von Fachleuten dar, die es nicht fertigbringen, tausendjährig aufgehäufte Gottesgelahrtheit beiseite zu lassen, damit Kirche und Leben nicht mehr durch einen Wall voneinander getrennt sind.


*


Gekommen war der große Tag, an dem ich konfirmiert werden sollte. Damit der Neuling in die Gemeinschaft der Heiligen einträte, wie es unter wohlanständigen Christen Brauch, lag in der Kammer alles Nötige bereit: schneeweiße Wäsche, der feierlich-schwarze Anzug, schwarzes Hütchen, schwarze Handschuhe. Nach hastig eingenommenem Frühstück stand ich eingekleidet vor den Eltern, die den langen, storchbeinigen Jungen in männerhaftem Gehrock nicht ohne Rührung musterten. Die steife Wäsche, der zwängende Anzug und meine neue Würde brachten mir eine unnatürliche, gereckte Haltung bei. Die Eltern waren ebenfalls in feierlicher Kleidung, und wie vom Turm die Glocken läuteten, begaben wir uns zur Kirche.

Die Konfirmanden, denen ich am Portal begegnete, steckten in ihrer schwarzen Uniform unbeholfen. Die behandschuhten Finger hielten sie gespreizt, sahen auch sonst wunderlich aus. Besonders ein paar zu kurz geratene Weingärtnersknaben in langschoßigem Bürgerrock, der dem älteren Bruder gehören mochte oder schon das Wachstum der kommenden Jahre berücksichtigte. Auf den Bänken, rechts und links vom Altar, die den Konfirmanden zugewiesen waren, suchte jeder seinen Platz, was nicht ohne Murmeln und Drängeln abging. Der Helfer prüfte, ob [167] alles in der Reihe – und das war von Wichtigkeit, weil es sonst nicht geklappt hätte mit dem Beantworten der Katechismusfragen. Sorgsam war jedem seine Rolle einstudiert; eine Störung der Reihenfolge hätte die ganze heilige Handlung in Unordnung bringen können.

Wie wir nun lückenlos saßen, hüben die Knaben, drüben die schwarzgekleideten, mit Kränzlein geschmückten Mädchen, wurden unter dem Vorspiel der Orgel die schwarzen, zitronengelb beschnittenen Gesangbücher aufgeschlagen, ein Hüsteln ging durch unsere Reihen, und nun ging der Choral los:


Ich trete vor Dein Angesicht,

Du Schöpfer meiner Jugend!

Verwirf mein kindlich Flehen nicht

Um Weisheit und um Tugend.


Eifrig sang die Jugend, die sich als Mittelpunkt der Feier fühlte, hell waren die Kehlen, auch schon Brummstimmen gab es. Vor dem Altar stand in schwarzem Talar und weißen Bäffchen der Herr Dekan – ja, er war es wirklich, derselbe, den wir bei seiner Stubenlampe nicht sonderlich respektiert, sondern oft mit albernem Unfug gehänselt und geplagt hatten. Jetzt machte er einen hochwürdigen Eindruck. Tief und rein und getragen wie Glockengeläut klang sein Flehen um Segen, der solle niedertauen auf die frommgeneigten Häupter der Gemeinde: »Die Gnade des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes – Amen!« Aus der Bibel las er vom Bergprediger, der zu seinen Jüngern sprach: »Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solcher ist das Himmelreich.« Mit diesen zur Seligkeit bestimmten Kindlein seien wir Konfirmanden gemeint; drum seien wir hier erschienen, gleichsam an der Pforte zum Reiche Gottes.

[168] Ich kam mir schon fast verklärt vor und begriff, man habe mich deswegen in diese feierliche Tracht gesteckt. Die Handschuhe waren mir unbequem; da ich sah, daß andere Knaben sie abgestreift hatten, tat ich es gleichfalls. Rührung wandelte mich an, wie ich sah, daß Mütter ein weißes Tüchlein an die Augen führten, während die Väter ihr buntes Schnupftuch ausbreiteten, um sich geräuschvoll zu schneuzen. Meine damalige Eigentümlichkeit, bei lehrhaften Reden mich der Träumerei oder Beobachtung hinzugeben, ließ mich zu keinem Aufmerken auf die Predigt gelangen. Meinen Gefährten ging es kaum besser, und zwar deswegen, weil sie mit Unruhe die Prüfung erwarteten.

Mir machte diese keinerlei Sorge. Nicht als ob ich des Katechismus sicher gewesen wäre, sondern einfach, weil durch glücklichen Zufall auf mich die allerkürzeste Formel gefallen war. »Wer bist denn du?« lautete die Frage des Geistlichen, und ich hatte bloß zu antworten: »Ich bin ein Christ!« Diese vier Worte brachte ich mit fester Stimme heraus und setzte mich nach der Heldentat, im Bewußtsein, gerade mein Bekenntnis fasse das verzweigte, schwer begreifliche Glaubenssystem kurz und bündig zusammen, eine Welt in Gestalt einer Haselnuß.

Glatt von allen Konfirmanden, ohne Zwischenfall wurde die Prüfung bestanden; jedes Lämmlein ließ sein Stimmlein so erschallen, wie man's haben wollte, nirgends machte sich der schlimme Geist des Zweifels bemerkbar. Und so hatte die Gemeinde allen Grund, schließlich den Jubelsang zu intonieren: »Nun danket alle Gott mit Herzen, Mund und Händen.«

Ein gewisses »Danken mit den Händen«, wie es zum Abschluß der Konfirmation üblich war, brachte mich in eine Verlegenheit, die einen bitteren Tropfen in den Kelch meiner Andacht rinnen ließ. Als wir Konfirmanden nämlich aus der Kirche strömten, sah ich mich, dicht vor der offenen Pforte, dem [169] Kirchendiener gegenüber, der jedem Knaben oder Mädchen eine große Schale aus Messing hinhielt. Es warf dann der Konfirmand ein Geldstück hinein, daß es klapperte. Blanke Taler lagen da und forderten Nacheiferung. Ich aber hatte von dieser Sitte keine Ahnung gehabt und mich nicht vorgesehen. Ich stutzte ängstlich – Geld hatte ich keins, nicht einen Groschen. Mißtrauisch hatte mich der Kirchendiener ins Auge gefaßt, als ob er sagen wollte: »Halt, Drückeberger! Durchschlüpfen möchtest wohl, ohne zu zahlen, was mir nach frommem Brauche zukommt! Hab' ich nicht mein Teil beigetragen zu deiner Weihe, Lausbub?« Das waren offenbar die Gedanken des Kirchendieners, und wie von einem Basiliskenblick fühlte ich mich gelähmt. Starrte ihn an – wollte gern zur Kirche hin aus, wagte es aber nicht, weil ich seinen schnöden Verdacht bestärkt hätte. Ratlos sah ich mich nach meinen Eltern um. Aber die staken im Publikum, das drüben dem Hauptausgang zuströmte. Bei einem plötzlichen Andrängen der Konfirmanden, als der prasselnde Geldregen den Kirchendiener von mir ablenkte, nahm ich die Gelegenheit wahr und schob zur Kirche hinaus. Ich schämte mich, als könne jeder mir ansehen, daß ich trotz meiner Versicherung, ich sei ein Christ, keinen Taler übrig gehabt hatte für das christliche Opferbecken.

So bist du, Menschenherz! Soeben glaubst du die Beziehung zum Ewigen erfaßt zu haben, und schon reißt dich aus deinem neuen Himmel der scheele Blick des Kirchendieners oder vielmehr die eitle Sorge, es könne, was Hinz und Kunz von dir denkt, deiner Reputation unter den Erdenwürmern Abbruch tun. Kommt denn das Menschenkind je vom Busen der ärmlichen Erde los?

[170] »Dem unbekannten Gotte«

Den Konfirmandenspaziergang hatte man mir als große Sache hingestellt, und so war ich enttäuscht, als auf dem Schloßberg, wohin wir uns verabredet hatten, kaum ein Drittel der Knaben und Mädchen erschien; zumeist auch noch solche, die ich nur vom Ansehn kannte. Ein Trost, daß wenigstens ein paar meiner Mitschüler dabei waren: Freund Jahn und Enzio. Wendelin, den ich eingeladen hatte, war ausgeblieben, weil er meinte, als Katholik auf einem protestantischen Feste nicht ganz willkommen zu sein. Uli hatte gesagt, er sei ja bald siebzehn Jahre, also übers Lämmerhüpfen hinaus. Jahn verhehlte nicht seine Unzufriedenheit über die Zusammensetzung der Gesellschaft. Außer den paar Pennälern und wenigen Realschülern waren lauter »Gogen« gekommen. So lautet eine studentische Bezeichnung für die Tübinger Weingärtner und kleinen Ackerbürger. Ob die gogischen Konfirmanden »Rauhbeine« waren, wie die Pennäler sagten, konnte ich nicht beurteilen, weil ihre Mundart mir kaum verständlich war.

Nachdem unser Trupp durch Warten auf Nachzügler Zeit vertrödelt hatte, setzte er sich in Bewegung und trollte auf dem Kamme des Schloßberges dahin. Voran die Schar der Mädchen, Arm in Arm, schnatternd wie eine Gänseherde. Auf ihre Kränzlein, ihre langen schwarzen Röcke und weißen Taschentüchlein waren sie stolz und schielten zurück zu den Knaben. Wir aber taten, als machten wir uns nichts aus ihnen – nur daß ein [171] Gog herausfordernd grölte: »O Mäd – chenn – vom Lan – dee, wie bischt du – so – scheen!« Und dann wurde gekichert.

»Warum sagt mr eigentlich das Mädchen?« philosophierte Jahn – »'s ischt doch feminini generis – müßt also die Mädchen heißen, gelt?« Die Bemerkung kam mir tiefsinnig vor, doch fand ich einzuwenden: »Mit demselben Rechte könntest du fragen, warum man das Weib sagt, und nicht die Weib.« – »Ihr ssaudumme Kerle!« belehrte Enzio – »weil's Mädle noch keine Frau ischt – sondern erschtwerde will! So Backfisch send halt nicks!«

In diesem Punkte schienen wir einer Meinung. Im stillen allerdings verhehlte ich mir nicht, von klein auf eine Scheu den Mädchen gegenüber gehabt zu haben, eine Schüchternheit, die an Ehrfurcht streifte. Ich sah in den Mädchen eine besondere Menschenrasse. Eine Rasse mit weichem Gesicht und langem Haar, das in Zöpfe geflochten und mit bunten Schleifen geziert war. Eine Rasse, die keine Hosen anhatte, wie wir Knaben, sondern Rock und Schürze. Eine Rasse, leicht einzuschüchtern, zum Aufkreischen oder Juchzen geneigt. Eine Rasse, zum Nähen und Stricken tauglich, zum Kochen und Waschen. Hatte ein junger Mann einen Schnurrbart und eine Anstellung, so durfte er aus der Mädchenrasse eine Braut wählen. Führte sie dann eine Zeitlang spazieren, artig, aber langweilig, an seinem Arm, als ob sie hinfällig wäre ohne männliche Stütze. Waren endlich eigene Möbel angeschafft, so wurde geheiratet, und es hieß: »Nun ist sie unter die Haube gekommen.« Frau war sie alsdann –feminini generis – aber auch schon ziemlich alt.

Näher getreten war ich der Menschenrasse Mädchen niemals – eine Schwester besaß ich nicht, meine Kusinen sah ich selten, und sie hatten nichts Jungenhaftes. Mit sonstigen Mädchen war ich bloß in flüchtige Beziehungen geraten, auf Geburtstagskränzchen, wo fade Zimmerspiele, wie Schwarzer Peter, gespielt[172] wurden. In Magdeburg war's Zeitvertreib für Bengel, Schulmädchen mit Schneeballen zu bewerfen oder, wenn sie Arm in Arm gingen, von hinten dazwischen zu springen und die Kette zu zerreißen. Daß kein Mädchen sich einfallen ließ, dem Missetäter eins hinter die Ohren zu hauen, kam mir sonderbar vor; ich wußte nicht, sollte ich die Mädchen deshalb verachten oder bemitleiden. Jedenfalls begriff ich, warum man sagte »das schwächere Geschlecht«. Den Ausdruck »das schönere Geschlecht« bezog ich nur auf ganz ausgewachsene Mädchen, besonders auf Rosel Funk; auch auf Isolde Kurz, die Tochter des verstorbenen Dichters – auf der Eisbahn hatte ich diese goldzöpfige Walküre bewundert. Mädchen mit kurzen Röcken kamen mir unbedeutend vor – sie hatten spillrige Strumpfbeine und benahmen sich albern.

Wie mir das so durch den Sinn ging, erschien eine Konfirmandin plötzlich an meiner Seite – von einem kleinen Abstecher kam sie die Halde herauf. In der Hand ein Schneeglöckchen, das sie dort gefunden hatte. Dicht bei mir, blickte sie mich strahlend an – sie hatte braune Augensterne und gesundrote Backen. Zwei dicke, dunkle Zöpfe hingen über die Schultern nach vorn. Etwas wie ein Blitz zuckte aus ihren Augen in mein Herz, und das klopfte nun, von süßem Bangen durchschauert. Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoß, und war vollends verwirrt, weil sie mich deshalb stutzig ansah. Peinlich war noch, daß auch Jahn meine Verlegenheit merkte. Er schwieg, und ich glaubte, auf ihn müsse die Konfirmandin denselben Eindruck gemacht haben. »Rechts!« sagte er, als bei einer Kiefernschonung der Weg abzweigte. »Drunte liegt Schwärzloch.« – »Und dahin gehn wir? Ist das ein Dorf?« – »Eine Bierwirtschaft an der Halde. Von altersher gehn die Konfirmande nach Schwärzloch. Mei Vatter sagt, Schwärzloch heißt Swertis-Wald – Heiliktum des heidnischen Schwertgottes. [173] Zu dem seien die Alemannen an ihrem Jugendfescht gewallfahrtet – daraus hab sich später der Konfirmandespaziergang entwickelt.« Es war mir lieb, daß Jahn plauderte – unauffällig konnte ich dabei die Konfirmandin mit den braunen Zöpfen beobachten. Vor mir ging sie nebst den anderen Mädchen und übertraf diese an Stattlichkeit und Rundung der Gestalt, obwohl sie dabei etwas Zierliches hatte. Anmutig war ihr Gang, der leicht in den Hüften wiegte. Mich nach ihr zu erkundigen, wagte ich nicht.

Als wir nach dem Bergwald hinabstiegen, öffnete sich der liebliche Blick ins besonnte Ammertal und auf die terrassenförmig gebauten Höhen jenseits. Hüben auf einem Hügelchen lag Schwärzloch, ein bäurisches Vorwerk mit Scheune und Stallung. Das für Gäste hergerichtete Haus war an die Ruine einer alten Kapelle angebaut, und es gab da verwitterte Steinmeißelungen, Tiergestalten, von denen Jahn behauptete, sie seien aus der Heidenzeit. Das war die Zeit, – dachte ich – in der die Märchen spielen – da kam noch Wunderbares vor. Heutzutage geht alles langweilig nach dem Schnürchen. Ich habe zwar versichert, ich sei ein Christ, passe aber zu den heidnischen Alemannen besser als in unsre Kirche. Ob vielleicht dieser Heidentempel die verlorene Märchenkirche ist? – »Höre mal, Jahn, eine Idee! Wir sollten eine neue Religion gründen! Und solch heimlicher Gott, wie der Swertis hier, sollte verehrt werden.« – Jahn sah mich groß an und nickte. Doch ihm kam das Bedenken: »Wer weiß denn aber Genaues vom Swertis?« – »Das ist ja gerade das Schöne, daß wirnichts Genaues von ihm wissen. Wenn's einen Swertis-Katechismus gäbe, möcht' ich da kein Konfirmande sein. Ich liebe das Geheimnisvolle.«

Ueber die weiteren Vorkommnisse dieses Tages weiß ich nichts zu berichten, als daß wir an Brettertischen saßen, daß die Mädchen Milch tranken, die Knaben Most oder ein kräftiges [174] Bitterbier, zu dem das dunkle Brot mit Backsteinkäs mundete. Volkslieder wurden angestimmt, Witze gerissen, kindische Faxen gemacht. Den Uhu und den Affen, die in Käfigen zur Schau gestellt waren, neckten die Konfirmanden. Das braunäugige Mädchen stand auch dabei, aus einem Zuruf entnahm ich, daß es Rickele hieß. Und dachte an Justinus und sein Rickele. Die hatten sich ja auch bei einer geheimnisvollen Kapelle gefunden.

Die Flasche Bier, die ich getrunken hatte, war mir zu Kopfe gestiegen, ich lärmte mit den andern. Als wir bei Sternenschimmer heimgingen – diesmal im Tal – bildeten Knaben und Mädchen bunte Reihe, Arm in Arm, zwei lange Ketten. Durch Johlen, durch Hin- und Herwanken nach Art der Angesäuselten und durch Zigarren, die von Halbwüchsigen gepafft wurden, glaubte man, den Erwachsenen näher zu sein. Ich war so albern, durch flegelhaftes Benehmen, das mir männlich vorkam, meiner Braunäugigen auffallen zu wollen. So schloß meine Konfirmation in recht weltlicher Weise.

Einen weltlichen sowohl wie einen geistlichen Teil hatte auch die bald folgende Abendmahlsfeier. Das weltliche Abendmahl bestand darin, daß die am Portal der Stiftskirche versammelten Konfirmanden gemäß einer alten Stiftung Weizengebäck erhielten. Aus Körben wurden jedem Erschienenen ein paar Wecken gereicht, und sogleich biß er tapfer hinein.

Der folgende Sonntag brachte das kirchliche Abendmahl: Leib und Blut ihres Heilands sollten die Eingesegneten genießen. In meiner Erinnerung sind folgende Erlebnisbilder geblieben: Da meine Mutter behauptete, das Abendmahl solle man nüchternen Magens nehmen, genoß ich als Frühstück nur Pfefferminztee mit Milch. Das Abendmahl, das ich mit Spannung erwartete, wurde vor dem Altare gereicht, und zwar von zwei Geistlichen. Von einem wurde dem Teilnehmer ein kleines [175] Gebäck in den geöffneten Mund gelegt. Es schmeckte pappig, war eine Oblate, wie man sie zu damaliger Zeit auch als Briefverschluß anwandte. Der andere Geistliche hielt einen schweren Kelch aus blankem Metall hin – daraus nahm der Andächtige einen Schluck. Mir kam der Wein süß und feurig vor, und ich tat ein paar herzhafte Züge, als ob es gelte, auf diese Weise meinen Eifer zu erweisen. In langen Reihen traten die Teilnehmer zum Altare, und wenn einer die Spendung erhalten hatte, war gleich der nächste da. Inzwischen hatte der Kirchendiener mit dem weißen Tuch den Rand des Kelches abgewischt. Fortwährend sprachen die Geistlichen bei der Darreichung die Formel: »Nehmet hin und esset, das ist mein Leib, der für euch gegeben wird – solches tut zu meinem Gedächtnis. Desselbigen gleichen nahm er auch den Kelch, dankte, gab ihnen den und sprach: Nehmet hin und trinket alle daraus – dieser Kelch ist das Neue Testament in meinem Blut, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Solches tut zu meinem Gedächtnis.«

In einem Taumel frommen Staunens hatte ich das Abendmahl empfangen. Eine geheimnisvolle Gefühlswoge durchflutete nebst Orgelsäuseln das Gotteshaus. War das der Heilige Geist? – Lebendig ist mir noch die Gestalt meines Schreiblehrers, des Herrn Kleinfelder. Vor dem Tisch des Herrn neigte er sich fortwährend in frommem Eifer – so daß der Geistliche Mühe hatte, den Kelch an seinen Mund heranzubringen. Ein wunderlicher, aber auch rührender Anblick.

Am Abend des Tages hatte ich einen Gang durch die Stadt. Wie ich an den Altar dachte, wo ich heute gestanden, kam mir eine der Bibelstellen in den Sinn, die Eindruck auf mein Gemüt gemacht hatten: die Geschichte von Paulus in Athen. Wie er einen Altar fand mit der Aufschrift »Dem unbekannten Gotte« – wie er dann, von dieser Idee begeistert, zum Volke redete:

[176] »Nun verkündige ich euch denselben, dem ihr unwissend Gottesdienst tut.« Das war nun auch für mich ein andachtsvoller Ausblick – auf ein Geheimnis, tief und schimmernd, wie droben die Milchstraße, zu der ich aus dunkler Gasse emporstarrte. Dann fiel mein Blick auf die finster ragende Stiftskirche, an deren Altar ich heute getreten war, einen Gott suchend, der mir unbekannt blieb, obwohl ich so sicher meinen Katechismus hergesagt hatte. Oder war er mir doch nicht ganz unbekannt? Hatte nicht heute der Prediger gesprochen, Gott sei die Liebe? Etwas von ihrem heiligen Schauer hatte schon das Herz des Kindes berührt. Hingebend staunte ich zur ewigen Sternenhalle empor. Und hörte den Apostel predigen: »Wohlan, ihr Männer von Athen! Nicht in Tempeln hat Gott seine Wohnung, nicht in Bildern von Stein, nicht in Formeln der Menschen! Sondern Gott ist unseres Herzens reine Sehnsucht. Wir sind göttlichen Geschlechts – und sollen seine Kinder sein – in ihm leben, weben und sind wir.«

Was solche Worte ausdrücken, war dem Knaben nicht bewußt, war Gefühl, Ahnung. Erst auf der Höhe meines Lebens ist mir klar geworden, inwiefern ich mich als Konfirmand keinem Katechismus-Gotte, sondern dem Unbekannten konfirmiert und einverleibt fühlte. Alles Bekannte hat etwas Enges, Gewöhnliches, doch meine Sehnsucht suchte eine Lebendigkeit, die übers ärmlich Beschränkte hinausflutet ins wunderbar Unergründliche. Am Altar des unbekannten Gottes fleht das Erdenkind, eins mit ihm zu werden, ratlos, wie das könne geschehen. Und sieh, der sonst Unfaßbare steigt zur Erde nieder; als Speise dem Geschöpf eingefleischt, will er's in seine Ewigkeit einverleiben, emporreißen zur himmlischen Heimat.

[177] Die Insel Kreta

Es kam dahin, daß der Glasberg, den ich bisher nur von der romantischen Seite gesehen hatte, mir bösartige Wirklichkeit erschien: das Pennal ist ein Glasberg, droben lockt die Prinzessin Freiheit, zu ihr streben alle Pennäler, doch mancher gleitet die glatte Fläche hinab. – Seit mir dies Schreckgespenst vor Augen stand, war's sogar mit der geringen Aufmerksamkeit, die ich dem Unterricht noch gewidmet hatte, vorbei. Dumpf und stumpf starrte ich auf mein Verhängnis. Schließlich wollte ich meine Sorge nur vergessen. Und stürzte mich von neuem in die Arbeit an meinem Epos. Während die Klasse brav dem Lehrer folgte, schmiedete ich Reim auf Reim und kritzelte die Verse auf den Zettel, den ich unter der Bank oder im Cäsar verborgen hielt. Wurde ich plötzlich gefragt, so benahm ich mich wie einer, der aus Traum erwacht, und konnte selten befriedigende Rede stehen.

Keinem Lehrer kam in den Sinn, es sei angebracht, in die Eigenart einzelner Schüler einzudringen. Nach der äußeren Schablone urteilten sie. Die Fehler, die jeder machte, wurden zusammengezählt, und hiernach fielen die Noten aus. Geradezu erpicht waren die Lehrer darauf, durch Ausfragen den Schüler aufs Glatteis zu führen und möglichst oft purzeln zu lassen. Wie blödsinnig diese Methode ist, empfand ich, seit ich Herrn Hainlins Unterricht genossen hatte. Er war beflissen, Fehler zu verhüten und, wo sie auftraten, des Uebels Heilung von [178] Grund aus anzubahnen. An des Zöglings schöpferische Kräfte wandte er sich, an seine Freude und Freiwilligkeit; niemals ging er unterdrückend, stets entwickelnd vor. Sein Einfluß wurde als Wohltat empfunden, als Anregung zum Lichten und Guten, das in der jungen Seele gedeihen möchte. Drum vergötterte ihn sein kleiner Schülerkreis. Aber Hainlin war ja nun Soldat in Stuttgart – bitter vermißten wir ihn, ich kam mir recht wie ein Schaf ohne Hirten vor.

Wendelin hatte sich meiner angenommen und mir des öftern lateinische Grammatik erklärt. Die Früchte waren nicht ausgeblieben, mehrere schriftliche Arbeiten leidlich ausgefallen. Auf den Rechenlehrer und besonders auf den tonangebenden Naso setzte ich Hoffnungen. Da geschah etwas, das meinen Abrutsch vom Pennal-Glasberg unaufhaltsam machte.

Mein Epos war bis zu jener Stelle gediehen, wo der bunte Vogel dem Ritter eröffnet, er müsse aus dem Garten der Prinzessin den silbernen Apfel holen. Die Strophe, an der ich arbeitete, sollte mit den Worten schließen:


»Den Silberapfel mußt du holen, Mensch.«


Einen Reim auf »Mensch« indessen fand ich nicht, wie ich auch grübelte. Zu helfen suchte ich mir durch Umstellung der Worte und notierte:


»Greif zu, o Mensch, und brich den Silberapfel.«


Doch abermals stand ich wie der Ochs am Berge – auch auf Apfel gelang kein Reim. Wohl gaukelte mir etwas von »Krapfel« vor, doch diese Wiener Leckerei ließ sich in meinem Epos nicht anbringen. Während ich sonst spielend reimte, war diesmal mein Schädel wie vernagelt. Auf einmal glaubte ich einen Ausweg aus der Klemme gefunden zu haben – von neuem wendete ich die Worte:


»Den Apfel hole, Mensch – er ist von Silber.«


[179] Es reizte mich, das malende Wort Silber als Reim zu verwenden. Aber zum Kuckuck, auf »Silber« wollte sich ebenfalls nichts reimen. Ich konnte doch nicht sagen:


»Sind auch des Baumes Blätter gelb und gilber.«


Für solch elenden Lückenbüßer hätte ich das Los des Marsyas verdient. Silber! Silber? Gibt es denn sonst kein Wort auf ilber? Himmel! Sollte Zuckerbeck, unser neuer Deutsch-Lehrer, den wir nach einem Stück im Lesebuch mit dem Spottnamen Adrast nannten, das schwächliche, rotlockige Männchen, am Ende recht behalten mit seiner Behauptung, es fehle mir an Phantasie? Er hatte es behauptet, weil ich nicht genug »blumige« Redensarten im Aufsatz anbrachte, wozu er uns abgerichtet hatte.

Ich war eine geknickte Lilie und starrte vor mich hin. Geradezu auf die große Landkarte, die neben der schwarzen Wandtafel hing. Ein Atlas war's der Alten Welt – hauptsächlich das Land der Griechen und die Heimat der Römer darstellend. Ich betrachtete die italienische Halbinsel und fand von neuem bestätigt, daß ihr Umriß – wie jeder Schüler weiß – eine verblüffende Aehnlichkeit mit einem Reiterstiefel hat. Dann stellte ich fest, die griechische Halbinsel Morea sei einem Maulbeerblatt ähnlich.

Im Süden liegt die Insel Kreta – berühmt durch ihr Labyrinth, dem der erste Flugkünstler Dädalus auf dem Luftwege entfloh. Mein Labyrinth war das Pennal, und aus dem gab's für mich einstweilenkein Entrinnen – der Luftwagen mit den Lämmergeiern war ja noch nicht konstruiert.

Uebrigens war die Insel Kreta noch durch etwas anderes berühmt: durch eine Scherzfrage, die beim Studium der Logik gern erörtert wird – sie lautet: »Alle Kretenser sind Quatschköpfe, behauptet einer, der aus Kreta ist – was folgt daraus?«

[180] Hat er die Wahrheit gesagt, so ist er selber ein Quatschkopf, und dann ist es unwahr, daß alle Kretenser Quatschköpfe sind. Folglich hat er vielleicht recht mit seiner Behauptung – dann aber sind doch alle Kretenser Quatschköpfe ...

Aus diesem geistigen Labyrinth kommt man nicht heraus.

Sinnend betrachtete ich die Insel Kreta. Einem liegenden Männchen ist sie ähnlich – und seht doch: Dies Männchen hat eine knollenhafte Nase – wie unser Naso! Donnerwetter ja! Ist das nicht Naso, wie er leibt und lebt? Sogar die Warze auf der Nase deutlich zu erkennen! Eine Schirmmütze hat er auf, wie sie Naso in seiner Häuslichkeit trägt. Es stimmt der Hals mit dem vorspringenden Kehlkopf, es stimmt die Geschwulst am Nacken – stimmt der zugeknöpfte, schlappe Gehrock. Und genau wie Naso hat diese Inselgestalt den Unterarm auf den Rücken gelegt. Meine Entdeckung versetzte mich in eine Lustigkeit, daß ich kaum imstande war, mein Gelächter im Taschentuch zu ersticken – was Nasos Mißtrauen erregte. O, wenn er geahnt hätte, welch einer ketzerischen Phantasie ich huldigte!

Kaum war die Stunde zu Ende, so schlug ich meinen »Atlas antiquus« auf, zeichnete die Insel Kreta genau ab und darunter das Konterfei Nasos. Hinzu schrieb ich noch boshafte Worte:

»Die Insel Kreta, wo es lauter Quatschköpfe gibt, sieht so aus:«



[181] »Wer aber hat mit ihr bedenkliche Aehnlichkeit



Als meine Mitschüler das sahen, brachen sie in Gewieher und Freudengeheul aus – ich war der Held der Klasse, und mein sonst gedrücktes Selbstbewußtsein schoß auf einmal derart ins Kraut, daß ich an mein Sitzenbleiben nicht mehr glaubte.

Doch das Unheil schreitet schnell. Als zwei Stunden später der Saubock Unterricht erteilte, kam es mir verdächtig vor, daß er mich wiederholt mit lauerndem Blick streifte. Sollte er von meiner Zeichnung wissen? Es wäre möglich gewesen, da sie in der Pause auf die Pennäler eine Anziehungskraft ausgeübt hatte, wie Käse auf Fliegen. Statt nun die Zeichnung zu verstecken, behielt ich Schaf sie im Lesebuch und lugte sogar von Zeit zu Zeit hin, mich daran weidend. Plötzlich schoß der Saubock auf mich los, nahm mir das Lesebuch weg und fand die Zeichnung. »Aha!« triumphierte er – »jetzt hänt mer's Mäusle in der Falle, gelt du?« Grinsend betrachtete er das Konterfei, trat sogar vor die Landkarte hin, um es mit der Inselgestalt zu vergleichen, und kicherte in sich hinein, daß ihm der Bauch wackelte. In der Klasse war niemand, der diesem Schein von Nachsicht getraut hätte.

Naso, der andern Tages mündliche Prüfung der einzelnen Schüler veranstaltete, ließ nicht merken, daß er etwas wisse von meiner Karikatur – nur daß er mir besonders schwere [182] Lateinstellen zum Uebersetzen aussuchte und die Prüfung in der Geschichte, die für mich ungünstig ausfiel, mit der Bemerkung schloß: »Ja ja, so geht's! Mit Ammonshörnle ond so vorsündflutliche Sächle weiß er Bescheid! Kein Wunder, daß die Sündflut, wenn sie hereinbricht, grad ihn verschlingt ... Setz dich, Wille!«

Gramvoll berichtete ich meiner Mutter und fügte hinzu, ich sei krank, das Herz tue mir weh, und wenn ich sitzenbleibe, wolle ich gar nicht mehr in die Schule gehen. – »Und was soll dann aus dir werden? Dein Vater meint, zum Landpastor könntest du's allenfalls bringen. Aber wenn du solche Abneigung vor der Schule hast, kommst du nicht zum Studium.« – »Pastor will ich nicht werden – ich bin ein Heide.« – »Heidenmäßig dumm bist du, das stimmt! Es wird dir nichts übrig bleiben, als Schuster oder Schneider zu werden. Deine Versmacherei ist eine brotlose Kunst. Ein Dichter, der nicht wenigstens den Doktor hat, bringt es zu nichts.«

Nach vielem Hin- und Herreden kamen wir dahin überein, daß ich die paar Tage bis zum Schulschluß nicht zur Schule zu gehen brauchte. Ein Stein war mir vom Herzen. Die geringschätzigen, ja schadenfrohen Blicke, die einzelne Mitschüler und Lehrer für den Durchgefallenen haben, blieben mir erspart.

Krank fühlte ich mich tatsächlich. Zu meiner Stärkung wandte die Mutter ihr Hausmittel an: Eigelb mit Zucker in Rotwein. Hiervon angeregt, saß ich am Tage des Schulschlusses am Fenster und brütete über dem »Poetischen Hausschatz«, einem Lieblingsbuche, dessen kleiner Druck zu meiner Kurzsichtigkeit beigetragen hat. Träumerisch ließ ich den Blick über Garten und Neckar schweifen. Die Platanen waren noch winterlich kahl, während an den Uferweiden schon Silberkätzchen hingen.

[183] Aus meiner Hingabe an das Lesen schreckten mich Rufe auf, Stimmen, die ich kannte. Ein paar Mitschüler standen drüben am Neckar – sie hatten mich am Fenster sitzen sehen – und Wursterle rief mir höhnisch zu: »Wille! Ssaupreiß! Sitzebliebe bischt! I bin versetzt!« – Wie ein Dolchstoß traf mich das – von Schmerz durchkrampft, zog ich mich vom Fenster zurück. Aber die Boshaften hatten mich erkannt, lachten und gröhlten:


»Hinter meinem Schwiegervatter

Seinem graußa Segredähr

Steht a dicker Eichaprügel –

Wenn der no beim Teifel wär!«


Die Tränen schössen mir hervor – verzweifelt warf ich mich auf das Sofa.

Gleich darauf schellte die Klingel unserer Wohnung – ich hörte Ulis Stimme, er sprach mit meiner Mutter –, sie antwortete kläglich. Rasch trocknete ich meine Tränen, aber es traten die beiden schon zu mir herein und sahen auf den ersten Blick, daß ich Bescheid wußte. »Siehst du, Bruno!« schluchzte meine Mutter, indessen Uli männlich auf mich zutrat und mir ebenso gutmütig wie fest die Hand drückte: »Nimm dir's net weiter zu Herze, Brunole! Kopf hoch! Wenn's auch recht schad ischt, daß mr net in derselben Klass' bleibe!« – »Ich hab's kommen sehn,« jammerte die Mutter – »aber der Junge wollte nicht auf mich hören, wenn ich sagte: Nimm die Grammatik vor! Latein bringt dich zu Falle!« – »'s Latein war bei ihm ganz erträglich – wenikschtens zuletzt – beim Herrn Hainlin hat er seine Lücken ausgefüllt. Ond überhaupt – er hätt versetzt werde müsse, wenn's mit Gerechtikkeit zugange wär.« – »Sie meinen also ...?« Mit Sie pflegte meine Mutter Uli anzureden. Und nun legte er Dinge dar, die er vom Pedell, bei dem er ja wohnte, in Erfahrung gebracht hatte: [184] In der ersten Versetzungskonferenz sei beschlossen, es sollten zwei sitzen bleiben – sonst werde in der fünften Klasse, wo unbedingt drei sitzen bleiben sollten, nicht hinreichend Platz sein.

»Was?« trumpfte meine Mutter auf – »weil kein Platz?« – »Eine Bank hänt mr zu wenik! hat mir der Puddel gsagt.« – »Zum Kuckuck, dann muß die Bank eben angeschafft werden!« – Uli zuckte die Achsel: »Bei ons herrscht dr Blödsinn!« – »Das scheint mir wirklich auch! Also weil man zu knaus'rig ist – oder vielleicht die Umstände scheut –, deshalb soll mein Junge in seinem Vorwärtskommen um ein Jahr geschädigt werden? Bedenken die Lehrer denn nicht, daß sie auf diese Weise ein Lebensschicksal ruinieren können?« Uli nickte: »Sie hänt recht, Frau Wille, Sie hänt recht! Ssauerei ischt dees, Gemeinheit!« Meine Mutter, die einen roten Kopf bekommen hatte, schlug die Hände zusammen und sank hilflos in einen Stuhl: »Oh, oh! Was wird Papa sagen zu der Bescherung – oh, oh!«

Während sie vor sich hinbrütete, raunte mir Uli zu: »Was dem Faß den Boden ausgeschlage hat, isch des Bildle gwä, wo du vom Naso g'macht hascht. Der Ssaubock hat's herumgehe lasse in der Konferenz. Ja ja, die Insel Kreta!«

[185] Die Räuber

Uli, der als Pensionär des Schuldieners im Gymnasium wohnte, hatte Wendelin Flammer, Jahn und mich auf seine Bude eingeladen. Auch Enzio war gekommen; seine Begeisterung für Ritter Uli hatte etwas Klettenhaftes.

Uli imponierte uns durch studentenhaftes Auftreten. Trug auf seiner Bude eine Samtjacke mit Schnüren, rauchte lange Pfeife und hatte eine Kanne Bier holen lassen. Auf dem Tisch lag Schiller aufgeschlagen, qualmend legte Uli die Hand darauf: »Schaut, ihr Buebe! Deescht der Codex onsrer Begeischterung! Höret, waas dieser Prophet spricht.« Wie einen Feldherrnstab die Pfeife ausgestreckt, deklamierte Uli: »Mir äckelt vor onserm tintenklecksenden Säkulum! Schöner Preis für euren Schweiß in der Feldschlacht, daß ihr jetzt in Gymnasien lebet – eure Onsterblichkeit in eme Bücherrieme mühsam fortschleppend ... Also, Konpennäler! Da hänt mer's ja! Onser Pennal meint der Schiller. Die Gymnasien nennt er ausdrücklich, gelt? Ond mit dem Bücherriemen kann er niemand sonscht meine als ebe uns! Ja, Tinte tun mer kleckse – also könnt mer auf die Art zu onsterbliche Helde avanciere! Pfui! sag i ...« Und in heller Entrüstung spie Uli aus. Hob dann die Pfeife wie ein Schwert und brüllte: »Ein – Pereat – dem – Tinte-Zuchthaus!«

Wir waren verdutzt, erhoben uns aber und suchten mannhaft einzustimmen: »Pe – re – at!« – »Also!« quittierte Uli, »löffeln [186] mr uns mit eme Verachtungsschlock!« Auch das taten wir, und zwar im Bewußtsein, dem Feind eine böse Schlappe beigebracht zu haben. – Enzio hatte zu hastig getrunken und mußte aushusten. »Schwächling!« grunzte Uli, »Zeichen der Zeit sind so Kerle, wo von eme Bierjung in Ohnmacht falle. Aber die Schlacht bei Cannä, die können sie im Urtext lese – ond ihr Schulmeischter, der Esel, weiß nix Besseres zu tun als Lateinbrocke zu klaube! Tun mer spucke auf dees Kaschtratejahrhundert! Pfui, pfui!« – Wir echoten: »Pfui!« – »Sau – fet – den – Rescht!« kommandierte Uli. »Prosit!« erwiderten wir begeistert und kamen nach.

Jahn sprang auf: »I weuß ebbes! Idee von Schiller! Eine Räuberbande zwar, die derf onsereins net gründe – aber für Aehnliches hänt mer noch Kraft ond Mut, gelt? Tun m'r einen Bildungsverein gründe! Dees derf ons koiner verübeln. Deutsche Dichter wolle mr zsamme lese!« – »Sogar Philosophe!« fügte Wendelin mit Wichtigkeit hinzu. – Wie ein Schlot qualmte Uli – nachdenklich blickte er auf Wendelin und Jahn: »Kerle, dees seid ihr! Bloß noch zu zahm! Bildungsverein? Ha, warom net? Aber der Titel klingt zu spießerhaft! Müßte flotter lauten! Sage mer Freie Bande!«

»Glasbergritter!« schlug ich vor. – Sinnend nickte Uli. – »Glasbergritter paßt!« meinte Wendelin – »oder besser Knappen! Unser Glaasberg ischt dieSchule mit ihren aufsteigenden Klassen. Eine Ssauerei, da hochzukommen.« – »Freile!« nickte Jahn – »mancher bleibt sitze!« – Enzio trumpfte auf: »Wenn i's Einjährige net krieg, gang i nach Ameriga. Ond werd i gschaßt, e Räuberbande tu i gründe!«

Ich hatte einen Einfall und sprang auf: »Zusammen wollen wir die ›Räuber‹ lesen!« – »So ischt reacht!« stimmte Wendelin begeistert bei – »ja, dees soll der Glaasbergritter erschte Tat [187] sein!« – »Ich selber«, gestand ich, »habe das Stück bloß mal durchgepeitscht. Wollte ein Puppenspiel draus machen.« – »Ein frommer Knecht war Fridolin!« höhnte Uli. »Puppenkomödie will der mache aus der bombenhaften Freiheitstragödie! Zom Kaschperle soll der Karl Moor werden, dieser speiende Vulkan? Blöd – sinn! Fahr' hin, lammherzige Gelassenheit! Zom Tiger soll das Lamm verwildern – jede Faser dieses Arms recke sich auf zu Grimm – ond – Ver – der – ben!« Auf den donnernden Helden, der die Faust schüttelte, blickten wir hingerissen. »Bravo!« meinte Wendelin, »tun mr die ›Räuber‹ mit verteilte Rolle lese!«

Aber Uli entgegnete: »Lese? Bloß lese? Dees wär zu zahm! Aufführe wolle mr die ›Räuber‹! Richtiges Theater mache!« – »Groß – artik!« schwärmte Jahn. – »Aber net in der Stub da!« fuhr Uli fort. »Schon weil mr da keine Kulisse hänt. Im Freie wollen mr's Theater mache! Im Bäregrabe die Räuber aufführe!« – »Dees wär kolossal!« jubelte Enzio. Wendelin schlug vor: »Für den Bäregrabe paßt die Szene am Hongerturm! Im Verlies schmachtet der alte Moor – na kommt der Baschtard Hermann, genannt mein Rabe. Ond der Räuberhauptma – der ischt onserm Uli auf de Leib gschriebe!« – »Ja, Uli! Uli muß den Karl spiele!« jubelten wir. Nur Enzio murrte: »Warum net i? I weiß scho, wie mr sich als Räuberhauptma zu benemme hat.« – »Spiegelberg bischt!« ordnete Uli an.

Nun berieten wir Einzelheiten der Aufführung. »Als Hintergrund« – sagte Jahn – »wähle mr den Sternwarte-Turm! Der hat e Schießschart in Mannshöh. Da kann sich der alte Moor bequem verstecke – e Brett tuet mer auße vor.«

Wir lasen hierauf die Szene mit verteilten Rollen. Uli schlug Kürzungen vor und Einschiebsel. Sofort wurde der Text entworfen und ausgeschrieben. Uli übernahm es, die Aufführung [188] zu leiten, insonderheit die Räuberbande einzudrillen. Wendelin hatte für die Requisiten zu sorgen. Am Sonntag abend sollte die Vorstellung sein.


*


Es war ein lauer, etwas windiger Aprilabend – mit Enzio und Jahn stieg ich von der Haaggasse zum Schloß hinan. Schwarz ragte die alte Feste in düster treibendes Gewölk. Hin und wieder lugte der Mond hervor. Bei einer Bank machten wir Halt, um dem mitgebrachten Paket unsere Kostüme zu entnehmen. Jahn machte sein Gesicht mit Kreide weiß, tat Bart und Locken von Watte um und zog ein langes Hemd seines Vaters über den Anzug. Eine rasselnde Pferdekette sollte die Vorstellung wecken, man habe den Greis in Ketten gelegt. Wie ein Gespenst sah Jahn aus. Aber diesen Effekt verhüllte er einstweilen durch umgelegten Mantel. Ich sollte den Räuber Schweizer spielen. Einen Ulanenhelm hatte ich auf und schwang einen Studentenschläger. Enzio behauptete, als Spiegelberg müsse er schon vorher im Publikum Faxen machen, um eine gruselige Stimmung zu wecken. Einen breitkrempigen Hut mit langer Feder ins Gesicht gezogen, hüllte er sich in faltigen Banditenmantel und zückte malerisch den Dolch.

Beim Sternwarten-Turm fanden wir die anderen Räuber versammelt – flüsternd gab ihnen Regisseur Uli letzte Weisungen. Das zahlreiche Publikum, von Ordnern zurückgehalten, bestand meist aus Schülern. Aber auch Pia und die kleine Schneckle waren da – scheu flüsterten sie im Hintergrunde. Zwei Räubermütter wollten es sich nicht nehmen lassen, ihre Buben in der romantischen Rolle zu bewundern.

Unsere Naturbühne entsprach der Phantasie des Dichters: Schutt und Gerümpel zwischen kahlen Rippen von Holundergesträuch. Schwermütig stöhnte der Wind, vom Turme kreischte [189] die rostige Wetterfahne. Dumpfe Glockenschläge zeigten die Geisterstunde an. Aus der Räubergruppe löste sich eine Gestalt – und den ritterlichen Karl Moor beleuchtete der Mond. Er hatte einen Christusbart, Federbarett, spanisches Mäntelchen, ein breites Heldenschwert.

»Guete Nacht, meine tapferen Räuber! Lagert euch ond schlafet – es ischt spät! I selber will bis zur Morgendämmerung die Wacht übernemme, gelt? Die Gegend da ischt mir bekannt. Deescht e verfallener Turm. Ganz in der Nähe befindet sich das Stammschloß meiner Väter. Mein greiser Vatter, der Graf, so vernahm ich heut, vor wenik Woche ischt er begrabe. Friede seiner Asche! Das Schloß hat mein jüngerer Bruder Franz in Besitz genommen. Meim Vatter hat er e Teschtament abgschmeichelt, das mich enterbt. Alles hat jetzt der Erbschleicher!« – »Zur Hölle mit dem Lumpen!« murrten die Räuber und lagerten sich ins Gesträuch – man hörte sie bald schnarchen.

Mit einer Blendlaterne kam jetzt ein Mann. »Hermann, der Baschtard!« tuschelte das Publikum. Eulen schrien. »Horch, horch!« begann Hermann dumpf. »Im fernen Dorfe schlägt's Zwölf – wohl, wohl! Das Bubenstück schläft – in dieser Wildnis gibt es keunen Lauscher. So darf i's wage, gelt?« Und Hermann pocht ans Brett der Schießscharte: »Turmbewohner! Komm an dei Pförtle! Jammermann! Deine Mahlzeit ischt ahngerichtet!«

»Waas bedeutet dees?« raunt der Räuberhauptmann und tritt ins Holundergebüsch zurück.

Abermals pocht Hermann; aus dem Turm antwortet eine hohle Stimme: »Wer pocht? Bischt du's, Hermann, mei Rabe?« – »Ja, i! Dei Rabe Hermann bringt dir zu essen, Alter. Durch die Lücke der Pforte will i dir's reiche, gelt? Aufzuschließe wag i diesmal net – 's könnt ebber in der Nähe laure – verdächtik Geräusch han i vernomme.« – »Bloß die Eulen sind's,« [190] erwiderte die Stimme im Turm – und abermals hört man den Eulenschrei. Dazu der Räuber Schnarchen.

»Schmeckt's, Alter?« sagt Hermann, und es versetzt die Stimme: »Wenn man vor Hunger fascht verschmachte tut, soll's wohl schmecke. Hab Dank für die leckere Küchle, die du, mei Rabe, mir in meine Wühschte bringscht! Aber sprich, gueter Hermann, hascht noch immer nicks in Erfahrung bracht über meinen verlorenen Sohn? Ischt es wahr, waas mr der Franz, mei Sohn, eröffnet hat? Fascht getötet hat mich diese Schreckensmär. Am Galge soll mei Karl verreckt sei? Mei Erschtgeborener als Räuberhauptma?« Bei diesen Worten machte der lauschende Räuber Moor eine Bewegung. »Still!« raunte Hermann – »da scheint wirklich ebber zu sein! Da tut jemand lauere! I mach mi aus em Staub!« – Wie er flüchten will, vertritt ihm der Räuberhauptmann den Weg, und Hermann schreit: »Weh! Alles ischt verrate!« – »Waas ischt verrate?« donnert der Räuberhauptmann – »gesteh, du Lausbub!«

»Erbarmen, gestrenger Herr! Oh, ich erkenne euch! Ihr seid Graf Karl von Moor. Vergebet mir! Ich bin onschuldik am Verbrechen!« In der Ruine unkt es: »Her – mann! Ischt mr doch, als ob du mit jemand redscht! Mit wem denn?« Und der Räuberhauptmann: »Waas gibt's da? Ein Mensch innen? Waas ischt mit dem? Weshalb hält mr den gfange? Dem Unseligen will ich die Ketten löse.« Und es reißt der Räuberhauptmann den Schlüsselbund aus Hermanns Hand und macht sich damit rasselnd beim Brette zu schaffen. Wie nun dies entfernt ist und der volle Schein der Blendlaterne auf die geöffnete Schießscharte fällt, schlüpft heraus eine unheimliche Gestalt: kreidebleich, ein Greis im Totengewand, klirrende Ketten an erhobenen Händen: »Wer du auch seischt, erbarme dich eines schuldlos Gefangenen!« Und zurück prallt der Räuber Moor:

[191] »Waas? Die Stimme kenn i! Ischt dees net –?« Hermann nickt: »Er ischt's, euer Vatter – der alte Graf Moor!«

»Der Geischt meines verstorbenen Vatters?« ruft Karl Moor. »Warom, mei Vatter, findescht du nach deim Tode kei Ruh im Sarge? Hascht du etwa eine Sünd in jene Welt gschleppt? Ebbes, das dir den Eingang zom Himmel verrammelt? Hascht du vielleicht Gold von Witwen und Waisen onter die Erd vergrabe, he? Verdächtik ischt's, daß du zur Gespenschterstond dich heulend hier herumtreibscht! So will i dir beistehe – will den vergrabenen Schatz aus den Klauen des hütenden Drachen reiße – mag er auch seine spitzige Zähn gegen diesen Degen blecke! Sprich, Vatter, waas soll i tun?« – »Du irrscht, mei Sohn! Gschpenscht bin i net! Tu mi ahntaschte, mei Karl! E Gerippe zwar bin i – aber bloß vor Hunger! Odem han i noch!« – »Waas? Du bischt kein Begrabener?« – »In diesem Turm lebendik begraben! Verhungern han i solle! Elend verhungere!«

»Aber wie kommt denn dees? Wer ischt solch Ohngheuer, einen ehrwürdigen Greisen zom Hungertode zu verdammen?« – Kläglich erwidert der alte Moor: »Wer? Gott sei's geklagt, mein eigen Fleisch ond Blut! Mei jüngschter Sohn ischt dees Ohngheuer!« – »Wie? Der Franz? Mei Bruder?« – »Derselbige! Franz, jetzt Schloßherr! Dich hat er verleumdet. Hat sich an deiner Stell zum Erben gemacht. Mich, der ich ihm zu lange lebte, hat er bei lebendigem Leib in einen Sarg packt ond hierher geschafft, ond verhungere han i solle, ver – hu – hu – hu!«

Der Räuberhauptmann hebt die Hand gen Himmel: »Der da oben beruft mich zum Richter über den Schurken Franz. Auf, meine Knechte! Net mähr gschnarcht! He! Will keuner erwache? Ihr Klötz! Eisklumpe!« Und aus des Räuberhauptmanns Pistole donnert ein Schuß. Die Räuber springen auf: »He, holla! Waas gibt's?« – Mit furchtbarer Stimme der Räuberhauptmann:

[192] »Waas es gibt? Das Band der Natur riß entzwei. Ein Sohn hat seinen Vatter zom Hungertod verdammt – bloß weil er die Zeit net abwarte konnt, ihn zu beerbe! Sehet, Leute, dieser Greis ischt der Vatter eures Hauptmanns! Der Schandbub aber, dessen Missetat gen Himmel stinkt, ischt mei Bruder Franz!« Mit einem Schrei der Entrüstung antworten die Räuber und drängen heran. Etliche Laternen brennen – rote Lichter spielen über die Szene.

Hier setzte nun der Hauptteil meiner Rolle ein: Ich, der tapfere Räuber, stürze dem greisen Märtyrer zu Füßen: »Vater meines Hauptmanns! Ich küsse dein Gewand! Zu gebieten hast du über diesen Dolch! Ich heiße Schweizer und bin deines Sohnes ergebenster Freund!« – »Das sind wir alle!« rufen die Räuber, eine aufgeregte Gruppe um die Jammergestalt des Alten und den reckenhaften Räuberhauptmann. Dieser hat seinen Mantel von der Schulter genommen und reißt ihn, ritsch, von oben bis unten entzwei: »Da schaut! Dees Bändle da, wo mich mit meim Bruder noch verbunde ghalte hat, so ischt es jetzt verrisse! Rachsucht allei sei das Gfühl, daas i für ihn übrik hab. Ihr aber, Leute, wollt ihr mir helfen? Gelt? So schwört Rache, schwört auf mei Schwert!« Im Kreise kniend, legen die Räuber die Linke auf das Schwert und heben die Schwurhand: »Rache für unsern Hauptmann und seinen ehrwürdigen Vatter! Rache an Franz von Moor, Teufel in Menschengestalt!«

Ich erhebe mich: »Nun, Hauptmann, befiehl, was ich tun soll!« Und der Räuber Karl: »Rühre dieses Greises heilige Locken ahn, mei Schweizer! Weißt du noch, wie du einscht jenem böhmischen Häscher den Kopf gespalten hascht, da er den Säbel über mich zückte? Dazumal verhieß ich dir eine könikliche Belohnung. Bisher wußt i sie net zu zahle. Doch jetzt weiß i's! Das Geschäft der Rache übertrag i dir! Lies die Würdikschten aus der Bande ond dringe in meines bübischen [193] Bruders gestohlenes Schloß! Schlepp' ihn vom Mahle, wenn er besoffen ischt! Reiß ihn vom Kruzifix, wenn er frömmelnd auf den Knien liegt! Eins aber merke: Liefre ihn mir beileibe nettot! Ganz muß i den habe – das Fleisch will i von ihm reißen, den Hunden ond Geiern zom Fraß. Wehe dir, Schweizer, so du ihm auch nur die Haut ritzest! Bringscht ihn aber lebendik, so geb i dir eine Millio zur Belohnung.«

Jetzt hatten die Räuber die Fackeln angesteckt, sie glühten und qualmten. In greller Beleuchtung sah man die bärtigen Gesichter mit den Federhüten. »Höret mich alle!« ruft der Räuberhauptmann feierlich: »Begreifet ihr nun, waas i mit onserm Räuberhandwerk meine! Gewidmet sei's der ewigen Gerechtikkeit! Wenn auch net auf die Art frommer Menschen. Mit dem Schwert will i helfen, wo die mißhandelte Natur gen Himmel schreit. Mit Raub ond Brand ond Mord! Mir gilt jenes Recht, das im Busen lebt. Net das Gsetz! Das hat die Welt verkrüppelt und zerrüttelt! Das Gsetz verhunzt zum Schneckengang, waas Adlerflug worde wär. Mir äkelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum, wenn i in meim Plutarch lese von großen Menschen. Ha, daß der Geischt des Keruskerfürschten noch in der Asche glimmte! Ein Heer Kerls wie i – ond aus Deutschland wird e Republik, gegen die Rom und Sparta Nonneklöhschter send!«

»Es – le – be – der – Haupt – ma!« brüllten alle. Und während purpurn die bengalische Flamme glüht, gröhlt der Räuberchor unter martialischen Gebärden:


»Ein freies Leben führen wir,

Ein Leben voller Wonne,

Bei Sturm und Schnee marschieren wir,

Der Wald ischt onser Nachtquartier,

Der Mond ischt onsre Sonne!


[194]

Sei, deutscher Knab', kein Tugendbold,

Duckmäuserischer Graurock!

Siegfried den Hammer wohl schwingen kunnt,

Er schlug den Amboß in den Grund,

Dazu den Drachen-Ssaubock.


Sei du kein Knecht, sei du kein Hund!

Und droht der Tatzen-Haustock,

Zu Stücken schlag' ihn, Siegfried, und

Das Tinten-Zuchthaus in den Grund!

Ein Pereat dem Ssaubock!«


Unter donnerndem Beifall brüllten die Pennäler »Pereat!« und schwangen ihre Räuberschwerter. Ins Gelächter mischte sich die Kommandostimme Ritter Ulis, der sein Schlachtschwert zum Monde hob: »Ein Hoch der ganzen Frei – heits – ban – de!« Und »Hoch!« brüllte alles berauscht – es herrschte eine Begeisterung, als sei ein neues Zeitalter hereingebrochen.

Auf einmal war die blutige Beleuchtung erloschen – düster ragte die alte Burg, am Hungerturm blinkerte etwas Mondlicht. Dann kam eine abenteuerlich geformte Wolke geflogen: ein Drache war's, der den Mond verschlang.

[195] Im Burgverlies

Der Hungerturm sollte uns Zutritt verschaffen zu den Heimlichkeiten des Tübinger Schlosses. Eine Entdeckungsfahrt war verabredet und sogar umständlich vorbereitet. Ich erschien mit einem Bergstock, als gelte es eine Gletscherpartie. Wendelin hatte eine Strickleiter, Enzio ein Bündel Dietriche, vom Schlosser geliehen, Jahn eine Laterne und eine Pechfackel, die einem Studenten vom Fackelzuge übrig geblieben war. Ritter Uli wurde von einem Weingärtnerbuben begleitet, der ein Rapier, einen Kübel mit Most und ein Trinkhorn schleppte und dafür zwei Groschen bekam. In den Hungerturm zu gelangen, fiel nicht sonderlich schwer, wenn auch die Schießscharte so eng war, daß Uli und ich etwas gezwängt wurden. Wir standen in halber Dunkelheit, neugierig sahen wir uns um. Es war da nichts als Schutt, ein paar alte Bretter und etwas Asche. Diese mochte von einem Feuer herrühren, das Eindringlinge unserer Art angezündet hatten, um Allotria zu treiben. Die aus Felsquadern gefügten, sehr dicken Mauern atmeten eine schaurige Erhabenheit.

»Wie alt mag das Schloß sein?« fragte ich, und Uli antwortete: »Genau läßt sich dees net sagen – jedenfalls uralt. Hier sollen die Römer den Alemannen die letzte Schlacht geliefert und von den Tübinger Weingärtnern Schläg bekommen haben.« Der belesene Wendelin gab die Auskunft: »Die älteschte Benennung von Burg und Stadt lautet Twingen – [196] in einer Urkunde aus dem Jahre 1000 heißt es: Castrum Alemannorum, quod Twingia vocatur. Twing oder Zwing bedeutet Festung, Zwingburg. Heißt net die Stadtmauer bei der Neckarbrück noch heutigen Tages Zwingle – gelt?« – »Solle mer jetzt den Moscht trinke?« fragte Enzio. Uli entgegnete: »Da gfallt mer's net! Suche mer weiter zu komme.«

Morsche Holzstufen führten zu einer eisenbeschlagenen Tür. Sie war verschlossen, und wenn auch Enzios Dietriche versagten, so gelang es mit dem Handwerkszeug, das Türschloß abzuschrauben. Die Pforte gab nach, und wir traten in einen gähnend weiten, finstern Raum. Lauschend hörten wir nichts als das leise Pfeifen einer Ratte. Wir zündeten die Laterne an, da kam eine Fledermaus geflattert. »Wir sind im Schloßkeller,« raunte Uli. Unsere Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, und Enzio rief: »Das große Faß – da leit 's!« Den ganzen Nordbau des Schlosses schien die Unterkellerung zu umfassen – ein hohes Gewölbe, zu dem das Tageslicht nur spärlich durch vergitterte Luken eindrang. Inmitten ragte das Faß wie ein Riesenelefant. Als wir es umringten und beklopften, erklärte der belesene Wendelin: »Acht Meter Länge hat's, fünf Meter Höhe – aber den Inhalt einer großen Stub – es faßt noch hundert Hektoliter mähr als das berühmte Heidelberger Faß. Schaut, waas ungschlachte Knochen dees Viech hat! Wißt ihr, wieviel Eichen Meischter Simon von Bönikheim zum Bau hat verarbeiten müssen? Zu den Bohlen – geradezu Balken sind's – ond Dauben vierzik Eichen, zu den Reifen weitere fünfzik. Als Lohn für sein Kunschtwerk hat er hundertfufzik Gulde kriegt, dazu ein Hofkleid.« Jahn beleuchtete mit der Laterne eine Tafel, die am Faß angebracht war, und buchstabierte: »Als großes Buch bin ich bekannt, durch Herzog Ulrich so genannt, 1546 wurd' ich erbaut, aus neunzig Eichen, [197] wie ihr schaut – zweimal ward ich gefüllt mit Wein, 286 Eimer nehm ich ein.« – »Herrschaft!« staunte Enzio. »Gelt, hier tun mer den Moscht trinke?« Aber Uli meinte, wir sollten erst noch rekognoszieren und jedenfalls den unterirdischen Schloßbrunnen ausfindig machen. Wir wagten, die Fackel zu entzünden – ihre qualmige Röte sprühte durch das gotische Gewölbe, wo nun mehrere Fledermäuse herumhuschten.

»Hier ischt die Richtong zom Brunne,« sagte Uli, auf einen finsteren Seitengang deutend – »den Bauplan des Schlosses kenn i.« Schräg aufwärts ging's über Bretter und Felsenstufen. Moderluft hauchte kalt. Eine Kuppel wölbte sich über einer Schranke, die aus Felsenquadern kranzförmig erbaut war und vier Meter Weite haben mochte. Es war der Schacht eines Ziehbrunnens. Mit der Fackel leuchteten wir hinein, unergründlich schien der Abgrund. Nach Enzios Behauptung betrug die Tiefe bis unter den Neckar hundertfünfzig Meter. Den Zweck dieser Anlage setzte Uli auseinander. Im Schloßhof sei ein laufender Brunnen, der genüge aber nicht, wenn die Burg belagert werde. »Na ka mer ja aus dem Riesefaß saufe,« meinte Enzio – aber Uli gab zu bedenken, wieviel Wasser nötig sei, für Hunderte von Menschen sowie für all die Pferde, Rinder und Schafe, mit denen man während der Feindesnot versehen sein müßte. – Wir warfen Steine in den Brunnen – man hörte sie sausen, seitlich wiederholt anprallen und nach einer Weile unten aufschlagen. Ein Zeitungsblatt, das wir angezündet hatten, schwebte effektvoll nieder. Die brausende Flamme beleuchtete tief und tiefer den Schacht, bis sie auf einmal erlosch.

Enzio wollte noch weiter in die unterirdische Romantik vordringen, er schwärmte vom Femgericht und der Folterkammer. Es sei da auch ein Burgverlies, aus dem hab ein Gefangener [198] ausbrechen wollen, mit den Fingernägeln ein Loch in die Felsenmauer geklaubt, einen Meter tief. Aber drei Meter dick sei die Mauer. »Ein andermal!« vertröstete Uli – »für heute hänt mer noch e wichtige Tagesordnung. Zurück zum Faß!«

Dort füllten wir Most in das Trinkhorn, und Uli erhob es feierlich: »Knappen vom Glaasberg! Rühmlich soll unsre Freiheitsbande ihren Weg gehn. Ond jetzt stehn mr vor ener neuen Stuf unsres Aufstiegs. Ahne könnt ihr net, waas i mein – drum rund heraus: Net graad, daß mr eine Räuberbande gründe wolle – aber eine Zeitong! E Pennälerblatt, e heimlichs! Wir selber wollen's schreibe. Redaktör Wendelin. Bruno macht die Bilder. Jahn tut's drucke ond verlege. Hektographisch vorläufik. Ond jetzt ratet, wie dees Blättle heiße soll!« – »Böhmische Wälder,« schlug Enzio vor. – »Ah waas!« lehnte Uli ab – »Der Glaasberg! Ein Blatt für solche, die hinauf wollen.« – »Famos!« rief ich – »das gibt ein Titelbild.«

Uli fuhr fort: »Da ihr also gewillt seid, ans Werk zu schreiten, guet! So begießen mr's zur Weihe mit eme Trunk. Hier schwing i's Horn von eme Auerochse, wie sie einscht durch Germaniens Eichenwälder gstapft send. Gfüllt mit schäumendem Met, drin unsere Väter hänt ihrer Götter Minne trunke. Wohlahn, dr erschte Schluck sei Wotan geweiht, dem Gotte der Begeischterung!« Ein Teil des Trankes platschte auf den Boden, und Ulis Baß stimmte das Lied an: »Alles schweige! Jeder neige ernsten Tönen nun sein Ohr!« Die Weise, von den Studenten Landesvater genannt, war uns halbwegs geläufig – wir wiederholten, wenn auch etwas schüchtern, den Rundreim: »Hört, ich sing' das Lied der Lieder! Hört es, meine deutschen Brüder! Hall' es wider, froher Chor!« Uli tat aus dem Horn einen tiefen Zug und reichte es Enzio, der's aber bloß zu halten hatte – während Uli, seine Schülerkappe [199] abnehmend, weiter sang: »Seht ihn blinken, in der Linken, diesen Schläger, nie entweiht. Ich durchbohr' den Hut ond schwöre: Halten will ich stets auf Aehre – stets ein braver Bursche sein.« Schwärmerisch gröhlten wir: »Du durchbohrscht den Hut – so schwöre: Halten sollscht du stets auf Aehre, stets ein braver Bursche sein.« Die Reihe, Solo zu singen, war an Enzio. Obwohl er sich bemühte, Ulis tiefe Stimme nachzuahmen, schnappte sie ihm quiekend über. So ging das Trinkhorn von Mund zu Mund, und mit dem Schläger hatte jeder seine Schülerkappe zu durchbohren: »Nimm den Becher, wackrer Zecher, vaterländischen Trankes voll – nimm den Schläger in die Linke – bohr ihn durch den Hut und trinke – auf des Vaterlandes Wohl!«

Erhabene Wonne, als teutscher Knabe durchschauert zu sein von der Ahnung eigener Bedeutung. Je tiefer die Züge aus dem Trinkhorn gerieten, desto heldenhafter dünkten wir uns. Aber wie ein Hund, der im wohligen Sonnenscheine liegt, jählings auffährt, weil ein boshafter Schusterjunge einen Eimer kalt Wasser über ihn ausschüttet, so schlug uns Bestürzung in die Knochen, als eine rauhe Mannesstimme schimpfte: »Ssauballa dreckete! Wart no, i tu mei Knüppel hole! Verschlag uich die Köpf'!« Vor diesem Feind, der uns fast im Nacken saß, ergriffen wir die Flucht. Enzio stolperte über den Kübel, der Most netzte mir die Beine. Wendelin rannte mit dem Trinkhorn, Jahn mit der Laterne. Zurückblickend sah ich, wie Uli, in der Linken die Fackel, den Schläger drohend erhob – während auf der Treppe, die vom Schloßhof in den Keller führte, im hereinflutenden Tageslicht ein bärtiger Mann stand, unschlüssig, was er machen solle.

Den Flüchtlingen hastete ich nach und war wieder im Hungerturm. Enzio schlüpfte zur Schießscharte hinaus, Jahn folgte [200] mitsamt der Laterne. Wendelin wandte sich: »Wo'scht dr Uli?« Indem war Uli zur Stelle. »Haseherze!« schimpfte er. »Der knotige Philischter soll nur komme – mit dem nehm i's auf. Ha! Der hat sich zurückgezoge!« Aber Wendelin warnte: »Beistand wird er hole. Ond wenn wir ons net bald fortmache, so kommt er vom Schloßgrabe, na ischt ons der Rückzug abgschnitte.« Uli sah das ein: »Retraite!« Er half Wendelin zum Ausschlupf und kroch hinterdrein.

Ich hatte bereits ein Bein und einen Arm in der Schießscharte, aber die Brust ließ sich nicht hindurchzwängen. Ich wurde ängstlich, weil ich mir sagte: Faßt man mich hier ab, so riskier ich geschaßt zu werden. Hinaus, hinaus! Aber das ging nicht, wollte nicht gelingen, wie ich mich auch wand. War ich denn behext? Von unsrer Großmannssucht geschwol len? Ich stöhnte: »Uli! Uli!« – »Waas?« erwiderte er von außen. – »Ich komme nicht durch.« – »Onsinn!« – »Hilf!« – Meinen Arm faßte er und zog. »Au! Halt!« – »Sei gscheit!« mahnte Uli und zog nun auch am Bein. – »Au! So geht es nicht!« – »Du bischt doch nei komme, so mußt auch wieder raus! Tu di zsammereiße! Hup! Komm ra!« – »Au! Ich bin zu dick geworden – von der verfluchten Sauferei.« – Uli lachte und begann aus Schelmerei auch noch zu kneifen.

»Seid ihr verrückt?« raunte Wendelin. »Grad kommt ebber über die Grabebrück gloffe – der meintons!« – »'s ischt der Knote!« sagte Uli – »also, Wille, schau, wie du fertik wirscht! Aber nix verrate, wenn mr dich abfaßt – verstande?« – Ich vernahm die Tritte der enteilenden Kameraden und zog mich in den Hungerturm zurück. Bald darauf schimpfte die Männerstimme hinter den Fliehenden her: »Gymnasischte seid ihr – ja versteckt nur eure bunte Kappe! – Ikenn uich, Halunke! Schasse mueß mr uich!«

[201] Mir kam der Gedanke, in seiner Hast könne der Mann die Kellertür offen gelassen haben – sofort kehrte ich in den Keller zurück. Glimmend lag die Fackel neben dem umgeworfenen Mostkübel. Ich raffte sie auf und leuchtete mir zur Kellertreppe. Aber die Tür war verschlossen. Um das Maß meiner Ratlosigkeit voll zu machen, verrieten Stimmen, man wolle den Keller durchsuchen. Ich flog die Treppe hinab und wandte mich, um die Verfolger irrezuführen, nach links. Als der schmale Gang um die Ecke bog, glaubte ich, verborgen zu sein. Wie gut, daß ich die Fackel hatte – allerdings war sie fast heruntergebrannt. Ich stieg eine Treppe empor, hohe Steinstufen. Es war, als wollten die Mauern sich zusammenpressen. Kalt fühlten sie sich an, glitzernd vor Nässe. Als ein Seitengemach kam, stand ich verschnaufend. Die Stimmen waren verstummt – man schien das Suchen aufgegeben zu haben. Aber eingesperrt war ich, und die Fackel ging zur Neige.

Als ich mich umsah, merkte ich, daß ich in jenem Raume war, den Enzio als das Femgericht bezeichnet und beschrieben hatte. Ein zylindrisches Gewölbe – hier unten war die Stelle für den Angeklagten, droben die kranzförmige Galerie war für die Femrichter. Meine aufgeregte Einbildungskraft sah auch jetzt unheimlich vermummte Gestalten, und es war, als halle eine dumpfe Stimme: »Gras und Grein, Stock und Stein, Maus und Molch, Daus und Dolch.« Und weiter tappte ich durch die Gänge – abermals Stufen hinan. Ich muß zu den Gefängniszellen gelangt sein – es waren gemauerte Löcher, so eng, daß die Gefangenen nicht aufrecht hatten stehen können. In einen dieser Steinsärge kroch ich, weil es mir vorkam, man könne von da in einen weiten Raum gelangen. Ich hatte mich getäuscht, überdies erschreckte mich eine unheimliche Entdeckung: Ich befand mich in dem Verliese, das Enzio erwähnt [202] hatte. Da war ja das Loch in die Mauer geklaubt; jahrelang mochte der Gefangene daran gearbeitet, mit den Fingern gekratzt haben – Werkzeuge hatte er nicht besessen. Wie verzweiflungsvoll mußte die Verlassenheit des Aermsten gewesen sein, daß der Kerkerwärter, der ihm Wasser und Brot durch die Lücke schob, vom Fluchtversuch so lange nichts gemerkt hatte.

Teufel! schießt es mir durch den Kopf – wenn mich der Uli im Stich läßt! Wenn jetzt die Fackel ausgeht! So muß ich hier die Nacht kampieren, bei Ratten und Fledermäusen, umkrächzet nur von Molch und Unk! – Tatsächlich ist die Fackel dahingeschwunden, und es hilft nichts, daß ich den Stummel zu entfachen suche. Eine Gänsehaut überschauert mich, das Haar auf dem Kopfe tut mir weh, die Knie beben.

»Hilfe!« brülle ich. Vom hohlen Echo vollends erschreckt, stürze ich fort – mein Schädel stößt ans Gemäuer. – So mag einer Maus zumute sein, hinter der die Falle zugeschnappt ist. Verstört rennt sie hierhin, dorthin, mit allen Sinnen nach dem Ausschlupf suchend. – In Angstschweiß gebadet, tappe ich durch die Eingeweide des Burgverlieses. Schon hat der Stummel meiner Fackel kein Fünkchen mehr – da zeigt sich hinten im finstern Gange ein bläuliches Dämmern. Ich stolpere hin – ertaste eine schwere Holztür, durch deren Ritze ein Strahl des Tages lugt. Ein plumper Riegel – verzweifelt rüttle ich daran – drücke, ziehe – und – auf geht das Tor – Licht! Ich schlüpfe hinaus.

In einem Gärtchen bin ich – an molliger Sonne grünen Stachelbeersträucher – Veilchen blühen und Milchstern. Im Bärengraben muß es sein – ach, freilich! Da staffeln sich die Beete empor – noch ein kleiner Aufstieg, und ich bin aus aller Not. – Sonnenschein! Frühlingsgrün! Blauer Himmel! O süße, süße Freiheit!

[203] Unsere Schülerzeitung

Titel: »Der Glasberg, Zeitschrift für solche, die hinauf wollen«. »Mit diesem Organ« – so hieß es darin – »vertreten wir Glasberg-Knappen das Recht der Jugend auf eignes Leben. Das verkümmert uns die Schule. Von ihren Verschrobenheiten möchten wir uns innerlich frei halten. Aeußerlich müssen wir uns ja fügen dem Werkelgange dieser Philisterfabrik. Die Faust ballen wir in der Tasche: Blitz und Donner! Heimlich wenigstens wollen wir uns austoben. Das Ideal verehren, das uns im Herzen blüht. Lachen und spotten über das Unterfangen der verknöcherten Schulmeister, aus uns solche Karikaturen zu machen,wie sie selber sind.

Unser Mitschüler Fritz Bählamm schrieb neulich in seinem Aufsatz (der von Adrast, diesem Kamel, natürlich belobt wurde), es sei unsere Pflicht, nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft zu werden. Blödsinn! Wenn diese Gesellschaft hauptsächlich eine Proles ist – was wir behaupten –, so folgt daraus, daß sie ihrer Natur gemäß auf nichts Bessres ausgehen kann, als ihren Nachwuchs zu Proleten ihrer Art heranzubilden. Das aber wollen wir uns nicht gefallen lassen. Wenn's wahr ist, daß Gott den Menschen zu seinem Ebenbilde schaffen wollte, so sollen wir halt etwas andres sein als unsere Honoratioren Herr Präzeptor Bierbauch und Herr Stadtpfarrer Leithammel. Wir fügen uns keiner tötenden Schablone – innerlich nicht! [204] Die frisch-lebendige Seele soll man nicht wie eine Sache behandeln. Das ist Mißhandlung der Menschenwürde! Wir verlangen, daß unsere Jugend, jede Stunde ihres Lebens, noch etwas andres sei als ein Mittel zum Zwecke des Banausentums. Auch fürsich soll der Mensch etwas sein! So erst kann derGott in ihm lebendig werdend.«

Auf diesen Leitartikel folgte ein Gedicht »Frau Sonne an die Scholaren«, unterzeichnet: »Der Großmeister«. Hainlin sei das, raunte man – er habe Uli gestattet, Verse aus seiner Maulbronner Pennalzeit mitzuteilen:


Frau Sonne kommt gegangen

Und tausend Spieglein prangen:

Am Klee der bunte Perlentau.

Frau Sonne lacht vom Hügel,

Indes der Lerchenflügel

Den Jubelgruß ihr trägt zum Aetherblau.


Frau Sonne spricht: »Euch allen,

Ihr Kinder, soll gefallen,

Auch dir, du Stadt im Tal, mein Licht.«

Und doch, wie Morgengluten

Durch Winkelgassen fluten,

Verzieht Frau Sonne schmollend ihr Gesicht:


»Was seh ich? Knabenköpfe

Und doch schon Sauertöpfe?

Das schleppt nun seinen Schmökersack

Und läßt in Klostermauern

Das junge Herz versauern ....

O heilger Stumpfsinn! Bakelpfaffenpack!


[205]

›Gymnasten – Leib und Seele

In edler Parallele –

Wie Griechen sollt ihr sein!‹ Ach wohl –

So faselt Herr Magister.

Er selber, das vergißt er,

Ist eine Vogelscheuche, schlapp und hohl.


Bebrillt, mit krummen Rücken,

Die Folterbänke drücken,

Heißt das der Weisheit Jünger sein?

Ihr wollt auf deutscher Erden

Mal Würdenträger werden?

Lernt ducken, Kerle! büffelt Stocklatein!


Grammatik, Tüftelsätze

Und Ciceros Geschwätze –

O eitel Starenmatz-Dressur!

Nur einer sei euch Meister:

Der Innenstrahl der Geister –

Und Alma mater sei die Gottnatur!


Ihr glaubt dem Bibelbuche,

Die Arbeit sei zum Fluche

Für Durst nach Licht von Gott ersehn?

Ihr glaubt, ein Weltregente

Gebiet' im Firmamente,

Die Sonne soll' als Knechtin stillestehn?


Ihr Toren! Ich, die Leuchte,

Die stets das Dunkel scheuchte,

Ich mach' euch frei von Sklaverei.

[206]

Laßt ab vom Mottenplunder!

Ich weiß euch holde Wunder.

Versäumt das Schönste nicht: den Jugendmai!


Kein Klauben und kein Knüllen

Entfaltet Knospenhüllen,

Das Zwängen bringt nur Krüppelweh,

Lernt in der Sonne leben!

So wird euch schon gegeben,

Daß ihr wie Lerchen seid und Maienklee.«


Als Gegengewicht zu solcher Schärfe sollten Schelmereien dienen. Darunter befand sich, aus meiner Feder, folgende


Räuberballade

Drei verfluchte Räuber hausten
In dem finstern Gruselwald,
Manche Börse sie schon mausten,
Machten manchen Wandrer kalt.
Spät am Abend war's, da lauschten
Im Verstecke diese drei,
Schauerlich die Bäume rauschten,
Und es scholl des Uhus Schrei.
Plötzlich ihre Augen funkeln,
Denn es regt sich was im Tann,
Und sie sehen aus dem Dunkeln
Treten einen Wandersmann.
[207]
Wie drei wilde Tiger brechen
Sie hervor mit Mordgebrüll
Und mit ihren Dolchen stechen
Sie den Wandrer kalt und still.
Als sie darauf ihm die Tasche
Gierig wenden hin und her,
Finden sie nur eine Flasche,
Drauf geschrieben steht: Likör.
Durstig setzen sie sich nieder
Auf des Waldes blut'gen Grund;
Um zu stärken ihre Glieder,
Geht der Trank von Mund zu Mund.
Aber jeden bösen Lümmel
Schließlich seine Strafe trifft:
In der Flasche war kein Kümmel,
Sondern schnödes Rattengift.
Dieses zwickt und zwackt die Bäuche,
Und das Mordtrifolium
Mit Geröchel und Gekeuche
Wird auf einmal kalt und stumm.
Der Moral von der Geschichte
Schenket aufmerksam Gehör:
Werdet keine Bösewichte
Und mißtrauet dem Likör.

Obwohl unsere Schülerzeitung unter dem Siegel der Verschwiegenheit erscheinen sollte, gingen Abschriften unter den [208] Pennälern herum. Nur daß glücklicherweise geheim blieb, von wem die einzelnen Beiträge verfaßt waren. Die Räuberballade hätte ihrem Autor keinen weitern Vorwurf zuziehen können, als daß er eben beteiligt sei am Unfug einer Schülerzeitung. Ein anderes Opus aber, das ich verbrochen hatte, war geeignet, mich auf der Schule unmöglich zu machen. Es ging unter den Pennälern wie ein Lauffeuer herum, wurde aber nicht mir, sondern dem Kandidaten Hainlin zugeschrieben. Ich schwieg dazu, war sogar stolz darauf, daß Verse von mir einem Hainlin zugetraut wurden. Was ihnen den Beifall der Pennäler zuzog, war ihre Giftigkeit, die sich gegen den Ssaubock und das Schulsystem richtete. Pikant war noch, daß sie einen Stadtklatsch behandelten, der einen Beinbruch Bocks deutete.


Bock-Ballade

Tatze-Bock
Mit der Glatze –
Manche Tatze
Haut sein Stock.
Tatze-Bock
Und Schneider Gock
Minnen beid'
Eine Maid.
Lisle Rettig,
Im Hotel
Schankmamsell,
Etwas fettig.
Gock der Schneider
Wird galant –
Bock, sein Neider,
Wutentbrannt,
Schimpft den Schneider
Hungerleider
Und infame
Dessen Dame.
Puh, in Galle
Ritzt das Mädel
Mit der Kralle
Ssaubocks Schädel.
[209]
In die Fratze
Schmeißt ihm Lisle
Ein Servisle
Leberspatze.
Schneider Gock
Auch nicht faul,
Klebt dem Bock
Eins aufs Maul.
Hui, sie packen
Sich am Nacken
Und zerzwacken
Ihre Jacken.
Sonderbar
Putzig Paar!
Wer erfaßt
Den Kontrast:
Hier die volle
Kürbisknolle –
Dort die schlanke
Hopfenranke.
Gock waschlappig,
Heuschreckartig –
Bock froschquappig,
Schweineschwartig.
Arme zappeln,
Beine trappeln,
Krallen kratzen,
Es knallen Pratzen.
Gäste lachen,
Gekrümmt im Schreikampf,
Brüllend entfachen
Sie noch den Zweikampf.
Uff, im Geraufe
Wird übel dem Frosche –
Rötliche Traufe
Tropft von der Gosche.
Fritz, der Hausknecht,
Zieht den Rock aus –
Hurra, das Hausrecht
Uebt er an Bock aus:
Sämtliche Gäste
Helfen feste –
Bock muß fliegen
Abi die Stiegen
Hei, Pennäler!
Euer Quäler
Lieg im Kot –
Mausetot!
[210]
Nein, nur scheinbar!
Weh, die Glieder
Regt er wieder!
Höchst beweinbar!
Nichts gebrochen
Als der Knochen
An der Wade –
Jammerschade!
Soll denn Schweinheit,
Bocks Gemeinheit,
Uns am Leben
Ewig kleben?
Oh, dies Schwein
Ist Höllenplage!
Donner schlage
Krachend drein!
Zuchthaus Schule,
Stürz' in Flammen
Ueberm Stuhle
Bocks zusammen!
[211] Bebenhausen

Die Dämmerung, die über des Kandidaten militärischem Dasein lag, wurde wie von einem Blitz erhellt. An Uli schrieb er, es bestehe die Wahrscheinlichkeit, daß er als untauglich aus dem Dienst entlassen werde. Beim Turnen sei er vom Reck gestürzt und habe den linken Arm gebrochen. Der sei zwar geheilt, aber schief. Wenige Tage nach dieser brieflichen Aeußerung erschien Hainlin persönlich. Witwe Schneckle, seine frühere Wirtin in der Neckarhalde, beherbergte ihn. Er machte sich überaus stattlich im bunten Rock und trug die Gefreitenknöpfe. Den Arm hatte er noch in der Binde. Daß dieser kernhaft deutsche Jüngling solche Beschädigung erlitten hatte, war seinen Bewunderern ein schmerzlicher Gedanke. Wir trösteten uns mit der Aussicht, unsern großzügigen Geistesführer nunmehr für die Dauer zu haben. Er hatte sich nämlich entschlossen, mit dem Amtieren als Lehrer einen Versuch zu machen, und sich zu einer Vakanz an Tübingens oberer Mädchenschule gemeldet.

Zugleich war er von Herrn Ritter, der in Stuttgart Bankdirektor war, gewonnen worden, sich mehr planmäßig Ulis anzunehmen. Uli war dazu von Herzen willig und gestand mir, es sei ihm – das fühle er selber – eine Unbändigkeit eigen, die gezügelt werden müsse, freilich mit Liebe und Verständnis. Dafür wisse er keinen andern als den Kandidaten Hainlin. Seinem Vater hatte Uli wiederholt Grund zur Sorge gegeben. Zunächst durch Schülerstreiche, die seine Entfernung vom [212] Stuttgarter Gymnasium herbeigeführt hatten. Dann durch seine erwachte Männlichkeit. Hochgeschossen, in blühender Kraft, war dieser Sechzehnjährige wie ein brausender Student. Daß er auf seinem Stübchen Bier trank und Pfeife qualmte, erregte bei uns, seinen jüngeren Freunden, zwar Bedenken, aber auch Bewunderung. Welch ein Kerl! dachte ich – und turnen kann er, schwimmen, fechten sogar! Schade, daß Herzog Ulerichs Zeiten vorüber sind! Sonst wäre unser Uli ein zweiter Georg von Sturmfeder.

Es traf sich gut, daß in die Tage des Hainlinschen Urlaubs der Geburtstag Ulis fiel – er vollendete sein siebzehntes Jahr. Zur Feier hatte der Kandidat einen Ausflug nach Kloster Bebenhausen versprochen, und ich durfte, ebenso wie Wendelin, teilnehmen; weiter war niemand geladen. Der Kandidat hatte angeordnet, er wolle am frühen Nachmittag nach Bebenhausen gehen, und zwar mit Uli allein – mit dem hab er unter vier Augen zu sprechen. Daraufhin hatte Wendelin mit mir verabredet, eine Stunde früher als diese beiden im Kloster einzutreffen. Wendelin wollte den Kreuzgang abzeichnen – und ich indessen Flöte blasen. Ich hatte mir nämlich eine Blechflöte zugelegt, um auf diesem schlichten Instrument das seelenvolle Spiel des Kandidaten nachzustümpern.

Zur verabredeten Zeit ging's an Wendelins Seite am Goldersbache hin. Das Tal entlang, zwischen Waldhöhen führt die mit Obstbäumen eingefaßte Landstraße. Auf den Buchenwald zur Rechten deutete Wendelin: »Der Olgahain! Den besucht unser Könik gern, wenn er seine Sommervakanz in Bebenhausen zubringt. Das Kloschter hat er zum Jagdschloß eigrichtet.« Links, wo sich das Wiesental weitet, war jetzt das Kloster sichtbar. Ueber bäuerische Häuschen, Obstbäume, Gemüsegärtchen hoben sich Bauten mit vielen Fenstern, hohen Dächern und einem gotischen Türmchen. An der Landstraße lag das Gasthaus zum Posthörnle, wo wir später den Kandidaten und [213] Uli treffen sollten. Den Wirt bat Wendelin: wenn die andern kämen, solle er sagen, wir seien einstweilen im Kreuzgange.

Im Weitergehen betrachteten wir das deutlich werdende Kloster. Von einer mittelalterlichen Mauer mit Wehrtürmchen war's umschlossen und wirkte vornehm durch die stolzen Giebel und großzügigen Ziegeldächer. Vom Kalkbewurf hob sich dunkelbraun, in reicher Verschränkung, das wuchtige Gebälk ab. Empor zu sommerlichen Wölkchen strebten ein paar Dachreiter. Deren einer war ein stattliches Kunstwerk: ein Glockenturm, aus schmalen Steinpfeilern gotisch zusammengewoben, so daß die Glocke hervorlugte. »Vor achthundert Jahren« – meinte Wendelin – »hat's da net so großartik ausgsehn. Eine dürftige Klause war da am Goldersbach gekauert, dem heiligen Babo geweiht. Begüterte Mönche hänt später Bebenhause zum Kloschter gestaltet, immer stattlicher ist's worde.«

Bewundernd standen wir vor dem hohen Gemäuer aus gewaltigen Quadern. Efeu nebst wildem Wein schlingt sich dran empor. Wie eine mittelalterliche Feste schaut's drein. Das Bogentor führt zu einem Zwinger; dessen Schießscharten lugen auf Umwallungsgraben, Gesträuch und Wiese. Durch ein Pförtchen links gelangten wir in einen dunklen Treppengang und stiegen Steinstufen empor; ganz ausgetreten sind sie von den Füßen derer, die hier während mehrerer Jahrhunderte gegangen sind. »Den Fuchsbau heißt mr dees,« sagte Wendelin. – Wir kamen wieder ins Freie und standen bald vor dem eigentlichen Klosterbau. »Da schau dees wunderbare Kreuzgängle!« Wendelin meinte den gewölbten Gang, der in Form eines Quadrats um den Klostergarten führt. Zwischen den schlanken Säulen der offenen Fensterbogen blickt man hindurch, auf Rosen, Blumenbeete. Umwoben von wildem Wein, dessen Blätter sich leicht röteten, war mitten im Garten ein steinerner Springbrunnen. Von Becken zu Becken fiel raunend das Wasser. Rings blühten weiße Rosen.

[214] »Oh, diese Kreuzwölbungen!« schwärmte Wendelin, der Sinn für harmonische Form hatte. »Wie zart fügt sich dees alles! Pflanzenhaft scheint der Stein emporzuwachsen, zur Decke rankt er – da hat's zierliche Gewebe. Gelt? wie reich an Abwechslung die Schnörkel da sind! Alle paar Schritt kommt ein neues, eigen erfundenes Schlußstück. Alles so schön mathematisch. In eme Kloschter, wo man so wandeln kann, in lieblicher Ordnung – da könnt i's allefalls aushalte, trotz Geißelkammer ond so Zeugs. Guck die Schwälble da, wie die sich wohl fühle!« Und er deutete auf Schwalben, die ihre Nester zwischen das steinerne Rankwerk geklebt hatten – mit anmutiger Hurtigkeit, geisterhaft lautlos schwebten sie durch die Kreuzgänge. Mücken haschten sie, ihr Jauchzen mischte sich ins sanfte Geraume des Brunnens.

Bald saß Wendelin in einer Nische, mit dem Stift in sein Skizzenbuch zeichnend. Ich aber hatte im Klostergarten Platz genommen, bei dem singenden Brünnlein und den weißen Rosen. Weiche Töne suchte ich meiner Blechflöte zu entlocken. Ich liebte eine Weise, die am Sommerabend Lustnauer Mädchen sangen:


»Durchs Wiesetal gang i jetzt na,

Brech lauter Batenke dort a ...«


»Fertik!« sagte Wendelin und wies mir seine Zeichnung. Klar und innig gab sie den Kreuzgang wieder. »Komm jetzt weiter!« Ich folgte in eine offene Halle. Mitten stand auf einem niedrigen Sockel das Steinbild eines bärtigen Ritters. »Graf Aeberhard im Bart!« sagte Wendelin – und ich bestaunte die kraftvolle Gestalt im Harnisch, das gebieterische Gesicht mit dem wallenden Bart.

»Aus Sandstein ist er, scheint's,« sagte ich zu Wendelin, der wieder zeichnete. Um die Steinart festzustellen, wagte ich die Hand zu befühlen, die der Majestätische mir entgegenstreckte. Und ermutigt, weil er sich das gefallen ließ, klopfte ich mit der Blechflöte ein wenig an Eberhards Zeigefinger. Wie erschrak ich, [215] als der Finger knack machte und – abgebrochen auf der Steinfliese lag. – Himmel, was hatte ich angerichtet! Erst glaubte ich, mich narre eine Sinnentäuschung. Aber da lag der Finger, an der Hand war ein Stumpf. »Wendelin!« stöhnte ich. »Etwas Schreckliches ...« Er stand an meiner Seite und sah die Bescherung. »O Himmel! Dees ischt e beese Gschicht!« Schon hatte er das Skizzenbuch in seiner Jackentasche geborgen und die Schülermütze aufgesetzt, während ich den abgebrochenen Finger aufgehoben hatte und anstarrte. Wie gelähmt war ich, als jetzt hastige Schritte nahten ... Der König kommt! dachte ich.

Doch ich durfte aufatmen – der da kam, war Freund Uli. »Ach, Uli!« klagte ich und berichtete, was geschehen. »Fort! Net lang gfackelt!« drängte Wendelin. Aber Uli beschwichtigte: »Immer kalt Blut! Zeig dees Fingerle her! Vielleicht kann mer's napappe! Hat keiner e bisle Leim?« Mit gekneteter Brotkrume suchte er den Finger an den Stumpf zu kitten – vergebens. Das Fragment fiel ab.

»O Brunole!« sagte Uli geringschätzig – »bischt du e Kerle! Ond damit net genug! Auch noch d Linda tuscht uns auf den Hals lade!« – »Wieso? Linda? Ich hätte –? Linda Kuttler? Unsinn!« – »Doock! Sie ischt komme, mit ihrem Bruder, doran bischt doch du schuld. Dem Enzio hascht gesagt, daß mr in Bebehause send mit dem Kandidate.« – »Das hab ich allerdings gesagt – aber nicht, daß er mitkommen soll! Die Linda einzuladen, wäre mir erst recht nicht eingefallen. Ich weiß ja, der Kandidat kann sie nicht ausstehn!« – »Also! Grad deshalb war's onvorsichtik von dir, zum Enzio zu schwätze. Du solltest doch wissen, wie aufdringlich die Linda dem Kandidaten nachstellt.« Und es erzählte Uli, er sei mit dem Kandidaten den Waldpfad dahergekommen, der die Landstraße begleitet, – da hab' er die Linda mit dem Enzio bemerkt. Weil sie Bebenhausen [216] zugingen, habe sich der Zusammenhang erraten lassen. Der Kandidat sei nun stehen geblieben: Mit der Linda mög' er net zusamme sein, um keinen Preis. Er schlag' daher vor, daß man ein andres Ziel als Bebenhausen wähle. Uli solle nach dem Kloster springen, Wendelin und mich verständigen – Treffpunkt Olgahain. »Also jetzt, da bin i, ond ihr wißt Bescheid. Auf, ganget mr! Daß ons dr Enzio net trifft ond die Linda!«

Aber da kam er schon. An unserer unfreundlichen Miene merkte er sofort, er sei nicht willkommen – mißtrauisch rollten ihm die schwarzen Augen. Der freimütige Uli sah ihn fest an: »Du, Enzio? Waas willscht denn du bei ons? Heut hänt mr deine Gesellschaft net gern. Der Kandidat Hainlin, grad heraus gsagt, mag mit der Linda net zusammetreffe. Ond jetzt ganget mr! Nix wird aus dr Partie! Du bischt schuld, daß die Linda mitkomme ischt – deescht einfach taktlos!«

Roten Kopfes stammelte Enzio: »Dees – dees ... Mei Vatter hat mir den Ausflug bloß gestatte wolle, wenn die Linda mitkam.« – »Na hättescht selber wegbleibe solle,« entschied Uli kühl. – »Aber – aber ... was ischt denn mit der Linda? warom mag dr Kandidat sie gar net?« – »Also Enzio – wenn du's wisse willscht: die Linda ischt e charakterloses Weibsbild!«

»Enzio!« sagte ich beklommen. »Ohnehin könnten wir nicht in Bebenhausen bleiben. Wir müssen uns gleich aus dem Staube machen. Sieh doch, hier fehlt dem Eberhard der Finger.« – »Ha,« sagte er stutzig – »wie ischt dees komme?« – Und ich erwiderte kurz: »Abgeschlagen ist er – mit der Flöte! Fort müssen wir, ohne Verzug – sonst kriegt man's noch mit der Polizei zu tun.« Ich hatte noch so viel Besonnenheit, den Finger in eine Ecke des Refektoriums zu legen – damit er dort beim Fegen gefunden würde. Enzio blickte finster und verkrümelte sich.

[217] Beim Einsiedel

So kam's, daß aus der Geburtstagsfeier in Bebenhausen nichts wurde. Aber der Kandidat Hainlin, den wir im Olgahain trafen, wußte Entschädigung: »Na ganget mr halt zum Einsiedel!« Jubelnd stimmten Uli und Wendelin dem Vorschlag zu. Den Einsiedel, diese Lieblingsstätte Eberhards im Bart, hatten sie rühmen hören, waren aber bisher noch nicht hingelangt. »Ischt dees net, wo Ihr Onkel Guhl wohne tut?« fragte Wendelin, und Hainlin erwiderte: »Gewiß! Der wohnt beim Pächter der Domäne Einsiedel. Und wird sich freuen, daß ich ihm Pennälerle bringe, von denen ich ihm erzählt hab.«

Die Wege im schattigen Olgahain sind gepflegt – einmal freilich mußten wir steil empor durch rauhes Dickicht. Wieder abwärts ging's, es kam die Schlucht des Kirnbaches, dann eine neue Waldhöhe. In hochgelegener Feldlandschaft waren Landleute mit der Kornernte beschäftigt. Pfrondorf berührend, bogen wir in ein Wiesentälchen ein. Laubwald ragte als dunkelgrüne Wand hinter der Kerbung des Geländes, durch die ein Bach floß. Hinüber führte ein Steg aus dicken Stämmen. Alte Buchen bildeten das Gewölbe, dessen Schattigkeit vom Sonnengold durchäugelt wurde. In die steingraue Baumrinde hatten Besucher Buchstaben und Herzen geschnitten.

Aus dem Walde getreten, waren wir auf einer Hochebene, die umfassenden Blick auf die Alb eröffnet. Sanft blauten die Berge, weiße Wolken schwammen drüber. Durch Stoppeln [218] führte ein Grasweg, den alte Apfelbäume einfaßten. Man sah die Spuren von Schafen; drüben in der Ferne blökte und wimmelte die Herde. Nun kam Stallung, Rinder brüllten, auf den Tennen hüpften Dreschflegel. Inmitten landwirtschaftlicher Gebäude lag ein Wohnhaus, von Wein berankt. »Hier wohnt Onkel Guhl,« sagte Hainlin – »er wird aber beim Schlößle sein!« Nachdem wir ein Geviert von Ställen, dann ein Tor passiert hatten, deutete Hainlin auf einen altertümlichen Bau: »Da hänt mr den Einsiedel!«

Vom ehemaligen Kloster war nichts übrig als ein Steinportal nebst halbversunkenem Gemäuer. »Im Baurekrieg ischt alles zerstört, Aeberhards Lieblingswerk ischt verfalle – bloß sei Weißdorn, der grünt.« – »Weißdorn?« fragte ich. – »Ha, kennscht denn du dees Gschichtle net?« fragte Uli. Und Hainlin fügte hinzu: »In deim Uhland steht doch die Ballade von Aeberhards Weißdorn. Der damalige Graf im Bart hat e Wallfahrt gemacht zum heiligen Land – und soll davon en Weißdornzweig heimbracht haben. An seiner Lieblingsstätte hier hab er den Zweig in die Erde gepflanzt – ond e Baum sei draus worde. Drüben seht ihr ihn – zwischen Apfelbäumen, e Steintisch drunter. Aber der Onkel, den i da vermutet hab, ischt net da. Ganget mr, ihn suche!«

Seitwärts abbiegend, wandelten wir am Graben hin, der das Klostergebiet umschließt. Er war schmal, flach, wasserlos – schilfiges Gras wuchs drin. Die Wehrmauer dahinter hatte nur Mannshöhe, und von unserm Pfade konnten wir hinüberblicken ins Bereich des ehemaligen Klosters. Allerdings war nichts weiter zu sehen als Rasen mit Obstbäumen und Gesträuch, Beete mit Salat und Bohnen.

Ein Hund schlug an, und gellend pfiff auf dem Finger Herr Hainlin. Drüben zwischen den Beerensträuchern erschien kläffend ein rehbrauner [219] Dachshund, und der Kandidat deutete auf eine Gestalt, die sich bei einer Bretterhütte zu schaffen machte: »Da hänt mr den Onkel! Seine Lieblinge tut er füttre. Hört ihr ihn locke?« Wir vernahmen, soweit es das Hundegebell zuließ, ein zirpendes Gezwitscher, das wohl von einer Trillerpfeife herrührte. Um einen weißbärtigen Mann schwirrten Vögel, und etliche saßen ihm auf Hand und Schulter, nach dargereichter Nahrung pickend. Neue Gäste kamen geflattert, Fink, Meise, Goldammer, Rotschwänzchen. Auf einem Pfahl lauerte eine Krähe und krächzte begehrlich.

»Aus der ganzen Gegend kommen die Tierle zu ihrem Wohltäter, wenn er bloß pfeife tut – ond so wenik Scheu hänt sie vor ihm, daß sie sich greife lassen. Jetzt ist die Fütterung, scheint's, beendet ... Grieß Goot, Onkel Guhl!« – Der Angerufene winkte: »I komm scho!« Und näherte sich uns, fortgesetzt umflattert. Am Steinportal, wohin wir zurückgekehrt waren, hüpfte uns der Dackel entgegen und schwänzelte um den Kandidaten. Dann kam, etwas schwerfällig, doch für sein Alter aufrecht genug, ein freundlicher Greis. Langes Weißhaar und ein weißwallender Vollbart umrahmten das wettergebräunte Gesicht, aus dessen blauen Augen Gutherzigkeit strahlte. »Grieß Goot, Jergle!« Er schüttelte des Neffen Hand, freute sich über sein stattliches Aussehen, fragte eingehend, was der Arm mache und wie es mit den Militärverhältnissen stehe, erkundigte sich nach Rosel und nach Bolkendorfs Befinden – blickte dann behaglich in die Runde: »Dei Schülerle? Dees da ischt der Uli, ond dees der Wendelin – leicht zu raten. Recht so, daß ihr komme sind! Ihr hänt gewiß tapfer Hunger, gelt? I geh gschwind, i hol was zom Veschpere.« Hainlin duldete nicht, daß sich der Alte bemühe, selber ging er zum Verwalterhause, Speise und Trank zu bestellen.

»Kommt, ihr Lateinerle!« sagte Guhl – »betrachtet derweilen den Ort! Nicks Bsonders freile hat's da. Zunäckscht hänt [220] mr dees Jagdschlößle. 's Innere bleibt uns verschlosse – hauße aber ischt kaum ebbes zu sehe. Uebrigens kann dees da net als ganz echtes Denkmal Aeberhards gelten. Dessen Jagdschlößle ischt im Dreißikjährigen Krieg niedergebrannt – bis auf einen dürftigen Rescht – den hat mr später ausgebaut.« Wir besichtigten das Gebäude. Unter überhängendem Dach hat der Oberstock eine Galerie, die von fünf Holzsäulen gestützt wird.

Die Magd, die nun mit Herrn Hainlin kam, richtete auf dem Steintisch an, was sie beschafft hatte. Es wurde jedem Milch eingeschenkt und Brot gereicht. Gemütlich war die Tafelrunde. Herr Guhl und der Kandidat saßen am Steintisch auf der Bank – wir drei Knaben lagerten im Grase. Der Dackel stand wedelnd vor Uli und erschnappte zugeworfene Brocken. Die Vögel wurden auch nicht vergessen – traulich hüpften und hockten sie, sich zur Familie rechnend.

Der Weißdorn, ein ziemlich dicker Baum, wölbte über uns die schattige Krone; zwischen gekerbten Blättern hingen, noch grün, die Früchte. »Ja ja, so geht's,« sagte Guhl – »Wachsen und Welken! Ond dees nennt mer's Lebe. E Sträuchle ischt der Baum gwä, wie dr Aeberhard sei Schlößle erbaut hat. Wie dann 's Einsiedelstift den Fünfzikjährigen aufgenomme hat, ischt scho e Bäumle hochgewachsen. Später hat mr's abghaue; weil aber die Wurzel noch lebenskräftik gwä ischt, hat sie en Schößling hervorgetriebe – der breitet jetzt den Wipfel da. Ond so hält der Aeberhard über seine Landeskinder noch immer die gütige Hand.«

Gütige Hand – das Wort war mir peinlich, weil es mein Gewissen traf: Ich dachte an die von mir verstümmelte Hand zu Bebenhausen. Hainlin hatte in meinem Gesicht gelesen und lächelte mir zu.

»Ond da herum« – sagte Uli mit Ehrfurcht – »liegt der Aeberhard begrabe?« – »Er lag hier,« erwiderte Guhl. »Im [221] Wald hat er ruhen wölle, unter Bäumen, wo er den Hirsch gejagt, wo er später sinniert hat. Der Graf im Bart tut in den Wald passe, hat ja selber ebbes Waldhaftes. Dees Waldhafte, Eigenwüchsige sollt im Menschenkind Geltung behalten. Aber leider maßt sich dr Menschewitz' ahn, es auszuroden. Menschewitz hat auch hier gscheiter sein wolle als das Waldhafte. Drum hat mr, nachdem der Aeberhard hier bestattet worden, vier Jahrzehnte später seine Gebein ausgegraben und in der Tübinger Stiftskirch beigesetzt. Für en Fürschten, so meint Menschewitz, sei's besser, in prunkender Gruft zu ruhn, als in gemeiner Erd.«

»Bitte, Herr Guhl!« sagte Wendelin – »können Sie wohl erklären, weshalb die Ringmauern des Kloschters da so auffällik niedrik sind? Der Verteidiger hat ja gradezu auf'm Erdboden liegen müsse, um durch die Schießscharte ziele zu könne. Oder ischt die Ruin in die Erd neigsunke? War die Erd etwa sumpfik? Schilfgras wächst im Graben da. Wie i dees bemerkt hab, ischt mir's Gedichtle vom Uhland in den Sinn komme: Ein Kloschter ischt versunken.« – »Net versunken ischt der Einsiedel,« antwortete Guhl – »sondern rings um die Mauern hat sich das Erdreich erhöht – vier Jahrhundert sind drüber hingange. Hänt ihr beim Bachstegle die Buchstaben an den Baumstämmen gsehn? Frisch gschnitte, sind sie lesbar, doch im jahrelangen Wachsen kommt von der Seit die Rinde herübergewallt, und schließlich sind da nur sonderbare Risse. So geht's mit allem, was einscht gewesen – und selbscht Inschriften aus Stein werden unleserlich. Kommet! I will euch das Grabdenkmal zeige, das dr Knecht beim Pflanzen eines Baumes aus Schutt ausgegraben hat.«

[222] »O Ewigkeit, du Donnerwort!«

Und zu jener Hütte führte uns Herr Guhl, wo er die Vögel gefüttert hatte. Unter der Bedachung lag ein rechteckiger Stein, dessen Meißelung durch Abwaschen von Erde und Moos gereinigt war. »Dees da han i entziffert.« Und Herr Guhl wies auf eine Zeichnung, die auf ein Brett gespannt war: »Anno Domini ... die Jahreszahl ist leider zerstört, der Name net ganz leserlich: Martinus ... Aber die Verse han i so ziemlich beisamme: ... seynd die Menschenkind / ... all Fleisch wie Heu. Auff Tennen tanzt eyn Würbelwind / Und bläset von dem Korn die Spreu / Was staubgeborn, das muß verwehn / Nur was aus Gott ist, bleibt bestehn.« – Die Lücken der Inschrift versuchten wir auszufüllen – Herr Guhl meinte, es seien freilich auch andere Lesarten möglich. »Aber Lesart hihn, Lesart her – die Hauptsach bleibt halt die Wahrheit vom Vergehn und von der Ewikkeit – gelt, Jergle?«

»Bitte, Herr Guhl, derf i noch ebbes frage?« bemerkte Wendelin bescheiden. »Von Ewikkeit sprechen Sie. I möcht gern wisse, waas für Bewandtnis es hat mit der Ewikkeit.« – Mit gutlaunigem Lächeln Guhl: »Ha, Büble – selbes möcht i au wisse! Was onsereins begreife tut, wenik gnug ischt dees – ha!« Ernsthaft sah er den Kandidaten an. »Ka'scht du's vielleicht deute?«

Dieser fand die Antwort: »Paulus meint: Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort. Ja, von Dämmerung [223] bleibt die Abspiegelung verschleiert – mögen auch Umrisse hervortreten – nur Ahndeutungen sind's des ewik Wahren – drüber naus kann Menschewitz net gelange ... O Ewikkeit, du Donnerwort!« – Langsam nickte Guhl: »Donnerwort! Ein Blitz aber muß beim Donner sein. Den Blitz, den wolle mer schaue!« – »Er blendet!« – »Blendet ond erleuchtet!« – »Dees schon, Onkel Guhl – aber net dauernd erleuchtet er. Kaum, daß er aufzuckt, ischt er wieder erlosche. Ond nicks Bessers hat er aus der Finschternis zur Deutlichkeit erhobe als ein Sekundebild – was liegt daran! Mr kann's netfescht halte!«

»Immerhihn!« meinte Guhl. »In mancher Gewitternacht blitzt es so rasch aufeinander, daß sich die Augenblicke wie Glieder einer Kette aneinander reihen. Ond einmal han i e Wetter gschaut, sell ischt e einzige Flamm gwä: versteinerte Zeit.«

Leuchtenden Auges Hainlin: »Versteinerte Zeit!« Und zu mir gewandt, mit leisem Lächeln: »Nunc stans lautet eine treffende Bezeichnung – was heißt das, Bruno?« – »Ein Jetzt, das still steht.«

»Allerdings, das ist die Ewikkeit,« bestätigte Guhl – »festgefrorener Moment – richtiger noch: der unverwüstliche Zusammenhang aller Daseinsmomente – das sonst von Trennung zerrissene Leben verschmolzen zur heiligen Einheit.«

»Festgefrorener Moment!« nickte Hainlin – »Dies Wort, Onkel, erinnert mich daran, daß du mal so ebbes erlebt hast – ich meine die Gschicht vom Herzog Christoph – die solltescht dene Buebe da verzähle, gelt? Denket, ihr Buebe! Unsern Herzog Christoph, der vor dreihundert Jahren gelebt hat, den Enkel Aeberhards, hat Onkel Guhl mit eigene Augen geschaut – net bloß im Bild, nein leibhaftik!« – »Ha!« stutzte Wendelin – »wie wär dees mögli?«

[224] »So möcht i selbr frage,« sagte Guhl – »i staun alleweil von neuem, daß ein Moment, vor drei Jahrhunderten erstarrt, mir Gegenwart hat sein können. Ja, den Herzog Christoph, den han i vor mir ghätt, wie jetzt euch! Bloß daß er wie e Schlafender war ... So höret! Anno Zwanzik ischt's gwä – i bin damals im Geschäft von meim Vatter, dem Tübinger Stadtmauermeischter, gwä. Da hat's geheißen, das Grabmal vom Herzog Christoph tu sich über der Gruft senke und könn einstürzen, wenn mer net vorbeug. Na hat mr beschlosse, die Gruft zu repariere. Mei Vatter hat's übernomme, und i bin dabei gwä, wie mr's Gwölb geöffnet hat. Im Schein der Laterne hänt wir da den Herzog liegen sehn – noch völlik unversährt, als ob er grad entschlummert wär. Den Kopf mit dem Herzog-Hut auf dem Purpurkissen, im Talar von grünem Samt. Auf dem schwarzen Wams eine goldene Kette. Das volle Kinn vom runde Bart umgebe, dunkelbraun mit Grau vermischt. Unerschütterlich ruhevoll war das gutmütige Gesicht, das gelblich blasse. Die Hände lagen gefaltet, Ringe an den Fingern. Mit Ahndacht sah's, wer durfte.«

Wir Knaben blickten schweigsam staunend den Alten an, der da unter dem Baume saß, den Eberhard gepflanzt; und Eberhards Enkel, einen vor drei Jahrhunderten Verstorbenen, hatte dieser Alte von Angesicht zu Angesicht geschaut. Geweiteten Auges, wie ein Seher, fuhr Guhl fort: »Ja ja! Das war ein versteinerter Moment – nunc stans. Wie nun Einbalsamierung den entschlafenen Herzog vor Vergänglichkeit bewahrt, so enthält die Ewikkeit alles, was einmal war, jeden Augenblick, in sich geborgen, und zwar nicht bloß mumienhaft, sondern in Lebendikkeit, überdies in säliger Harmonie mit dem Ganzen.«

Wie ein Entrückter starrte Hainlin und sprach leise vor sich hin: »Species aeternitatis, Schau der Ewikkeit! Ja, so könnte [225] sie gelingen. Gleichwohl wäre sie bloß Schau. Auf Aeußerliches erstreckt sich die Schau, das uns gegenübersteht wie ein Gegenstand. Faust, der soeben schauen gedurft, wie alles sich zum Ganzen webt, kann net umhihn, gleich dar auf zu seufzen: Ein Schauspiel, aber ach, ein Schauspiel nur! Wo faß' ich dich unendliche Natur? So möcht auch ich das Ewige net als bloßer Zuschauer erfassen ... Das bloß Gedachte ischt mir net eigen gnueg – fascht äußerlich steht mir's gegenüber. Grad darauf aber käm's mir ahn, das Ewige unmittelbar zu haben, net als Gegenstand, sondern innerlich

»Zu haben? Sag lieber: zu sein! Um Ewiges ganz zu haben, müssen wir Ewiges sein! Richtiger noch: Die Ewikkeit soll uns haben! Wie eine Mutter ihr Kind umfängt.« – »Recht so, Onkel Guhl! Ja dann hätten wir sie unmittelbar!« – »Vorerscht freile« – fuhr Guhl fort – »tut's Kindle net viel erlebe von seiner Mutter – schlafe tut's meischt – benommen von wirrer Träumerei – und da ischt ihm oft bang ... Aber wach kann's werde

»Hilf mir, daß i wach werd!« sagte Hainlin, und es war in seiner weichen Stimme ein Flehen: »Das Einzelne zu verbinden zum heiligen Ganzen! Wo ist der Born, aus dem sich solche Macht schöpfen läßt?«

»Liebe«, sagte der Alte, »ischt innikschte Schau der Ewikkeit. Wer's erlebt, der weiß es. Mußt halt derart lieben, – daß keine Zeitlichkeit hinanreicht zur Höhe deiner Liebe.«

Bei diesem Gespräche war uns Knaben zumute gewesen, als wachse vor uns ein Felsenberg ins Ungeheure, so daß der Emporlugende Schwindel empfindet, daß er meint, jetzt müsse der Berg auf ihn hereinstürzen. An den Glasberg gemahnte mich dieser Felsenriese. So unermeßlich freilich hatte ich meinen Märchenberg noch nicht gesehn.

[226] Ein Aufatmen war's für mich, als jetzt zu Herrn Guhl eine zahme Dohle gehüpft kam. Wir lachten über ihre Drolligkeit – wie sie krächzend, als begrüße sie ihn freudig, auf ihres Schirmherrn Schulter flatterte und da behaglich kauerte, als sei's ihr angestammter Platz. »Bischt mei Peterle?« sagte der Alte. – »Ich nenne ihn Hugin,« scherzte Hainlin. »Hugin und Munin sind Wotans heilige Raben; alle Zeiten durchschauen sie, stellen also die Sehergabe dieses Weisheitsgottes dar. Ja, Onkel, ein Seher bist du, hast von der weißen Schlange gegessen, wie Merlin der Wilde – bist ein Zauberer, der sich und seine Gäste in graue Vorzeit versetzen kann, tote Helden aus der Gruft beschwört und die Sprache der Vögel versteht. Den Gedanken des Weltenmeisters weiß er nachzuspüren – die Allsymphonie belauscht er, die Chöre der Engel ...«

»Eure Chöre will ich belauschen –, ihr seid mir jetzt Seraphim, ihr jungen Dachse. Wenn schön Wetter ischt, hat mei Großvatter gern gsagt, so fliegen die Engele spaziere. Drum hänt ihr Engele-Bengele heut beim alten Guhl vorgsproche, gelt? I aber laß euch net eher wieder fort, als bis hier ebbes Schöns gesungen ond geklungen ischt.« – »Singet unser Schwabenlied vom Weißdorn,« bestimmte Hainlin – »die Buben hänt's in der Schul' gelernt, gelt?« Während nun im Wipfel des Weißdorns, den das Abendgold verklärte, eine Grille geigte und kleine Vögel gemütlich kauerten, als ob sie lauschten und zwitschernd mittun möchten, erscholl es aus frischen Kehlen, und den Baß brummte der Alte:


»Graf Eberhard im Bart, Vom Württemberger Land, Er kam auf frommer Fahrt Zu Palästinas Strand.

[227] Daselbst er einsmals ritt Durch einen frischen Wald; Ein grünes Reis er schnitt Von einem Weißdorn bald.

Er steckt' es mit Bedacht Auf seinen Eisenhut; Er trug es in der Schlacht Und über Meeres-Flut.

Und als er war daheim, Er's in die Erde steckt, Wo bald manch neuen Keim Der milde Frühling weckt.

Der Graf, getreu und gut, Besucht' es jedes Jahr, Erfreute dran den Mut, Wie es gewachsen war.

Der Herr war alt und laß, Das Reislein war ein Baum, Darunter oftmals saß Der Greis in tiefem Traum.

Die Wölbung, hoch und breit, Mit sanftem Rauschen mahnt Ihn an die alte Zeit Und an das ferne Land.«

[228] Engelheim

Frau Schneckle, Studentenmutter in der Neckarhalde, hatte ihrem frühern Mieter Herrn Hainlin sein altes Zimmer eingeräumt. Weil nun das Haus, wo wir wohnten, unterhalb der Neckarhalde liegt, konnte ich durchs offene Fenster sowie vom Garten her das Flötenspiel des Kandidaten belauschen, wenn er abends auf Schneckles Altane saß und mit seinen Flötenseufzern Rosel grüßte, die in der Laube träumte. Der kranke Herr Bolkendorf, dem Rosels Mutter die Wirtschaft führte, hatte, wie gesagt, neben uns seine Wohnung. Unsere Beziehungen zu dieser Nachbarschaft waren freundlich. Sah ich Rosel bei der Tanne gärtnerisch hantieren, so war ich bereit, ihr zu helfen, und habe manche Gießkanne auf ihre Salatbeete getragen. Mein Vater saß zuweilen am Bette des Patienten und plauderte mit ihm von der Heimat.

»Gespannt bin ich,« – sagte meine Mutter zum Vater – »was nun mit Rosel und dem Kandidaten wird.« – »Sag einfach: ob er die Anstellung an der Töchterschule erhält. Das ist entscheidend. Alsdann, wenn er Rosel ernähren kann, wird er wohl ernstlich um sie anhalten – und sie gibt ihm keinen Korb.« – »Oder,« entgegnete die Mutter, »wie's im Liede heißt, das Hainlin gestern geflötet hat, wird sie sagen: Für die Zeit, wo du geliebt mi hast, dank i dir schön – und wünsch, daß dir's anderswo besser mög gehn.« – »Oho! sie liebt ihn! Und Bolkendorf hat seiner Sorge Ausdruck gegeben, mit ihrem [229] Jugendfreunde werde sich Rosel unauflöslich verbunden fühlen.« – »Unauflöslich? Irdische Verhältnisse sind niemals unauflöslich. Rosel, im Grunde eine verständige Natur, muß sich sagen: Jugendschwärmerei ist bald verflogen, und was dann? Einen vermögenden, übrigens herzensguten Mann zu haben, ist besser als einen Schwärmer, arm wie ne Kirchenmaus.« – »Ach ja!« seufzte mein Vater – »man könnte wahrhaftig meinen, nicht der liebe Gott regiert unsre Welt, sondern der Geldbeutel. Aber Gott sei Dank gibt's noch Menschen, die auch das Herz mitsprechen lassen beim Eheschluß.« – »Du bist eben kein Realist! Hast selber was von diesem Träumlesjörg – so nennt ihn Rosel und hat ganz recht!«

»Und was würde Bolkendorf sagen – wie würde er fühlen – wenn sich nur vermuten ließe, daß Rosel solchem – Realismus huldigte?« – »Na ja, erbaulich wär's nicht. Aber was ist da zu machen? Bolkendorf hat nun mal das Pech, Krüppel zu sein – und hat herzliche Pflege nötig – ist zudem verliebt in Rosel. Also wird er ein Auge zudrücken! Ich wundere mich übrigens über dich – du bist Bolkendorfs Landsmann und besuchst ihn – da solltest du ihm die Rosel gönnen. Wirst doch wohl einsehn, daß es edelmütig von ihr getan wäre, Bolkendorf nicht zu verlassen?« – »Edelmütig, ja! Aber aus bloßem Edelmut soll man nicht heiraten. Was wird sie denn, wenn sie den Patienten heiratet? Seine barmherzige Schwester – so eine mit der Diensthaube! Schließlich entartet sie zur Madeere-Kuh.« – »Frauenlos!« versetzte die Mutter herb. – »Vor solchem Frauenlos sollte Hainlin sie eben bewahren. Sollte ihre Hand ergreifen – oder wenigstens ein ernstes Wort mit Bolkendorf sprechen – ihm dringend abraten ...«

»Nun bin ich aber gespannt, was du in Bolkendorfs Lage machen würdest,« fragte die Mutter. Der Vater räusperte sich, [230] und, obwohl zögernd, kam die Antwort: »Ich? Wenn ich Bolkendorf wäre? Hätte dann allerdings – warum auch nicht? – den Wunsch, Rosel – bei mir zu haben – es zu dürfen! Wenn ich aber sähe, daß sie innerlich zu Hainlin gehört, würd ich sagen: Heiratet euch! Hier, Rosel, hier ist ein Geldzuschuß! Und wenn ich sterbe, vermach' ich euch ein Auskommen. Und zu Hainlin würd' ich sagen: Mach' sie glücklich! Im Grunde will ich ja nichts anderes, als Rosel soll glücklich sein, das ist die Hauptsache!« – Tief atmend, schwieg meine Mutter – dann meinte sie nachsichtig, wie man zu einem törichten Kinde spricht: »Aber, Mann!«

»Ja!« bekannte mein Vater leise. »Es ist nichts mit jener Verliebtheit, die den Menschen haben will, wie man Eigentum hat. Wahre Liebe ist anders!« – Die Mutter seufzte: »Ach Gott, Mann! Was du wahre Liebe nennst, ist bei den Engeln daheim – nicht bei uns Menschen. Ich glaube übrigens, selbst dir würde es schwer fallen ... Hand aufs Herz! Wärst du fähig, so uneigennützig, so engelhaft ... wie?« – Demütig versetzte der Vater: »Ueber meine Fähigkeit wage ich nichts zu behaupten. Aber eins weiß ich: Wer solche Liebe fertigbringt, rutscht nicht vom Glasberg ab – der ist und bleibt im Engelheim.«

Die Mutter schien gerührt: »Solche Liebe – wir Frauen meinen sie, wenn wir ein Kind haben. Mann und Frau, die lieben einander anders – wenigstens gewöhnlich – nein, fast immer!« – »Allerdings, mit dieser andern Liebe fängt ein Paar gewöhnlich an – während es nicht mal den Grund zur Freundschaft gelegt hat.« – »Du meinst, anfangen sollten sie mit der Engelhaftigkeit? Dann wären die Ehen so selten wie Engel auf Erden, und an der Engelhaftigkeit würde die Menschheit aussterben. Adam und Eva – heißt es – waren zwar anfangs im Engelheim – aber ich kann mir nicht denken, daß der liebe Gott gemeint hat, sie sollten sich bloß in heiliger Seelenfreundschaft [231] finden – wie Hainlin und Rosel. Bei Hainlin vermute ich allerdings, daß seine Unfähigkeit mitspielt, das Leben realistisch zu nehmen. Er will lieber träumen und Junggesell als verheirateter Schulmeister sein.«

»Ganz einfach!« platzte ich dazwischen – »er will nicht ins Tinten-Zuchthaus! So sagt Uli! Der durchschaut die Geschichte! Und weil Hainlin nicht dazu paßt, Pennal-Lehrer zu sein – und weil Rosel das einsieht, drum eben will sie ihn nicht dazu verleiten.« – »Der Junge mag recht haben,« – sagte mein Vater – »was kein Verstand der Verständigen sieht ... Hainlin will Rücksicht auf Rosel nehmen – sie auf ihn – auch natürlich auf ihre Mutter – und auf Bolkendorf. Und so entsagt Hainlin – wie Rosel entsagt. Daß es aber dahin kommen kann, macht die Dumpfigkeit, die Sumpfigkeit, dran unser öffentliches Leben krankt. Staat und Kirche und Schule und alles wird beherrscht von den Philistern. Einem Menschen wie Hainlin gewähren sie kein Brot, wenn er nicht mitmachen will. Soll ich sagen, wer mit Bestimmtheit eine Madeere-Kuh ist? Unsere Zivilisation! Um Futter zu haben, versauert sie im Stall auf der Beletage. Und kennt die Sonne nicht. Neulich hat Hainlin das rührende Lied geflötet vom Wanderer, der seine Engelheimat sucht: Ich bin ein Fremdling überall. Wo bist du, wo bist du, mein geliebtes Land? Gesucht – geahnt – und nie gekannt!«

[232] Hundsgemeinheit

An einem Sonntag war's, nach Tische. Ich übte auf meiner Zither, während mein Vater schrieb und die Mutter in Haushaltsachen ausgegangen war. Da scholl die Wohnungsglocke, gleich darauf hörte ich, wie eine Baßstimme sprach, und Uli trat ein. Schmerzliche Spannung im Gesicht. Nachdem er meinen Vater wegen der Störung um Nachsicht gebeten hatte, reichte er mir düster die Hand.

»Ist etwas mit Hainlin?« fragte ich beklommen. – »Er will ons verlasse,« lautete die dumpfe Antwort. – »So ist es nichts mit seiner Anstellung?« fragte mein Vater. Ulis Auge sprühte Zorn, er schüttelte die Faust: »Den Denunziante, den hundsmiserable, wenn i den ausfindik mach –!«

»Denunziant?« stutzte mein Vater. »Herr Hainlin ist denunziert? Was soll er denn verbrochen haben? Und wer hat denunziert?« Aufgeregt fuhr sich Uli durchs Haar und lief mit großen Schritten umher: »Der Ssaubock hat's tan! Der ond die Linda! Hintertreibe will sie, daß Hainlin die Rosel kriagt. Dees neidige Huhn! Ond mit dem Ssaubock hält sie's neuerdings!«

»Und deshalb meinen Sie ...? Aber was ist denn eigentlich geschehn? Tatsachen, Herr Ritter! Nicht bloße Verdachtsmomente!« Uli blieb vor meinem Vater stehn: »Erschtens – [233] Tatsach! Ein anonymer Brief an die Polizei, der behauptet, in Bebehause hab Herr Hainlin mit seiner Flöt dem Standbild des Grafen Aeberhard 's Fingerle abgschlage! Aber dees ischt verloge! Herr Hainlin hat auf Ehrenwort erklärt, mit keinem Schritt sei er damals im Kloschter Vebehause gwä, vielmehr beim Herrn Guhl im Einsiedel. Alsdann hat Frau Schneckle zu Protokoll gebe, besagte Flöt sei damals auf Hainlins Bud glege, den ganze Taag –! Na hat die Polizei davon Abstand genomme, die Sach weiter zu verfolge.« – »Also!« sagte mein Vater – und mir fiel eine Last vom Herzen.

Doch Ulis Gesicht wurde aufs neue finster: »Jetzt kommt die andre Tatsach: Auch die Schulbehörde hat eine anonyme Denunziatio' erhalte. Hainlin hab eSchmähgedicht auf den ganzen Schulbetrieb gemacht und hab's veröffentlicht in der geheimen Schülerzeitong.« – »Und ist das Gedicht so scharf, daß es Herrn Hainlin als Lehrer unmöglich macht?« fragte mein Vater. Uli entgegnete spöttisch: »ImLändle send mr halt – ond Herr Hainlin hat gesagt, da ghör d Schulmeischterei zur Staatsordnung.«

Ulis seelische Gespanntheit schien sich einigermaßen entladen zu haben, und er nahm Platz, – heller wurde seine Miene: »Den heutige Tag möcht i net weiter veronreinige mit so Hundsgemeinheit! Herr Hainlin bittet, wir sollten uns heut net weiter mit dem Schmutz da befasse. Feire möcht er mit uns den Abschied. Ond dazu soll i den Bruno einlade – ins Wengerthäusle! Wenn Sie's erlaube, Herr Wille, kommt dr Bruno glei mit – gelt?« – »Gewiß erlaub' ich's. Aber muß denn gleich geschieden sein? Und wohin will Herr Hainlin sich wenden?« – »Nach Bonn will er – da hat er nen Poschten in Aussicht als Hilfsbeamter der Universitäts-Bibliothek. Dabei könnt er sei Studium fortsetze – Germanischtik.«

[234] »Das freut mich für ihn. Und nun grüßen Sie Herrn Hainlin herzlich von mir. Ich hoffe, ihm noch die Hand drücken zu können. Ueber die Denunziationsgeschichte sagen Sie mir wohl später Näheres, Herr Ritter. Ihr Verdacht gegen Linda Kuttler interessiert mich natürlich. Sollte sie wirklich so bösartig sein?« – Mit bitterm Lächeln zuckte Uli die Achsel. Dann empfahl er sich in seiner höflichen Weise, und ich ging mit ihm. Als wir durch die Gassen schritten, wurde er wieder leidenschaftlich: »Der Ssaubock steckt dahinter! Aber dem werd i's eitränke! Wart', du Hundsgemeiner!«

[235] Reicher als die Welt

Herbstlich klar war das Wetter, dabei sommerlich warm, als wir zur Waldhäuser Höhe emporstiegen. Am Weg in dürrem Gestäude gab's leis Gezirpe von Grashüpfern. Aus dem geschorenen Rasen der Obstgärten blühten Herbstzeitlosen, die Bäume strotzten von rotbackigen Aepfeln, stellenweise war im Laub ein goldig Lodern. Als wir uns dem Schnützelputzhäusel näherten, sahen wir zwischen den Rebstöcken Herrn Hainlin und seinen Onkel Guhl – sie musterten den stattlichen Traubenbehang. Hainlin kam uns strahlend entgegen, Onkel Guhl hatte seine ruhevolle Gemütlichkeit. Und es nahten Wendelin mit Berta Schneckle, Rosel mit Frau Schneckle – diese beiden trugen Henkelkörbe.

Während Frau Schneckle und Berta die Körbe zum Schnüzelputzhäusel trugen, um Kaffee zu brauen, ging Hainlin mit Rosel Hand in Hand. Onkel Guhl berührte mit keinem Worte den trüben Anlaß unserer Zusammenkunft. Wendelin konnte sich nicht enthalten, leise mit mir darüber zu verhandeln, und ihm kamen die Tränen. Dann wurden wir von Berta zum Häusel geladen und gingen hinauf ins Stüble.

Der zum Fenster gerückte Tisch weiß gedeckt; bei einem Blumenstrauß die Kaffeekanne nebst Tassen, ein Gugelhopf, eine Glaskanne Rotwein. Nach Frau Schneckles Anordnung nahmen Hainlin, Rosel und Onkel Guhl in der Mitte auf Stühlen Platz, während wir anderen zur Seite auf Bänken saßen.

[236] Für Hainlin und sich füllte Onkel Guhl zwei Gläser mit Wein und stieß an: »Zum Kaffee han i mi noch immer net bekehrt – seit er mir vom Arzt verboten worden – wie ich Schwindsuchtskandidat war ... Ja, ihr jungen Leut, damals hat der Arzt das Gutachten abgegeben, keine zwei Jahr würd i am Lebe bleibe – ond jetzt sind vierzik seitdem herum. Drum Prosit, Jörg ond Rosel! An mir wird offenbar: dr liebe Gott fügt die Ding oft ganz anders, als der Mensch vermutet. Also lasset uns net sorge! Vorschmack der üblen Sach ischt oft schlimmer als die Sach selbscht. In der Gegenwart lasset uns lebe! Der Augenblick sei Ewikkeit!« Friedlich lächelnd, stieß Guhl mit seinem Neffen an, schlürfte und lobte das Weinle.

Dann schwelgte sein Aug im Anblick der Alb, die durchs Fenster blaute. – »Heut hat sie e Lächeln so sälik, wie damals, als i Glaubens war, sie zum letztemal zu schauen. Was sie mir damals offenbart hat, gilt au für euch, ihr Kindle. So höret!

In meim Studentestüble war i glege, krank und einsam – bei der Burggass' hoch oben, wo mr die Alb übers Steinlachtal aufsteige sieht. Aber dafür war mir der Sinn schier vergange. Vom Fieber benommen, hatt i's Gsicht zur grauen Wand gekehrt – läär ischt mir die Welt vorkomme, wie e taube Nuß – alsdann han i die brennenden Augenlider gschlosse, gar nicks han i mähr sehe wolle – am gernschte hätt i alle Gedanken aus meim dumpfe Schädel naustan. Dees kammer freili net zwinge. Drum wimmelte hinter den Augenlidern e krauser Gedankeschwarm: Bilder früherer Tage – allerlei Erlebtes und Grübelei. Und obwohl ich teilnahmslos hinstarrte, kam mir die Frage: Hat's unter all dem ebbes, das dich wünschen lassen könnt, noch am Leben zu bleiben? – Student war ich – aber an Schulweisheit hatt' ich net Glauben – und der Burschefreud hatt ich mich enthalten [237] müssen wegen meiner Kränklichkeit. Die Eltern waren tot, meinem fern lebenden Bruder war ich entfremdet, net emal en Freund besaß ich. Wohl hatt ich seit Jahren e Mädle lieb – doch nur verstohle, ohn ihr's Herz entdeckt zu haben. Was hätte sie denn auch gewollt mit me Verährer, der die Schwindsucht hat – und dem sie nur kühle Freundschaft, keine Zärtlichkeit widmete. Zudem war's Mädle fortzoge von Tübinge – an eme Novemberabend, bei glutik dunklem Gewölk hatt ich Abschied von ihr genommen ... Wie ich das alles so bedacht hab auf meim Krankenlager, ist mir durchs Herz das Lied erklungen ... Gelt, Jörgle? Dir ist die Volksweise bekannt: Wenn ich an den letzten Abend gedenk, als ich Abschied von ihr nahm – denn die Sonne scheint nicht mehr, ich muß scheiden von ihr – doch mein Herz bleibt stets bei dir ... Seltsam hänt mich diese Worte ergriffen, besonders die letzten: Mein Herz bleibt stets bei dir ... Welch ein Wunder, han i denkt: hier liegt dr Körper, elend, ein verröchelndes Tier – die Seele aber fliegt in weite Ferne, zu ihr, die ich liebe ...

Wie mir selbiks Lied innerlich gehallt hat, ist es mir zum Wiegenlied worde. Und hat mich in Schlummer gelullt. Tief muß ich geschlafen haben, denn wie ich aufwachte, fühlt ich mich erquickt. Sonniger Tag war's, und grad wie heut lächelte durch mein Fenster das Gebirg herein. In dieser neuen Form rührte mich das Wunder von gestern. Denn ich sagte mir: Fern ist die Alb, aber du hast sie. Und warum? Weil du sielieb hast. Innen hegst du alles Liebe – und keine Trennung, nicht Raum, nicht Zeit, kann dir rauben, was du liebst – ewiges Leben hat die Liebe – einen Reichtum, so kostbar wie net emal Gold ... Und wie ich so dachte, summte mir als süßer Trost der Schluß des Liedes durch den Sinn: Ich gedenke noch einmal recht reich zu werden – aber nicht an Gut und Geld. Wolle [238] Gott mir schenken das ewige Leben – ei so bin ich reicher als die Welt.«

Hier pausierte Herr Guhl in seiner Erzählung. Unter stillem Lächeln hielt er seinen Kelch empor, drin ein Glimmen war, geheimnisvoll, als solle ein Abendmahl genommen werden. Unvergeßlich ist mir auch der glühende Blick, mit dem Rosel ihn anstarrte – als wolle ihre Seele in sein Heiligtum stürmen. Dann winkte Guhl der Alb zu und schlürfte langsam.

»Ja, reicher als die Welt!« sprach er tief atmend – »der ist es, der sich einlebt in die ewige Heimat. Was dort blüht, im Heilgemüt aller Schöpfung, gehört jedem, der 's lieb hat. Und da gibt's keinen Hader um Mein und Dein. Ein einzik Haben ischt wert, daß wir uns was draus mache: 's Liebhaben – vorausgesetzt, daß man's ohne Habsucht meint. Nun mach du die Torheit der Welt nimmer mit – tu die Augen auf! Fang recht zu leben ahn! Vom Siechbett deiner Seele steh auf und wandle! – Die ferne Alb, die so zu mir gesprochen hat, ist mir vorkommen wie des Herrgotts Vergißmeinnicht-Aug. Auf einmal hab ich sein Wort verstanden, es könne einer von neuem geboren werden – aus dem Geist. Und dieser Geist hat von da an mich hervorgebracht, wie eine Mutter ihr Kind. Und gesprochen hab ich zu mir selber: bin ich auch nichts weiter als e gerings Kindle dieses neuen Lebens, so han i doch Teil daran.

Meine dazumal eingetretene Seelenerquickung hat allmählich auch den siechen Körper geheilt. Immer besser ging's mit meinem Befinden – wiewohl der Arzt, wenn er die Brust beklopft hat, sein Sorgengesicht net hat aufgebe wolle. Herr Doktor – han i gsagt – Hand aufs Herz! Wie lang han i noch zu lebe? Hör' i den Kuckuck noch einmal schreien? – Dees kammer hoffe! gab er zur Antwort – wollte mir aber[239] hökschtens noch zwei Jahr zuerkenne. Gut! han i denkt – so will i diese Frist verständik ausschlürfe – wie e guts Tröpfle. Net Quantität sei mir's Leben, nur Qualität. Jeder Tag, der mir vergönnt ist, soll Liebe bescheren – so wird er mir zum Fest!

Da ich neuntausend Gulden Vermöge hatte, nahm ich mir vor, jährlich dreitausend zu verbrauchen – denn zu meiner Galgenfrist von zwei Jahren hatte ich vorsichtik noch eins hinzugerechnet. Während ich zuvor mein Kapital ängstlich gehütet hatte, um bloß von den Zinsen zu leben, war ich jetzt sorglos in Geldsachen und wirtschaftete aus dem Vollen. Mietete eine sonnige Wohnung mit Garten – bei Hausleuten, die gute Küche hatten – trank täglich mei Schöpple Roten – unternahm Spritzfahrten in die Berg – hielt luschtige Kumpane frei ...«

»Derf i einschalten, Onkel?« sagte Hainlin – »net bloß Kumpane, auch mancherlei Notleidende hascht onterstützt – i ha's wohl erfahre. Bald ischt's e bedrängter Handwerker gwä, en abgerissener Wandergesell, bald eine verwaiste Familie oder ein arms Studentle.«

»Wenn i's net leugne tu,« – erwiderte Guhl – »geschieht's bloß, weil i noch sage möcht: Vom Ueberfluß mitzuteilen, ischt Lebenskunscht! Froh sein kann bloß, wer andre froh macht ... Kurz, ich war e Art Feinschmecker – und das ist dem Leib wie der Seel wohl bekommen. Wie meine zwei Jahr abgelaufen waren, befand ich mich keineswegs am Rand des Grabes, sondern fühlte mich frei vom Husten und rüschtik. Gut, daß noch für e drittes Jahr vorgesorgt ischt! han i denkt – und es schien mir an der Zeit, auf einen Brotberuf bedacht zu sein.

Für Gemälde interessiert, lernte ich einen Antiquar kennen – und nach einem Gespräch über ästhetische Dinge machte er mir den Vorschlag, mit meinen letzten paar tausend Gulden in sein Geschäft einzutreten. Ich habe dann Reisen gemacht, um [240] vergessene Gemälde ans Licht zu ziehen – und mancher gute Fund ist mir gelungen. So hab ich's erfolgreich getrieben, bis vor fünf Jahren mein Geschäftsfreund verstorben ist. Seitdem such ich meinen Frieden, wo einscht der Aeberhard gehaust hat ... Aber, Kinder! I bin am Schluß meiner Gschicht. Lasset den Kaffee net kalt werde!«

Bei dieser Mahnung an Behagliches der Erdenheimat löste sich die Spannung der Lauschenden. In frohem Beifall raunten sie durcheinander und begannen zu genießen, was der Tisch bot.

Durch Anklingen ans Weinglas bat Hainlin um Gehör: »Ihr Lieben, elend sind diese Wochen für mich gwä – an den himmlischen Lazarus han i denken müssen, wie den ein höllisch Gequälter um e Tröpfle Wasser anfleht, seine dürre Zung zu kühlen. Nun hat mich arme Seel mein Onkel Guhl erquickt mit seinem Lebenswasser – hat auch Rosel erquickt – ich seh's ihr ahn. Oh! wir waren arg bedürftik. Die Sehnsucht nach dem Ewigen, die ich hier spür – Onkel Guhl hat sie geweckt – ja alles, was ich Gutes in mir spür, in ihm hat's Wurzel. Das sei dir unverhohlen, mei guter, guter Onkel, ond gedankt.« – Die beiden Männer schüttelten sich die Hände, wortlos vor innerer Bewegung. Tränen im Auge, stand Rosel auf – Hainlin folgte ihr. Auch uns andere hielt es nicht mehr lang im Häusel.

Als wir draußen wandelten, sah ich hinten im Obstgarten Hainlin und Rosel beisammen stehen. Eindringlich schien er zu sprechen – hielt ihre beiden Hände gefaßt – das Paar sah einander in die Augen. Plötzlich schlang sie die Arme um ihn – sie küßten sich. Dann kehrten sie zu uns zurück.

An jeden richtete Hainlin nun ein paar herzliche Worte, dazu gab's Händeschütteln und Umarmung. Wehmütig lächelte Berta den Kandidaten an: »Schier könnt mr meine, da wär dr Bahhof, und Herrn Hainlins Zügle sollt glei abfahre.« – »Noch net!« [241] entgegnete Hainlin mild – »ond net e Lokomotiv soll jetzt pfeife – sondern, mit Verlaub, bloß i auf meiner Flöt.«

Das war allen willkommen – aus dem Häusle holte Hainlin das Instrument: »Von drüben möcht i blase, gelt? Aus der Ferne klingt's besser.« Er deutete auf den benachbarten Weingarten, der einen Vorsprung des Berges bildete.

Dorthin sahen wir ihn gehen – unterwegs tat er den Hut auf – der Sonne halber, die aus geröteten Wolken ihr Abendgold strömte. Zwischen Obstbäumen hatte er sich verloren – nun klang die Flöte herüber – in langen Tönen, weich und bebend. Es war das Lied, von dem Onkel Guhl gesprochen hatte – er nickte in stummer Rührung – lauschend bedachten wir die Worte: »Wenn ich an den letzten Abend gedenk, als ich Abschied von ihr nahm ...«

Wie diese Strophe geblasen war, erwarteten wir Fortsetzung – sie schien nicht kommen zu wollen, und vergebens rief Uli: »da capo!« Nach einer Weile aber sang die Flöte nochmals – jetzt aus größerer Entfernung:


»Ich gedenke noch einmal recht reich zu werden –

Aber nicht an Gut und Geld.

Wolle Gott uns schenken das ewige Leben –

Ei, so bin ich reicher als die Welt.«


Als nach langer Pause kein Laut mehr kam, brach Rosel in Schluchzen aus. Berta starrte ängstlich dort hin, wo Hainlin verschwunden war. Er ist ganz fort! schoß es mir durch den Sinn. Da trocknete Rosel mit dem Tüchle die Augen und sprach mit sanfter Festigkeit: »Er läßt schön grüße – keiner soll ihm nachgehe – er ischt fort!«

[242] Die Meuterei

Ssaubock hatte herausgeschnüffelt, demnächst solle unser Gymnasium visitiert werden durch ein großes Amtstier aus Stuttgart. Wohl wissend, daß seine Schüler im Französischen verwahrlost seien, fürchtete er, durch sie blamiert zu werden. Bat sie daher, noch rasch etwas zu lernen – und sich einstudieren zu lassen, was zu antworten sei auf Fragen, die er stellen werde. Zur Einpaukung sollten wir am Sonntag vormittag erscheinen. Darob erbost, beschlossen wir, zu meutern. Als Bock die Klasse betrat, war sie leer – auf der Tafel stand dick mit Kreide: »Du sollst den Feiertag heiligen!«

Nicht zu uns in die sechste Klasse kam der Herr aus Stuttgart, sondern in die höhere. Von Uli angestiftet, hatte sich diese verabredet, möglichst dumm aufzutreten, um den Ssaubock in seiner Unfähigkeit zu zeigen. Der Schulrat war denn auch starr über die allgemeine Unwissenheit. Da die Uebersetzung des Ausdrucks »ich habe zu verdanken« Schwierigkeiten machte, sagte der Schulrat: »Bildet mal einen Satz mit verdanken!« Stumpf saß die Klasse da, keine Hand zeigte auf, und jeder Gefragte blieb maulfaul. – »Unerhört!« grollte der Schulrat. Da hob Uli den Finger, stand stramm und sprach in festem Baß: »Das Wenige, das die Klasse im Französischen gelernt hat, verdankt sie natürlich ihrem Lehrer.« Bock bekam seinen [243] roten Kopf – vor Wut zitternd, wandte er sich an den Schulrat: »Dieser Schüler ischt e ganz gefährlicher Bursch – eine geheime Schülerverbindung hat er gegründet – was ich hiermit gehorsamscht zur Meldung bringe. Da hab ich's corpus delicti, eine Schmähschrift auf die Schule. Das Heilikschte wird da in den Kot gezerrt, oh!« Was Bock dem Schulrat überreichte, war unsere Schülerzeitung.

Der Schulrat blickte hinein, stutzte, las weiter, schüttelte den Kopf und fragte: »Herr Präzeptor, wie sind Sie zu dieser Schrift gekommen?« – »In seim Zimmer han i die gfunde!« behauptete Bock. – »Dees ischt ver-loge!« brüllte Uli, »Be-trug hunds-gemeiner!« – »Wa-waas?« rief der Schulrat außer sich – »sofort – ins Konferenzzimmer mit dem Lausbubn!«

»Den Ssaubock da – den bringen's vor Ihre Konferenz! Net mi! I gang scho selber! Ondpfeif auf dees Tinte-Zuchthaus ond die ganze Schul!« Bücherranzen und Mütze nahm Uli – und der lange, starke Bursch verließ das Lokal, nachlässig schlürfenden Schrittes, im Gesicht kalten Trotz.


*


Sein Leugnen war nicht aus Furchtsamkeit erfolgt. Er besaß den Mut, für seine Handlungsweise, wo es sein sollte, offen einzustehn. Bocks Angabe, er habe die Schülerzeitung auf Ulis Zimmer gefunden, war tatsächlich eine gemeine Lüge.

Die Dinge hingen folgendermaßen zusammen, wie Uli mir nach der Katastrophe dargelegt hat: Das Exemplar unsrer Schülerzeitung, das Bock zu erlangen verstanden hatte, gehörte Enzio und war von Linda ausgeliefert worden, unter der Bedingung, [244] daß man ihren Bruder aus dem Spiel lasse. Bock wollte Hainlins Anstellung und Verbindung mit Rosel hintertreiben, und obwohl er verheiratet war, hielt ihn die sinnlich-gefallsüchtige Linda am Bändel. Bock hätte sich damit begnügen können, Hainlin zu kompromittieren, hätte also, nachdem die Abschrift des Hainlinschen Gedichts ihre Wirkung getan, die Schülerzeitung nicht vorzubringen brauchen. Aber nicht bloß einen Konkurrenten wollte er beseitigen, sondern auch Uli, den er zu fürchten hatte.

Bock hatte sein Ränkespiel folgendermaßen angelegt: Der Schuldiener, alias »Puddel«, bei dem Uli Wohnung und Kost hatte, benahm sich Lehrern gegenüber mit der Unterwürfigkeit des kleinen Beamten, und so fiel es dem Ssaubock nicht schwer, hier zu erreichen, was er wollte. »Herr Kordes,« hatte er feierlich gesprochen, »ich komme zu Ihnen, weil die Aehre unsrer Ahnstalt auf dem Spiele steht, und man erwartet von Ihnen, daß Sie mir sofort behilflich sind, den Dorn, der unsre Schulmoral vergiftet, zu entfernen. Ulrich Ritter, den Sie in Pension haben, ist der Rädelsführer eines Geheimbundes, der's arg treibt. Im Keller des Schlosses, wohin sie als Einbrecher gedrunge sind, hänt die Kerle wie Studente gsoffe. Wer Rädelsführer ischt, könne Sie sich denke, gelt? Ulrich Ritter, der bei Ihm wohnt. Daß er gschaßt wird, scheint onvermeidlich. Aber's braucht Ihne net leid zu sein – e Sälenverderber ischt dieser Lausbub – ond einen Pensionär von besserer Art will i mit dem Herrn Direktor Ihne verschaffe. Jetzt aber zur Tat! Es trifft sich gut, daß dr Ritter graad spazieregange ischt, gelt? Sie haben mich unverzüglich auf sei Zimmer z' führe – Haussuchung muß i halte – im Namen der Schuldisziplin, verstande? Ond im Vertraue gsagt – morge kommt dr Schulrat aus Stuggart.«

[245] Der überrumpelte Puddel, ein ehemaliger Feldwebel, ohnehin gewohnt, strammzustehn wie einst vor seinem Hauptmann, hatte nichts gegen dies Ansinnen einzuwenden gehabt, und so war's gekommen, daß der Ssaubock auf Ulis Bude gelangte. »Aha!« schnüffelte er – »nach Tabak riecht's! Da steht die lange Pfeif! Am Bierstudiom hat's der saubere Ritter an net fehle lasse. Aber dees ischt jetzt Nebensach. Die Bibliothek da will i mal revidiere – da scheint mir's net richtik zu sei.« Und indem er sich bei Büchern und Heften zu schaffen machte, tat er so, als hab' er soeben hier die Schülerzeitung gefunden – während er sie ja von Linda hatte.

[246] Bierkügles-Bock

Das war vor einer Woche geschehn. Als mir Uli nunmehr, nach seinem Weggehn vom Pennal, diese Dinge auseinandersetzte, wandte ich ein: »Aber, Uli, hat er nicht vielleicht doch ein dir gehörendes Exemplar erwischt?« – »Unmöglich!« schrie Uli – »seit vier Wochen ischt kei Exemplar bei mir – aus Vorsicht han i alles beseitikt! Nie – der – träch – tik – ge –loge – ond – be – troge hat der Ssaubock! Aber wart, Füchsle! 's Fangeisen lauert scho auf di – bald hat's gschnappt!«

Was Uli angedroht hatte, ging in Erfüllung. Persönlich spielte er dabei keine andre Rolle, als daß er die Fuchsfalle gestellt hatte – was schon vor Wochen geschehen war. Eben weil Bock davon Witterung erhalten hatte, war er mit seinem Ränkespiel rasch bei der Hand gewesen – durch vernichtenden Hieb hatte er dem Angriff des Gegners zuvorkommen wollen. Das war ihm zwar gelungen, aber nun platzte der Angriff los, den Uli gegen ihn eingeleitet hatte. Daß Uli inzwischen von der Schule entfernt war, machte nichts; die von ihm gestellte Falle bedurfte, um zuzuschnappen, nicht seiner Anwesenheit.

Angesponnen hatte sich die Sache folgendermaßen: Bei verstohlenem Biertrunk im »Waldhörnle« war Uli mit der Kellnerin Alma Freund geworden. Sie hatte ihm anvertraut, Präzeptor Bock, ihr täglicher Gast, prelle sie planmäßig um einen Teil der Zeche; fast jedesmal unterschlage er etliche Bierkügelchen. – Brachte die Kellnerin dem Gaste einen Schoppen, [247] so legte sie auf den Untersatz ein Schrotkorn. Um die Zeche festzustellen, brauchten bloß die Bierküglein gezählt zu werden. Natürlich setzt diese Einrichtung voraus, daß die Gäste Redlichkeit bewahren – und in dieser Hinsicht hatte Alma bis dahin keine üblen Erfahrungen gemacht. Der Saubock aber war nicht, was der Studio »bierehrlich« nennt. Beim Kassemachen hatte Alma bemerkt, daß ihr am Gelderlös jedesmal, wenn Bock gezecht hatte, etliche Schoppen fehlten. Er mußte also Bierkügle verschwinden lassen. Geschah's aus bloßer Unbedachtsamkeit? Undenkbar! Er war doch kein Neuling auf der Bierbank! – Alma hatte dem Wirt ihr Leid geklagt, doch dieser hatte erklärt, sie dürfe keinen Gast beschuldigen, ohne Beweis zu haben. Mit Bock mochte er's nicht voreilig verderben – und so hatte die Kellnerin einstweilen den Schaden zu tragen.

Als Uli die Geschichte hörte, blitzte sein Auge wie das eines Jägers, dem ein Wild ins Garn gehen will. Er entwarf den Plan zu einer Verschwörung, um den Betrüger zu entlarven. Ein paar Gogen, von Alma beschafft, waren die Mitverschwörer. Wochenlang überwachte man den Saubock im »Waldhörnle«, wobei auch Wirt und Wirtin halfen. So wurde festgestellt, daß Bock, wenn er sich unbeobachtet glaubte, ein paar Bierkügle vom Untersatz nahm und in der Westentasche verschwinden ließ.

Die gelegte Schlinge wurde zugezogen, als Bock inmitten einer Gesellschaft angesehener Männer kneipte. Beim Rechnungmachen gab er an, neun Krüge Bier getrunken zu haben, und wies auf die neun Bierkügle, die da lagen. »Zwölf hänt Sie – ond mit zwölf Kügle han i au markiert.« – »Wenn aber bloß neun da send!« knurrte Bock. – »Na hänt Sie halt drei wegtan,« war die ruhige Antwort. – Bock war aufgesprungen und versuchte, sich in die Brust zu werfen: »Ha! Herr Wirt!« – »Da bin i!« sagte der Wirt. »Weiß scho! Hab [248] die Sach beobachtet, mit meiner Frau – heut schon den vierte Abend. Die Kügle hänt Sie in der Westentasch da ...« Bock wich einen Schritt zurück und machte eine abwehrende Handbewegung – ein umgestoßener Bierkrug entleerte sich.

Plötzlich waren die beiden Gogen an seiner Seite, und jeder hatte einen Arm Bocks in festem Griff: »He holla, Herr Präzeptor! Vorsicht! gelt?« Zu gleicher Zeit hatte jener Kellner, der zu den Verschworenen gehörte, in Bocks Westentasche gegriffen, und da waren die Kügelchen! »Ha natürli! Drei Stück!« – Saubock, den die Gogen nicht mehr gepackt hielten, war bleich geworden und stammelte: »Ha waas ischt jetzt dees? Bin denn i –?« – Von den Tübinger Honoratioren, die Zeuge dieser Szene waren, versuchte einer die Sache ins Harmlose zu ziehen: »Der zerstreute Professor – hat in Gedanken ...«

Das war der Strohhalm, an den sich der Ertrinkende klammerte: »I glaub wahrhaftik, Sie hänt recht! Ssimpel, der i bin! Jetzt also, Freilein Alma – da hänt Sie drei Mark Trinkgeld – fünf Mark – zehn Mark! als Pauschalsumme, gelt?« – »Trinkgeld will i koins,« entgegnete Alma frostig – »ond Manko han i weit mähr ghätt.« – »Also! Dees zahl i! Nicks für ungut, Freilein! Schicken Se mir die Rechnung, gelt?« Angstschweiß auf der Stirn, strebte Saubock nach seinem Hut – man ließ ihn ziehn, ohne zu antworten.

Dann brach die allgemeine Aufregung los – die einen schimpften, andere lachten, wieder andere meinten, es könne tatsächlich Zerstreutheit vorliegen. »Wenn an net grad dees!« sagte der Wirt. »Aber üble Ahngewohnheit – er kann's net lasse! Von seiner Studentezeit her! Er macht's au mit de Laugebretzle so.« – Was diese knusprigen Salzbrezeln betrifft, so wurden sie oft vom Wirt den Gästen gespendet. Während diese dann mit Anstand und Bescheidenheit zulangten, hatte [249] Bock die unsaubre Manier, mit seinen Tintenfingern die Brezeln zu betasten und etliche zu zerbrechen, so daß anderen Gästen der Appetit verging. Was nun auf dem Teller liegen blieb, war Saubocks unbestrittene Beute.

Mildernde Umstände machte Alma für ihn geltend, indem sie auf sein häusliches Leben verwies. Eine lüderliche Schlumpe hab er zur Frau, die auch noch e Drache sei – Trost könn' er ja bloß im Wirtshaus finden. Dieser Ansicht trat die öffentliche Meinung bei, und »Bierkügles-Bock« hieß jetzt der Präzeptor – bis man geltend machte, der Name »Ssaubock« sei halt doch bezeichnender, weil er alles in allem enthalte. In lachendem Geschimpfe ging die Entrüstung über Bock unter. Er gehörte zu jenen Originalen der Stadt, denen man eine Art Gewohnheitsrecht einräumte. Die Schulbehörde, zu der keine Anzeige gelangte, bloß ein Gerücht, war heilfroh, daß sie in der Sache nicht zu rühren brauche, und tat so, als liege hier bloß Zerstreutheit und Taktlosigkeit vor. Sie legte Bock nahe, Tübingen zu verlassen – und das tat er bald – an andres Städtlein beglückte er – als Rektor einer Mädlesschul'.

[250] Die Schlange

Von Pia, die seit September in Wurmlingen weilte, hatte Wendelin einen Brief erhalten, der ihn furchtbar aufregte. Sie habe sich, schrieb sie, nunmehr fest entschlossen, ins Kloster zu gehen. Warum? Darüber sei oft im einzelnen gesprochen. Jetzt erkläre sie rundweg: Vor der Schlange, die auf dem beiliegenden Bildle dargestellt sei, wolle sie ihre Seele retten.

Die Schlange bedeute die Erbsünde. Nach Adams und Evas Verstoßung aus dem Paradiese halte sie das ganze Menschengeschlecht umringelt. Sogar den heiligen Menschensohn habe sie versucht in der Wüste. Der freilich habe ihr den Kopf zertreten. Es sei dies aber nicht so gemeint, als dürften wir Menschenkinder uns jetzt einfach auf den rettenden Helden verlassen – man müsse ihm nacheifern. »Drum« – so schloß Pia – »will ich meine Zuflucht nehmen zur benedeiten Mutter Gottes, sie soll mich bewahren. Sind unsere armen Eltern der Schlange anheimgefallen, so muß ich schauen, daß es mir nicht ebenso ergehe. Und schon aus Kindespflicht hab' ich beizutragen, daß ihre gequälten Seelen zum Frieden gelangen. Versäume ich das, so bleibt ihnen der Gram, daß ihr Kind ihnen nachfolgt auf dem Unheilsweg. Und ach, mir ist so bang – ich bin in arger Gefahr – bin so schwach. Heilige Jungfrau, steh' mir bei, daß ich der Welt entweiche, wo die Versucherin immer neue Evaskinder zum Apfelbiß verlockt! Ich flehe zum Himmel, daß [251] mir keine andere Mutterschaft beschieden sei als jene, von der unser Heiland spricht, es könne jemand vonneuem geboren werden. Hilf mir, lieber heiliger Geist, daß in mir ein neuer Mensch werde, der würdiger ist, Pia zu heißen, als ich – deine arme, arg weltliche, doch zur Buße entschlossene Schwester.«

Daß Wendelin mir diesen Brief zu lesen gab, war ein Zeichen seiner kummervollen Ratlosigkeit. Er hatte jetzt keinen anderen Vertrauten als mich. Herr Hainlin war ja fort, und vor Uli sollte, wie der Brief beschwörend bat, alles einstweilen geheim bleiben.

Das Bild, auf das der Brief bezugnahm, war einer jener kleinen Buntdrucke, die in katholischen Kreisen verbreitet werden, um Gestalten des kirchlichen Lebens volkstümlich zu machen und erbaulich zu wirken. Vor der Pforte des Gartens Eden, den ein Engel mit Flammenschwert bewacht, sieht man Adam und Eva in angstvoller Lage. Während sie zwischen Dornen und Disteln weinend zum verlorenen Paradies zurückverlangen – wobei Eva den angebissenen Apfel noch in der Hand hält –, sind ihre zur Flucht erhobenen Füße und ausgestreckten Arme von der großen Schlange umwunden. Indessen kommt auf weißer Wolke Maria geschwebt, auf ihrem Arm den Retter der Welt.

Im Zusammenhange mit dem Flammerschen Familienschicksal machte der Brief auf mich wie auf Wendelin erschütternden Eindruck. Gleichwohl war Wendelin nicht einverstanden mit seiner Schwester: »Waas redet sie von der Erbsünd? Daß ihre Liebelei mit dem Uli sündik sei, die Verschrobenheit hat ihr der Beichtvatter in den Kopf gesetzt. In der Welt da hat's viel Wüschtes. Aber mei Piale ischt reine Unschuld. Ond die Erbsünd, von der ihr bangt, kann nicks anders bedeuten als des Menschen leibliche Natur. Ha freile, die Leiblichkeit hält alle in [252] Banden. Aber warum hat sie uns der Schöpfer verliehn? Warum uns aus dieser Natur herausgeschöpft? Warum sollen wir hernach büße, wofür wir doch nicks könne? Pfaffegschwätz!«

Trotz solcher Freigeisterei kamen Stunden, wo Wendelin seinen guten Glauben an die Natur wanken fühlte. Ein Buch über Bau und Leben des menschlichen Körpers fand ich bei ihm aufgeschlagen, und ein paar Abbildungen überrumpelten mich, daß ich in bange Verwirrung geriet. »Ist das wirklich so?« fragte ich – und er nickte unter Erröten. Dann mochte ich das Buch nicht mehr sehen, auch nicht hier bleiben – und wir liefen hinaus, in Wind und Regen. In der Platanen-Allee, die bei dem Wetter einsam war, wagten wir zu raunen von den Dingen, die mich bestürzt ge macht hatten, und die auch Wendelins klaren Kopf verwirrten. »Ich habe geglaubt,« – sagte ich – »was die Jungen davon reden, sei gemeines Geschwätz. Soll das nun wirklich wahr sein?« – »Ond i,« gestand Wendelin, »i han gemeint – e Kindle wachs der Mutter unterm Herze – wie aus der Apfelblüt der Apfel hervorwachst.« – »Ja – und stimmt das etwa auch nicht?« fragte ich bekümmert. – »Wohl stimmt's – aber dabei ischt ebbes Rohes. Die Natur scheint's, macht net viel Unterschied zwischen dem Menschen ond dem Viech.«

Mir war, als sei eine weiße Lilie in widerlichen Unrat gefallen. Wir schwiegen lange. Und traurig fuhr Wendelin fort: »Wann i denk, mei Schweschter – tat so Sache ... oh!« Auch ich schämte mich für andre, die mir nahestanden, – und für mich selbst – daß ich ein Menschenkind war.

»Na möcht mr bald der Pia vergönne, daß sie ins Kloschter kommt – gelt?« – Ich seufzte – und fügte kleinlaut hinzu: »Bloß daß sie dann immer eingesperrt bleibt, das ist traurig.« – »Dees wär mir alsdann grad recht!« erwiderte [253] er bitter, »weil die Welt ahnsteckend wirkt mit ihrer – Ge – mein – heit!«

»Und Uli?«

»Ach, Uli! Der macht sich keine Skrupel – der denkt weltlich! Schau dees Bänkle da! Weißt noch, wie wir da sind mit Uli gsesse – ond über so Sache hänt gschwätzt? Der Uli ischt e derber Kerle!«


*


Die Bank im Seufzerwäldchen, wo jetzt Novemberlaub moderte, erinnerte mich allerdings an das Gespräch. Kurz vor Ulis Entfernung hatte es stattgefunden – und sich anfangs auf den übeln Ruf eines hübschen, von Studenten umschwärmten Bürgermädchens bezogen.

»Aekelhaft sind so Sache!« hatte Wendelin gesagt – worauf Ulis Antwort lautete: »Aber sie sind natürlich! Honger ond Durscht ond Liebe, glaub mir, solche Triebe hänt ihr eigene Philosophie. Wann i nen saftigen Pfirsich in dr Hand hab ond i spür Durscht, na beiß i halt nein in die leckre Frucht. Iß du vom Baum der Erkenntnis – na hascht mitrede – eher net!« Mit schelmischer Heiterkeit hatte Uli so gesprochen, dann leichtfertig vor sich hingeträllert. Seine Lebenskenntnis hatten wir schweigend bestaunt.

Was mich betrifft, so war ich in solchen Dingen unerfahren, während Wendelin darüber schon gelesen und nachgedacht hatte. Jetzt begriff ich, warum mich meine Magdeburger Mitschüler noch in der Untertertia »die Unschuld« zu nennen pflegten. Was bisher bedeutungslos, fast unbeachtet in einem Winkel meines Innenlebens versteckt gewesen war, erhielt jetzt, durch die Gespräche aufgestört, eine beunruhigende Geltung. Worte, die ich von Erwachsenen aufgeschnappt, Vorkommnisse, die ich beobachtet hatte, erschienen in neuer Beleuchtung. In einer Deutung,[254] die ich »gemein« nennen mußte, die aber Macht über meine Phantasie gewann – als habe sich bei mir ein fremder Gast, ein roher, eingenistet. Träume, die nachts, Träume, die selbst bei Tage kamen, wehten mich mit süßlich-banger Schwüle an. Von ihnen umgaukelt, ahnte ich Ungeheuerliches unter den Hüllen der Kleidung und Sitte. Das Erröten, das mich beim Anblick der Konfirmandin überrumpelt hatte, kam nun öfter vor, bezog sich aber nicht auf Backfische, sondern auf ausgewachsene Weibsleute, zum Beispiel üppige Mägde.

Wendelin gestand, ihm gehe es ebenso. Er war verstört und bleich: »Jetzt spür i, was die Schlange Erbsünd ischt – wie sie Adams Kinder umringelt. Mir wird die Welt verleidet! Oh! wenn dr Herr Hainlin noch bei uns wär! Der hätte rechten Rat für uns.« – »Wir wollen mit Uli über diese Dinge sprechen, wenn er wieder mal von Reutlingen kommt.« – »Ach, dr Uli!« seufzte Wendelin und sah mich traurig an. Er wollte weiter sprechen – da zuckten seine Lippen, und der Mund verzog sich, wie wenn ein Kind zu greinen beginnt. Von Mitleid bestürzt, ergriff ich seine Hand: »Was hast du? Was ist mit Uli?«

Mit Tränen rang er und winkte mit der Hand ab: »Dr Uli!« Das sprach er auf einmal in einem rauhen Baß, während seine Stimme in letzter Zeit mädchenhaft gewesen war. »Ach der!« fuhr er bitter fort und wischte sich die Augen. Zögernd kam dann folgendes Geständnis heraus, wobei die Stimme bald tief gluckste, bald fistelte: Uli mache sich nichts aus ihm. Nur wegen der Pia habe Uli mit ihm verkehrt. Nun sie fort sei, hab' Uli, wenn er mal von Reutlingen herüberkomme, ein unerquickliches Wesen – frostig sei er und mürrisch.

Ich entgegnete, auch mir gegenüber benehme sich Uli so, er komme mir verwandelt vor. »Hat ja nie recht zu uns gehört – aber jetzt ist er völlig erwachsen, scho wie ein Student.« – [255] »Also du meinscht, er hab nicks gegen mi?« – »Gegen dich? Keine Spur! Die Sache ist ganz einfach: In Ulis Augen sind wir dumme Jungen!« – Wehmütig lächelte Wendelin und nickte: »Dees könnt stimme!« Obwohl er sich beruhigte, brach aus seinem stummen Brüten noch einmal die Leidenschaft: »Wenn – oh! Wenn mir net so argbang wär! Die Schlange, die Schlange!« – »Unsinn! Die ist ein Popanz – wie der schwarze Mann!« – Scheu raunte Wendelin: »Einmal wie ich's Bildle von der Schlange besehn hab – da ischt mir's vorkomme, dr Adam ond d Eva seien niemand anders als dr Uli ond die Pia.«

Zwischen Himmel und Erde
[256] Zwischen Himmel und Erde.

Gegengewicht gegen solche bangschwülen Grübeleien war ein Schaffensdrang, wie ihn gesunde Jugend in den Jahren des Wachstums und der beginnenden Mannbarkeit entfaltet. Wendelin betätigte ihn besonders als Mathematiker. Sich in die Schauungen reiner Logik zu vertiefen, war ihm Beruhigung. Ueber Zahlen und Formeln konnte er brüten bis in die tiefe Nacht, und Bücher der Mechanik, der Physik durchflog er, wie man Romane liest. Daß es nicht ohne Erfolg geschah, bewies seine Fähigkeit, die mathematischen Aufgaben der obersten Klassen spielend zu lösen. In die Philosophie Spinozas, deren mathematische Fassung schon begeisternd auf ihn wirkte, führte er mich gesprächsweise ein, und ich konnte ein wenig folgen, wenn auch mehr fühlend und schauend, als auf dem Wege begrifflichen Beweises. Der »unbekannte Gott«, den ich ahnungsvoll verehrte, wurde nunmehr spinozistisch benannt: Substanz, Natur. Ich spürte ihn im Naturgefühl, im Raunen des Waldes, in den erhabenen Schauern stürmischen Wetters, im Flockengewimmel der Winterwolken und im Aufblick zur Sternenunendlichkeit.

Während meine Art, die Natur zu lieben, versöhnlich wirkte, selbst wo Peinvolles vorlag, kam Wendelin trotz seines Spinozismus nicht hinweg über den Gegensatz, der zwischen Heiligkeit und Gemeinheit klafft. »Aber alles ist doch schließlich natürlich,« [257] entschuldigte ich. – »Stimmt,« erwiderte Wendelin, »indessen gibt es neben der Gottnatur auch Teufelsnatur – diese beiden sind bloß in der Folgerichtikkeit einik, sonscht aber derf mr die Gemeinheit net in einen Topf werfe mit dem, was ideal ischt. Ssaumäßik kann's Irdische sein!« Ich hatte den Einwand: »Vielleicht läßt sich das Irdische verklären, ohne daß man sich gleich von ihm loslöst. Ich möchte mich erst mal herumtummeln auf dem irdischen Schauplatz.«

Solche Tummelfreudigkeit wurde begünstigt durch die Wohnung am Neckarbad. Den Sommer und Herbst über hatte ich im Garten zu schaffen. Ein paar Beete mit Tisch und Bank unter der ragenden Tanne hatte mein Vater gepachtet; da wurden Erbsen und Bohnen, Salat und Blumen gezogen. Mir war's Freude, das Gewächs zu pflegen mit Hacke und Gießkanne. Das Wasser schöpfte ich hinter den Weiden aus dem Neckar, und dies stille Plätzchen gefiel mir. Kauernd starrte ich in den Fluß, der hier glatter war als draußen, und beobachtete die Fische, die als dunkle Stäbchen im flüssigen Braungold schwammen und, wenn ich mich regte, forthuschten.

Zuweilen wurde die Lauschigkeit jählings unterbrochen durch ein Floß Schwarzwälder Stämme, zu langem Zuge gereiht, von wasserstiefligen Kerlen stromab gelenkt mit Stoßstange und Hemmklotz. Rechtes Hemmen, genannt »Sperren«, war von Belang; konnte doch das Floß infolge einer Ungeschicklichkeit gegen einen Brückenpfeiler prallen oder eine Zickzackform bilden, einen Ailaboga (Ellenbogen). Diese Kunstausdrücke waren von den übermütigen Studenten aufgegriffen, um die rauhen Schwarzwälder zu foppen, während sie vom Strom an der Musenstadt vorbeigetrieben wurden, ohne sich wehren zu können. Das war eine Art Spießrutenlaufen durch einen Hagel von Spott. Kaum war das nahende Floß von einem Studenten gesichtet, als er schon aus [258] dem Fenster brüllte: »Jockele spee – a – ee – a – ee – ar!« Dieser Ruf war für die benachbarten Burschen das Signal, ebenfalls zu brüllen, und so gereichte jedes vorbeifahrende Floß den Tübingern zum närrischen Zeitvertreib. Aus allen Häusern der Wasserfront, aus fast jedem Fenster des Stifts, von der Burg her, von der Platanenallee und der Neckarbrücke, von überall her scholl es: »Jockele spee – a – ee – a – ee – ar!« Ein Dröhnen von Gelächter, ein Summen, als ob Bienen stechlustig schwärmen. Auch durch Gebärden suchten die Musensöhne den Zorn der »Knoten« anzufachen. Wer Schaftstiefel besaß, winkte damit aus dem Fenster oder hing sie heraus – eine foppende Anspielung auf die gewaltigen Flößerstiefel. Die Söhne des Schwarzwaldes vergalten den Spott, wie ihnen der Schnabel gewachsen war.

Vom Uferplätzchen behorchte ich die Wortgefechte, die an geschwollene Reden homerischer Zweikämpfer gemahnten. »He Jockele!« rief ein Studio, mit der Pfeife winkend – »gebb mr gschwind bei Pfeifle her – i han koi Fuir!« Grimmig versetzte der Flößer: »Gang zu deim Professer – laß dir von seim Pfeifenröhrle de Hintre verschlage – na hoscht Fuir!« Vorübergeflogen war die Erscheinung, und neue Baumstämme kamen. Drauf stand einer, der trotz seines grauen Bartes noch hitzköpfig schalt: »Saufa, dees könnet 'r! Schulda macha! De Vatter bestehla! Gelt?« – »Hoho, Jockele! Obacht! 's geiht en Ailaboga!« – »Red du net vom Handwerk, elend fauler Bua! Nicks bischt – so kommt an nicks derzua!« Doch wie er sich anstrengte, die Musensöhne zu verletzen, unverwundbar lachten sie, und ihre Renommierhunde bellten dazu. Uebrigens bildete die Aufregung einen Zeitvertreib, den die Flößer so wenig missen mochten wie die Studenten.

»Solch ne Wasserreise – vom Schwarzwald nach Holland – möcht ich mal mitmachen!« sprach ich zu Wilhelm Hebsacker, und [259] er antwortete: »Ha freile! Weil mr aber dees net könne, soll's wenikschtens eKahn sein, auf dem mr Wasser fahre. Mir will net aus'm Sinn, was dr alte Faulhaber gsagt hat: aus den Balke, wo unterm Schuppen liegen, könnt mr eKahn baue.«

»Wir bauen ihn! Hurra!« Und nun waren wir erpicht auf das Unternehmen. Ich schwärmte abermals von Robinson, und Wilhelm phantasierte davon, mittels der »Arche«, wie er unser künftiges Fahrzeug getauft hatte, eine Art Flußpiratenleben zu führen. Das Schönste an der Sache war das hoffnungsfrohe Durchführen des Planes. Die Holztrümmer wurden ausgemessen, Zeichnungen entworfen, Materialien beschafft, wie Bretter, Nägel, Werg und Teer, auch Säge, Axt, Bohrer, Hobel. Wochen hindurch verwandten wir unsere freie Zeit auf das Werk, und wenn wir Schularbeit versäumten, gewannen wir andererseits allerlei handwerkerische Fertigkeit, die so beglückend war, daß ich in der Schülerzeitung den pädagogischen Grundsatz vertrat, es solle eigentlich jede Stadt, jedes Dorf Werkstätten einrichten, wo die Jugend frei basteln dürfe.

Unser Fahrzeug wurde ein plumper, doch fester Kasten. Nachdem er geteert war, erhielt er in roter Farbe die Aufschrift »Arche«. Schließlich gab's noch Bänke herzurichten, ein paar Ruder und eine Stoßstange. Sogar von einem Segel schwärmten wir, hatten aber kein Segeltuch. Rat wußte der Müllergesell Gassenmaier, der aus der Nachbarschaft, wo seine Mutter wohnte, unser Treiben beobachtete. »I verkauf euch Säck – die tut ihr verschneide, zsamme nähe ond mit Teer bestreiche – gelt?« Als wir einwandten, das Geld hätten wir nicht, lachte er höhnisch: »E rechter Bue muß alleweil wisse, wie mr Geld schafft.« Etwas Widerwärtiges hatte dieser Bursch mit seinem grauen, pockennarbigen Gesicht und den entzündeten Augen. Gleichwohl [260] duldeten wir, daß er vertraulich mit uns plauderte. Konnten sogar über seine Rüpeleien schmunzeln. An unserer Arbeit beteiligte sich Gassenmaier kaum auf andere Weise, als indem er alles besser wissen wollte. Aber Hebsacker und mein Klassengenosse Fuchtmann wurden durch ihn angeregt, ein Fangeisen zu beschaffen für einen Iltis, den man hatte schleichen sehen. Als das Wild gefangen war, brachte sein Fell einen Erlös, und für den gab Gassenmaier die Sackleinewand zum Segel her.

An einem Novembertage schleppten wir die fertige Arche zum Neckar. Sie schwamm gleichmäßig und war fähig, drei Knaben zu tragen. Da Ostwind blies, konnten wir unser Segel erproben. Es war kurz und breit, fing auch die Luft, schlappte aber des öftern, weil im Tal der Wind nur stoßweise ging. Fortan nutzten wir jede freie Stunde zum Kahnfahren und waren bald gewandt im Rudern und Lenken, auch in der Ausnutzung des Segelwindes. – Unfälle blieben nicht aus, verliefen aber harmlos. Weil ich im Stehen stoßen wollte, glitt ich aus und fiel hin – nicht ins Wasser, aber derart in die Arche, daß ich mir die Hand verstauchte. Einmal kam ein Schwarzwälder Floß den Neckar herabgeschwommen, während Hebsacker die Arche mittels eines Steines verankert hatte. Daß sie in Gefahr war, über den Haufen gerannt zu werden, merkte er erst, als aus den vordersten Hängen der Neckarhalde Studenten brüllten: »Jockele, sperr!« Mit Geistesgegenwart schnitt er den Ankerstrick entzwei und wollte mit der Stange das Ufer gewinnen. Aber schon traf das Floß die Arche krachend in die Flanke. Obwohl nun der Insasse nicht in den Fluß geschleudert wurde, füllte sich das gekippte Fahrzeug mit Wasser. Der Floßführer hatte die Geschicklichkeit, es mit einem Stoß seiner Stange ans Ufer zu drängen. Hebsacker kam mit nassen Kleidern davon.

[261] Das Fischen und Fallenstellen reizte meine Gefährten, da es sowohl abenteuerlich als auch einträglich war. Für die Beute fanden sich zahlende Abnehmer. Ein dem Iltis- und Marderfang günstiger Jagdgrund waren die Hänge und Gräben an der Burg. Fuchtmann, dessen Wohnhaus mit dem Garten die Burgmauer berührte, konnte leicht den Schleichpfad seines Wildes erreichen. Einmal hatte er mich mitgenommen, wies in der Abenddämmerung auf die Iltisspur und stellte das Fangeisen. Als wir im Versteck lauerten, kam ein Tier in katzenartigen Sprüngen gehuscht – vermied aber die Falle und ließ sich nicht mehr blicken.

[262] Der Fuirlesreiter

An einem Märztage war's, daß Enzio während der Schulpause zu mir sagte: »Willscht mitkomme? I han widder ebbes mit dem Gassemaier. Heut nachmittag wolle mr zur dicken Eich – dees ischt e kolossal alter Baum – zweitausend Jahr alt, sagt mr, seinsgleichen hab er net in Deutschland. Dr Sturm hat ihn omgschmisse. Kommscht mit?« Mich begeisterte die Aussicht, und ich sagte zu, falls meine Eltern nichts einzuwenden hätten.

Zur verabredeten Zeit traf ich an der Neckarmühle Enzio und Gassenmaier. Dieser trug Sonntagsanzug, Veilchenstrauß im Knopfloch, eine krumme Feder am Hütchen – roch nach Schnaps und trällerte. Den Ausgehtag hab der Meischter ihm bewillikt, weil seine Muetter gsagt hab, die Ahne in Nehren werd heut Siebenzik.

Neber die Neckarbrücke waren wir gegangen, vor uns öffnete sich das Steinlachtal. In Hufeisenform lagen die Vorberge, deren knospende Buchenwaldung lila schimmerte. Hinten blauten Kuppen und Schanzen der Alb. Wir gingen einen Pfad längs des breiten Kiesbettes, darin der Fluß schäumte. Die Halde des Galgenbergs war vom ersten Grün überhaucht. »Warum heißt er Galgenberg?« fragte ich, und Enzio antwortete: »Ha, weil da der Galge von Tübinge gestande ischt. Der letzte, den mr ghenkt hat, ischt dr Küferkarle gwä.« – »Ah!« sagte Gassenmaier [263] begierig – »von dem tu mir verzähle! Was war mit dem Küferkarle?« – »Halt e Gauner ischt 'r gwä, Spitzbub ond Brandstifter. Wie 'r auf dr Galgeleiter gschtande ischt, zwischen Himmel ond Erd, hat 'r zom Volk spreche wölle; ond hat, wie mr ihm dees erlaubt hat, zunäkscht glacht, zom Zeiche, daß er sich net fürchte tät, net vor Tod ond Teufel. I sterb in meim Beruf, hat er gsagt –, ond der 'scht net so übel, wie ihr meine tut, ihr Ssimpel! In eurem finschtere Oberstüble möcht i zu gueter Letzt e Laternle ahnzünde, gelt? Dees sei mei Vermächtnis. Also! Geb mir euner e Scheibe Brot mit Butter! – Guet, e Bäuerin ischt da gwä, die hat, was er begehrt, im Körble ghätt. Jetzt wie dr Küferkarle 's Brot dick mit Butter beklebt in der Hand hält, spricht 'r weiter: Fresse, dees ischt kei Kunscht – aber richtik fresse, ihr dumms Volk, dees verstandet ihr net. Wenn ihr Butterbrot fresset, stecket ihr's net richtik ins Maul. Himmelwärts lasset ihr die Butter schaun – aber gfehlt ischt dees! O m drehe müßt ihr die Brotscheibe, so daß die Butter zur Erd schaut! Auf die Art kommt die Butter grad auf eure Zung – ond dees ischt die Hauptsach im Leben, daß mr von seiner leckern Seit alleweil 's recht G'schmäckle hat – tut ihr dees begreife? – Ha freili! hänt die Leut gschrie ond hänt sich ausgschüttet vor Lachen, wie dr Delinquent 's Butterbrot auffällik auf seine Art verspeist hat, die Butter nach unte! Drauf hat ihm dr Henker die Schling um den Hals tan – ond zappelnd hat dr Küferkarle zwischen Himmel ond Erd geschwebt.«

»Bravo, bravo!« rief Gassenmaier entzückt. »Der Teufelskerle hat die rechte Philosophie!« – »Aber sie hat ihn an den Galgen gebracht,« wandte ich ein. Doch Gassenmaier meinte, sterben müsse halt jeder, auf irgendeine Art – ond wer so unerschrocken sterb wie dr Küferkarl, dem sei's Sterben kaum anders, als ob mr sich zum Schnarchen aufs Ohr leg. – Enzio gab seinen [264] Senf dazu: Wann dooch jeder von seim Glaasbergle abrutsche müss, sei net viel Unterschied, auf welche Art er sich's Genick brech, so oder so!

»Sag mr au,« meinte Gassenmaier, »warum hat sich dr Küferkarle aufs Brandstifte verlegt?« – »Warom? denk wohl, 's Fuirlesmache hat ihm wie Butter gschmeckt – ond manchem, so heißt's, hockt der Fuirlesreiter auf.« – »Fuirlesreiter?« stutzte ich, indem ich an die Ballade von Mörike dachte. Ich glaubte, etwas über die Sage erfahren zu können, doch Enzio wußte bloß, der Feuerreiter sei ein Kobold mit roter Kappe – hinterrücks überfall' er einen, der Neigung zum Brandstiften spür', und reit ihn wie ein Pferd zur Stell', wo er den Brand stiften soll. Die Ballade vom Feuerreiter kannte weder Enzio noch Gassenmaier. Ich berichtete ihren Inhalt und fuhr fort: »Weißt du, Enzio, wie Mörike auf diese Idee geraten ist? Herr Hainlin hat's von einem Repetenten, der mit Mörike zusammen Stiftler war. Wie Mörike einmal in der Platanenallee spazierenging, fiel ihm etwas Wunderliches in die Augen: Am offenen Fenster des Stadtmauerturms stand der geisteskranke Hölderlin, die rote Jakobinermütze auf, die er von Bordeaux mitgebracht hatte. Sie wippte auf und nieder – wahrscheinlich hat Hölderlin, wie er sich aus dem Fenster lehnte, mit dem einen Bein gezappelt – es sah aus, als ob ein Kobold mit roter Kappe wie ein Reiter auf und nieder wippt.«

»Dr Hölderlin?« meinte Gassenmaier – »ischt der net e Narr gwä?« – »Ein Dichter! Ein ganz bedeutender,« entgegnete ich – »wenn auch lange Jahre geisteskrank.« – Gassenmaier grinste: »Komisch ischt dees: Also net wahr? dr Narr mit seiner raute Kapp, wenn 'r damals net grad am Fenschter gstande wär ond mit dem Bein zappelt hätt, na wär der andre Dichter, der Mörike, net drauf verfalle, sei [265] Gedichtle zu mache vom Fuirlesreiter, gelt?« – »Allerdings! So spielt manchmal der Zufall.« – »Jai jai jai!« nickte Gassenmaier lächelnd – »dr Zufall! Fatal kann 'r sei – ond 's Große Los kann 'r bringe! Daß mr da jetzt vom Fuirlesreiter schwätze, ischt au bloß Zufall, gelt? Ond wer weiß, waas dieser Zufall mir bringe kann – zeh-, zwanziktausend Mark – jai jai jai! Vielleicht werd i Millionähr – 's könnt mir au gschehe wie em Küferkarle – bloß daß dr Brandstifter heuer net aufs Galgebergle, sondern ins Zuchthaus spaziere tut. So oder so! Jedenfalls stimmt, waas dr Küferkarle gsagt hat: daß mr 's Butterbrot soll richtik ins Maul stecke.«

Als wir durch das Dorf Dußlingen kamen, stahl sich Gassenmaier in eine Scheune, dann in eine zweite und dritte! Er wußte, wohin die Hennen ihre Eier legen, und mauste deren ein Stücker zehn.

Unweit des Dorfes Nehren fanden wir die Rieseneiche, die der Sturm umgebrochen hatte, weil vor Alter der Stamm hohl war. Die Eiche war nicht hoch, aber so dick, daß man – wie sie lag – an die sieben Schritt hineingehen konnte, ohne sich zu bücken. Gassenmaier hatte wieder sein höhnisches Grinsen: »Einer Göttin sei die Eich heilik gwä, sagt dr Schulmeischter von Nehren. Mit fufzeh Kinder von seiner Schul hat 'r vorigen Sommer, als die Eich noch aufrecht gschtande ischt, im Innern Platz gehätt – ond hat singe lasse: Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben? Jetzt aber – do leit sie, aus ischt die Herrlichkeit! Ond wenn mr jetzt täten den Hölderlin tanze lasse ...« Unter listigem Augenzwinkern raunte Gassenmaier diese letzten Worte. Stutzig sah ihn Enzio an – und Gassenmaier erklärte, die Geschicht vom Fuirlesreiter hab ihm Lust gemacht, in der Eich da e Fuirle zu mache – vielleicht sei der Stamm trocken genug, um in Asche aufzugehen.

[266] Zum Andenken an den gewaltigsten Baum Deutschlands schnitt ich mir ein dürres Zweiglein ab – draus wollt ich einen Federhalter machen. Wir gingen nun ins Dörflein Nehren und kehrten im Wirtshaus ein. Da ließ sich Gassenmaier von den gemausten Eiern einen Pfannkuchen backen. Der Birnenmost, an dem wir Knaben uns labten, war dem Gesellen zu fad; Schwarzwälder Kirsch trank er, bis er lallte. War dann plötzlich verschwunden und blieb es für eine Stunde. Als wir ohne ihn den Heimweg antraten, fand er sich wieder ein und schmunzelte, bei seinem Schatz sei er gwä. Dies Mariale sei halt verschossen in ihn – er hab sie bloß zum Karessieren, net zum Heiraten – Geld hab sie halt keins ond sei saumäßik dumm. Ja, wär sie wie Enzios Schweschter, na möcht er zugreife.

Es dunkelte bereits, flott marschierten wir, im Takt unserer Schritte wurden Lieder gesungen. Gassenmaier brachte Zoten vor und renommierte mit unsauberen Liebesabenteuern. Ich dachte an mein Gespräch mit Wendelin – wie ich damals so unbesonnen gewesen, alles Natürliche zu beschönigen, während ich vor Gassenmaiers Natürlichkeiten Ekel empfand ...


*


Gestalten wie Mosel, Pia und Berta erhielten mir damals den Glauben an heilige Weiblichkeit. Auch Rickele gehörte dazu, meine rehäugige Konfirmandin, die ich auf der Eisbahn wiedersah. Ein süßes Weh, dem Heimweh ähnlich, durchschauerte mich, wenn ich nur an sie dachte. Hingezogen fühlte ich mich, obwohl ich nicht im mindesten wußte, was ich von ihr wollte; ratlos wär ich gewesen, hätte ich sie sprechen dürfen. Ich glaube, unschuldige Verliebtheit meint etwas, das über irdisches Leben hinausgeht, daher dem unreifen Geiste unfaßbar ist. – Wie mir damals, als meine Stimme männlich wurde, Ahnungen aufgingen vom himmlischen Wesen der Liebe, regte sich der Trieb, etwas [267] davon festzuhalten in bunten Bildern und süßen Klängen; erste Lyrik entstand.

In einer Märznacht, als lauer Wind durch die kahlen Platanenwipfel brauste und dazu der Neckar rauschte, war auch im jungen Herzen ein Frühlingswogen. Ich lag im Bett, glaubte Flötenschluchzen zu hören und formte Verse:


Es harft die hauchende Lenznacht

Im knospenden Weidenbaum –

Vorüber wallen die Wasser

Und raunen

In meinen Traum.


Von fern ein Flötenseufzer

Zittert das Tal entlang –

Da beichtet wer im Dunkeln

Süßtraurigen Seelensang ...


Als ich weiterdichten wollte, unterbrach mich ein Schrei, der vom Neckar her gellte. Eine weibliche Stimme. Mein Kammerfenster war halb offen, und wie jetzt der Märzwind für ein Weilchen schwieg, hörte ich einen Ruf voll Angst und Flehen: »Lui! Luile!« Es stockte mir der Atem. Louis hieß Gassenmaier – was war mit dem draußen am finstern Wasser? Ich lauschte und grübelte – alles blieb still – aber dann hob das Frühlingswogen wieder an, und des weiteren versank ich in bangsüße Träumerei. Rickele gaukelte mir vor – dann Pia, wie sie mit Uli getanzt hatte, als ob zwei Falter kosend umeinander gaukeln. Fortwährend glaubte ich, Hainlins Flötenspiel zu hören. Mein Gedicht wollte ich zu Rande bringen, schlief aber darüber ein – so fest ...

Morgens aufgestanden, hörte ich die Schreckensmär, es sei ein Mädchen im Neckar ertrunken – Gassenmaiers Braut. Sie [268] habe sich mit einer Sorge getragen und sei von Nehren, wo sie wohne, abends nach Tübingen gekommen, um ihr bekümmertes Herz dem Bräutigam zu eröffnen. Von der Platanenallee aus habe sie Licht gesehn in seinem Stüble, hinterm Hölderlin-Turm, in der Brauerei von Betz. Sie habe »Louis« gerufen, sei gehört und in der Arche von ihm geholt worden. Gegen Morgen habe er sie zurückbefördert, wieder in der Arche. Fast schon sei sie am andern Ufer gewesen, da habe die Braut, infolge einer Ungeschicklichkeit beim Aufstehen, das Gleichgewicht verloren und das Fahrzeug zum Umschlagen gebracht. Im hochgeschwollenen Wasser sei sie rasch ertrunken, obwohl Gassenmaier versucht habe, sie zu retten. Der Leichnam sei geborgen. Gassenmaier, zur Vernehmung auf der Polizei, habe sich anfangs schweigsam und verstockt benommen, dann frech. Der Tod des Mädchens rühre ihn kaum, und er habe gesagt, eigentlich sei's gar net seine Braut.

»Und mit solch einem gemeinen Kerl hast du Umgang gehabt?« sagte meine Mutter – »schämst du dich nicht?«

Meine Bestürzung wurde noch peinlicher, als ich nach der Schule von Wilhelm Hebsacker erfuhr, es liege Verdacht vor, daß Gassenmaier die Arche mit Fleiß umgeworfen habe, um seine Braut, weil sie in anderen Umständen, loszuwerden. Nachbar Spengler habe diese Ansicht auf der Polizei vertreten. Vom Hölderlin-Turm aus, wo er wohne, habe er Verdächtiges beobachtet: Gassenmaier habe, mit dem weinenden Mädel zur Arche gehend, leise mit ihr geschimpft – bald darauf sei ein Schrei erfolgt, das Mädel sei's gewesen, und erst zehn Minuten später habe Gassenmaier: »Hilfe!« gebrüllt, am Ufer drüben habe man ihn gefunden, mit nassen Kleidern. Nach seiner ersten Aussage hab' er, wie's Mädel ins Wasser gefallen sei, sofort um Hilfe geschrien. Später, auf dem Polizeibüro, als der Nachbar Spengler bei seiner Behauptung blieb, der Hilferuf sei erst zehn [269] Minuten später erfolgt, hab' er gesagt: so lange mög's gedauert haben, bis er selber ans Land gelangt und von der Erschöpfung zu sich gekommen sei. Da sich gegen diese Darstellung nichts Wesentliches einwenden ließ, wurde keine Anklage gegen Gassenmaier erhoben.


*


Um diese Gassenmaier-Geschichte zum Abschluß zu bringen, muß ich ein Jahr überspringen. Meine Tübinger Zeit war zu Ende, die Eltern waren mit mir nach Aachen übergesiedelt, wo mein Bruder die Technische Hochschule besuchen sollte. Ein Brief Jahns unterrichtete mich nun über folgende Begebenheiten:

Gassenmaier war nicht mehr Müllergesell, sondern Diener des Korps »Rhenania«, das in der Betzei kneipte. In diesem Hause mit seiner Mutter wohnhaft, hatte Gassenmaier zunächst als Aushilfe bei den Kneipereien bedient und durch Unterwürfigkeit die Gunst der Studenten gewonnen. Bald darauf trug er, fest angestellt, die bunte Dienermütze, führte vormit tags die Korpshunde spazieren und war ein Faktotum, das den Vergnügungstaumel der wohlhabenden Burschen mitmachte. Plötzlich aber verlor er seine Stelle, weil er verdächtig war, einen betrunkenen Studenten bestohlen zu haben. Indessen beschäftigte ihn der Brauer Betz, dem er das Projekt eingeredet hatte, das Hölderlin-Haus vom Nachbar Spengler zu kaufen und umgebaut mit der Betzei zu vereinigen. Neben dem Turm sollte eine Veranda für die Studenten sein – das werde, wie Gassenmaier in Aussicht stellte, der Brauerei zum Aufschwung verhelfen. Recht ärgerlich war's nun für Gassenmaier wie für den Brauer Betz, daß Spengler sich weigerte, zu verkaufen.

Da brach eines Nachts Feuer im Hölderlin-Turm aus – der Dachstuhl brannte ab – ein Student, der oben wohnte, entging den Flammen, indem er am Blitzableiter abwärts rutschte, [270] daß ihm die Hände bluteten. Auf diese Feuersbrunst folgten andere im Ammertal und wieder andere hier und dort – eine Epidemie von Brandstiftung schien zu grassieren, und die Stadt war derart besorgt vor neuen Einäscherungen, daß freiwillige Wachtposten, Studenten wie Bürger, nachts durch die Gassen patrouillierten. Plötzlich hieß es, man habe den Brandstifter – Gassenmaier sei es. Schon beim Brande des Hölderlin-Turms war er verdächtig gewesen, und Frau Spengler hatte, während die Lohe zum Himmel sprühte, vor den Nachbarn ge rufen: »'s Louile hat's tan – mei Häusle will er für den Betz!« Das Gerede über Gassenmaier wollte nicht zur Ruhe kommen, und nun war er verhaftet. Es kam aber nichts weiter heraus, als daß Gassenmaier drohend zu Spengler gesagt hatte: »Wart no! Dir werd i den Hölderlin tanze lasse!« Verdächtig waren diese Worte, insofern sie irgendein Vorhaben in bezug auf den Hölderlin-Turm andeuteten.

»Den Hölderlin wollten Sie tanzen lassen? Wie stellen Sie sich das vor?« fragte der untersuchende Beamte. Und Gassenmaier redete sich heraus: Er hab gemeint, früher oder später werd's Hölderlin-Haus halt in e Kneip umgewandelt werden, wo Studenten ihre Luschtbarkeit hänt. Obwohl diese Deutung etwas Gewundenes hatte, war sie nicht zu widerlegen.

Daß die Redensart vom tanzenden Hölderlin den rotbemützten Kobold der Brandstiftung meine, konnte niemand wissen als Enzio und ich, die wir mit Gassenmaier über den Anlaß zur Feuerreiter-Ballade geredet hatten. Meine Mutter, der ich alles gestand, erwiderte darauf: »Hiernach möcht' ich schwören: Gassenmaier hat das Feuer angelegt. Schon seine ertrunkene Braut läßt darauf schließen, daß er eine Verbrechernatur ist. Den Hölderlin-Turm hat er beseitigen wollen, aus Rache an Spengler, auch weil er sich Vorteil versprach von der [271] vergrößerten Kneipe. Mit dieser Brandstiftung ist ihm der Appetit auf dergleichen gekommen. Daß er schuld an all den Bränden ist, geht auch aus Jahns Brief hervor – da heißt es: Seit Gassenmaier in Amerika ist, hat die Brandseuche aufgehört. Also! Da siehst du, wie recht ich hatte, vor dem Kerl zu warnen. Hinfort sei vorsichtig in der Wahl deines Umgangs! Und an Jahn schreibe lieber nichts! Du wirst sonst in die Sache verwickelt.« – Immerhin – wandte ich ein – sei's von Wert, den Schuldigen herauszubringen. Doch in den Hintergrund meiner Interessen geriet diese Angelegenheit, so daß ich nichts darin tat.


*


Was mich damals – wie gesagt, in Aachen, nicht in Tübingen – in Anspruch nahm, war die schwere Erkrankung meines Vaters und eine Nervosität meines Herzens, die es mir zur Pflicht machte, Aufregung zu meiden. An Tübingen zu denken, tat dem Entfernten weh, als werde von einer Wunde das Pflaster abgerissen. Ueber diese Wunde, den überaus traurigen Abschluß meiner Tübinger Schulzeit, habe ich nunmehr zu berichten.

[272] Pia

Mein Verkehr mit Wendelin war fast eingeschlafen. Seit uns nicht mehr dieselbe Klasse umschloß, besonders aber seit Hainlin und Uli uns verlassen hatten, war ein Band gelöst, das zuvor den Hauptanteil an unserm Zusammenhalten hatte. Von Belang war noch, daß die Knabengruppe, die mir im Neckarbade nahe gekommen war, nicht Wendelins Teilnahme fand. Auch durch sein sorgenvolles, immer scheues Wesen hatte er sich mir entfremdet. Wie ernsthaft sein Inneres gestört war, verriet das Zurückgehen seiner Lernfähigkeit. Nach Aussage von Mitschülern war er in den letzten Monaten unaufmerksam und zerstreut, den fremden Sprachen gegenüber gleichgültig, ja mürrisch.

Einmal fragte ich ihn, warum er so verändert sei. Düster loderten die Augen im blassen Gesicht, sein Mund zuckte, blieb aber verschlossen. »Ist es, weil Pia nun wirklich ins Kloster soll?« Er kniff die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Endlich kam es dumpf heraus: »Jetzt gang i selber ins Kloschter!« Ich wußte nichts zu erwidern – irre war ich an ihm. Nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten, seufzte ich: »Ach ja, Wendelin! Aus den Augen, aus dem Sinn! In Reutlingen hat uns der Uli, scheint's, vergessen.« Da verzerrte sich sein Gesicht, und heftig kam die Entgegnung: »Von dem – red mir nicks!« Erschrocken war ich – stumm gingen wir [273] nebeneinander durch die Gassen, bis zu Wendelins Wohnhaus, wo er mit einem Händedruck schied.

Der Sommer war wieder da, und es hatte sich entschieden, die Tübinger Tage der Familie Wille seien gezählt. Die Uebersiedlung nach Aachen war beschlossene Sache. Meine unrastige Mutter begann bereits mit dem Packen. Da ging die Wohnungsklingel – Jahn war's, der mich sonst durch einen Pfiff von unten zu rufen pflegte. Sein verstörtes Gesicht verriet, er habe eine Hiobspost. Im Stübchen mit mir allein, rang er nach Worten: »Wendelins Schweschter ... ischt ...« – »Pia? Ist sie im Kloster?« – Düster schüttelte er den Kopf. – »So sprich doch! Was ist mit ihr?« – Er stierte vor sich hin, preßte die Faust an die Stirn und stöhnte: »Tot!« – Ich war sprachlos, erstarrt – konnte nicht fassen, was er nun zögernd berichtete:

Wendelin war seit Tagen nicht zur Schule gekommen. Jahn, der ihn hatte besuchen wollen, war von Frau Häfele empfangen, und weinend hatte sie gesagt, Wendelin sei zur Pia nach Wurmlingen; krank sei sie, bedenklich. Soeben nun – fuhr Jahn fort – hab er von Pfeilstickers Bruder, dem Mediziner, gehört, Pia Flammer sei vorgestern gestorben – an Herzschwäche, nachdem sie einem Kind das Leben gegeben.

»Was? Pia? – hat ein Kind?« – »Vom Assischtente der Geburtshilflichen Klinik hat's der Pfeilsticker erfahren. Ja, die Pia! Das Kindle sei am Leben!« – »Aber wie ist denn das – möglich? Pia – ein Kind? Sie wollte doch ins Kloster gehn!« Jahn zuckte die Achsel, zog sein Taschentuch und wischte sich die Augen – worauf auch mir die Tränen kamen.

Gemildert wurde mein Leid durch einen Zug von Fremdheit, der jetzt in Pias Bilde aufgetaucht war. Ihr Mutterwerden hatte sie mir entfernt – wie eine Kluft lag zwischen uns etwas Unfaßbares. Meine Trauer war nun hauptsächlich Mitgefühl [274] mit Wendelin. Welch ein Schmerz mußte es für ihn sein, der so innig an seiner Schwester hing! Dann bedachte ich, wie hart Uli von diesem Schicksal getroffen sei. Und grübelte über die heimlichen Beziehungen, die ihn mit Pia verbanden – ich hatte manches beobachtet. Schließlich sagte ich mir: Ein Kind hat nicht bloß eine Mutter, sondern auch einen Vater. Wer ist denn nun hier der Vater? Hat jemand Pia verführt, dem Uli abspenstig gemacht? Oh! gräßliche Dinge können sich verbergen hinter dem sanften Namen »Liebe«! Meine Mutter, die mich nachts hatte schluchzen hören, war besorgt, ich könne krank werden. So hielt sie mich von der Schule zurück.

Jahn besuchte mich wieder und brachte die Nach richt, übermorgen werde Pias Sarg nach Tübingen überführt. Kaum waren wir unter vier Augen, so raunte er: »Das Kind ist – von Uli!«

Ich fuhr zusammen – atmete dann auf. So war Pia nur ein Opfer ihrer Zärtlichkeit. »Und er?« fragte ich. – »Mr weiß nicks von ihm – ond vielleicht weißer nicks von Pia.« – »Was? Man hat ihn nicht benachrichtigt? Sie ist gestorben, ohne daß er –?« Schweigend zuckte Jahn die Achsel.

Als ich andern Tags zur Schule kam, hieß es, heute bei Sonnenaufgang sei Pia begraben. Nicht in Tübingen, sondern bei der Wurmlinger Kapelle. Als ihr das Sterbesakrament gereicht worden sei, habe sie den Wunsch geäußert, auf dem Bergfriedhof zu ruhen, der ihr besonders lieb. – Ich fühlte, wie ein Zucken über mein Gesicht ging – die Kehle war mir zugeschnürt – dann faßte ich mich und sagte weich: »Piale! da bist du nun auf deinem Glasbergle!«

[275] Uli

Unglück kommt nie allein. Diese Volksweisheit bestätigte sich. Als ich von der Schule heimkam, empfing mich die Mutter kummervoll und blickte forschend: »Du weißt es noch nicht?« – »Was denn?« – »Ach Gott!« sagte sie weinerlich und wandte sich ab, als wolle sie nicht mit der Sprache heraus. »Aber es muß ja gesagt werden! So fasse dich! Dein Freund – Uli Ritter ...« Aufschluchzend brach sie ab.

»Was ist mit ihm? Ist er etwa auch –?« Sie nickte und griff nach meiner Hand: »Ja – tot! Vor zwei Stunden hat er sich ... drüben im Seufzerwäldchen mit der Pistole ... Vorhin haben sie ihn geholt – mit der Tragbahre ... Ach, Bruno! Laß dir's nicht zu nahe gehen – es ist nun mal so!«

Mein Vater, der soeben kam – bei Bolkendorf und Rosel war er gewesen –, hatte Neues erfahren: Wie's um Pia stand, hatte Uli bis zum gestrigen Tage nicht gewußt. Das in frommer Unwissenheit erzogene Mädchen hatte nicht fassen können, sie solle Mutter werden. Als sie es endlich begriff, wollte sie Uli schonen – er sollte, solang er Schüler wäre, nichts erfahren. Nach ihrer schweren Stunde hatte sie mit wehmütiger Freude ihren gesunden Knaben betrachtet. Und den Wunsch geäußert, er solle Wendelin getauft wer den. Sterbe sie, so wolle sie bei der Kapelle ruhn. Hierauf müde geworden, sei sie entschlummert, [276] ohne wieder wach zu werden. Durch Blutverlust infolge ungeschickter Pflege war ihre Kraft erschöpft.

Was Uli betrifft, der ja in Reutlingen war, so hatte er von Wendelin ein Schreiben erhalten, das die bevorstehende Niederkunft meldete, und zwar unter leidenschaftlichen Vorwürfen. Infolge eines Zufalls war dieser Brief um Tage verspätet in Ulis Hand gelangt. Obwohl er nun sofort nach Wurmlingen reiste, kam er zu spät – im Abendschein grüßten ihn die weißen Rosen, die Wendelin auf Pias Hügel gesteckt hatte.

Von Seelenqual zerrissen, war Uli nachts umhergeirrt und vormittags nach Tübingen gelangt. Hatte die Pistole gekauft und sich in die Schläfe geschossen. Auf jener Bank war's, wo er mit Wendelin und mir das Gespräch über Liebe gehabt hatte. Man fand bei der Leiche den Brief Wendelins – darunter von Ulis Hand geschrieben:


»Hab all mein Tag kein gut getan,

Kommt mir auch nicht in Sinn.

Die ganze Freundschaft weiß es ja,

Daß ich ein Unkraut bin.«


*


Ulis Vater war aus Stuttgart gekommen – in Tübingen sollte Uli begraben werden. Der Direktor meines Gymnasiums war weitherzig genug, die Beteiligung der Schule am Begräbnis zuzulassen. Es erfolgte mit Musik, lang zog sich der Zug hinterm Sarge, der hoch mit Kränzen bedeckt war. Ich ging neben Jahn, wir schwiegen. Wendelin war nicht dabei – ich habe ihn überhaupt nicht wiedergesehen.

Beethovens Trauermarsch erscholl. Als wir zum Gymnasium kamen, stand da mein Vater – hatte den Hut vor dem [277] Sarge gezogen. Ich vergesse nicht seinen Gesichtsausdruck – ehrerbietig schien er den Toten zu segnen. Am Grabe blies die Musik den Choral: »Ruhe ist das beste Gut, das man haben kann.« Und nun kam die Rede des Herrn Dekans. Was er sagte, klang salbungsvoll, ich konnte aber nicht folgen, der Schmerz hatte mich zu sehr aufgeregt. Zuletzt sangen Schüler: »Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh?« Bei diesen Worten fiel mein Blick auf meinen Vater, der sich dem Zuge angeschlossen hatte und nun wieder versunken blickte. Mit seiner schwarzen Binde vor der Augenhöhle, mit den Falten, die ein herbes Geschick in die hagern Wangen gepflügt hatte, sah er wie ein narbiger Kriegsveteran aus, ein müder Lebensinvalide.

[278] Knospen

Und zum dritten Male hab' ich den Vater so gesehen, als er selber im Sarge lag. Ein Jahr nach Ulis Tode war's, und die Hälfte dieser Zeit hatte der arme Vater auf dem Krankenbette zugebracht, wo er nur im Morphiumrausche Ruhe finden gekonnt vor den folternden Beinkrämpfen. Nun aber brauchte er kein Betäubungsmittel mehr – lag im Sarge, jenseits von Qual und Lust.

Die vier schwarzen Kuttenmänner, Alexianerbrüder, denen in Aachen die berufliche Pflicht oblag, die Toten zu bestatten – flüsterten ihr Gebet, um dann den Sarg zu schließen. Als ob mein Vater heimlich alles beobachte, stahl sich in seine feierliche Miene ein mildes Lächeln. Es kündete mir, daß er nun auf seinen Glasberg gekommen war, zum heimlichen Friedensdörfchen Glastelfingen.

Als Vaters Sarg in kühle Erde sank, taumelten ein paar vergilbte Blätter hinterdrein – von der Esche, die sich drüber neigte. Diese Blätter – so ging es mir durch den Sinn – waren im Frühling zarte Knospen gewesen, sehnsüchtig schwellend. Und nun?

Vom Begräbnis heimkehrend, sann ich dem Rätsel nach, wie das Leben vom Knospen zum Welken drängt. Und ich dachte an jene Verse, die ich in der Frühlingsnacht am Neckar geformt hatte. Was damals bangsüß hervortrieb aus meinem lenzigen Herzen, hatte gestockt beim Schrei des Mädchens, das erstickend [279] rang in dunkler Flut ... Ja, auch Knospen können ersticken – nicht alle geraten zu sommerlicher Entfaltung. Wo ist Pia? Wo mein Uli? Was wird aus all unserer knospenden Jugend? Aus den Wolkenstürmern, die hinaufbegehren zur Glasberg- Prinzessin? Nichts weiter, als daß sie ein Weilchen drängen und stürmen in wogender Luft? Durch Sonnenschein und Wetter – um schließlich ein Modergrab zu finden? Mich schauderte ...

Und wie ich einsam spät bei der Lampe saß, nahm ich mein Versbüchlein und dichtete zu Ende jenes Gedicht, das unterbrochen worden war, als Gassenmaiers Mädchen im geschwollenen Flusse schaurig ertrank:


Es harft die hauchende Lenznacht Im knospenden Weidenbaum. – Vorüber wallen die Wasser Und raunen In meinen Traum.

Von fern ein Flötenseufzer Zittert das Tal entlang – Da beichtet wer im Dunkeln Süßtraurigen Seelensang.

Ich selber möchte beichten – Und kann nur lauschen stumm. Ein stammelnder Knabe bin ich – Weinen möcht ich – weiß nicht warum.

Bin wohl der Knospen eine Und bebe vor dem Blühn: Wird meine Blüte weiß sein? Oder düster glühn?

[280] Soll Hagel mich zerschmettern? Oder küßt mich Sonnenschein? Tu, wie du willst, mein Frühling! Erschauernd bin ich dein!

Bin dein – wie dieses Mondlicht Im Windgewölk verweht – Bin dein, wie nun die Flöte Im wogend weiten Dunkel Schluchzend untergeht.

Zweites Buch

Wieder am Neckar

Und mehr als vier Jahrzehnte sind vergangen – neue Dinge und Menschen sind vor mich hingetreten, die Erinnerungen derart überwuchert, daß nur hin und wieder eine aus der Versunkenheit hervorlug. Solch ein Auftauchen aus dem Unterbewußtsein war mein Friedrichshagener Traum vom heimlichen Dörfchen am Monte Cristallo. Es waren Gefühle in mir erwacht, die als entfesselte Spannkräfte zu einer plötzlichen Wirkung zusammenflossen: zur Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies meiner Kindheit. Und keine Ruhe wollte dies Glastelfinger Heimweh geben – ich mußte das Neckarstädtchen wiedersehen und noch einmal auf den Pfaden meiner Jugend wandeln.

Nun saß ich im Eilzuge, der abends von Stuttgart nach Tübingen fährt, und starrte durch die Fensterscheiben. Goldgewölk im Neckar gespiegelt. Ragende Pappeln. Ein Häuschen im Garten. Hügel mit Obstbäumen. Ein Dorf. Ich erkenne die Gegend wieder, die vor bald einem halben Jahrhundert den Knaben fesselte, als er dieselbe Fahrt an der Eltern Seite machte. Ist nicht dort die Stelle, die mir damals ein Bäuerlein wies? In den Neckar sei Herzog Ulerich auf seinem Streitgaul gesprengt, den bündischen Landsknechten entwischend. Was ich für den feurigen Schwabenherzog empfand, übertrug [285] ich auf dich, mein Jugendfreund Uli. Jetzt bist auch du ein Traum, wie die Gestalten der Heldensage. Vielleicht ist nicht einmal dein Grab mehr zu finden auf dem Tübinger Friedhofe.

Hinter Waldhügeln, die schon dunkeln, ragt ein Kegel, die Achalm muß das sein. Reutlingen – die letzte Station vor dem Ziel, und ich schnüre den Rucksack, mache mich zum Aussteigen bereit. Jetzt im Tal das Wiesenland von Lustnau. Trotz der späten Stunde sind Weiber und Kinder mit Heuen beschäftigt. In der Dämmerung ist der gotische Kirchturm des fernen Dorfes erkennbar. Nun erscheint der Oesterberg. Er hat einen Turm? Früher war das nicht. Es wird der unvermeidliche Aussichtsturm sein. Häuser von Tübingen tauchen auf. Verdächtig modern! Und in den Bahnhof läuft der Zug: »Tü – binge!«

Hierherzukommen hab' ich mich gesehnt, gebangt – nun ich da bin, wundert mich's, daß mir das Herz nicht aufgeht wie eine Blume! Ziemlich gewöhnlich kommt mir dies Erlebnis vor – es ist hier genau so wie auf sonstigen Bahnhöfen: Gepäckträger, überwachend blickt der Vorsteher mit roter Mütze, Koffer schleppende Reisende, Weiber mit Körben. Empfangshalle nagelneu ... Damals war's hier noch kleinbürgerlich, fast schäbig.

Ich trete ins Freie – atme tief die kühle Nachtluft des Neckartals. Der wolkenlose Himmel ist veilchenblau – im Westen hat er ein gelbes Leuchten. Halbmond versilbert den Wiesendunst. Da sind die Alleen, die herrlichen! Viel dicker geworden die Kastanien. Strauchgruppen mit Bänken – nach einem Park sieht's hier aus. Und was ist das? Ein künstlicher Teich? Hier war zu meiner Schulzeit Wiese, – nur bei Eintritt des Winters wurde sie unter Wasser gesetzt. Damit Musensohn und Bürgermädel auf dem Eise schön tun konnten. Hier, wo ich Ulis Schwungkraft bewunderte und meine ersten Holländerbogen wagte, schwimmt jetzt ein Schwan, den Hals gereckt. [286] Wie vornehm, wie großstädtisch. Offenbar hatten 's die Tübinger mit dem Fortschritt. Das Uhland-Denkmal freilich wirkt altmodisch. Einem Handwerker im Sonntagsrock ähnlich, ist Uhland im Ländle der getreue Eckart altbiedern Bürgertums.

Hinterm Denkmal kommt lauter Bereich von ehedem. Die Platanenallee, zu der das Brücklein führt, gleicht dem Säulengang eines Domes. Kreuzweis verschränkte Aeste, Laubmassen als Gewölbe. An den Stämmen helle Flecke, wo die Borke abgeblättert ist – im Mondschein besonders auffällig. Ich begebe mich auf den Rasen, dicht an den Neckar, der zwischen Weidengesträuch blinkert. Er ist so still; beklemmend still. Warum denn rauscht er nicht? Früher schoß er jubelnd dahin, und die Flößer der Schwarzwaldstämme mußten aufs Bremsen bedacht sein: »Jockele sperr!« Jetzt schleicht das Wasser, und ich merke: Man hat reguliert! Gewinnt von der Wasserstauung wohl elektrisch Licht? Ja, auf der Neckarbrücke seh ich's strahlen. Schritt um Schritt drängt das Neue vor.

Was mich wieder versöhnt, ist das Bild der Altstadt. Dunkel ragen die altmodischen, zum Teil mittelalterlichen Häuser, Flanke an Flanke gedrängt; mit der Giebelseite blicken sie über den Fluß – vier, fünf Stockwerke, das obere jedesmal übers untere vorgekragt; niedrige Fenster, dicht gereiht; nur wenige sind jetzt erleuchtet. Solch altes Haus hat sein Dach wie eine Spitzkappe über die Ohren gezogen. Hinter den Fronten der Neckar- und Bursagasse steigt in Terrassen die mittlere Stadt empor. Wie ein Wall quergelagert die Stiftskirche mit dem kurzen Turme. Droben aus der Luke glimmt ein Licht: Der Türmer beginnt seine Nachtwache. – Links auf dem Berge kauert die Burg mit den dicken Türmen, in ihrer Wucht einem bewehrten Riesen ähnlich. Dort war's, wo wir Knaben Räuber spielten und Femgericht. Zu Füßen der Feste schmiegt sich ein Klosterbau – [287] jenes Stift, wo Württembergs Pfarrer ihre akademische Ausbildung erhalten.

Mit Rührung grüß' ich das Haus, wo ich bei den Eltern gewohnt habe. Nahe liegt's, tief am Flusse, hinter flachem Gartenland. Die bretternen Buden, die da mals zum Baden dienten, sind nicht mehr – im übrigen sieht das »Neckarbad« unverändert aus. Das zweistöckige, breite Haus hat seine üppige Weinberankung behalten. Im Garten sind noch die Obstbäume und Gemüsebeete, auch die Laube, die ragende Tanne. Längs der Stadtmauer erstreckt sich noch immer jene schuppenartige Bedachung, wo einst Tuchmacher ihr Tuch spannten, und wo wir Knaben unsere Werkstatt hatten. Rechts daneben kauert Hölderlins Turm.

Die Dunkelheit nimmt überhand. Gleichwohl erkenne ich hinter hohen Tannen das Haus, wo Rosel den lahmen Herrn Bolkendorf pflegte. Wenn sie im Dämmerstündchen strickend am offenen Fenster saß oder in der Gartenlaube, hallte zu ihr ein sanftes Grüßen: das Flötenspiel Hainlins, der droben in der Neckarhalde wohnte und gern abends auf seinem Altane träumte.

Dazumal war's am Neckar lebensfroher als jetzt. Aus Gärten und Fenstern scholl Gelächter und Burschengeträller, in der Brauerei von Betz brauste der Kommers, im Seufzerwäldchen, wo der Flieder duftete, schlug die Nachtigall und Mädchen sangen: »Das Lieben bringt groß Freud', es wissen's alle Leut'!« Jetzt ist alles hier befremdend schweigsam. Das Wasser sogar – nur ein hüpfender Hecht plätschert, es pfaucht eine Eule, von der Stiftskirche schlägt's ein Viertel – gleich wird der Turmwächter ins Tutehorn stoßen ... Richtig! noch besteht der Brauch ... Und ich spinne mich in Erinnerungen ein. – Da ist mir auf einmal, es halle von drüben des Kandidaten Flötenspiel, und immer deutlicher entfaltet sich die Melodie. Ein[288] Gemisch von zärtlichem Schmachten und klagendem Verzicht, dann wieder Aufjubeln und Andacht, eine Beichte, die in Tönen ausdrücken möchte, was unsagbar ist. Und mich begnadet jene Stille, die hinter allem Lebensgetriebe ihr heimlich Wesen hat. Von Unrast leer, ist sie gleichwohl durchzittert von Gefühlswellen. Alles lebt darin, was einst gewesen: Wie im Wasserspiegel, in den ein Stein gefallen ist, kreisförmige Wellen entstehen und in der Ausdehnung immer zarter werden, ohne daß ihre Wirksamkeit ganz verloren gehen kann. Wer hineinzulauschen weiß, dem gibt diese mütterlich hegende Stille Verlorenes wieder.

Im Silberduft des Mondes schweben um mich Geister ... Bist du's, Vater? Ich erkenne die hagerlange Gestalt, das ernste Gesicht mit der schwarzen Binde über leerer Augenhöhle, die schwermütigen Falten um den schnurrbärtigen Mund. Aber jetzt hast du, Vater, ein Lächeln so verklärt, wie ich's früher nicht an dir gesehen. Und deine Sprache ist lautlos, unmittelbar dringt sie ins Herz, durchleuchtend mit heiliger Klarheit ...

Die Erscheinung zerfließt – das Flötenspiel verliert sich, in eine Tiefe scheint es zu sinken, und – aus meiner Versonnenheit fahr' ich empor ...

Trunken von den Gesichten, die mir aufgegangen sind, wandle ich den gewölbten Laubgang dahin, bis er auf die Neckarbrücke stößt, die oben quer geht. Eine Treppe führt hinauf – es ist nicht mehr die alte Holzstiege, ist eine breite Steintreppe. Oben ragt etwas wie ein Denkmal. Ich habe keine Neigung hinzuschauen, biege nach rechts ab. Dort liegt der Gasthof zum Goldenen Ochsen, wo ich logieren will. Auf meinen Wunsch wird mir sogleich das Schlafzimmer angewiesen.


*


[289] In tiefer Nacht wache ich auf. Ferne Musik – Blechinstrumente intonieren eine wehmütige Weise. Soldaten, die im Trauerschritt einen Sarg zum Bahnhof geleiten. »Ich – hatt – einen – Ka – me – ra – den ...« Ach ja, Krieg ist – und Tübingen hat Lazarette. Dumpfes Krachen, – Gewehrsalven rufen dem Toten Ade. Dann singen Studenten das Abschiedslied. Ein Jenenser Bursch hat's gedichtet, als er nach vielen Jahren sein Musenstädtchen wieder besuchte. Ergriffen sprech' ich die Worte für mich ins Dunkel:


»Auf den Bergen die Burgen,

Im Tale die Saale,

Im Städtchen die Mädchen –

Einst alles wie heut!

Ihr werten Gefährten,

Wo seid ihr zurzeit mir,

Ihr Lieben geblieben?

Ach, alle zerstreut!


Die einen, sie weinen,

Die andern, sie wandern;

Die dritten schon mitten

Im Wechsel der Zeit;

Auch viele am Ziele,

Zu den Toten entboten –

Verdorben, gestorben

In Lust und in Leid.«


Am Morgen bin ich ausgeruht, die gestrige Ueberschwänglichkeit hat einer ruhigen Heiterkeit Platz gemacht. Ich begebe mich ins Frühstückszimmer, meinen Kaffeeersatz zu schlürfen. Der Kellner überreicht mir einen Brief: von meinem Jugendgefährten[290] Hebsacker, in dessen Elternhause ich einst gewohnt habe. In der Hoffnung, daß er noch am Leben und im Vaterhause ansässig sei, hatte ich ihm angezeigt, ich würde dann und dann in Tübingen eintreffen und im Ochsen logieren. Hebsackers Antwort lautete: um Zehn werde er ins Gasthaus kommen. Es treffe sich ungünstig, daß er morgen verreisen müsse, für zwei Wochen. Hoffentlich werde ich länger in Tübingen bleiben, so daß er mich später noch treffe. – Das Frühstück ist reizlos. Ich greife nach der Zeitung »Tübinger Chronik«. Das Titelbild ist das alte: die Burg mit den dicken Ecktürmen. Ich schmunzele über kleinbürgerlich idyllische Anzeigen, landwirtschaftliche Bildchen: ein dickes Schwein, eine Kuh, ein Pferd, »Milchziege gesucht«, »Blütenhonig«. Modern wirkt das Inserat: »Kunstmost pulverförmig, nur für Selbstverbraucher«. In der guten alten Zeit hatte jede Familie reinen Apfelmost im Keller.

»Ischt vielleicht ein Herr Doktor Wille bei Ihne abgstiege?« sagt jemand zum Kellner. Ich erhebe mich – schweren Schritts schreitet auf mich zu eine Gestalt, die mir zuerst ganz fremd vorkommt. Dieser behäbige Mann mit ergrautem Haar und Schnurrbart soll der schmächtige, blasse Knabe von damals sein? Ueber mich mag er entsprechend denken – sein Stutzen verrät es, sein Auge, das mich unsicher anstarrt. Dann wird der Blick auf einmal gemütlich, als ob er Bekanntes entdecke. Aber wie wir uns betrachten, entdeckt auf einmal jeder etwas Vertrautes im Gesicht des andern, und herzlich schütteln wir einander die Hand.

Hebsacker gesteht mir, schon nachmittags müsse er seine Reise antreten, und jetzt hab' er eine geometrische Vermessung im Keesbachtal zu erledigen. – »Keesbachtal? Für mich eine liebliche Erinnerung? Darf ich Sie dorthin begleiten? Ich habe ja keine an dern Geschäfte hier, als noch einmal auf den Pfaden meiner Kindheit zu wandeln.«

[291] Wir verlassen den Gasthof und gehen nach der Neckarbrücke. Auf meine Frage, wie er lebe, entgegnet Hebsacker: Es sei da nicht viel zu berichten – von den Eltern hab' er das Haus geerbt, besitze Frau und Kinder und sei Stadtgeometer. »Ond waas sage Sie jetzt zu onserem Tübinge? Hänt Sie's wiedererkannt? 's hat sich arg verändert, gelt?« – »Scheint aber noch immer das liebe Nest zu sein – wenn auch hier und da die neue Zeit ...« – »Ha freile! Da schaue Sie, die Aeberhards-Brück! So heißt mr sie jetzt – die alte war gemütlicher, gelt? Diese neue hat ebbes Kaltes, gesucht Großartiges. Wisse Sie noch, wie abends am Sonntag unsere Weigärtner auf der alten Brück gsesse sind? Die steinerne Einfassung bildete sozusage zwei lange Bänk'. Wie 's Landvolk heimwärts zog in seine Dörfer? Die Baure trugen dreispitzige Hut – die Mädle Sammetmieder, bunte Röck, weiße Hemdsärmel ond Flitterhäuble. Ond zweistimmik sangen sie: Jetz gang i ans Brünnele ...«

Vor dem Eberhard-Denkmal stehn wir, das von einem mittleren Brückenpfeiler emporragt. Ich finde, daß durch diesen schwerfälligen Aufsatz mit der gemeißelten Rittergestalt der Betrachter vom natürlichen Reiz der Brücke, von der Aussicht, abgelenkt wird. Hebsacker gibt das zu und meint sogar: »Die Aus sicht selber hat arg gelitten. Da schaue Sie zum Oeschterberg nauf – ob Sie den wiedererkenne? O ihr Rebstöcke von dazumal, wo seid ihr bliebe? Kaum daß mr noch eins sieht von dene Wengerthäusle der Biedermeierzeit. Dafür hänt mr jetzt drobe die Protzepaläscht von dene Korstudente. Ond den Kaiser-Wilhelm-Turm, wo mr um e Fünfziger naufkracksle derf, obwohl mr überall die schönschte natürliche Aussicht gratis hat. Aber so ischt die Welt! Immer verzierter, künschtlicher, nobler ond komfortabler soll's werde – so wird manches verschlimm-bessert.«

[292] »Himmel!« Und ich stehe erstarrt. »Was ist aus der alten Wassermühle geworden?« Der ins Wasser vorgeschobene Turm, ehedem Brückenverteidigung der Stadtmauer, steht noch, ist aber modernisiert, angepaßt dem hochgereckten Geschäftsbau, dessen Erdgeschoß »Lichtspiel-Theater« heißt. In die Melodie des Wassers, das immer noch aus dem Schacht in den Neckar stürzt, mischt sich nicht mehr das Summen des unterirdischen Wasserrads – sondern das seelenlose Geklimper und Geklapper einer Musikwalze, die zum Augenschmaus der Flimmerbude einen gleichrangigen Ohrenschmaus gesellt. Hebsacker sucht zu entschuldigen: »Ohne Kino geht's heuer net! Die alte Mühle war halt net lebensfähik – solche Werke gehn älle zugrund – ond sentimental braucht mr dees net zu nemme – es hat ja die Romantik au ihre Kährseit.«

Die Neckargasse aufwärts schlendern wir. Die Mündung der Mühlgasse sieht ganz neu aus. Stattliche Schaufenster sind in alten Häusern eingerichtet. Ist das nicht die Bursagasse? Da sieht's noch aus wie damals. Ihre Buckel und Krümmen hat die Stadt behalten. Die Stiftskirche natürlich hat sich nicht verändert – großartig wirkt ihr Aufbau: Links an der steigenden Gasse ragt das aus mächtigen Quadern gemauerte Fundament, eingefaßt durch eine gemeißelte Schranke, ein Meisterwerk der Gotik. Dicht dahinter hebt sich der Chor der Kirche. Ein Blick, mir sehr vertraut – gegenüber hab' ich ja mit den Eltern gewohnt.

Jetzt such' ich das alte Haus vergebens. Wo's stand, ist auf dem Bürgersteig ein Neubau – moderner Maurermeisterstil. – Sonderbar! Aus der äußern Wirklichkeit ist das alte Haus verschwunden, kein Stein, kein Balken blieb übrig. Aber in mir find' ich noch den dreihundertjährigen, verkümmerten und morschen Bau mit den vorgekragten Stockwerken, sehe die [293] Steinstufen, die zur Haustür führen – links das Schubfenster, wo die kropfige Madeere-Beckin zu sitzen pflegte, Wecken und Most an vorbeigehende Marktleute zu verkaufen. Schweigsam mir zur Seite geht der Gefährte meiner Knabenzeit – mein Sinnen will er nicht stören. So trollen wir durch die Gassen, und aus allerlei Winkeln kommt alte Zeit hervorgeschlüpft. Staunend erlebe ich das Wunder, daß etwas in der Außenwelt tot sein kann, aber im Gemüt unverwüstlich lebt. Erinnerung ist Mitteilung aus dem Ewigen Leben. Wenn ich jetzt durch die erinnerungsreichen Gassen und die liebliche Landschaft Tübingens walle, so geh' ich gewissermaßen in der Ewigkeit spazieren. Und bin Odysseus, der nach langen Irrfahrten wieder sein Ländle Ithaka durchstreift, sein Glastelfingen.

[294] Das Wahrzeichen

Alles kehrt wieder – was einmal war, das ist und wird sein – in der Ewigkeit hat es Wurzel. – So kam's, daß ich an waldiger Halde auf einmal jener altdeutsche Sänger war, und daß von mir sein Gesang galt:


»Ich saß auf einem Steine

Und deckte Bein mit Beine,

Darauf der Ellenbogen stand,

Kinn und Wange schmiegt' ich in die Hand ...


O weh! wie Wellenschaum

Schwanden Jahr auf Jahr.

Ist mein Leben Traum?

Oder ist es wahr?


Was da vorgekommen,

Scheint Gedankenspiel.

Vom Schlaf war ich benommen,

Und manches mir entfiel ...


Eins ist wie sonst: das Wasser wallt,

Am Gestein die Welle rauscht,

Und der Talbach, was er lallt,

Hab ich weiland schon belauscht.«


[295] Es war der Goldersbach, der zu mir emporraunte. An waldiger Berghalde saß ich – drunten lag das Kloster mit dem zart gewobenen Glockenturm, den stattlich schönen Gebäuden und der Ringmauer, sanft gebettet zwischen Waldhöhen. – Wie lang ist's her, seit ich dies zuletzt gesehn! Als Knabe war ich hier – in der Brunnenkapelle des Kreuzganges hab' ich dem Standbilde Eberhards einen Finger abgeschlagen. Oder ist das bloßer Traum? Brennende Sehnsucht spür' ich, festzustellen, ob die Geschichte etwas wirklich Erlebtes, und was alsdann aus dem abgeschlagenen Finger geworden ist. Wenn ich mir nun all das bloß zusammenphantasiert hätte? Auf, ins Kloster! Machen wir die Probe!

Und nun geh' ich – wie einst – zwischen den Gärtchen, Wohnhäuschen, Stallungen des Weilers Bebenhausen. Schmuck hat sich alles entwickelt in den Jahrzehnten des Fortschritts: Telephondrähte überspinnen die Dächer, elektrisches Licht ist sogar im Kuhstall. Das Klosterportal, den wuchtigen Steinbau, erkenne ich wieder, an der hohen Mauer rankt Efeu, wilder Wein. Und der finstere Aufstieg da, ist das nicht der sogenannte Fuchsbau? Noch tiefer als damals sind die Steinstufen von den Fußtritten ausgehöhlt. Nun kommt der Söllergarten – der plaudernde Brunnen – die Kastellanwohnung mit Rosen, Kressen, blauem Rittersporn.

Und wie gerufen erscheint ein Beamter mit Dienstmütze, wohl der Kastellan. Eine jener soldatisch korrekten Gestalten, mit denen sich Herrschaften umgeben. Grüßend fragt er: »Möcht dr Herr's Kloschter besichtige? Tut mir leid – heute geht's net – grad tun die Majeschtäte da wohne.« – »Bloß in den Kreuzgang möcht ich einen Blick tun.« – »Ha, dees dürfen Se scho.«

Wir treten in das kühle Gewölbe. Mich rührt die vornehme Anmut dieser schlanken Steinpfeiler. Lebendig seh'n sie aus, [296] wie Rankwerk wachsender Pflanzen – jede Ranke hat eigene Gestaltung und besondere Formen des Verwobenseins. Da sind auch die Schwälblein! Noch immer kleben sie ihre Nester zwischen die Steinranken. Lautlosen Fittichs huschen sie den Kreuzgang dahin – und durch die Pfeilerlücken in den Klostergarten, wo Rosen blühn und der Brunnen plätschert. Wir kommen zur Brunnenkapelle und sieh, da steht das Steinbild, das ich suche: der Graf im Bart. Wie weiland – in Helm und Panzer. Die Hand vorgestreckt, als ob er sagen wolle: »Ja freile! Hier war's. Dees Fingerle da hat mir e Lausbub abbroche.«

Aber nein, reichster Fürst! Der Finger sitzt ja an der Hand, und da scheint kein Fehl. Oder –? Nahe tret ich jetzt und betrachte genau den Finger. Nun seh' ich, er hat eine Narbe. Also doch! – Ich lächle wie jemand, der ein Geheimnis hat. Befremdet blickt der Kastellan und tritt ebenfalls herzu. Ich weise auf den Finger: »Der war mal ab! Sehn Sie, er ist gekittet. Aber gut verheilt, die Narbe kaum zu merken.« – Der Kastellan sieht mich stutzig an. Ich fahre fort: »Das wußten Sie wohl nicht? Na ja! Lang ist's her! Vor vierundvierzig Jahren ist das geschehen. Damals hat ein Pennäler mit einer Blechflöte diesem Steinbild den Finger abgeschlagen.« Der Beamte macht große Augen – blickt auf den Finger, mustert mich dann scharf: »Wer hat dees? E Pennäler? Sie wissen, scheint's, Näheres darüber, he?« – »Sogar genau weiß ich, wie die Sache zuging. Als ich mit der Blechflöte dran schlug, brach der Finger ab und polterte auf die Steinfliesen. Ich erschrak – hob ihn auf – war ratlos und – legte ihn in die Ecke. Da wird man ihn schon finden, wenn man fegt! dacht' ich und machte mich aus dem Staube. War natürlich bange, ich könnte abgefaßt und vom Gymnasium gejagt werden – wegen[297] groben Unfugs oder dergleichen. Jetzt ist die Geschichte wohl bloß Kuriosum. Und nicht wahr? Wenn Sie's dem König melden, wird er einfach schmunzeln. Dann können Sie ihn höflich von mir grüßen – er soll' entschuldigen, was ein dummer Junge getan.«

Der Kastellan starrt mich noch immer an: »Mit ner Blechflöt, sagen Sie?« – »Ja, die hatt' ich auf den Spaziergang mitgenommen – und in der Wölbung hier klang es schön, wie ich des Sommers letzte Rose blies. Als ich dann das Standbild beobachtete und mir klarzumachen suchte, wie man eine Hand, einen Finger meißeln könne, ohne daß der mürbe Sandstein bricht, überkam mich die Neugier, einmal zu probieren, ob das Material haltbar sei. Darauf pickte ich mit der Blechflöte an dem Finger, und knicks, da lag er.«

Der Kastellan lächelte: »Wer ebbes begänge hat, find kei Ruh, so sagt mr – zurück zieh's ihn zur Stelle seiner Missetat.« – »Stimmt! Ich bin gekommen, um zu sehen, ob die Geschichte nicht etwa bloße Einbildung von mir ist ... Na, das weiß ich ja nun. Der Verbrecher sucht am Schauplatz seiner Tat das Wahrzeichen. Er kann nicht glauben, was er getan hat – er hofft, alles könne böser Traum gewesen sein. Urkundlich möcht er sich überzeugen.« – »Urkundlich? Wie meinen Sie dees?« – »Ich meine die Urkunde, die dasSchicksal schreibt – ins Buch der Wirklichkeit. Das Schicksal ist ein Buchhalter, dem kein Versehen unterläuft. Nichts von dem, was wir angerichtet haben, ist spurlos vergangen, in irgend welchen Ueberbleibseln wirkt es weiter. Und so kommen wir niemals los von unserer Vergangenheit. Jede Lebensgestalt hat ihren abgeschlagenen und angekitteten Finger – alles bleibt in Ewigkeit.« –

Wie zur Bekräftigung tut jetzt die Uhr vom Klosterturm Schlag auf Schlag – Zwölf!

[298] Nachdenklich nickt der Kastellan und seufzt. Ich fahre fort: »Aber natürlich auch das Gute bleibt! Vom Winzigsten wird Vermerk genommen im Schicksalsbuche. Soll ich Ihnen davon ein Beispiel sagen? Es war mal ein Fürst – kein so braver wie dieser Eberhard, sondern ein Tyrann. Als der am Jüngsten Tage vor dem Weltrichter stand, klagten ihn lauter Missetaten an. Ist denn aber nichts da, was zu seinen Gunsten spricht? fragte der Weltrichter das Schicksal. Das blätterte in seinem Buche folgende Notiz heraus: Von einer Jagd heimkehrend, hatte der König eine Ziege angetroffen, die kurz angebunden war und, weil sie ihren Umkreis abgeweidet hatte, kläglich nach Futter meckerte. Da schob ihr der König mit dem Fuß etwas zum Fressen hin, eine niedergebrochene Staude. – Ja, alles wird angerechnet! erklärte der Weltrichter, auch das Unscheinbare. Weil selbst in diesem hartherzigen Tyrannen etwas Gutes sich geregt hat, gehört auch er zu den Erlösten – um der einen Guttat willen seien ihm seine Sünden vergeben.«

Während wir schweigsam sinnen, plätschert melodisch der Brunnen im Klostergarten. »Zirr – rieh!« jauchzt ein Schwälblein in zierlichem Flug ums Standbild.

[299] Der verlorene Sohn

Das »Posthörnle« ist jenes Bebenhausener Wirtshaus, wo einst Ulis Geburtstag gefeiert werden sollte – was vereitelt wurde durch Lindas unwillkommene Erscheinung, sowie durch den abgeschlagenen Finger. Ins Posthörnle trat ich jetzt, und die Wirtin, eine freundliche Frau in Mitteljahren, wies mich ins Herrenstüble. Vor einem Ledersofa stand da der Eichentisch, in den Hunderte von Namen eingeschnitzt sind. »Also darf ich hier Platz nehmen?« – »Ha, warom net? Der Könik beährt ons erscht om fünf Uhr.« – »Der König von Württemberg? Ei, das ist ja interessant! Kommt er als Gast?« – »Grad wo Sie sitze, ischt sei Stammtisch – bisweile trinkt er da sei Bier – ond raucht sei Pfeifle.« – »Ja, es heißt, er sei ein schlichter, leutseliger Mann. Hier läßt sich auch gemütlich kneipen. Bitte, Frau Wirtin, ein Schöpple Wein – und womöglich etwas zum Vespern – Brotmarken hab ich. Was wär' denn zu haben?« – »Eierpfannkuchen mit Salat,« schlug die Wirtin vor und ging zur Küche.

Nun kam ihr Mann und brachte den Wein. »Sind Sie von Bebenhausen gebürtig?« fragte ich, und die Antwort lautete: »Von Luschtnau.« – »Ach Lustnau! Als Knabe wohnte ich in Lustnau – beim Josua Kuttler – haben Sie den gekannt?« – »Ha freile! Ond lebe tut er noch, dr Josua. Zäh ischt der Kerle! zählt bald Neunzik! Bloß im Oberstüble hapert's.« – [300] »So so! Dann haust er wohl bei seiner Tochter Linda? Die war ja immer sein Augapfel.« – Der Wirt machte eine abwehrende Handbewegung: »Uijeh! Die zwoi sind wie Katz ond Hund. Bei dr Frau Jedele, seiner Enkelin, wird er geduldet, dr alte Narr.« – »O weh, Jakobskindle! Früher warst du Herr! Na, und die Linda? Lebt sie noch? Müßte scho Mitte Sechzig sein. Und Enzio? Was ist aus dem geworden?«

»Kuttlers Enzio? Hänt Sie den kennt?« – »Aber natürlich – wir haben zusammen das Gymnasium besucht – er war mein Kamerad.« – Etwas spöttisch sah mich der Wirt an, zögernd kam die Antwort: »Was aus'm Enzio worde ischt? Ha! wisset Sie dennnicks dervon?« – »Wie sollte ich! Bin ja über vier Jahrzehnte fort gewesen – erst seit ein paar Tagen suche ich hier Spuren meiner Kindheit.« – »Waas aus'm Enzio worde ischt?« wiederholte der Wirt, als sei er um die Antwort verlegen – platzte dann aber hart heraus: »E verlorener Sohn – e Mörder!« – Ich fuhr zusammen: »Was? Mörder?« – »Es stimmt! Mörder! Zuchthäusler! Am End hat ihn onser Könik begnadikt – i han selber mit Majeschtät gsproche, graad in dem Stüble da!« – Ich schüttelte den Kopf: »Mörder? Um Gottes willen! Wie ist denn das gekommen? Und wen hat er gemordet?« – »Seinen Schwager!« – »Wie? Lindas Mann?« – »Ja, den Gassenmaier!« – »Gassenmaier? Der war sein Schwager? Louis Gassenmaier?« – »Hänt Sie den au kennt?« – »Durch Enzio hab' ich den Gassenmaier kennen gelernt – er war Gesell in der Neckarmühle. Wir drei haben einen Ausflug zur Nehrener Eiche gemacht. Und dieser Gassenmaier hat also die Linda geheiratet? Und ist von Enzio – ist es wirklich wahr? Sonderbares Schicksal! Von Linda hat Gassenmaier schon damals geschwärmt. Ich hätte aber nicht geglaubt, das hübsche, wohlhabende [301] Mädchen, das immer so hoch hinaus wollte, werde einen Müllergesellen nehmen, so einen garstigen Kerl wie den Gassenmaier.« – »Ha – dazumal hat die Linda net mähr hoch naus könne. Was d Leut über sie geschwätzet hänt, ischt nicks Guts gwä. Uebrigens hat sie scho wie e alt Jungfer ausgschaut ...«

Hier wurde der Bericht unterbrochen durch Gelächter einer Frauenstimme, von der Küche her. Es war die Wirtin: »Ui! Jungfer? Dees kann net stimme. Ischt sie doch in andere Omständ gwä!« – Auflachend kratzte sich der Wirt hinterm Ohr: »Freile! Ihr Kindle ischt scho onterwegs gwä, ond so ischt dr Gassenmaier graad recht komme – sie zur Frau z' mache.« – »Ich verstehe, als Lückenbüßer hat sie ihn genommen. Und weiter! Sie sagen, den Gassenmaier habe Enzio umgebracht?« – »Vergiftet!« rief die Wirtin von der Küche her. – »Ich bitte Sie, Herr Wirt – ich bin aufs äußerste gespannt. Wie kam das alles? Erzählen Sie doch!«

Er nahm auf einem Stuhle Platz, zündete ruhig sein Pfeifle an und sann beim Paffen: »E omständliche Gschicht. Also – dr Enzio ischt in Amerika gwä ... Ond heimkomme als rechter Lump. Na hat dr Vatter den verlorenen Sohn aus'm Haus gschmisse – sein Sohn sei er net mähr.« – »Ach ja, wild aufbrausend und hart war der Alte.« – »Die Linda ischt's gwä, wo ihn so weit bracht hat. Dr Enzio natürli hat e Jähzorn kriagt – sei Rachsucht hat en higrisse, daß'r die Schweschter hat wölle beiseitschaffe.« – »Mit giftigePilz!« rief die Wirtin – »ja, ond dr Gassemaier hat's Pilzgricht gesse – zufällik bloß der – na ischt 'r hi worde.« – »Sie meinen also, aus Rachsucht habe Enzio ...?« – »Aus Rach- ond Habsucht! Hat sich die Erbschaft sichre wolle.«

Die Wirtin trug mir auf; mechanisch begann ich zu speisen. Die Erzählung, an der Wirt und Wirtin sich beteiligten, nahm mein [302] Aufmerken in Anspruch. Schwer fiel es mir, zu glauben, Enzio sei ein schleichender Meuchelmörder. Gewalttätigkeit, die war ihm zuzutrauen, nicht berechnende Heimtücke. Anderseits fiel in die Wagschale, daß ihn der harte Vater und die eigensüchtige Linda grausam gefoltert hatten; so schien es möglich, daß er sich zu einer Verzweiflungstat hatte hinreißen lassen.


*


Ueber den Zusammenhang der Dinge erfuhr ich etliches durch die Wirtsleute: Enzios Traum, er werde »Staatskarrjähr« studieren und als farbentragender Bursch umherstolzieren, war wie eine Seifenblase geplatzt, weil Linda ihren Vater bestimmt hatte, auf diesen üppigen Lebensplan nicht einzugehen, sondern den Sohn einfach Handelslehrling werden zu lassen. Nachdem Enzio in Stuttgart gelernt und ein paar Jahre in Stellung gearbeitet hatte, kaufte ihm der Vater ein Tuchgeschäft in Tübingen. Da er es ungeschickt betrieb und die Zeit mit studentischen Kneipereien verbummelte, machte er Bankrott und ging nach Amerika. Drüben in der strengen Schule lernt manch einer das Arbeiten – Enzio aber kam arbeitsscheu und trunksüchtig zurück. Der aufgebrachte Vater machte Versuche, ihm auf die Beine zu helfen; doch seine Darlehen wurden von Enzio vertan. Da wies ihn der alte Kuttler endgültig aus dem Hause – wohl in ähnlich schroffem Ton wie damals, als er den Knaben in den Straßenstaub geschleudert hatte.

Enzio war nun kaum etwas anderes als ein vagabundierender Strolch. Einen letzten Versuch machte er, ins Vaterhaus aufgenommen zu werden. Aber Linda stachelte den Vater auf, daß er, immer noch ein starker Mann, den Sohn mit der Faust hinaustrieb. Da war Enzio entschlossen, seinem verfehlten Leben ein Ende zu machen. An der Südhalde des Oesterbergs rief eines Weingärtners Knabe: »Vatter, in den Neckr ischt euner [303] gsprunge – grad luegt sei Kopf aus'm Wasser!« Der Weingärtner, der ein tüchtiger Schwimmer war, holte den fast Ertrunkenen heraus, erkannte den jungen Kuttler und brachte ihn zum Vaterhaus – nicht ohne zuvor eine Prügelei mit dem Widerspenstigen bestanden zu haben. Aber auch jetzt ließ sich der alte Kuttler nicht im mindesten rühren. »Gang wieder zom Neckr!« rief er – und diese Grausamkeit empörte den Weingärtner, daß er den verlorenen Sohn in eine Kneipe mitnahm.

Hier wurde neuer Lebensmut getrunken, wenn's auch kein guter Mut war, sondern gärende Leidenschaft, brennende Rachsucht. Ohne noch zu wissen, wie er sich rächen solle, lauerte Enzio im Wald am Dentzenberg, ob Linda nicht zum Haseläckerle gehe oder zum Obstgarten auf die Höhe. Richtig, da kam sie mit dem Korbe, und nachschleichend bemerkte Enzio, sie wolle Pilze sammeln, die sie durch Gassenmaier schätzen gelernt hatte. Auf dem »Sand«, einem Anger, wo die Soldaten zu exerzieren pflegten, gab es gute Pilze, aber auch eine sehr giftige Art. Ihren halbgefüllten Korb hatte Linda an den Waldrand gestellt und ging über den Sand, weitere Pilze in die Schürze zu sammeln. Währenddessen soll es Enzio gelungen sein, den gefährlichen Pilz in den Korb zu schmuggeln. Abends schmorte Linda das Pilzgericht – und davon aß ihr Mann, der Gassenmaier; es geschah hastig, weil er nur eine Viertelstunde verweilen konnte – dann hatte er eine Geschäftsreise anzutreten. Zufällig wurde Linda, ehe sie gegessen hatte, in den Stall gerufen, wo eine Kuh das Kalben bekam. Gassenmaier reiste ab, war andern Tages krank und starb.

Wie Linda des weiteren verhindert wurde, von den Pilzen zu essen, blieb ein dunkles Kapitel in diesem Bericht, gegen den ich überhaupt manches Bedenken vorbringen konnte, ohne daß Wirt und Wirtin imstande waren, alles glaublich zu machen.

[304] »Hat Enzio denn ein Geständnis abgelegt?« – »Zuerscht hat er gleugnet, zuletzt gschwiege. Ond wien er ischt aus'm Zuchthaus naus gwä, hat er gsagt wohl hab er e Schuld, aber Mörder sei er net.« – »Und was ist aus Enzio geworden, seit er begnadigt wurde?« – »Nach der Schweiz ischt er gange. Etliche Jahr vorm Krieg hat 'r sich wieder in Luschtnau sehe lasse – bei seim Vatter – daß der's seitdem besser hat.« – »Ein braver Zug von Enzio. Was war denn aber mit dem alten Kuttler? Inwiefern ging's ihm schlecht? Das sagten Sie doch eben. Weshalb hat ihm Enzio beistehen müssen?«

»Ha – weil Kind ond Kindeskind den Alten schlecht behandelt hänt! Dem Gassenmaier hat die Linda net lang nachtrauert, hat wieder gheiratet – diesmal ischt's e junger Kerl gwä, Straubisch heißt 'r. Dem alten Kuttler sind die zwoi um den Bart gange, bis 'r so dumm gwä ischt, ihne sei Eigentum abzutrete. Seitdem ghört's Haus mit dem Kramlade der Frau Linda Straubisch. Das andre Haus am Goldersbach – hat der Alte Lindas Tochter zuschreibe lasse, die den Jedele gheiratet hat. Aber sie hat sich müsse verpflichte, ihren Großvatter in Pfleg zu nemme.« – »Ah, ich merke! Diese Verpflichtung hält sie wohl schlecht?« – »So ischt 's!« antwortete die Wirtin, »die Jedeles tun dem Alten 's Lebe verleide – daß 'r seinen Sohn soll bitte, ihn anderswo onterzubringe.« – »Seinen Enzio? Kann er denn hoffen, von dem so viel zu erhalten?« – »Ja, dr Enzio hat seim Vatter verziehe, wie sich der von dr Linda losgemacht hat. Taschegeld gibt dr Enzio seim Vatter – aber der weiß es bloß zu verwende, um den Jedeles ond dr Linda Aerger zu mache. Anderswohin tut Enzio den Alten net bringe. Die Luschtnauer Verwandte solle sich gegeseitik e Straf sein. Uebrigens würd dem Alten ebbesfehle, wenn er seine Verwandte net plage könnt.«

[305] »Also Geld gibt Enzio her? Dann geht's ihm in dieser Hinsicht so ziemlich, wie?« – »Am Geld, heißt's, fehl's ihm net. In der Schweiz hab er e guets Gschäft – sei übrigens e ordentlicher Mensch worde. Jetzt, weil 'r für Jedeles' Buebe e Vermächtnis in Aussicht stellt, derfen die den Alten net zu schlecht behandle. Zank freile gibt's mit ihm Tag um Tag. Ond er selber, der Alte, hat schuld. Ischt halt e böser Ssimpel. Sei Freud hat 'r, wenn er schimpfe tut – ond wenn er droht, er werd's Häusle azünde.« – »Meint er's im Ernst?« – »I glaub net! Aber weiß mr denn, ob er net doch emol tut, waas er so oft gsagt hat? Net grad verarge sollt mr's den Jedeles, daß sie den Alten net ohn Aufsicht im Häusle lasse möge – ond daß 'r bisweile ausgsperrt vor dr Haustür sitzt.«

»Ausgesperrt? Da hat er allerdings einen trüben Lebensabend – und überhaupt, das Schicksal des Hauses Kuttler ... Kuriose Welt! Aber sagen Sie, ob ich den alten Kuttler sprechen kann?« – »Warom net? Sogar den Enzio – wenn's stimmt, daß er sich in Tübinge hab sehe lasse die letzte Täg.« – »Enzio? Es wär mir sehr interessant, ihm zu begegnen. Wo mag er wohnen? Wie könnt' ich das erfahren?« – Fragend blickte die Wirtin auf ihren Mann, der zuckte die Achsel: »Leicht wird's net sei. Einen amerikanischen Namen hat er ahngenommen ... Tobias – oder so – Mister – i woiß net.«

Nach diesem Gespräch verabschiedete ich mich von den Wirtsleuten und ging gen Lustnau. Nichts schien sich hier im Tal verändert zu haben – der Goldersbach murmelte, auf der Talwiese zirpten Grashüpfer, die fruchtbeladenen Zweige der Apfelbäume waren gestützt, auf den Höhen beiderseits säuselte Hochwald. Als ich an die Sophienpflege kam und die Reste des ehemaligen Klostervorwerks sah, die alte schiefe Mauer und den [306] Kapellenturm, dachte ich an Justinus Kerner und sein Rickele, wie sie hier den zarten Vorfrühling ihrer Liebe erlebt hatten.

Dies Paar und die Familie Kuttler – welch ein Gegensatz! Ich glaubte zu sehen, woraus die Verschiedenheit der Schicksale hervorwuchs. Es gibt nureine Sünde: in Verengung sich abzutrennen vom ewigen Leben – und gibt nur eine Erlösung: dorthin heimzukehren, wie der verlorene Sohn zum Vaterhause. Um es zu finden, braucht man nur das eigene Herz zu öffnen, aus dem Schneckenhaus Ich herauszufinden, ins einige All.

[307] König Lear

Das Lustnauer Haus, wo ich bei den Eltern gewohnt hatte, sah noch schmuck aus, und wie damals lächelte der Rosengarten. Ueber dem Krämerladen stand jetzt ein anderer Name: Matthias Straubisch. – Ob ich eintreten durfte? Ich tat es, schon ging die Türschelle – es war derselbe Laut, den ich als Knabe oft vernommen. Hinterm Ladentisch stand eine Frau mit weißem Haar und kohlschwarzen Augen – ich wußte sofort: Linda ist das – noch immer scheint es in dieser Seele hexenhaft zu lodern.

»Grüß Gott! Frau Straubisch! Nicht wahr, Sie sind es? Haben Sie ...« Und suchend musterte ich die ausgelegten Waren. In meiner Verlegenheit deutete ich, obwohl kein Raucher, auf Zigarren. Und während sie diese in eine Hülle tat, begann ich das Gespräch: »Sie werden mich nicht mehr kennen. Es ist ja auch so lange her, daß ich bei Ihrem Vater Rosen kaufte. Student war ich damals ...« Zu dieser Ausrede hatte ich meine Zuflucht genommen, weil mich der forschende Blick ihrer wilden Augen verwirrte. Sie schwieg, als ob sie abwarte, wo hinaus ich wolle. »Ach ja, Frau Straubisch,« fuhr ich fort, »die Zeit vergeht! Ihr Vater muß schon bald Neunzig sein. Ich höre, er wohnt bei Ihrer Tochter, der Frau Jedele. Ich erinnere mich des Hauses – es liegt ja wohl am Goldersbach, wo das Stegle hinüberführt?«

[308] Ihr Blick wurde schielend – auch Enzio und der alte Kuttler hatten diesen Zug. Und nun hörte ich Lindas Stimme – sie war noch hart, wenn auch leise lauernd: »Ja, wo früher 's Stegle war ond dr Goldersbach. Jetzt hat mr ihn reguliert, im Boge abgleitet, durch d Wiese – ond's Stegle ischt fort.« – »Oh!« bedauerte ich, »wieder ein Stück Vergangenheit dahin! Man fühlt eine Art Zerrissenheit, wenn da draußen nicht mehr zu finden ist, was vor dem innern Auge noch wie greifbar steht. Sie, Frau Linda – wie Sie damals waren und Enzio und Ihr Vater – das alles hat noch volles Leben in meiner Erinnerung. Also Ihr Vater, hm ... Und besteht seine Jakobsgemeinde noch? Der Tempel hinterm Garten?« – Sie lächelte verächtlich: »Den Tempel hat dr rote Hahn gholt!« – »Der rote Hahn? Sie wollen sagen, daß er abgebrannt ist? Wie kam denn das?« – »Ha, wie so ebbes halt kommt! Er mußte ja abbrenne! War halt zu ogschickt glega!« – Auf meinen forschenden Blick antwortete sie mit listigem Augenblinzeln und winkte mit dem Kopf nach dem Goldersbach, wo ihr Vater wohnte. Das war nun die echte Linda – ihre spöttische Bosheit war's, die beißend treffen konnte wie ein gezielter Peitschenhieb.

Ich dachte an Gassenmaier und suchte sie durch eine Anspielung zu strafen: »So so! ungeschickt gelegen! Und darum brannte die Scheune ab! Na ja! Der Hölderlin-Turm, der zu meiner Knabenzeit in Flammen aufging, war einem gewissen Jemand auch ungeschickt gelegen.« – Sie stutzte, mißtrauisch bohrten sich die schwarzen Augen in mich hinein: »Der Hölderlin-Turm? Dees ischt aber lang her, arg lang! Ond dazumal send Sie Knab in Tübinge gwä?« – Ich fühlte, wie ich unter ihrem argwöhnischen Spähen errötete. Drum legte ich has Geständnis ab: »Als ich sagte, ich sei in Tübingen Student gewesen, wollte ich nur mein Inkognito wahren. Rund heraus [309] gesagt: meine Eltern haben hier bei Ihnen im Haus gewohnt, ich bin Enzios Schulkamerad. Herr Hainlin hat mir Nachhilfe erteilt. Erinnern Sie sich?« – Betroffen starrte sie mich an und hauchte: »Hainlin?« – »Ja, Hainlin! Was ist denn aus ihm geworden? Sie können gewiß von ihm erzählen.« – »Net viel mähr, als daß 'r tot ischt, lang!« – Schweigend sah ich sie an und nickte: »Ein edelfeiner Mensch! Nicht wahr?« Etwas Weiches kam in ihren Blick, stumm bebte ihre Lippe.

»Aber Enzio!« fuhr ich fort – »was ist denn mit dem? Ich höre soeben, er sei in Tübingen geschäftlich – da möcht' ich nicht verfehlen, ihn aufzusuchen. Sie blicken finster, Frau Linda? Nun ja, ich weiß, was er Ihrem Manne angetan hat – aber Menschenkindern bleibt, wenn sie einander begreifen wollen, nichts übrig, als Nachsicht zu üben.« Ihre Augenbrauen, die noch schwarz und buschig waren, zogen sich zusammen, als solle die Seele darunter versteckt werden – und etwas von wölfischem Knurren hatte ihre Stimme: »Tun mr net von dem rede! Nur dees net!« – »Na ja, ich ... Entschuldigen Sie, wenn ich Peinliches berühre. Aber wer alten Erinnerungen nachgeht, wie ich, kann sich geradezu vernarren in den Wunsch, Gestalten von damals wiederzufinden. Seien es Menschen, seien es Stätten. Von Ihrem Haus da, vom Rosengarten und der Weinlaube hab' ich in diesen Jahrzehnten manchmal geträumt – hab' mich gesehnt, das alles mal wiederzusehen. Nun ich endlich hier bin, freut es mich, daß so ziemlich alles, wie es scheint, beim alten geblieben ist. Steht denn die Laube noch?« – Sie hatte einen schmeichlerischen Zug, als sie erwiderte: »Sie möchten in den Garte?« Und durch den Hausflur ging sie voran, ihre Gestalt war noch straff. Da sieh, wie einst blühten die Rosen, und die Laube war noch immer von Wein umrankt.

[310] Der Wunsch, Näheres über Hainlin zu hören, veranlaßte mich, an ihn zu erinnern: »In der Laube da saß der Kandidat mit meinem Vater und sprach über Erziehung – sprach über uns Knaben und die Schule ... Oh, wie treffend! Zum Seelenpfleger, zum Menschengärtner war er durch sein Genie berufen.« Wehmütig sah sie mich an und nickte: »Sälengärtner! Ja, war onsereis, wär i in seiner Pfleg gwä – anders wär älles worde. Aber – mi hat er net möge – zuletzt schon gar net mähr, wie er hat gemeint, i hätt die Denunziatio gschriebe. Wisset Sie noch? Der Figur in Bebehause hat ebber's Fingerle abgschlage ghätt.« – »Ob ich weiß? Ich selber bin ja der Missetäter gewesen! Grade komm' ich von Bebenhausen und habe mir den abgeschlagenen Finger besehen. Und hab' in mich hineingelächelt, weil er gut angeheilt ist.« Auf diese Wendung zum Heiteren ging Linda nicht ein. »Gschriebe han i die Denunziation net, noi!« Aus ihrem verzogenen Munde kam es wie unterdrücktes Schluchzen, sie wandte sich ab. Da sah ich nun, daß sie Liebe für Hainlin gehabt hatte – Liebe auf ihre Art. Milder war also zu beurteilen, daß sie Bock zu jener Denunziation veranlaßt hatte. Aus Verliebtheit war's geschehen, aus Eifersucht: Hainlins Heirat mit Rosel hatte sie hintertreiben wollen.

Als hätten sich auch ihre Gedanken in dieser Richtung bewegt, fuhr sie fort, Tränen im Auge: »Daß es mit dem Hainlin so komme würd, han i net ahne könne.« – »Wie denn gekommen? Ich weiß gar nichts von ihm.« – »Ond i han nicks weitr ghört, als daß 'r hab kei Glück ghätt mit seiner Frau.« – »Mit Rosel?« – »Net mit der! Die hat ja den Bolkendorf gheiratet.« – »Also doch! Und leben die beiden noch?« – Mit der Hand machte sie eine abwehrende Bewegung: »Ui jeh, längscht net mähr! Beide tot!« – »Ach ja! Die Zeit [311] reißt alles in ihren Strudel ... Aber Sie wollten etwas von Hainlins Frau sagen – wer war's denn?« – »I han sie net kennt – in Berlin, heißt's, hab er mit ihr gwohnt. Ond sie sei ihm ontreu gwä.« – »Untreu? Dem Hainlin?« – Sie nickte finster.

»Und über Enzio möchten Sie mir nichts sagen? Nicht einmal den Namen, den er jetzt führt? Ich möchte ihn gern sprechen.« – Finster schüttelte sie den Kopf und kniff die Lippen zusammen. Dann loderte ihre Wildheit auf: »Nicks wisse mag i von dem! So wenik wie vom Dreck onter meim Schuh.« – Da konnte ich nicht weiter in sie dringen. Schweigend sah ich mich im Garten um. In lieblicher Unschuld, wie einst, lächelten die Rosen, wangenrote und weiße, dunkelglühende und marmorgelbe. Linda pflückte mir etliche zum Andenken. Diesen freundlichen Zug an ihr hatte ich als Knabe ein paarmal beobachtet, eine verstohlene Weichheit mitten in harter Ichgier – es war, als luge aus Unkraut, fast davon erstickt, ein letztes gutes Pflänzchen hervor.

Dankend verabschiedete ich mich und ging, von ihr begleitet, zur Gartenpforte. »Ond jetzt gehe Sie zu meim Vatter?« bemerkte sie spitzig. – »Ja, ich möchte ihn gern wiedersehn.« – »Den werde Sie net wiederkenne, er ischt e Ssimpel.« – »Ich bedaure, daß Sie Ihr gutes Verhältnis zum Vater verloren haben. Früher waren Sie doch sein Augapfel.« – Nichtachtend zuckte sie die Achsel: »Er hat mi schlecht behandelt, halb enterbt.« – »Aber, wie ich höre, doch bloß zugunsten Ihrer Tochter.« – Gereizt eiferte sie, sich auf die Brust pochend: »I! I hätt ihm solle dr Näckschte sein! Warum stellt er mei Tochter mir gleich? Aber's geschieht em recht, dem Narre, daß er bei Jedeles so bhandelt wird. Jetzt hat er's mit allen Kindern verdorbe. Ha jo! Dr Enzio gibt em Geld[312] aus Schikahn gegen mi! Um den Alten gegen mi auszuspiele – om mir 's Lebe schwär zu mache ...«

»Wieso denn Ihnen? Wenn doch Ihr Vater nicht bei Ihnen, sondern bei Jedeles wohnt!« – »Ha, der Alte droht alleweil – mit Brandstiftong! Ond dees geht scho viele Jahr so!« – »Dann ist wohl klar, daß es leere Drohung ist.« – »Ha – weiß mr denn, waas so e Narr noch ahnstelle ka? Rabiat ischt 'r, gmeingfährlich! Ins Narrehaus ghört 'r!«

Dem widerwärtigen Keifen entzog ich mich. Die beiden von Linda erhaltenen Rosen, eine dunkle und eine weiße, steckte ich mir ins Knopfloch. Gewohnheitsmäßig wie einst bog ich in die Gasse, die zum Goldersbach führt – hier war ich so oft mit dem Schulranzen gegangen. Aber ach, das steinige Bett des Baches lag öde, wasserleer, und der hölzerne Steg, von dem ich die Forellen beobachtet hatte, war fort – an seiner Stelle führte ein aufgeschütteter Weg durchs Wiesenland. Enten gab es da noch – nur watschelten sie jetzt über trockenen Schlamm.

Ich sah mich um – hier in der Nähe mußte das Haus sein, wo der alte Kuttler jetzt wohnte. Führte nicht ein steinerner Vorbau zur Haustür? Richtig! Dort die Freitreppe! Auf den Stufen sitzt ein Mann, eine schlottrige Gestalt. Ich gehe hin – das ist der alte Kuttler. An den schwarzen Augen zu erkennen – Lindas Augen sind es, Enzios Augen. Um das lederbraune, verrunzelte Gesicht starren weiße Bartstoppeln. Das Kinn macht Kaubewegungen. Auf den Kopf ist eine Troddelkappe gestülpt. Dürr und eingesunken die Gestalt, als ob ein Holzgestell bekleidet sei. Der eine Fuß steckt in einem Pantoffel, vom andern scheint der Pantoffel verloren. Unheimlich lodernd ist des Alten Blick auf mich geheftet – es glimmt darin noch heftiges Wollen; der übrige Mensch ist Schlacke.

[313] Ich ziehe den Hut: »Grüß Gott, Herr Kuttler!« Er lallt, und ich fahre fort: »Ich wollt' nur grad den Goldersbach anschaun – vierundvierzig Jahre bin ich nicht in Lustnau gewesen – und da seh' ich, das Wasser ist fort – der Bach abgeleitet.« Er nickt und murmelt hohl: »Menschewerk! Bloß Menschewerk!«

»Vielleicht erinnern Sie sich meiner, Herr Kuttler – ich heiße Wille – ich habe mit meinen Eltern etliche Monate bei Ihnen gewohnt, in Ihrem Geschäftshaus.« Spähend kneift er die Augen zusammen, immerfort kaut das Kinn.

»Ja, Herr Kuttler! Anno Dreiundsiebzig war's, vielleicht erinnern Sie sich meines Vaters: er hatte bloßein Auge.« Jetzt schien in dem Alten etwas aufzuwachen, die Hand tat er vor sein Auge und lallte: »E schwarz Bändle hat er da ghätt, gelt?« – »Ja! Das war mein Vater!« – »Na send Sie der – wo mit meimEnzio zum Gymnasiom gange ischt?« – »Stimmt, Herr Kuttler! Und über den Enzio hätt' ich Sie gern befragt. Dieser Tage ist er in Tübingen, hab' ich gehört. Ich möchte ihn besuchen – wo wohnt er?« Grinsend schüttelt der Alte den Kopf: »Den finde Sie net! Verpuppt hat er sich – ausgeschlüpft ischt e fremder Schmetterling – Aemörriken-Mister.« – »Ja, ich weiß, daß er in Amerika war und den Namen gewechselt hat. Und wie nennt er sich? Wo wohnt er?« – Der Alte murmelt in sich hinein, rückt aber nicht mit der Sprache heraus. Wahrscheinlich weiß er selber nichts Näheres über seinen Sohn. Der will ja auch inkognito bleiben, drum wird er sich wohl hüten, einen Schwachkopf zum Mitwisser seiner Heimlichkeit zu machen.

»Aemörriken-Mister,« lallt der Greis – »aber all dees Menschewerk soll vergehe! Ond's Häusle tu i dooch azünde.« – »Aber nein, Herr Kuttler! Das kann nicht Ihr [314] Ernst sein! Sie waren sonst ein frommer Mann. – Und denken jetzt daran, solche Sünde zu begehn? Nicht doch!« – Starrsinnig winkt er ab: »Dees Häusle da ischt Menschewerk! Ond die Sünd', graad da tut die Sünd hause – drum mueß dees Häusle fort. Ond wenn sie den Ssimpelaussperre, – azünde kann er dooch!« – »Hat man Sie ausgesperrt? Wo sind denn Jedeles?« – »Auf dr Wies – Oehmd mache!«

»Wollen Sie rauchen, Herr Kuttler?« Ich gebe ihm die gekauften Zigarren – er nimmt eine, beißt ab und sagt lauernd: »Gebt mir e Zündhölzle.« Ich hole mein Schächtelchen heraus und reiche ein brennendes Hölzchen. Er raucht an und bittet mich, ihm 's Schächtele zu schenken – die Ziehgarr müss' er halt immer wieder azünde, weil er aufs Rauche vergess'. Da ich argwöhne, er könne Feuer anlegen, erwidere ich, das Schächtelchen brauch' ich selber. – Die Zigarre scheint ihm zu schmecken, und ich sage: »Aus Ihrem früheren Laden hab' ich die gekauft – von Ihrer Tochter Linda.« Sein Gesicht wird düster, die Zigarre betrachtend, faselt er: »Menschewerk!« – »Ich bedaure, daß Sie nicht mehr so gut wie einst mit Ihrer Tochter stehn. Wie ist das gekommen?« – Seine Antwort ist eine Handbewegung nach dem Pfosten der Haustür. Auf schwarzem Grund steht da, rot gemalt, der seltsame Haussegen: »Undank ist der Welt Lohn.« – »Sehr wahr!« entgegne ich, und da lodert der alte Propheteneifer in ihm auf, hohl deklamiert er: »Wer seinen Kindern gibt das Brot – ond leidet nachher selber Not – den schlag mr mit dr Keule tot! Ja meine Kinder, die hänt mi verleugnet ond verlasse – an dene bin i gstroft. Jetzt, Herr, saget mir, ob so ebbes scho vorkomme ischt in dr Welt?«

»Es ist schon alles einmal dagewesen, hat ein Weiser gesagt. Und haben Sie denn nie die Geschichte vom Lear gehört? [315] Nicht? Dieser König Lear hat eine Affenliebe gehabt für seine zwei ersten Kinder, so daß er ihnen sein Reich geschenkt hat. Aber wie sie's besaßen, haben sie ihn grausam behandelt – vor Gram ist er wahnsinnig geworden und wie ein Bettler in seinem Reich umhergeirrt. Ach, kennen Sie die Geschichte wirklich nicht? Shakespeare hat ein Theaterstück daraus gemacht.«

Finstern Blickes brummt er: »Theadr? Menschewerk ischt dees! Von Theadr ond so Märle will inick's! Nach 'der wirkliche Welt frag i – obda so ebbes scho vorkomme ischt. Auf em Theadr freili, wenn da d' Leut sehe, wie e Könik Gram hat, na mache se e 'groß Gschrei, weil sieFürschteknecht sind: oh! dr arme Könik! Ond e Buch tun se draus mache, e Theadrstückle. Wenn aber e Dörfler, einer, wo seinen Sohn verstoße hat ond all sei Eigentum verschenkt hat an seineTochter ond an deren Tochter, wenn i, dr Josua Kuttler, so ebbes erleb, na macht mr nicks draus! Na hat die Welt net Erbarme! Na spottet sie bloß ond lacht: Gschieht ihm recht, dem Narre! I aber sag: Domme Welt! Waas weißt denn du von Recht ond Onrecht? Vom Onterschied zwischen Menschewerk und dem Gott Jakobs, der da äwik ischt? He du, Welt – ssaumäßik domme, pfui!« Und er spuckt aus – ganz außer sich, seine Augen rollen. Da ihm die Zigarre ausgegangen ist, geb' ich ihm nochmals Feuer, er raucht an, betrachtet die Zigarre und murrt: »Menschewerk!«

Für diesen Lustnauer Lear hab ich nun nichts weiter als einen Gruß – dann geh ich eilig, womöglich seinen Sohn ausfindig zu machen. Die Rosen, die mir Linda geschenkt hatte, vergingen rasch: die dunkle verlor auf einmal ihre Blütenblätter, die weiße fiel in den Straßenkot.

[316] Am Stammtisch

Nicht selten soll's geschehen, daß in einem entlegenen Weltteil ein Schwab dem andern begegnet – dann schütteln sie einander die Hände und sprechen: »Klein ischt die Welt!« In seinem kosmopolitischen Liede erzählt Bruder Straubinger, auf seiner Wanderschaft in Indien hab' er einmal, an einem Wirtshaus vorüberkommend, auf gut Glück hineingerufen: »Ischt koiner von Böblinge do?« Drauf sei hinten von der Bierbank, wo ein alter Brahmine gesessen, das schwäbische Echo erklungen: »Noi, dees net! Aber von Ellwange!«

Diese Geschichte ließ mich hoffen, Enzios Spur in Tübingen ausfindig zu machen, zumal mit der Art einer Kleinstadt gerechnet werden durfte, wo jede fremde Persönlichkeit neugierig beobachtet und besprochen wird. Nun geh' aber gleich vor die rechte Schmiede! sprach ich zu mir, nämlich – wie Bruder Straubinger – ins Wirtshaus! Nachmittags war ich einziger Gast in der Gaststube, konnte frei mit der Kellnerin plaudern. »Hören Sie, Liesel! Hier in Tübingen soll ein Amerikaner weilen – ist in meinem Alter – hat kohlschwarze Augen – nennt sich Tobias oder so ähnlich. Wo könnte der wohnen?« – Die Kellnerin blickte nachdenklich und zuckte lächelnd die Achsel: »Onsereis kommt wenik naus.« Aber aus dem Schubfenster, das zur Küche ging, erscholl der Köchin Stimme: »Ameriganer? Dees könnt dr Hallelujah-Mister sein.«

[317] Begierig griff ich die Andeutung auf – sie paßte zu dem Worte des alten Kuttler: Aemörriken-Mister. »Hallelujah-Mister sagen Sie? Weshalb nennt man ihn so?« – Und durchs Schubfenster lugend, schmunzelte die Köchin: »Nicks für unguet, Herr Dooktr, daß i so vorlaut bin. Gnaues weiß i selber net. Aber e Student aus meiner Bekanntschaft tut über den Ameriganer schimpfe. Jeden Morge stör ihn der im Schlaf, indem daß er Choräl sing – ond ameriganische Hallelujah-Liedle – wie so Leut von dr Heilsarmee.« – »Amerikanische? Das wird er sein!« Auf Enzio war um so eher zu raten, als dem Zögling der Jakobskindle fromme Lieder zuzutrauen waren. Auf meine Erkundigung, wo der Student wohne, erfolgte der Bescheid: Das wisse sie nicht, auch nicht seinen Namen. Aber darüber könne ich Auskunft erhalten in der Weinwirtschaft zur Pepita, wo der Student verkehre.

Nach dem Abendessen machte ich mich zur Pepita auf. Es regnete, dunkel war die mir bezeichnete Gasse, nur eine Laterne glomm. Die alten Häuser brüteten mürrisch, ihre Giebel verloren sich im Nebel, und weil die unteren Fensterläden geschlossen waren, kam nur hin und wieder ein Lichtschimmer aus den Wohnungen. Vergebens sah ich mich nach der Wirtschaft um – niemand war da, den ich hätte fragen können. Endlich nahten Schritte – es kam jemand mit einem Regenschirm. »Entschuldigen Sie – wo ist die Weinstube der Pepita?« – »Bitte, kommen Sie mit – i gang selber zur Pepita.«

Ich folgte dem Bürger; schwerfällig schritt er voran. Nicht lange, so wandte er sich, auf ein krüppeliges Haus deutend: »Dem sieht mer's net ahn, was für e guts Tröpfle da lauft.« Durch die niedere Haustür traten wir in einen Flur, der elektrisch erleuchtet war, im übrigen nach ältester Kleinbürgerzeit aussah. Steinfliesen – in den Ecken standen Fässer und Geräte herum – zum Keller führte eine Falltür, hochgeklappt.

[318] Das Gaststüble, in das wir kamen, war klein, ohne Gäste, hatte nur drei Tische aus rohem Buchenholz, an den Wänden Bänke. Die Decke sah vergilbt aus wie angeschmauchte Meerschaumpfeife. Während wir Schirm, Hut und Mantel ablegten, scholl aus dem offnen Nebenraume Bratengeprutzel und eines ältlichen Weibes Stimme: »Grieß Goot, Herr Stadtrat!« Dann kam eine Matrone, grauhaarig, faltigen Gesichts. Dem Stadtrat ohne weiteres einen Schoppen Rotwein hinstellend, blickte sie mich prüfend an: »Neu oder alt?« Ich entgegnete: »Vom Neckar soll immer der Neue ratsam sein.« – »Neuen also!« Und die Frau ging.

»Ist das die Mutter der holden Pepita?« raunte ich – worauf er lächelte: »Sähr gut! Ha jo! Wenn einFremder herkommt ond bloß den Namen Pepita kennt – ond wenn alsdann dees Weible da erscheint, so zwische Fufzik ond Siebzik, na fragt er, wo die Tochter sei – unter der Pepita stellt er sich halt ebbes vor wie jene aalglatte Donna, wo einschtmals der Welt den Kopf verdräht hat mit ihrem Tanzbein, gelt?« Schelmisch nach der Alten blinzelnd, die mir jetzt meinen Schoppen brachte, fuhr er fort: »Mir wär's au lieber, wenn die Pepita e Schlange wär!« – »E Schlange?« fragte wieder eintretend die Wirtin. – »Ha – weil die Schlange alle Jahr efrische Haut kriegt – dees wär onsrer Pepita zugönne.« – Die Wirtin parierte den Hieb schlagfertig: »Wenn i e Schlängle wär, an den Herrn Stadtrat tät i mei Gift net verschwende – – der ischtselber giftik gnueg.«

Belustigt zwinkerte der Stadtrat: »Von Ihne will i au koi Gift – sondern e guets Tröpfle – ond jetzt Maultasche, gelt?« – »I werd so guet sein!« entgegnete sie schnippisch und kehrte zur Küche zurück.

»Also das ist die Pepita! Hat sie diesen Namen wenigstens in ihrer Jugend gerechtfertigt?« – Lächelnd schüttelte der [319] Stadtrat den Kopf: »Daß i net wüßt! Aber ihr Mann, der verstorbene Beck, hat Paul Pita gheiße – gschriebe: P. Pita – drauße auf'm Schild steht's.« Gemütlich trank er mir zu, und ich tat Bescheid. Mir mundete das sanfte Feuer des jungen Rotweins.

»Bloß dr Wecke fehlt,« sagte er – »Weißbrot erhöht den Wohlgeschmack. Schon um wieder Wecke zu kriege, sollt mer endlich Friede schließe. Ond all die Sächle, wo mr vor dem Krieg gschleckt hänt – Rührei, Leberspätzle, Milchreis ... o jerum, älls futsch!«

»Sie! Pepita!« rief er nach der Küche. »Für wen soll denn der Brate da sei?« Wieder eintretend, sagte die Wirtin geheimnisvoll, als schenke sie uns besonderes Vertrauen: »Für zwei Herre aus Norddeutschland! Vor dreißik Jahr hänt sie in Tübinge studiert – Pfarrer ischt der ein, der andre, scheint's, Kapellmeischter. Im vierte Kriegsjahr hänt sie Sehnsucht nach dem Ländle verspürt. Hänt brieflich bei mir gfragt, ob da ebbes Guets zu kriege wär, wenn sie zu mir kämen – Ripple mit Kraut, Maultasche ond so Schwabefressa. Om älls in der Welt möchtens dees noch mal schmause. Aufs End des Kriegs möchten se lieber net warte – dees könnt gar zu lang ausbleibe, ond immer schlimmer könnt's komme ... Ha, waas sollt i mache? Den Wunsch han i net abschlage könne. Na sind se halt komme. Heut sind se zum Frühschoppe da gwä, alsdann nach Burg Entringe gwalzt, da wollten se zu Middaag speise – ond für den Abend sollt i ebbes Guets aschaffe. In der Kuch han i arichte lasse – damit hier kein Gascht futterneidik wird ... Heuer hat's sogar Denunziante, gelt? Zom Dank dafür, daß onsereis aus guetem Herze ...« Grunzend nickte der Stadtrat. Und zur Küche zurückkehrend – seufzte die Wirtin: »Ja, 's ischt scho so!«

[320] »In der Zeit könnt eim der Humor vergehe!« brummte der Stadtrat. »E Menscheschlachthaus ischt Europa. Höre Sie die Granatemädle?« – »Sie meinen die Weiber, die drüben singen? Kriegsindustrie?« – »Ja, drüben beim Mekanikus! Zum Mord wirt heuer älles abgrichtet – sogar die Mädle – höre Se, wie se Granateröhrle schleife? Zuwid'er ischt mir dees Quietsche: uii – hii – äh!' – Das fatale Geräusch war mir schon auf der Straße aufgefallen. Die Arbeiterinnen suchten's durch ein Lied zu übertönen:


»Wenns im Felde blitzen

Bomben und Granaten,

Weinens die Mädchen

Um ihre Soldaten.«


»Waas sagt mr denn bei Ihne über den Krieg? Sie send von Norddeutschland, gelt?« – Ich hielt es für angebracht, zu bemerken, ich sei vor mehr als vier Jahrzehnten Schüler des Tübinger Gymnasiums gewesen, in der Stiftskirche konfirmiert, also mit einem gewissen Heimatgefühl für Tübingen behaftet. Bei dieser Gelegenheit stellte ich mich vor.

Verblüfft war ich, als jetzt die Wirtin, aus der Küche kommend, fragte: »Wille heißt der Herr? Vielleicht Bruno?« – »Allerdings! Wie kommen Sie darauf?« – »Ha,« sagte sie vergnügten Gesichts: »I bin halt mit Ihne konfirmiert. Oschtern Vierondsiebzik, gelt? I hol Ihne dees Täfele

Sie hastete fort – und brachte etwas unter Glas Gerahmtes, ein Druckblatt: »Da stehn die Konfirmanden – dees bin i – ond dahier steht Ihr Name: Wille, Bruno.« Jugendlich lachten die Augen aus dem alten Gesicht, während ich sie anstarrte.

Nicht die leiseste Erinnerung dämmerte in mir. Rickele, meine erste Liebe, war sie nichtdie hatte ja braune Augen, Rehaugen ...

[321] »'s ischt scho so!« wiederholte Pepita. »Ond Sie send mir deutli in der Erinnerong – graad mir zwei hänt ja bei der Prüfung dieselb Frag bekomme ... Wisset Sie noch?« – Ich entsann mich: »Wer bist denn du?« hatte der Dekan gefragt. Wie damals antwortete ich jetzt: »Ich bin ein Christ!« – »Ha freile!« jubelte sie – »graad so hänt Sie's gsproche! Krißt! Ich – bin – ein – Krißt! Die norddeutsche Sprach hat mir arg gfalle, ond so han i au spreche wölle, wann die Reih an mi käm. Aber wie der Herr Dekan mi gfragt hat: Wer bischt denn du? han i mi gschämt – nicks gholfe hat mei Vorsatz, ond groob wie mir der Schnabel gwachse ischt, han i gsproche: Ich bin ein Krischt

Belustigt nickte der Stadtrat: »Der Frosch hüpft wieder in den Pfuhl – ond säß er auch auf goldnem Stuhl ...« – Aufgeräumt plauderte Pepita weiter: »Ond wisset Sie noch, wie mer onsern Konfirmandespaziergang gmacht hänt? Nach Schwärzloch war's – an der Halde han i Batenke pflückt ond's Sträußle an mei schwarz Kleidle steckt. Nachher, in der Wirtschaft, hänt mr mitsamme Moscht trunke ond hänt gsunge: Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht ... Ja – schö ischt die Jugend – sie blüht nicht mähr ... 's ischt scho so!« Seufzend nickte sie – ich schaute in ihre wasserblauen Augen – die ergrauten Wimpern bebten – ein Zucken ging durch die Fältchen ihrer Schläfe ...

Das also ist deine Jugend! sprach ich still zu mir. Als ein blühendes Mädle – so hat deine Träumerei geschwärmt – werde sie in Tübingen dich begrüßen – und da ist sie nun: vertrocknet, grauhaarig, das Gesicht verhutzelt, die Stimme wie eine knarrende Tür. Aber – in diesem alten Gesicht ist noch etwas Schönes, ein mattes Abendrot.

Die Granatenmädle drüben sangen das Fuhrmannslied:


[322]

»Hab mei Wage voll gelade,

Voll mit alte Weibe –

Als mr in die Stadt nei kamen,

Huben s' ahn zu keife –

Hüh, Schimmel, hüh!«


Nach einer Pause brachte ich meine Anfrage vor: Ob hier ein Student verkehre, der mir Auskunft geben könne über den sogenannten Hallelujah-Mister – wo der wohne. »Die Auskunft kann i selber gebe,« entgegnete Pepita – »in dr Haaggaß wohnt dr Hallelujah-Mister, ond e Kriegslieferant aus dr Schweiz ischt er. Näheres weiß dr Herr Gräter.«

»Gräter?« fragte ich – »ist das etwa mein Schulkamerad vom hiesigen Gymnasium?« – »Freile! Er ischt so alt wie wir – ond auf'm Gymnasiom ischt 'r gwä!«

Der Stadtrat sah nach seiner Uhr: »In achtzehn Minuten kommt 'r! Hier zom Stammtisch gehört ja der Podex.« – »Podex?« rief ich belustigt – »wenn Sie ihn so nennen, ist's der Gräter – den Spitznamen haben wir ihm in der Klasse gegeben. Den hat er alsonoch?« – »Freili!« entgegnete der Stadtrat – »seit ich ihn kenne, heißt mr ihn den Podex – wenn auch bloß hinter seinem Rücken – er hat's net gern, wenn er's hört. Also schon in dr Schul hänt sie ihn so gheißen? Warom denn? Verrate Sie mir dees!«

»Das kann ich Ihnen sagen, Herr Stadtrat, aber erst befriedigen Sie meine Neugier! Was ist aus Grätergeworden?« – »Ha! waas soll aus eim werde, der in Tübinge hocke bleibt? Waas anders als e eingefleischter Philischter? Zum Oberamtssegredär hot er's bracht – jetzt lebt er außer Dinnscht, von seiner Pensio' ond eme Kapidal, das er geerbt hat.« – »Verheiratet?« – »Alter Junggesell – mit seim Köter – dees kontrakte Viech kommt heut natürli[323] mit em. Angle tut der Podex – Freimarke sammle – abends geht's zur Kneip. Om Neun sitzt 'r da beim Schöpple – so pünktlich zur Sekunde ... Aber jetzt tun Sie mir verrate, warom er Podex heißt.« – »Dees kann i mir scho denke!« meinte Pepita listig lächelnd.

Mit stillem Schmunzeln griff ich ins Archiv meiner Erinnerungen: »Also! Beim Naso war's, in der Lateinstunde. Der neue Direktor des Gymnasiums hatte den ersten Tag seiner Amtierung dazu bestimmt, den Unterricht zu inspizieren und gelegentlich zu prüfen, was die Klasse leistet. So kam er auch zu uns. Der Naso komplimentiert vor'm neuen Direktor, und dieser meint: »Ich will nicht stören, Herr Kollega – bitte fahren Sie fort im Unterricht!« Und so hört der Direktor ein Weilchen zu. Dann aber verfällt er darauf, die Schüler zu examinieren. Vom Katheder, wo er Platz genommen hat, späht er über die Klasse hinweg nach der zweiten Bank, die fast hinten an der Wand war: ›Du da!‹ so greift er sich einen Schüler heraus, der sich nun pflichtschuldigst erhebt. ›Wie heißt der Fisch?‹ ›Piscis‹, lautet die Antwort. ›Welch Geschlecht hat piscis?‹ – ›Masculini generis!‹ – ›Gut, der näckschte! Sag du mir, wie heißt das Brot?‹ – ›Panis, männlich, das Brot!‹ – ›Gut! Weiter! Jetzt du da, der Hinterschte!‹ Der Direktor meint den Schüler, der hinten auf der letzten Bank sitzt, und das ist Gräter. Dieser versteht falsch, springt militärisch auf und antwortet schlagfertig: ›Podex, podicis, der Hinterschte!‹« – »Haha!« lachte der Stadtrat. Die Wirtin schien nicht zu begreifen, obwohl sie lächelte. Der Stadtrat wollte ihr die Sache erklären – aber sie winkte: »Pscht! I glaub, er kommt! Lasse mr net merke, daß mr von ihm gsproche hänt!«

Gespannt sah ich nach der Türe – es war zu hören, daß jemand kam. Aber nicht Gräter trat ein – dieser große, [324] massige Mann im Havelock hatte mit Podex nicht die geringste Ähnlichkeit. Was dem Gesicht einen würdevollen Ausdruck verlieh, waren die schwungvollen, buschigen Brauen, unter denen blaue Augen rollten. Für einen Schauspieler hätte man ihn halten können, wäre nicht die Hornbrille gewesen und der Knebelbart. »Gueten Abend, Herr Stadtpfarrer!« knickste Pepita. Hinter der riesigen Gestalt erschien noch eine zweite – aber das konnte Gräter ebenso wenig sein. Ein hageres, bewegliches Männchen. Sein zierlicher Kopf mit dem Spitzbärtchen und dem schwärmerischen Blick hatte etwas von Don Quixote, bloß daß hier nichts Einfältiges war, sondern sprühende Geistigkeit. Der schief sitzende Kneifer und die nachlässige Kleidung ließen auf zigeunerhaft unbekümmertes Wesen schließen, wie's bei Künstlern vorkommt. Im Vorbeigehn hatte er für mich eine freundliche Verneigung, für die Gaststube einen verzückten Blick. Die Wirtin nannte ihn »Herr Kapellmeischter« – und führte die Ankömmlinge in den Nebenraum, die Küche, wo sie ihr Gebratenes bereit hatte. »Wein her!« bestellte der Pfarrer. Dann rückten Stühle, klapperten Teller, und der Kapellmeister, ein zarter Tenor, trällerte:


»Der liebste Buhle, den ich han,

Der liegt beim Wirt im Keller,

Er hat ein hölzin Röcklin ahn

Und heißt der Muskateller ...«


»Jetzt aber kommt wirkli dr Herr Oberamtssegredähr Gräter – ond sei Rheumadiesle bringt er mit,« sagte Pepita. Ein Winseln wie von einem Hunde hatte sich draußen vernehmen lassen. Und abermals waren's zwei Männer, die eintraten. Ein gebückter Greis von schlaffen, verschwommenen Gesichtszügen – den zahnlos lächelnden Mund umstarrten weiße Bartstoppeln. »Grieß Goot, Herr Schulrat!« knickste Pepita.

[325] Der zweite Eintretende war offenbar Podex. Feiste Backen, darüber ein Paar Schweinsritzen, unter breitem Munde ein Doppelkinn. Etwas Rundliches war schon dem Schüler eigen gewesen.

Daß Herr und Hund Wahlverwandtschaft haben, bestätigte sich wieder einmal: Der Moppel, richtiger eine Kreuzung von Mops und Bulldogge, war dem Podex ähnlich. Ein mürrisch stumpfes Wesen hatte das Tier – nur daß es sich das Maul leckte zum Zeichen etlichen Behagens, als ihm Pepita den prallen Körper klatschte und dann einen leeren Sack in die Ecke breitete: »Da hoscht bei Bettle, gelt du, Rheumadiesle?« – Auf diese Unterlage, die er erst beschnüffelt hatte, streckte sich der Moppel, nachdem er, um die genehme Position zu finden, sich im Kreise gedreht hatte. Den Nilpferdkopf zwischen den Pfoten, richtete er die Augen auf seinen Herrn, der am Stammtisch Platz genommen hatte, und seufzte tief.

Ich erhob mich, stellte mich in aller Form vor – ein Benehmen, für das Podex nur Gemurmel hatte. »Sie werden sich meines Namens vielleicht nicht mehr erinnern, Herr Gräter,« fuhr ich fort und brachte vor, daß ich mit ihm dieselbe Klasse besucht habe. – »I hab nicks mähr übrik für die Pennälerzeit,« knurrte er.

Der Greis, den Pepita Schulrat genannt hatte, blinzelte beobachtend. Da ich schwieg, entstand eine Verlegenheitspause – nur daß Pepita seufzte: »s' ischt scho so!« – »Uh ju ju!« stöhnte der Stadtrat, und die Mumie bewitzelte das eingetretene Schweigen, indem sie lallend deklamierte: »Es bildet ein Talent sich in der Stille ...«

Der Hund winselte, als ob er Schmerzen habe – ihn suchte Gräter zu beschwichtigen, indem er bedauernd sagte: »Sei still, mei Rheumadiesle!« Erläuternd raunte der Stadtrat: »Dr [326] Neckrnebel ischt dem Viech in die Knoche gfahre, dieweil's seim Herrle beim Angeln fleißik assischtiert.«

Etwas verschnupft über Gräters abweisende Art, entgegnete ich: »Jeder nach seinem Geschmack, Herr Gräter! Aber Sie werden hoffentlich verstehn: wenn man nach vier Jahrzehnten einem ehemaligen Mitschüler begegnet, möchte man ein klein wenig von der alten Zeit sprechen und hören, ob der oder jener noch am Leben, und was aus ihm geworden ist. Von Ihnen, Herr Gräter ...«

Er unterbrach mich, indem er sich erhob und mit einer steifen Verbeugung grunzte: »Gestatten Se! Ober-Amts-Segredähr Gräter!« – »Ah so! Na ja! Bitte um Entschuldigung! Meine Gedanken stecken noch in der alten Zeit, ich vergesse, daß sich die Welt seitdem entwickelt hat. Mit Ihrer Entwicklung zu Amt und Würde werden Sie gewiß zufrieden sein. Manchem Klassengenossen ward solcher Erfolg nicht beschieden – obwohl ich auch Erfreuliches gehört habe. Drei sollen sogar Universitätsprofessoren geworden sein. Und drei haben, wie wir schon damals, in der sechsten Klasse, stolz erlebt haben, das Landexamen bestanden. Es sind gewiß auch große Tiere geworden. Einer saß ja neben mir auf der ersten Bank, der Lutz – ist was Tüchtiges aus ihm geworden?« – »P!« entgegnete Gräter geringschätzig – »e Narr ischt aus'm Lutz geworde – im Idiotehaus hat der geendet.«

»Ah! wie traurig! Und auf welche Weise hat er sich die Geisteskrankheit zugezogen? Sein Vater – ich erinnere mich dessen – war gesundes Bauernblut. Und der Sohn ist doch sicher so brav geblieben, wie er auf der Schule war.« – »Brav, das war er – war halt zu brav! Ueberstudiert hat sich der Lutz.« – »Der Aermste! Das war ihm allerdings zuzutrauen. Er war ja wohl einer von denen, die das Landexamen [327] bestanden?« – »Mit Note Eins! Ond die Eins ischt sei Verhängnis worde. In Maulbronn – nachher auf'm Stift – immer hat er die Eins habe wolle – net emal Einsbis Zwei hat ihm genügt. Schließlich, beim Hauptexamen ischt er zusammebroche von all der Büffelei – ond Streberei! Ja, e Streber ischt 'r gwä – hat durchaus Dekan werde wolle.« – »Ha ja!« nickte die Mumie, »freili, freili! Wenn er Dekan hat werde wolle, – bloß mit Note Eins wird mr Dekan oder Repetent.« – Der Stadtrat erläuterte: »Bei ons in Württeberg hangt dem Akademiker sei Schulzeugnis fürs ganze Leben ahn.«

»Ha! Ond wo liegt die Wurzel dieses Uebels?« krähte Gräter. »Der einfache Mann ischtohngnügsam – will zu hoch hinaus. Jeder Dorfschulmeister meint, sei Sohn, der müss Karrjähr mache in Staat oder Kirch. Ond's Tübinger Stift tut solchen Größenwahn begünschtige. Kei Wunder, daß der Vatter seim Buebe tagtäglich predikt, aus Landexamen soll er denke und jedesmal die Eins durchsetze – soll beileib mit keiner geringern Note heimkommen ... So war's beim Lutz – den hat sei Vatter alleweil gespornt – sei Vatter hat ihn auf'm Gwissen.«

»'s ischt scho so!« seufzte Pepita, und ich meditierte: »Ehrgeiz – Aufstieg – Absturz!« Indem ich mir den kleinen Lutz vorstellte, wie ich mit dem zur Schule ging, wenn er von Pfrondorf herunter gekommen war, dachte ich an Enzio – und fragte lebhaft: »Ja, und nun Enzio Kuttler?« – »Wie komme Sie aufden?« stutzte Gräter. – »Im Hause seines Vaters wohnte ich mit meinen Eltern. So war er wenigstens ein paar Monate hindurch fast täglich mein Gefährte.« – »Stolz dürfe Sie darauf net sein!« – »Stolz? Das bin ich auch nicht – zumal ich heute morgen die traurige Geschichte gehört habe. Nein, [328] stolz bin ich durchaus nicht auf ihn – aber Mitgefühl hab ich mit ihm – und möchte ihn aufsuchen.«

Unter Tabakswolken schien Gräter die gewichtige Antwort vorzubereiten: »Ahngnomme, e nodorischer Lump ischt im Zuchthaus gwä, ond i sag deeslaut, – na kann er mi deshalb verklage! Oder e Mörder wird vom Landjäger transportiert – ond i spuck dem Mörder ins Gsicht vor moralischer Entrüschtung – na kann mi dr Landjäger verhafte, gelt? Ond dees, dees nennt mr – Humanidäd!« Während wir Zuhörer in schweigendem Sinnen die Folgerung aus diesem Worte zu ziehen suchten, schloß Gräter seine Rede: »Drum – sag i nix über so Kerle wie den Kuttler.«

Betreten schwieg ich. Bah! Welch aufgeblasener und hartherziger Spießer war Gräter geworden! Nun verstand ich, weshalb er mir schon als Schüler gar nichts Erquickliches hatte.

Mein Interesse an Enzio veranlaßte mich noch zu der Frage: »Können Sie mir nicht wenigstens sagen, wo Enzio Kuttler wohnt? Er soll zurzeit in Tübingen sein – ich möchte ihn besuchen.« – Kalt abweisend blickte Gräter: »Nicks von dem Kerle! Dees Kapitel ghört eifach net an den ährsamen Stammtisch da!«

Verächtlich blickte der Stadtrat und hatte ein bitteres Lächeln. Pepita trat zu mir und raunte: »Wo dr Kuttler wohnt, dees kann i net gnau sage. Aber in der Haaggaß brauche Sie nur zu frage, in der Wirtschaft zum Maierhöfle. Hier heißt mr ihn den Hallelujah-Mister.«

Während ich mit Pepita über diese Angelegenheit flüsterte, war der Stadtrat ausfallend gegen Gräter geworden. Wegen des Spitznamens Podex hatte er gestichelt – und dann rund herausgesagt, ich habe soeben erzählt, wie der Spitzname aufgekommen sei. Giftig blickte Gräter und spuckte verächtlich unter [329] den Tisch. Pepita wollte beschwichtigen: »Ha, Herr Oberamtssegredähr! Net respektlos hänt mr von Ihne gesproche – noi! Im Gegeteil! Bisher han i mir die Sach schlimmer denkt.« – »Welche Sach?« fragte die Mumie, und der Stadtrat antwortete: »Die Gschicht, weshalb mr den Herrn Oberamtssekredähr Podex heißt! Also Pepita! Wie hänt Sie sich die Sach denkt? Tun Se uns dees verrate!«

Unter verlegenem Lächeln gestand Pepita: »I han mir denkt, den Herrn Oberamtssegredähr heiß' mr Podex, weil 'r – weil 'r halt so aussieht

Verblüfft starrte einer den andern an – die Mumie kicherte – der Stadtrat, krebsrot im Gesicht, bekam einen Erstickungsanfall, um plötzlich in brüllendes Gelächter auszubrechen.

Im selben Augenblicke ging ein klägliches Geheul los: Der Hund war aufgesprungen – nun taten ihm die rheumatischen Glieder weh: »Au au! huhuh!« In Wut versteinert war Gräter – dann schnellte er empor, als ob er losplatzen wolle – schien aber keine Worte zu finden. Weil der Hund fortfuhr zu jammern, trat Gräter zu ihm und redete mit einem Ausdruck, als ob er meine: Ja, mein Tierle, das ist eine rohe Gesellschaft! Wir zwei passen da net nein! »Sei still!« beschwichtigte er – »still, mei Rheumadiesle! Leg di aufs Bettle! Bischt mei Rheumadiesle, gelt?« – Der Hund antwortete mit leisem Gewinsel, wedelte ein wenig und kringelte sich seufzend auf seine Decke.

Von diesem Erfolge seiner Autorität gehoben, suchte Gräter nun auch am Stammtisch Eindruck zu machen und zischte verbissen: »Wissen Se, Herr Stadtrat, wie mr so Benehmen nennt? Rücksichtslos nennt mr dees! Ha ja! So zu brülle! Mei Rheumadiesle so zu verschrecke! Dees ischt Tierquälerei!«

[330] »Uff!« stöhnte der Stadtrat, und mit spitzigem Spott kicherte die Mumie: »Pihihi!« Von der Küche her, wo die zwei Freunde saßen, kam Gläserklang, – es summte der Tenor eine Burschenweise. All das reizte Gräter aufs neue, und seine Lippen bebten: »Iverbitt mir so Roheite!«

Nun reckte sich der Stadtrat: »Ond i – verbitt mir – daß Sie ons hier tyrannisiere! Lasse Sie Ihr Rheumadiesle gfällikscht derhoim! Verlange Sie doch net, daß kneipende Männer zarte Rücksicht nemmen auf die Nerve Ihres drecketen Köters!« – Jetzt geriet Gräter wieder außer sich. »Waas? Dreckete?« – »Hier tut mer deutsch rede!« – Giftig rollte Gräter die Augen: »Aber netgogisch

Das war nun allerdings eine faustdicke Beleidigung. Die Gogen, wie man die Tübinger Weingärtner schimpft, sind wegen ihrer Rauhbeinigkeit berüchtigt. Kein Wunder, daß der Stadtrat mit der Hand auf den Tisch schlug: »Herr!« – Und abermals heulte der Hund: »Au, huhu!« – Diesmal sagte sein Herrnicht: »Leg di, mei Rheumadiesle!« sondern sprang auf – schlüpfte hastig in seinen Mantel und warf die Zeche auf den Tisch. Umsonst, daß Pepita ihn zu halten suchte. Er hatte nur ein barsches: »Kommdaher, mei Rheumadiesle!« Grüßte summarisch die Gesellschaft und ging, gefolgt von seinem ächzenden Köter.

[331] Musik der Dinge

Abschluß dieser Szene war ein Stutzen am Stammtisch, ein Schweigen der Verlegenheit. Den Stadtrat schien es zu gereuen, durch seine foppende Derbheit den reizbaren Gesellen vertrieben zu haben. Wie ein Erwachender fragte er: »Han i ebbes gsagt?« – »Hihi!« nickte die Mumie. – »Macht nicks!« sagte die Wirtin. »Der Herr Oberamtssegredähr kommt wieder – morge abend sitzt er da am Stammtisch!«

In der Küche wurden jetzt die Stühle gerückt, und der Tenor sagte: »Prost, Frosch!« – »Prost Rest, Strolch!« gluckste der Baß – »ja ja, morgen ist auch ein Tag. Die Zeche, Frau Pepita!«

Ich beschloß ebenfalls zu gehen. Nachdem ich dem Stadtrat und dem Schulrat etwas Höfliches gesagt, verabschiedete ich mich. Der Wirtin schüttelte ich die Hand und versprach, nächstens mit ihr weiter zu plaudern. Die beiden Freunde kamen aus der Küche und gingen, von mir gefolgt.

Als wir auf die Gasse traten, überraschte uns ihr verändertes Aussehen. Der Regen war vorbei – nicht mehr in dumpfigen Nebel ragten die Giebel, sondern in hellen Mondschein. Durch die Lücke zwischen den Häuserzeilen lugte dunkelblauer Himmel mit Silberwölkchen. Der in die Gasse flutende Mondschein schied sich grell von den wunderlich gezackten Riesenschatten der Dächer und Schornsteine. Entzückt blieb der Tenor stehen und deutete auf das Bild: »Spitzweg!«

[332] Der Name dieses Malers, den auch ich liebe, bildete den Anlaß, daß ich mit den beiden Männern noch ein Stück Wegs gehen wollte. »Sie haben recht,« sagte ich, »an Spitzweg erinnert dies abenteuerliche Verwobensein von Licht und Schatten. Solche Spießernester schildert er gern – in ihrer ... wie soll ich's nennen? Romantik sagt nicht genug ... In ihrer Magie!«

»In ihrer heimlichen Musik,« meinte der Tenor. – »Recht so, Allmusikus!« brummte der Pfarrer. »Und da fällt mir auf, daß der Ausdruck »heimlich« einen Doppelsinn hat. Einerseits meint er etwas Verborgenes, das geheimnisvoll befremdet, andererseits etwas vertraut Heimisches – wir spüren darin unser Eigenstes – die Liebe.«

»Stimmt!« sagte ich. »Und dies hat auch mich alten Knaben nach Tübingen getrieben. Ein Traum von süßer Heimlichkeit hat mir auf einmal Heimweh erweckt nach dem, was mein einst war.« – »Ich dachte mir so etwas,« antwortete der Pfarrer. »Wir haben – ich will's gestehen – ein wenig zugehört, als Sie dem ehemaligen Schulkameraden das Herz zu öffnen suchten. Aber dieser Spießer hat sein Herz verschrumpfen und verfilzen lassen – im Stumpfsinn der Gewöhnlichkeit.« – »'s Rheumadiesle!« lachte der Tenor und ahmte nach: »Leg di, mei Rheumadiesle!« – »Haha!« schmunzelte der Pfarrer. »Rheumadiesle ist ein Sinnbild der Spießerseele; im Eugen, Dumpfen ist sie versauert, steif und griesgrämig geworden. Gleichwohl hängt der Spießer an ihr und hätschelt das vertrackte Vieh.«

»Und doch«, wandte ich ein, »hat Spitzweg mit Vorliebe das Spießertum dargestellt. Es kann also doch nicht ganz ohne Liebenswürdigkeit sein.« – »Dargestellt!« betonte der Pfarrer. »Spießerdarstellen ist ja auch was anderes als Spießersein. Wer künstlerisch schaut, steht über seinem Gegenstande.« – »Und doch auch wieder drin!« versetzte ich, [333] »Spitzweg hat sich eingefühlt in den Antiquar, in den Kakteenfreund und den Bücherwurm, in all solche Spießerseelen, die er in ihren dunklen Gassen und staubigen Winkeln beobachtet hat. MitLiebe hat er sich hineingelebt.« – »Na ja,« brummte der Pfarrer, »für den Schauenden kann jeder Halunke, jeder Tropf reizvoll sein. Als Studie lasse ich den borniert anspruchsvollen Oberamtssekretär und den verschimmelten Schulrat gelten – aber sonst ...« – »Laß gut sein!« sagte der Kapellmeister, »auf dieMusik der Dinge mußt du lauschen, nicht auf ihre störenden Geräusche. Alle Wesen machen heimliche Musik. Wie nach uralter Ansicht die wandelnden Sterne. Bloß daß die Leute gewöhnlich nichts davonspüren. Ihre seelischen Sinne halten sie ebenverschlossen.« – Ich nickte: »Musik der Dinge! Wer sich darauf versteht, ist ein Adept.« – Bescheiden erfolgte die Antwort: »Lieber Gott! Ich bin noch weit entfernt, mich darauf zu verstehen. Nur daß mich die heimliche Musik würdigt, ihr Student zu sein.«

»Oh!« sagte ich bewundernd. »Sie haben die schönste aller Fakultäten erwählt, Herr Studiosus der Sphärenmusik.« – Und er, im Eifer der Begeisterung: »Ja, es ist wundervoll, der Allsymphonie nachzuspüren – anfangs summt es wie verhüllt, wird aber deutlicher, je mehr man sich hinein vertieft ... Kennen Sie das?« – »Ich glaube!« gab ich zur Antwort. Ich dachte daran, wie mich einst im märkischen Kiefernwalde ein Wacholderbaum zu einem Erlauschen von Allmusik erweckt hat. Davon sagte ich aber nichts – nähere Erörterung wollte ich vermeiden.

»Als Jakob Böhme im Sterben lag,« raunte der Allmusikus, »erklang ihm Musik – aus dem Innern – aus seinem reinen Herzen.« – »Weil er ins Pleroma tauchte!« fügte der Pfarrer hinzu – »Pleroma, der Schatz ewigen Lebens, umgibt uns beständig ... Die Geisterwelt ist nicht verschlossen, dein Sinn ist zu, dein Herz ist tot! Auf, bade, Schüler, unverdrossen, die [334] irdische Brust im Morgenrot!« – »Eine Riesenorgel ist der Makrokosmos,« schwärmte der Allmusikus. »Drin klingen alle Töne, die es gibt, – alle Zusammenklänge, die erfindbar sind.« – »Nicht erfindbar!« meinte der Pfarrer, »sondern entdeckbar. Ein Beethoven hat seine Herrlichkeiten nicht ausgeklügelt, sondern entdeckt – wie Kolumbus die Neue Welt. Tonmeister befahren die Meere der Ewigkeit, und daselbst harren paradiesische Inseln des Entdeckers.«

»So ist es!« bekräftigte ich. »Und dieser Ozean enthält alles, was jemals war, und was sein wird. Es kann überhaupt nichts erfunden werden, was nicht zur Ewigkeit gehört. Die schöpferischen Geister schöpfen aus dem Ewigen, weil sie Anschluß ans Ewige haben. Uns alle umgibt das ewige Leben – aber für gewöhnlich verschließen sich ihm die Leute.«

Der Allmusikus blieb stehen, versunken in Schauen, in Lauschen. »Lazare!« raunte der Begeisterte – und man wußte nicht, meinte er die schlafende Stadt oder das Leben überhaupt – »Lazare! Stehe auf!« – Es war an einem Platz, wo eine düstere Kirche ihren stumpfen Turm in die Mondnacht erhob. Am veilchenfarbenen Himmel zogen zerrissene Wolken, silbern umrandet. Auf freien Flächen lag das Mondlicht wie frischgefallener Schnee – es blinkerte in den Regenlachen. Rings die Häuser waren eine schweigsame Versammlung von Sonderlingen – wie Zipfelmützen sahen die Dächer aus. Alle Häuser kehrten den Giebel nach der Straße, und ihre oberen Stockwerke waren vorgekragt – manche hatten dunkles Fachwerk, und oben unterm Dach eine Winde. Hinter geschlossenen Fensterläden schlummerten die Handwerker und Ackerbürger.

In einer dumpfigen Seitengasse stand ein Wagen mit Grünfutter – eine Stallkuh brummelte. Neben dem krüppeligen, hinfälligen Häuschen, das eine spitzbogige Haustür und einen [335] Treppenvorbau hatte, war allerlei Gerumpel, Stangen, Zuber, ein Karren. Dahinter Nebengebäude, im Dunkeln kaum zu unterscheiden. Durch das Schweigen der Nacht raunte das Geplätscher eines lebendigen Brunnens. Stumm reichte mir der Pfarrer die Hand – desgleichen der Allmusikus. Wir fühlten, daß wir einander nahe standen, obwohl ein gewisses Fremdsein uns äußerlich trennte. Der Allmusikus hatte ein letztes Wort, als wolle er mir ein Geheimnis anvertrauen: »Wissen Sie, was auf dem Kasten einer alten Dorfkirchorgel geschrieben steht?


Wenn einst in der letzten Zeit

Alle Ding' wie Rauch vergehn,

Bleibet in der Ewigkeit

Noch die Musika bestehn –

Weil die Engel insgemein

Selbsten Musikanten sein.«


Einsam durch hallende Gassen schritt ich meiner Herberge zu. Ueber Häuser, die wirr den Berg hinan klettern, ragt in bläulichem Dämmer die alte Burg. Dort in Türmen und Kellern haben den Knaben Träume der Romantik durchschauert. Auch das war heimliche Musik.

Ueber die Gasse huscht ein schwarzes Tier – eine Katze –, nun hockt sie zwischen Gerümpel, grün funkeln die lauernden Augen. Im Kämmerlein eines fernen Giebels glimmt eine Lampe. Vielleicht haust da ein Mensch, wie Hainlin einer war. Der verstand sich auf eine Musik, die verstohlen aus dem Monde zittert, aus diesen Gärtchen und Hofwinkeln, aus den Seelen der Dinge. Hainlin hatte Heimweh nach Glastelfingen – das Pleroma der Allmusik in der Seelentiefe suchte er. Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. Nicht der Ton macht die Musik, sondern das Herz, und Engel sind ohne weiteres Musikanten.

[336] Der Hallelujah-Mister

Ueber Enzio hatte ich im Wirtshaus »Zum Maierhöfle« folgendes in Erfahrung gebracht: Der die Choräle singe, wohne seit Wochen im Hause gegenüber zwei Treppen hoch. Der Volksmund heiße ihn den Aemörriken- oder Hallelujah-Mister. Er nenne sich Köttler und sei ein Schweizer, der lange in Amerika gelebt habe. In Württemberg hab' er als Kriegslieferant zu tun.

Als ich im bezeichneten Hause die Treppe emporstieg, ging vor mir eine weibliche Gestalt, die aus der Wohnung des ersten Stockwerks gekommen war und auf einem Präsentierbrett Kaffeegeschirr trug. Im zweiten Stockwerk klopfte sie an eine Glastür, und gleich darauf wurde geöffnet – von einem kurzen, gedrungenen Mann mit geschorenem Graukopf und schwarzem Borstenbart.

Als er das Fräulein mit dem Kaffee hatte eintreten lassen, zog ich den Hut: »Entschuldigen Sie, Herr Köttler! Darf ich Sie sprechen?« Er stutzte und schwieg. Wie dann das Fräulein mit leerem Tablett herauskam, ließ er mich eintreten. In der Helligkeit des Zimmers erkannte ich Enzios kohlschwarze Augen – mißtrauisch funkelten sie mich an, während er knurrte: »Waas wöllet Sie von mir?« – »Wenn Sie gestatten, alte Bekanntschaft erneuern. Mein Name ist Wille – Ihr ehemaliger Mitschüler bin ich.« – »Wa –?« Sein Mund blieb offen, [337] während er mich anstarrte. – »Ja, Ihr Kamerad vom Glasberg-Bunde bin ich!«

Jetzt verzog sich sein Gesicht zu einem seltsamen Gemisch von Bestürzung, Lächeln und Wehmut. Noch immer schwieg er – wie versteinert –, nur daß aus seiner Brust ein mattes Glucksen kam. Seine seelische Bewegung rührte mich – ich streckte ihm die Rechte hin. Er griff nicht zu, ließ den Kopf hängen und konnte, abgewandt, ein Aufschluchzen nicht unterdrücken. »Enzio!« begütigte ich. Schüchtern blickte er auf – mit einer Gebärde lud er mich ein, am Tische Platz zu nehmen. Er stand derart am Fenster, daß sein Gesicht im Schatten blieb, während er mich beobachten konnte.

»Hänt Sie von mir ghört?« begann er – »von meinem Lebenslauf?« Ich nickte, und düster fuhr er fort: »Im – Zuchthaus bin i gsi! Sell ischt Ihne bekannt?« – »Ich weiß.« – »Ond auch – weswege i neikomme bin?« – »Auch das.« – »Ond dees – tut Sie net abschrecke?« – »Beim Naso haben wir den Spruch gelernt: Homo sum – nichts Menschliches bleibe mir unverständlich!«

Er seufzte stöhnend: »Gelt? Ond irren – irren ist menschlich!« Nun setzte er sich auf einen Stuhl. »I – dank Ihne – daß Sie trotz ...«

Er verstummte. Während ich ihn schweigend betrachtete, irrte sein Auge zum Fenster hinaus. »Dort!« sagte er träumerisch – und seinem Blicke folgend, sah ich die Burg, die den steilen Berg krönte. »Dort hänt wir Räuberles gspielt – beim Hungerturm Schillers Räuber. Ond i bin dr Spiegelberg gsi. Wer hätt dazumal ahne könne, daß i mei Spiegelbergrolle noch emal sollt im Ernscht spiele, he?«

Im Geiste sah ich die Szene, wie Enzio in Banditentracht den Dolch schwang. Und als errate er meinen [338] Gedanken, murmelte er dumpf: »Meuchelmörder! Von hinte meucheln – ja, dees han i wölle, dees stimmt! I mag mi net verteidige – Hiob hat recht: Ich weiß fascht wohl, daß ein Mensch nicht rechtfertik bestehe mag gegen Gott. Ha no! Bloß daß i zur Steuer dr Wahrheit sag: Jury and morality sind zweierlei: Nach dem law, wie's die Jurischte ahnwende, bin ikoin Mörder! Den Gassemaier han i net vergiftet, noi noi!«

Ich suchte ihm ins Herz zu spähen: »Enzio! Wie? Unschuldig wärst du?« – »Ohnschuldik? Dees sag inet! Schuldik bin i nach dr morality! Gedankesünd han i begange, sell ischt woahr! Aber vor der Ausführung hat mi mei Herrgott bewahrt!« – »Enzio! Vor mir hättest du nicht nötig zu leugnen. Ich möchte die Menschen ja bloß verstehn – nicht verdammen!«

Er stand vor mir, Aufrichtigkeit im Gesichtsausdruck, und mit wehmütigem Lächeln reichte er mir die Hand: »Grüß di Goot, Bruno! Wo du so zu mir rede tuscht, send mr wieder Kamerade, gelt?« – Wir schüttelten einander die Hände, er fuhr fort: »Gotwillche, Gotwillche! Eure Rede sei ja ja, nein nein, ond waas darüber ischt, daas ischt vom Uebel, gelt? Drum so sag i: Ja! Die Hand da, wo i dir reich' – vonMord ischt sie rein! Ja die Hand! Wenn auch leider net's Herz. Den Gassemaier han i net umbracht, by Got!«

Ich konnte nicht umhin, dem ehrlichen Ausdruck zu trauen, erschüttert starrte ich ihn an: »Aber, Enzio! So hättest du unschuldig im Zuchthaus gesessen?« Abwehrend hob er die Hand: »Ohnschuldik? Des Gotlosen Herz ischt voll Trugs – ond er lauert in seiner Höhl als ein Löwe, zu erwürgen den Ohnschuldigen! Mei Straf han i verdient – reichlich! Aber – dem Gassemaier han i's Leben net gnomme, koi Mensch ischt von mir getötet, by Got!«

[339] »Enzio, erkläre mir: Woran ist Gassenmaier denn gestorben?« – »An Pilzvergiftung, dees stimmt! Bloß daß net i die Giftpilz neitan hab in Lindas Körbli – sie selber war's.« – »Was? Sie hätte ihren Mann vergiftet?« – »Versähentlich!« – »Und du, Enzio, hättest gar nichts damit zu tun?« – »Dooch, dooch! Den Giftmord han i tun wölle, dees stimmt! Die Gedankesünd han i begange – ond dicht vor dr Ausführung selbigen Giftsmords bin i gstande! Wohl, wohl! I bin e arger Sünder! Bin ja auch vom Weibe geboren! Ond siehe, unter Gottes Heiligen wird keiner befunden ohne Tadel – die Himmel sogar sind net fleckelos vor unserm Herrn Zebaoth. Um wie viel wäniger dr Mensch, wo Unrecht saufe tut wie die Kuh Wasser.«

Schwärmerisch hatte er gesprochen, die Hand erhoben wie zur Predigt. Mir kam der Verdacht, diesem Fanatiker sei's vielleicht nicht ganz richtig im Kopfe. »Enzio! Ich bin nicht gekommen, dich aufzuregen. Laß dich nicht stören! Man hat dir den Kaffee gebracht – er wird kalt.« – »Ha jo!« sagte er seufzend und strich sich über die Stirn – »aber du! Nimmscht au ebbes? I han mancherlei Guts da – es wäre mir e Freid', di zu bewirte. Waas also wischt? Echten Mokka? Oder Schokolad? Schwyzer Fabrikat! Da schau!« Und einen Schrank öffnend, holte er Schokoladetafeln heraus, drückte dann auf den Knopf der elektrischen Klingel: »Jetzt, Kamerad, tu dir bstelle, waas du magscht! Also gelt? Schokolad!« Als ich seine Gastbereitschaft zu dämpfen suchte, fügte er mit herber Wehmut hinzu: »Gift – ischt net drin, glaub mir's!«

Dem eintretenden Fräulein gab er den Auftrag, von den überreichten Tafeln Schokolade zu kochen. Dann wollte er mir Zigarren aufnötigen: »Alles han i da! Bloß Alkohol kriagscht koinen! Satanas gehet ja im Rausch umher als e brüllender [340] Löwe ond suchet, wen er verschlinge. Des Menschen Fleisch ischt halt net von Stoin ond seine Kraft nicht ehern. Mi hat's Biersaufe mit dene Studente ond dr Whisky zum Lumpe gmacht. Bis daß dr Herr in seiner Gnad mich dem Löwenrachen entrisse hat ond herausgholt aus dem Walfischbauch wie den Jonas. I tu dir's verzähle, gelt?«

Als die Schokolade gekommen war und duftig dampfte, saßen wir auf dem Sofa. Die Fremdheit, die zuerst trennend gewirkt hatte, war im Schwinden, da jeder in des andern Gesicht Züge aus der Knabenzeit entdeckte. Eine Last war mir vom Herzen, seit ich glauben durfte, Enzio sei kein Mörder. Mit Spannung sah ich seinem Bericht entgegen.

[341] »Vergiß das Beste nicht!«

Was Enzio erzählte, hatte anfangs nichts Ueberraschendes. Längst war zu erwarten, sein Abgleiten vom Glasberge werde aus seiner Eitelkeit hervorgehen. Schon als Knabe war er ein Prahlhans und Gernegroß. Den Renommierstudenten hatte er zum Muster – und dies Ideal war von seinem Vater zunächst geduldet worden, um den Gymnasiasten anzuspornen. In einem Zornanfall aber hatte der alte Kuttler angedroht, sein Sohn solle nichts Besseres werden als der Vater – und könne noch froh sein, wenn er mal das Geschäft erhalte oder Rathausschreiberle werde. Eine Folter war für Enzio der Gedanke, es könne dahin kommen, daß er in Lustnau hinterm Ladentisch stehe und den Bauern Schnupftabak, den Kindern Zuckerles verkaufe.

Die bittere Enttäuschung, die nun über ihn kam, weil der Vater ihn mitten aus der Schule riß und dem Handelsberuf überlieferte, suchte Enzio zu versüßen, indem er heimlich den Studenten spielte. In Stuttgart, wo auch der »rote Realischt« von Lustnau in die Lehre ging, trieb sich dies gleichgesinnte Paar Sonntags in Kneipen herum, angetan mit bunten Kappen, um für Tübinger Koriehs gehalten zu werden. Und wie sie ausgelernt und als Kommis angestellt waren, trieben sie ihre Afferei noch alberner. Geschniegelt und gebügelt, Arm in Arm, stolzierten sie über belebte Promenaden wie vornehme Lebemänner. In geziertem Ton sagte der eine zum andern: »Gelt, Herr Baron?« und dieser antwortete: »Ha freili – äh, Herr Graf!«

[342] Hatte Enzio unter den Augen eines Chefs noch auf etliche Ordnung halten müssen, so verbummelte er, sobald er, im Besitze des Tübinger Tuchgeschäfts, sein eigener Herr war. »Armsälik« war ihm, was er »Geschäftsknickerei« schalt – befangen vom Sumpfen und aufgeblasenen Kraftmeiertum jener Burschen, die immer über den Philister zetern und selber ganz leere Schläuche sind. Von Studenten, denen er pumpte, ließ er sich hätscheln und bildete eine skatende Saufblase mit drei alten Semestern, die man »die drei Ewigen« nannte. Der eine lebte von einer reichen Tante, der andere von Pump, der dritte von einer Familienstiftung, die nach dem Wortlaut der Urkunde dem Stipendiaten zukommen sollte, solang er studiere – weswegen er nie daran dachte, sein »Studium« abzuschließen. Anstatt Geschäftsbriefe zu schreiben, saß Enzio im Hinterstüble seines Ladens mit den drei Ewigen beim Frühschoppen und klopfte Skat. Vollends zerrüttet wurden seine Geldmittel durch eine junge Wirtschafterin, die »e liederiks Mensch« war. Nachdem Enzios Vater ein paarmal ausgeholfen hatte, zog er seine Hand von ihm ab, und nun war der Bankerott unvermeidlich.

Nicht recht mit der Sprache heraus mochte Enzio, als er auf seine amerikanische Zeit zu sprechen kam – offenbar hatte er nichts Gutes zu melden. Es sei ihm schlecht ergangen – Kellner sei er gewesen, Hausierer und alles mögliche. Dem Alkohol hab' er derart zugesprochen, daß man den Trunkenbold überall verschmäht habe. Als Tramp sei er umhergeschweift, von Chicago bis Frisco. Ein Spielergewinn hab' ihn in den Stand gesetzt, heimzukehren nach Germany – hier aber, und zwar im Ländle, sei er völlig auf den Hund gekommen: ohne Kraft zu regelrechter Arbeit hab' er sich auf der Landstraße und im Arbeitshaus herumgetrieben. Ein paarmal sei ihm der Vater mit Geld beigestanden – doch das hab' er jedesmal verlumpt.

Leidenschaftlich wurde Enzio, als die schlimme Katastrophe seines Schicksals darzustellen war. Ueber seinen Vater äußerte [343] er sich schonend – der sei bloß herrisch, jähzornig und hart. Wenn er aber von Linda sprach, funkelten seine Augen, er keuchte vor Grimm: »Die ischt Vatters böser Geischt gsi. Mi hat sie aus em Vatterhaus nausbisse, weil sie's für sich hat habe wölle. Alleweil ischt sie eifersüchtik ond boshaft gsi. Jetzt, wo mein Vatter mir ohnehihn ischt gram gsi, hat sie's leicht ghätt, mi gänzlich zu verderbe. Also kurz – enterbt hat mi dr Vatter – ond verstoße. Na hat mi Verzweiflung packt, ond in den Neckr bin i gsprunge – mei verfehlts Leben zu beschließe. E fremder Kerle hat mi aus'm Wasser zoge ond hoimbracht. Aber die Linda, die Kanalli, hat glei ihr Gschrei erhoben: ›Ischt 'r schon wieder da? Naus mit dem Fallot!‹ Da hat mi dr Vatter am Krage packt ond nausgschmisse auf die Gaß. Ond die Linda? Höhnisch glacht hat sie, wien i daglege bin im Dreck, klapprik wie e Vogelscheuch. Gschnatteret hänt mir die Zähn vor Entsetzen ond vor Wut – ond dr einzik Gidanke, won i han fasse könne, ischt Rache gsi, Rache! Goddam! Azünde han i wölle die cottage von mei Vatter. Auf die Lauer han i mi glegt im Wald – drobe beim Exerzierplatz. Jetzt wer kommt da? Die Linda kommt über de Anger – ond Pilz tut sie lese in ihren Schurz – den Korb aber, der schon halber voll ischt, hat sie zu mir, an den Wald gstellt – ohne meiner gwahr zu werde. Waas Pilz? denk i – ond weil sotte da wachsen, pflück i mir. Schau! Dr Knollenblätterschwamm ischt's, e tödlicher Giftpilz, om so gefährlicher, als die Vergiftung erscht nach vielen Stunden wirkt, aber dann sicher. Mit em Champignon kann mer den Knollenblätterschwamm verwechsle – Champignons aber hat's viel aufm Anger. O Hölle! denk i – jetzt lieferst du meinen Todfeind in meine Hand! Rache, Rache! Will ihr solche Giftpilz ins Chörbli tun, gelt? Ond Knolleblätterschwämm raff i auf – onbemerkt schleich i zum Chörbli. Aberschau? Da liegt [344] bereits Knolleblätterschwamm zwische dene Champignons – den Giftpilz kennt die Linda also net. Himmel! frohlock i – so soll mir erspart bleibe, daß i Mörder werd, ond dooch han i mei Rache! Sie selber tut sich vergifte! Dees ischt dr Finger Gootes! – Zurück in den Wald stehl i mi, zu beobachten, waas gschieht. Nicks weiter, als daß die Linda daherkommt – aus ihrem Schurz die neuen Pilz' in den Chorb tut, den auf de Kopf nemmt ond hoimtragt. Jetzt bin i wieder am Wald glege – in mir hat's brodelt wie in eme Hexekessel, Gidanke dumpf ond schwarz. Wie's Abendrot kommen isch, han i denkt: Jetz tun die Pilz im Fett schmore – jetzt tragt sie d' Schüssel auf – ond sitzt am Tisch – mit 'm Gassemaier! Da hat's mir en Stich ins Herze tan. Soll denn der Gassemaier au sterbe? Warum der? Mir hat er nicks tan. Bloß daß 'r ihr Ma' ischt! Aber dees hat dr Tropf ohnehihn zu büße. Oh, oh! e böse Gschicht! Wenn i dees könnt verhüte, daß dr Gassemaier stirbt! Ond die Angscht hat mi packt – ond gschüttelt – ond hochgrisse. Den Dentzeberg bin i nuntergsprunge, wie e Pferd, das mr peitscht. Ond ohn Zaudern ins Häusli gange.

In der Stub ischt koiner gsi – aber auf'm gedeckten Tisch hat's Pilzgericht gstande. Dabei e lärer, noch unberührter Teller – ein andrer aber, von dem waren Pilz gesse worde. Dieser Teller hat den Tod bedeutet, der andre die Rettung. Noch wär's Zeit, den Vergifteten zu rettenausbrechen müßt er's Gegessene. »Gassemaier!« schrei i durchs Haus – zum Garte lauf i ond schrei: »Linda!« Niemand kommt. Aber im Kuhstall ischt ebber mit dr Latern – die Kuh brüllt – da fallt mir ein, daß sie ja trächtik ischt ond ihr Chälbli kriage soll. I schleich zum Stall – da steht's Chälbli scho, ond die Kuh leckt's, die Linda hantiert – dr Gassemaier ischt net dabei. – Jetzt han i aufgeatmet – ond e grimme [345] Freid ghätt. Die Linda also hat gesse – ond ischt abberufen vom Chalben der Kuh. Dr Gassemaier aber fehlt im Haus – o freili, der hat ja gsagt, auf Geschäftsreis müss er heut! O Finger Gootes, abermals fügst du alles in Gnaden – die Kanalli schickst nunter zur Höll – aber dr Gassemaier, weil er mir nicks tan hat, der soll heil bleibe, gelt, mei Goot?

Gleichwohl han i mir denkt – 's könnt dooch sein, daß dr Gassemaier noch net auf der Reis ischt. Drum will i die übrigen Pilz wegschütte, damit sie ihm nicks tun, falls er noch in Luschtnau weilt. Wien i in die Stub komm, ischt da ällis wie zuvor. Ond i nemm die Pilzschüssel, will grad damit naus – da steht die Linda vor mir – ond dr Knecht vom Nachbar. »Was tuscht denn du da?« herrscht sie mich ahn. »Hallo, Fritz! laß mir den Kerl net naus, er will mir mei Esse stehla!« Ond dr Knecht nimmt die Schüssel weg. Mir aber geht e Schauder übern Leib:Wie hat sie gsagt? Ihr Essen wä'r's? So hat sie noch nicks gesse? Oder meint sie bloß, sie will noch mähr esse? »Linda,« sag i verschrocke, »sind dees net deines Mannes Pilz? Hascht denn du net scho gesse? Von dem Teller da? Mr sieht's dooch!« – »Narr du! Waas kümmert's di, wer hier gesse hat? Mei Ma hat gesse – i selber han nochnicks! Ond jetzt willscht mir mei Teil wegnemme? Naus mit dir Lump auf dr Stell!« Aber i – net daß ihr Keife mi hätt eischüchtern könne – i han mi müsse setze, so hänt mir die Knie zittert. »Linda!« tu i stammle, »so hat der Gassemaier Giftpilz gesse! Jetz schwind, wo ischt r? Glei soll er von sich gebe, waas er gesse hat!« Da stutzt sie: »Giftpilz? Woher willscht du dees wisse?« – »Woher? Bin i net am Wald gstande, bei deim Chörbl, wie du die Pilz gsammelt hascht? Schau, dees da ischt der Knolleblätterschwamm, den hascht du drunter tan.« – Ond aus mein Jäckli hol i den Pilz [346] ond zeig ihn her, an dr Knecht bsieht ihn. Ond wien i jetz wisse will, wo dr Gassemaier ischt, ond von Brechmittel red, da lacht die Linda höhnisch: Grad fahrt's Calwer Zügleab – wohi, weiß i net – Hopfegschäft will er mache. Spring em nach, so bin i di los, räudiger Hund! Haha! verloge ischt bei Giftgschicht! Dees ällis hoscht dir ausdenkt, um zu verkappe, daß du hier hascht stehla wölle, Spitzbue verlogner! Naus mit dir, naus!«

Nach Tübinge bin i gsprunge, daß mir's Herz fascht zerbroche ischt. Wien i zum Bahnhof komm, ischt kei Gassemaier da – ond's Calwer Zügle, sagt dr Schaffner, sei vor ere halbe Stond fort. Jetz, Herrgott, han i denkt, kascht bloß du noch helfe. Wenn du's net magscht, so lauft die Sach halt weiter, wie sie lauft.

Zwei Tag drauf hat mi dr Landjäger verhaftet, ond im Verhör han i erfahre, dr Gassemaier sei an Giftpilz gstorbe. Ueberbleibsel vom Knolleblätterschwamm hat mr in meim Jäckle gfunde, ond für klar hat's golte, daß i dr Mörder sei. Zuerscht hat i gleugnet – aber sie hänt mir net glaubt. Na han i denkt: Für die Gidankesünd will di dr Herrgoot züchtige.

Mit Ergebung bin i ins Zuchthaus gange ond han mei Straf ertrage. Daß i net mehr han saufe könne ond e regelmäßiks Leben führe müsse, hat mi gsund, ordentlich ond arbeitsam gmacht. Zu meim Goot aber han i gsproche: Mei Schuld vor dir erkenn i ond bereu i – die Menschen hänt aber unrecht, mi als Mörder zu verdamme – drum, Herr, willscht du mit mir tun wie mit deinem Knechte Hiob. Den hascht du, ohne daß er's verdient hat, nunter gstoßn in die Grub, daß er da glegen ischt wie e Toter bei Toten. Aber wie er gnueg Buße tan hat in Staub und Asche, hat der Herr sei Gefängnis gewandt, daß er ausgange ischt von der Grub in Glückes Haus. Ond ward gesegnet, daß er bekam vierzehntausend Schafe ond sechstausend Kamele ond tausend Esel – ond kriagte sieben Söhn' ond drei [347] Töchter – ond lebte nach seinem Leid noch hundertvierzik Jahr bis er gesättiget war von seinen Tagen. Also, Herr Zebaoth, sei auch deinem Knechte, dem Enzio gnädik! Hallelujah!«

Aufseufzend lehnte er sich im Sofa zurück – die Beichte hatte ihn aufgeregt und erschöpft. Wie er dasaß, die Augen geschlossen, so daß seine interessanten schwarzen Sterne verdeckt waren, kam auf einmal ein andrer Ausdruck in seinem Gesicht zur Geltung: Einfältigkeit. Als ob ein Schauspieler, dessen Bühnenmaske von Temperament gesprüht hat, nach Schluß des Theaters abgeschminkt in gewöhnlicher Kleidung bei uns sitzt und jetzt nichts weiter ist als ein simpler Bürger. Eine Geistesleuchte war Enzio nie gewesen – jetzt sah ich in ihm etwas, das manGemütsbeschränktheit nennen könnte. Nicht mit seinem Unglück hatte ich jetzt Erbarmen – das war ja gut ausgegangen – nur mit seiner Gefühlsdummheit.

»Und es scheint, Enzio, dein Gott hat nun alles nach deinem Wunsch gefügt.« – Die schwarzen Augen blitzten wieder, und er lächelte: »Gut geht es mir, mit Segen tut mi mei Herrgoot überschütte.« – »Dein Herrgott? Warum nennst du ihn deinen? Ist dein Gott keiner, den auch andere haben?« – Er stutzte: »Ha no! Wenn er sich dooch um mi kümmert zu jeder Stond! Ob ihn andere haben, dees ischtihre Sach – i halt mi an meinen Goot. Aber freili, Hiobs Goot ischt er au gsi.«

»Hiobs Gott? Das Buch Hiob hast du wohl eifrig gelesen?« – »Aufgrichtet hat mi's im Zuchthaus – neugboren hat mi's.« – »Und hast du nicht bemerkt, daß der Schluß mit den Rindern und Schafen, die dem geplagten Hiob als verdiente Entschädigung zugemessen werden, eigentlich ein Rückfall ins Weltliche ist?« – Fast Entrüstung war's, das aus Enzios Augen blitzte: »Ond du meinscht, solche Entschädigung hab er net verdient

[348] »Enzio! In deiner Jugend hat dich, wie du sagst, die Aussicht gefoltert, am Lustnauer Ladentisch den Bauern Schnupftabak verkaufen zu sollen, den Kindern Zuckerles. Nun mach' dir klar, ob es nicht auchGottes unwürdig sei, den Menschenkindern Zuckerles zu verabreichen – irdisch Gut zum Lohn ihrer Bravheit – wodurch er sie erst recht ablenkt von dem, worauf alles ankommt. Der Schluß des Hiobgedichts ist ein Rückfall ins Weltliche. Kleinlich im Vergleich mit einer andern Geschichte, die ich hier heranziehen möchte – ich meine das deutsche Volksmärchen von den drei Wünschen – kennst du's?«

Enzio schüttelte den Kopf, und ich fuhr fort: »Als mal der Herrgott auf Erden ging, wollte er einen Wanderer belohnen für eine Guttat und sprach: ›Drei Wünsche darfst du tun, die sollen dir erfüllt werden.‹ Da wünschte sich der Wanderer ein Paar Schuhe, die nie zerreißen. Der Herrgott antwortete: ›Dieser erste Wunsch ist dir gewährt – aber vergiß das Beste nicht!‹ Das wird ein Hecke-Pfennig sein, dachte der Wanderer – in meiner Tasche soll er Geld hecken. So sprach er den Wunsch aus, und Gott sagte: ›Abgemacht! Aber jetzt aufgepaßt! Nur noch einen Wunsch hast du! Vergiß das Beste nicht!‹ – ›Das Beste? Ei, das ist 'ne Schnapsflasche, die nie leer wird!‹ Und diese wünschte sich der Wanderer. ›Tropf!‹ schalt der Herrgott – ›deine drei Wünsche hast du vertan. Das Beste, das du hättest wünschen sollen, ist das Ewige Leben.‹«

Enzio fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als ob er eine schmerzliche Unrast hinwegstreichen wolle. Dann nahm er eine Zigarre und biß nervös ab: »Pardon, wenn i ... Du also bischt – Nichtraucher?« Und nach heftigem Paffen schien er seine Gedanken etwas gesammelt zu haben: »Jetzt – waas i frage möcht: das Ewige Leben, von dem du meinscht, es sei's Bescht –wo denn hat mr dees?«

[349] »Was nach dem Tod ist, weiß kein Sterblicher – aber Ewiges Leben spürt mancher hienieden auf Erden. Wenn die kleine Waldschnecke aus ihrem Gehäuse kommt, wenn sie zum Tasten die Hörnlein mit den Augenknöpfchen ausstreckt und den Leib vorschiebt, wenn sie von einem Grashalm zum andern kriecht, als könne sie den Waldesdom durchmessen – ein rührendes Bild! Es zeigt uns, wie sogar dies Geschöpfchen Sehnsucht hat, aus der Enge hinauszugehn ins Weite. Oder wenn die Lerche von der Ackerfurche emporschwirrt ins grenzenlose Blau, trunken vor Begeisterung. Und wenn der Mensch schwärmt, Unendliches spürend, wie's eben uns begnaden will – wenn er, nicht befriedigt von seinem Ich-Schneckenhaus, in den Wald der Umwelt vordringt, Verständnis, Mitgefühl für andere Wesen hat, gütige Tat, Freundschaft, Liebe – dann ist er am Erwachen, dann taucht er ins Ewige Leben ... Und dies, Enzio, glaubst du nicht, daß dies mehr ist als Hiobs tausend Kamele und Esel? Du selber hast es fertig gebracht, aus deinem Ich hinauszugehen – sogar unter recht schwierigen Umständen – nämlich wie dein Ich rasend war vor Angst und Rachsucht, im Dentzenberger Wald; da hast du's fertig gebracht, einen Giftpilz deines Herzens zu zertreten: Des Gassenmaier hast du dich erbarmt – und hast sogar dein Leben gewagt, ihn zu retten. So hat dich Ewigkeit berührt mit ihrem Gnadenstrahl. Vergiß das Beste nicht!«

Es zuckte in Enzios Gesicht – dann weinte er still vor sich hin. Ich stand auf, um zu gehn – das Gespräch schien mir einen innerlichen Abschluß gefunden zu haben. Er trocknete sich die Augen: »Du willscht scho fort? Ond hascht mir noch nicks vondir verzählt?« – »Ein andermal, Enzio!« – »Aber«, entgegnete er, »morge muß i nach Konstanz.« – »So müssen wir verzichten. Für heute hab' ich dich genug aufgeregt. Leb wohl, Enzio!«

[350] In Abrahams Schoß

Tübingens Landschaft konnte zwar nicht die paradiesische Verklärtheit erreichen, mit der mich der Traum von Glastelfingen bezaubert hatte, bescherte mir aber köstliche Sonnentage auf Höhen, die ein grenzenloser Obstgarten waren. Ausblicke über goldene Täler und wogende Waldberge lockten die Seele ins blaue Rätselreich der Ferne. Doch eine Wehmut zitterte in solchem Schauen: die Landschaft kam mir vor wie ein Spiegel, darin ich bloß mich selber finden kann, während mich nach Menschen verlangte. Um so einsamer fühlte ich mich, als die Schauplätze meiner Kindheit zu erzählen wußten von Jugendkameraden, die nicht aufzuspüren waren. Uebrigens konnte die Begegnung mit Enzio nicht gerade zu weiteren Enthüllungen verborgener Schicksale ermutigen. Die Bilanz von Jahrzehnten wird mehr Trübes als Erbauliches enthalten – sprach ich zu mir – und also wird's am gescheitesten sein, wenn du dein Bündel schnürst und aus deinem Jugendlande wieder nordwärts ziehst zu den grüblerischen Kiefern der Mark; allenfalls geh' noch für wenige Tage in die Schwabenalb, besuche den Neuffen, den Zollern, auch den Lochenstein und das Heimatdörfchen Hainlins! Vielleicht, daß dort etwas über ihn zu erfahren ist.

Zum Bahnhof wollte ich; den Rucksack auf dem Rücken, schlenderte ich die Neckarhalde entlang und kam an das Haus, wo Hainlin gewohnt hatte. Es sah wie damals aus, und – ich [351] traute meinem Auge nicht – an der Haustür war noch das Schildchen mit der Aufschrift: Schneckle ... Hainlins Wirtin oder wahrscheinlich ihre Tochter Berta war also hier wohnhaft geblieben. An dieser Entdeckung durfte ich nicht vorübergehen. Also hinauf die Treppen! – Oben an der Flurtür war abermals »Schneckle« zu lesen, und freudig stutzen ließ mich die beigefügte Visitenkarte: Professor Wendelin Ritter. War das etwa Ulis Sohn? Ich erinnerte mich, daß Pia sterbend den Wunsch geäußert hatte, das Kind solle nach ihrem Bruder Wendelin heißen.

Als ich die Klingel gezogen hatte, öffnete ein etwa dreizehnjähriger Knabe. Das geistvolle Auge und die zierliche Gestalt gemahnten an Wendelin Flammer. »Ist Frau Schneckle zu sprechen?« Der Knabe sah mich groß an: »Großmütterle ischt tot. Oder meint Sie Tante Berta? – Die ischt ausgange.« – »Und Herr Professor Ritter?« – »Der 'scht dahoim. Bitte, treten Sie näher!« Höflich führte er mich in eine Wohnstube und bot mir einen Stuhl an. »I werd den Vatter rufe.« Wie ich mich umschaute in dem gemütlichen Raum, blickte mich plötzlich Kandidat Hainlin an – wie in meiner Kindheit: eine lebensgroße Kreidezeichnung nach einer Photographie. Darunter ein Kranz von gelben Immortellen.

Die Tür ging auf; schweren Schrittes trat eine hohe, wuchtige Gestalt ein, blauäugig. So hätte Uli aussehen können, wenn er, wie dieser Mann, im Anfang der Vierziger gewesen wäre. Ich konnte mich nicht enthalten, ihm zutraulich die Hand zu reichen: »Sie sind der Sohn meines Jugendfreundes Uli – ich seh's sofort.« Und ich nannte meinen Namen. – »Grüß Goot!« erwiderte er herzlich – »ich kenne Sie bereits – Tante Berta hat von Ihnen erzählt – ha! die wird sich freuen! Sie sind ja Hainlins Schüler gwä – und hänt Versle für die Glaasberg-Zeitung gemacht, gelt? Tante Berta hat sie noch.« – [352] »Fräulein Schneckle ist, wie ich höre, nicht zu Hause.« – »Aber bald erreichbar – falls Sie den Rucksack da ablegen und etliche Zeit für uns haben, gelt?« – »Herzlich gern, Herr Professor! Der Zufall hat mich hereingeschneit. Ich war im Begriff, nach Hechingen zu fahren – aber wie ich an Ihrem Hause vorbeikomme, entdecke ich den Namen Schneckle. Wenn Sie nun meinen, daß ich Fräulein Schneckle nicht ungelegen komme ...« – »Aber nein! Tante Schneckle wird entzückt sein – ihr Herz ist ja treu wie Gold. Wenn's Ihnen paßt, gehn wir sogleich zu ihr – ich wollte sowieso hin. Sie ist auf dem Schloßberg bei Krüppelkindern, die droben spielen.« – »Dankbar nehm' ich Ihre Einladung an, Herr Professor, und – bleibe noch etwas in Tübingen. Jetzt hab' ich wohl den Torschlüssel gefunden zu meinem Jugendlande. Sie und Fräulein Schneckle werden mir manches zu erzählen haben. Was macht mein lieber Wendelin? Ihren Onkel Flammer mein' ich?« – »Ist tot! länger als dreißig Jahr.« – »Oh! Und wie kam's, daß er so jung?« – »Er starb im Irrenhaus.« – Ich stand traurig stumm, und er fuhr fort: »Ja, an Geisteskrankheit, zermürbt von seiner Zerrissenheit – den Ausgleich hat er nicht finden können zwischen sich und der Welt. Uebrigens wissen wir nicht viel von den letzten Jahren seines Lebens – eigentlich nur, was sich in Hainlins Nachlaß darüber findet.«

»Hainlin – ach ja! Und woran ist dieser Prachtmensch gestorben?« – »An Herzkrankheit infolge von Gelenkrheumatismus. Auf seine Gesundheit hat Hainlin nicht geachtet, in der Apathie, die bei ihm nach dem Zusammenbruch seiner Ehe auftrat.« – »Zusammenbruch seiner Ehe? Mit wem war er verheiratet?« – »Mit einer Berlinerin, einer geschiedenen Frau.«

Schicksal, unheimlich rätselhafte Macht! dachte ich, als ich mit dem Professor das Haus verlassen hatte und zum Hirschauer [353] Tor ging. Hainlin und Rosel! An Seele wie Leib schienen sie für einander geschaffen – und doch! nach langem Harren und Entbehren sind sie unvereint gestorben. Uli und Pia – ich sehe das blühende Paar noch tanzen im Wurmlinger Wirtshaus, gleich verliebten Schmetterlingen, und – der Sprößling ihrer Liebe, die ihnen beiden den Tod gebracht hat, wandelt hier an meiner Seite: ein bärtiger Mann, lahmend auf dem einen Bein ... sonderbares Schicksal.

Mit einer mechanischen Hilfe scheint das Bein versehen. Bei jedem Schritt gibt es ein quiekendes Knirschen von sich – ein paarmal bleibt der Professor stehen, als strenge er sich an und empfinde Körperschmerz. »Sind Sie Invalide?« frage ich. – »An der Somme hab ich's Bein verloren. Wer hätte vor drei Jahren ahnen können, ich werde bald Krüppel sein? Ich, der Turner, Schwimmer, Schlittschuhläufer, ein unermüdlicher Wanderer und Bergsteiger – Führer der Wandervögel, der mit den Buben um die Wette getollt hat – ich muß mich so hinschleppen!« In den Worten bebte das Leid eines Verzichtenden, der noch keine Ergebung gefunden hat.

»Sie sind Gymnasialprofessor?« fragte ich. – »Gewesen bin ich's! Mit ganzer Hingabe! Jetzt freili han i Abschied nehmen müssen.« – »Mußte das wirklich sein?« – »Es mußte sein! Und das würde Sie nicht wundern, wüßten Sie, welche Rolle ich als Pädagoge gespielt hab. In allen Körperfertigkeiten hatte ich meinen Schülern als Vorbild gegolten. Unerträglich wär' mir, in ihren Augen Krüppel zu sein, geringschätzig oder auch nur mitleidig angesehen zu sein.« Er sagte das düster, mit einem flammenden Stolz, der an Ritter Uli erinnerte. – »Jetzt privatisieren Sie also?« – »Ja – und möchte mich als Privatdozent habilitieren – in Tübingen – da hab ich ja auch meine liebe Pflegemutter.«

[354] »Meinen Sie Fräulein Schneckle?« – »Freili! Tante Berta! Seit meinem ersten Jahr hat sie mich bemuttert.« – »Die kleine Berta – Sie? Und wie kam das? Ich meine: welche Umstände haben das gefügt?« – »Ha no! Pia und Uli, meine Mutter und mein Vater, waren tot, den Verwandten Pias aber war ich halt bloß eine Mahnung an Fatales. Ulis Vater adoptierte mich zwar, doch als Witwer wußte er nichts mit mir anzufangen. Gab mich daher in Pflege – zu Frau Schneckle und ihrer Berta. Die haben mir Liebe entgegengebracht, wie sie eine leibliche Mutter nicht inniger haben kann. Tante Berta ist ein Engel in Magdgestalt.« – »Ja, sie hat ein gutes Herz, ein kindlich reines, liebliches. Es ist bald ein halb Jahrhundert her, daß wir auseinanderkamen. Damals schien sie Hainlin zu lieben.« – »Ja, sie hat ihn geliebt, ihn und alle Liebenswerten von damals: meinen Vater, Uli und Wendelin – auch für Sie hat sie geschwärmt!«

»Für mich?« fragte ich verwirrt. – »Ja, natürlich! Sie sind ja auf dem Eise ihr Ritter gewesen, davon redet sie zuweilen. Nicht als ob sie sich eingebildet hätte, ihre Schwärmerei würde Erwiderung finden. Sie hat alleweil nach dem Worte gelebt, das sich bei Goethe findet: ›Wenn ich dich liebe, was geht's dich an!‹ Sie liebt, um zu lieben – nicht um etwas zu erlangen. Und das ist das Geheimnis ihrer Erfolge, die sie als älteres Fraule hat. In ihrer Jugend wurde das blasse Geschöpfle mit der schiefen Schulter übersehen – seit sie aber nimmer zu den jungen Mädle gehört, achtet die Welt auf ihr Herz, auf ihre guten Worte und Werke. Es gibt kaum einen Menschen in Tübingen, der so allgemein beliebt ist wie sie. Sie hat ja auch Hunderten beigestanden – früher als Hebamme, Pflegerin, Kräuterkundige.« – »Dann ist Fräulein Schneckle sehr beschäftigt?« – »In der Fürsorge für allerlei Hilfsbedürftige [355] geht sie auf – so bin ich versucht zu sagen – wär sie nicht zugleich für mich und Uli e einzigs Hausmütterle. Jedenfalls lebt sie nur für andre – und deshalb hat sie ein reiches, glückliches Leben ... Sie werden ja schaun.«

Während dieses Gespräches waren wir an die Stufensteige gelangt, die vom Hirschauer Neckarbrückle zur Burg emporführt. »Solche Stufen zwing' ich schon,« sagte der Professor – »aber die schrägen Bergwege fallen mir schwär.« Schweigsam ging's aufwärts – dann waren wir zwischen dem Schänzle und dem Bärengraben – und nahmen Platz auf einer Bank, von der man ins Ammertal schaut.

»Die zwei Aussichten, die der Schloßberg bietet, haben verschiedenen Charakter,« sagte ich. »Drüben der Blick auf die Alb ist freudig – die Aussicht ins Ammertal von wehmütiger Lieblichkeit. Noch ausgeprägter als jetzt war diese Wehmut in meiner Knabenzeit. Damals gab's nicht die hübschen Landhäuser und großen Kliniken, damals bestand das Stadtviertel nur aus Kleinbürgerhäusern; schwärzlich, alt und winklig wimmelten die Dächer drunten. Und darüber ragten die lieblichen Hänge des Steinenbergs und der Waldhäuser-Höhe – lauter Terrassen, Weingärten, Obst- und Hopfenpflanzungen – sie lächelten, als wären's Stufen der Himmelsleiter. Meine kindliche Träumerei vermutete ein Paradies droben, hinter Obstwäldern versteckt – ein heimliches Höhendorf.« – »Ich weiß! Glastelfingen!« nickte der Professor. – »Wie?« stutzte ich – »Sie wissen davon? Woher denn?« – »Aus Hainlins literarischem Nachlaß. Da ist ein Gedicht von Glastelfingen.« – »Gedicht? Haben Sie's« – »Ja, es schildert die Suche nach dem Glasberg. Auf dem Glasberggipfel harrt die verwunschene Prinzessin dessen, der sie erringen soll. Jedem kommt sie wie sein Liebchen vor und lockt wie eine Sirene. Die Betörten [356] möchten zum Gipfel, gewaltsam oder auch mit List – und alle gleiten vom Glasberg ab. Wahres Glück läßt sich nicht außen erobern – im Innern ist es der heimliche Schatz.« – »Was Sie meinen, Herr Professor, ist das Eden, nach dem meine Kindheit verlangte – und noch immer sehne ich mich danach – nur freilich haben Sie recht: man soll es nicht draußen in der gewöhnlichen Welt suchen, sondern im Gemüte – da kann man diesen paradiesischen Schlupfwinkel finden.« – »Wissen Sie, wer ihn gefunden hat?« fragte der Professor – »Tante Berta! Aber nun lassen Sie uns zu ihr gehen – die Wiese, wo sie mit den Kindern spielt, ist hier in der Nähe.«

Wir gingen auf dem Grat des Schloßberges entlang, vorbei an stattlichen Häusern wohlhabender Studentenverbindungen.

Ein Pfad, der links abbog, führte uns an die sonnige Halde, von wo man ins Neckartal schaut. Auf einer Wiese, die ziemlich eben war und gemäht, spielten etwa ein Dutzend Mädchen, neun- bis zehnjährig – unter der Aufsicht eines älteren Fräuleins. »Ist das –?«

»Eine Kindergärtnerin wird es sein – Tante Berta ist nicht dabei. Sie wird aber bald kommen, hat wohl noch anderswo zu tun. Lassen Sie uns geduldig warten, als stille Beobachter.«

Der Anblick hatte etwas Wehmütig-Rührendes. Diese Kinder schienen geistig verkümmert. Kein Blick schweifte neugierig zu uns – wir schienen für sie nicht vorhanden. Waren die Kinder so stumpf? Dagegen sprach ihre lebhafte Teilnahme für das Bewegungsspiel, das sie betrieben. Zwei größere Mädchen hielten, die Arme hoch, einander an den Händen, und durch dies Tor zogen im Gänsemarsch die Kinder – jedes hielt sich am Röckchen des Vorderen.

Und sie sangen:


[357]

»Mr ziehe durch, mr ziehe durch,

Durch die goldne Brücke –

Sie ischt entzwei, sie ischt entzwei –

Mr wolln sie wieder flicke –

Womit?

Mit einerlei, mit zweierlei –

Der erschte kommt, der zweite kommt –

Den dritte muß mr fange


Beim letzten Worte senkten sich plötzlich die Arme der beiden Mädchen, die das Tor bildeten, und zwischen ihnen war ein Kind gefangen. Es wurde nun gefragt, wohin es wolle – ob zu den Engele oder zu den Teufele. Je nachdem es gewählt hatte, mußte es sich hinter den einen oder den anderen Brückenkopf stellen. Zuletzt gebärdeten sich die Parteien als Engel und als Teufel und wurden in scherzhafter Weise handgemein. Dabei benahmen sie sich auffällig ungeschickt – manche griffen ins Leere, als haschten sie Schatten.

Ein paar Mädchen standen abseits und lächelten vor sich hin – es fiel mir auf, daß sie keinen Sinn verrieten für den wundervollen Blick auf die Neckarauen, ins Steinlachtal, über die Waldhöhen zur violetten Alb. »Als Pädagoge haben Sie, Herr Professor, wohl schon bemerkt, daß Kinder mehr Auge für Nahes haben als für Fernes. Eher für ein Gänseblümchen oder Kleeblatt zu ihren Füßen als für die Aussicht da.« – »Diese Kinder«, erwiderte der Professor, »können weder für das eine, noch fürs andere Sinn haben!« – »Wie? Es sind Idioten?« – »Idioten nicht, aber blind!« – »Blind?« Mich erschütterte das Wort – zumal die Aussicht hier ein so paradiesisches Lächeln der Erdenheimat war.

Doch als wollten die blinden Kinder mein Bedauern widerlegen, waren sie jetzt mit Entzücken bei einem neuen Spiel: Die [358] beiden großen Mädchen hielten sich wieder an beiden Händen, diesmal die Arme gesenkt – auf dem so gebildeten Sessel nahm ein drittes Kind Platz, rechts und links einen Nacken umschlingend. Und wurde nun geschaukelt, wozu die Kinder sangen:


»Wir wiegen dich in Abrahams Schoß –

Da bischt du alle Schmerzen los,

Dein Herz ischt nimmer schwär.

Schwindele, Kindele, Kaffeemühl,

Schwäbele, Bäbele, bautz!«


Beim Kaffeemühl-Versle wurde das geschaukelte Kind auf einmal herumgewirbelt wie ein wagerechtes Rad – dabei gab's groß Gelächter. Ich sehe noch das verzückte Lächeln eines blassen Mägdeleins, wie's in Abrahams Schoß gewiegt wurde: Nichts sah es vom Leuchten der Sonne, nichts vom Blauen der Ferne – und war doch ein Engel, der zum Paradies schwebt.

Da kam ein gebücktes Weiblein geschlichen – sie winkte uns Sehenden, wir möchten nicht verraten, daß sie da sei. An der buckligen Schulter und am gütigen Gesicht war Berta Schneckle zu erkennen. Ein Engel in Magdgestalt! dies Wort des Professors schien mir treffend.

Plötzlich stutzten die Kinder aufhorchend und wußten nun, wer gekommen war. Jubelnd umringten sie Tante Berta, jedes wollte mit greifender Hand etwas von ihr haben, sich an ihren Arm hängen, einen Finger von ihr halten, einen Zipfel ihres Kleides.

Sie lächelte, war aber bald den Kindern entschlüpft und kam zu uns. Ihr Pflegesohn küßte sie auf die Stirn: »Schau, wen i dir da bring. Waas meinscht, wer ischt dees, he?« – Mit sinnendem Lächeln sah sie mich an: »Bekannt kommt er mir vor.« – »Hainlins Schüler ist's, der Norddeutsche!« – [359] Errötend streckte sie mir die Hand entgegen: »Grüß Goot, Herr – Bruno! Ischt dees aber e Freid! Oh Wendelin, geahnt han i, daß mr heut ebbes Guts beschert werden soll – graad wien i da über den Klee komme bin, han i gstutzt – ond beinah hätt i e vierblättriks Kleeblättle erwischt – drei Blättle sind scho dran gwä.« Wir lachten über ihre Schelmerei.

»Net wahr?« sagte der Professor, »dein alter Freind derf net so bald fort – heut hat er schon abreise wolle – hat aber zufällik am Haus bei ons dei Namensschildle glesen.« – »Abreise? Aber nein!« bat Fräulein Schneckle und errötete von neuem, »bleibe müsset Sie. Mr hänt uns arg viel zu verzähle, möchten noch e mal jung sein. Also gelt? Sie kommen mit uns! Einschtweile möcht i mi noch e bißle meinen Kinderle da widme. Dees ischt mei Altweibermühl!« –

Bei denen war sie nun, abermals mit Jubel umringt. Man faßte sie, trug sie auf Händen – und selber ein strahlendes Kind, saß Tante Berta auf der lebendigen Schaukel – man sang:


»Wir wiegen dich in Abrahams Schoß, Da bischt du alle Schmerzen los, Dein Herz ischt nimmer schwär!«

[360] Alte Liebe rostet nicht

Ein paar Wochen hindurch war ich täglich zu Tante Berta gegangen und hatte mit ihr die Vergangenheit besprochen, auch Hainlins schriftlichen Nachlaß durchforscht. Nun lockte mich beständig klares Wetter, die aufgeschobene Albfahrt zu unternehmen. Um von Wirtshäusern, wo in der Kriegszeit oft Schmalhans Küchenmeister war, möglichst unabhängig zu sein, gedachte ich Mundvorrat im Rucksack mitzuführen. »I besorg Ihne Schinkewurscht!« – »Aber, Tante Berta, meine Fleischmarken sind zu Ende.« – »Na ganget mr zur Metzgerei von Gackenheimer – die Meischterin gibt ohne Fleischmarke – zumalIhne!« – »Mir? Wie sollte sie dazu kommen?« – Tante Berta lächelte schalkhaft: »Ha no – Frau Gackenheimer ischt ja Ihre Jugendflamme: selles Rickele, mit dem Sie konfirmiert send.« Ich stutzte – fühlte, daß ich rot wurde: »Aber Fräulein Schneckle! Zu seiner Jugendflamme kann man doch nicht gehn, um ein Stück Wurst zu kaufen?« – »Warum net? Alte Liebe roschtet net! Wenn Sie aber zu schenierlich sind, um von der Schinkewurscht aazfange, na könnt i's ja tun.« Da sie sah, daß es mir recht war, machte sie sich zum Ausgehn bereit.

Als die kleine, gebeugte Gestalt im faltigen Umhang, ein altmodisch Hütchen auf dem grauen Lockenhaar, an meiner Seite hinhuschte, dachte ich lebhaft an die ferne Vergangenheit. Den verkrümmten Rücken hatte Bertale schon damals gehabt, auch [361] den ältlichen Zug im schmalen, blassen Gesicht. Ihre Seelenheiterkeit hatten die Jahre nicht getrübt – noch immer blühte aus den etwas wehmütigen Zügen jenes Lächeln auf, dessen Kindlichkeit damals, als ich mit der Sechzehnjährigen Schlittschuh gelaufen war, nebst ihrer munteren Unterhaltung einen Zauber auf mich ausgeübt hatte. Sie verstohlen von der Seite betrachtend, sah ich in den Altersfältchen, die dem Gesicht aufgeprägt waren, nur ein Zeichen innerer Vertiefung – ich dachte an die goldklare Feierstille des Altweibersommers. »Wissen Sie, Tante Berta, wie Sie mir jetzt vorkommen? Fast wie jenes Mädle, mit dem ich gern auf der Eisbahn war. Eigentlich verändert sich doch der Mensch im Leben fast gar nicht.« Sie schien verwirrt, mich streifte ein sonniger Blick: »Ja damals! Im Herzen lebt mir noch alles, Sie hänt sich meiner ahngenomme, obwohl mit eme buckligen Mädle kein Staat zu machen war. Hänt sich um mich ritterlich bemüht, mir die Schlittschuh getrage, gelt? Wie schön, so ebbes erlebt zu haben! Dees hat mr na in seiner Säl' wie e netts Schmuckstück – ond nimmt's bisweile aus m Käschtle, sich dra zu erquicke.« Da war nun wieder die hervorblühende Heiterkeit. – »Sagen Sie bloß, Tante Berta, wie bringen Sie es fertig, immer so jung zu bleiben?« – »Jung?« staunte sie. »Ha, wie wär denn dees? Sechzik bin i.« – »Die echte Jugend bleibt dem Menschen treu bis ins Alter. Und merkwürdig! Damals kamen Sie mir manchmal mütterlich vor wie ein gutes Tantchen; jetzt aber sind Sie jung geworden, sind geradezu kindlich! Sie haben neulich gesagt, eine Alteweibermühle hätten Sie. Sogar zum Jungbrunnen wissen Sie den Weg. Ich möchte auch ein wenig mithalten. Wo versteckt sich denn Ihr Jungbrunnen?«

Sinnend blickte sie auf: »Bei meine Patiente!« Weich war das gesprochen, dabei voll Ueberzeugung. »Meine Patiente soll [362] i gsund mache – aber die tun m i gsund mache. Zum Exempel heut morge – wien i zur Frau Kielwein bin, ihr krankes Herz zu massiere, damit's Blut besser zirkuliert – ganz behutsam muß mer dees ... kommt also ihr Mann, wo vorher immer so sorgevoll gwä ischt – kommt Meischter Kielwein auf emal freudestrahlend: Mei liabs Freilein Schneckle! Ihre Kur schlagt ahn! Die ganze Nacht hat mei Fraule durchgschlafe ... Ha, wisse Sie, Herr Wille, wemmr so Erfolg sieht ond sich sage derf, daß mr net umsonscht schaffe tut – daß mr Bedürftige ebbes Guets erweise ka, – na wird mr so froh – oder wie Sie sage, so jung!«

»Sie sind ein guter Mensch, Fräulein Schneckle – das macht's.« – »Den Titel derf i mir net ahnmaße. I bin net gut – tun Sie lieber sage: Es tut mir gut! Dees ischt älles. Schaue Sie: Neulich komm i zum Marthale. Sie ischt e zwölfjähriks Mädle, hat en arg böse Fuß. Jetz, wien i's Marthale massier, nimmt sie mich om den Hals ond drückt ihr Bäckle an meins. Aus ihrem Aug leuchtet's, als ob durchs Schlüsselloch der Himmelstür ein goldiger Strahl zu mir käm ... Ha, wem's so guet geht, der freili hat e Jungbrunne ... Aber tun mr net von mir rede! I schau net gern in den Spiegel. Ond Sie, Herr Wille, sollten Ihre Gedanke jetzt lieber em Rickele zuwende. Denn es bleibt dabei: alte Liebe roschtet net!« – »Wenigstens will ich sehn, ob von dem Glanz, den Rickele damals für mich hatte, noch etwas zu finden ist.«

Träumerisch meinte Fräulein Schneckle: »Ha ja! 's Rickele war ja auch beim Schlittschuhlaufen! Wisset Sie noch, wie dr Gräter mit Ihne hat Händel ah'fange?« – Ich nickte: »Ach richtig! Dr Gräter!« – Neckisch fuhr sie fort: »Ond daß i onbedeutends Dingle der Ahnlaß sein konnt zu so eme Streit, wo beinah übel ausgange wär! Wisset Sie noch? Mit dem [363] Rickele sind Sie Hand in Hand gelaufen. Dicht vor Ihnen aber bin i gfalle. Wie das dr Gräter sieht,lacht er schadenfroh. Dees tut Sie aufbringe – dr Gräter wird giftik, ond – die Rauferei geht los. Gelt? So isch gwä!«

»Ja, wie Pfeffer scharf und giftig war der Gräter. Er packte mich, ausgleitend schlug ich lang hin. Ich höre noch Gräters Hohngelächter. Was mich aber am meisten gewurmt hat, war Rickeles Benehmen. Ihr bot Gräter die Hand, und was tat sie? Nahm die Hand und lief mit ihm davon ... O Bertale! Diese kaltschnuppige Art Rickeles wirkte auf mich abstoßend, obwohl ich sonst in sie verschossen war.« – »Verschossen, ja! Glühende Bäckle hat sie ghätt ond leuchtend braune Aeugle unterm Pelzbarettle – zwei dicke dunkle Zöpf vorn über die Schultern.« – Sinnend nickte ich: »Ja, sie war hübsch – wie ein holdes Wunder berührte mich ihr Blick – ich dachte dabei an das Märchensprüchlein: Was macht mein Kind, was macht mein Reh? Anmutig war jede Regung des Köpfchens und ihr leicht wiegendes Hinschreiten. In ihrer Altstimme bebte etwas – wie soll ich's nennen? Ich möchte sagen: Gemütstiefes. Glaube aber, das hatte sie gar nicht. Sogar ihre Tübinger Mundart war mir reizvoll. Eine neue Welt hatte Rickele mir erschlossen, süße Schauer bebten durch mein Herz ...«

»Da wären mr!« sagte Fräulein Schneckle. Vor einem Schaufenster, das zwar keine Fleischwaren zeigte, aber durch ein Schwein von Porzellan die Metzgerei andeutete. Weil die Ladentür durch einen Rollvorhang geschlossen war, traten wir in den Hausflur, und Fräulein Schneckle schellte an der Nebentür des Ladens.

Nun erschien eine weibliche Gestalt. Obwohl sie nichts Mädchenhaftes mehr hatte, sah sie dem Rickele von damals ähnlich – nur war die Knospe jetzt zur vollen Rose erblüht. [364] »Aber nein!« dachte ich, »Rickele kann das unmöglich sein. Ihre Tochter wohl.«

»Ah? Fräulein Schneckle!« sagte sie knicksend. »Grieß Goot! Wie schade, daß Sie nach Ladeschluß komme! 's ischt mir arg leid. Aber ahn Verordnunge muß mer sich halte, gelt?« Auch die Stimme erkannte ich wieder – sie hatte etwas vom alten Reiz.

»Dooch net!« entgegnete Fräulein Schneckle. »Net daß mr gschäftlich komme! Prifaat! Der Herr da, aus Norddeutschland, ischt e Jugendfreind Ihrer Großmutter.«

Großmutter! Mein Gott ja! Also nicht Rickeles Tochter ist das, schon ihre Enkelin! Ich war so verwirrt, daß ich nicht mehr genau weiß, wie die Szene sich abspielte. Bloß daß ich Fräulein Schneckle reden hörte: »Er möcht sie halt wiedersähe, nach so langer Zeit! Bitte, holet Sie die Frau Meischterin, gelt?«

Wir standen in halber Dämmerung. Vor einem Ladentisch, auf dem Schüsseln waren. In blanken Messinghaken hingen Schwarzwurst und Schwartenmagen, es roch nach geräuchertem Fleisch.

Das Ladenfräulein war gegangen – nun kam sie wieder – mit einer Matrone von bedeutender Körperfülle. Unter einer geräumigen, weißen Schürze hochgewölbt das Busengerüst. Das volle Gesicht rot, das Haar weiß, das Auge dunkel.

»Grieß Goot, Frau Meischterin!« Fräulein Schneckle sprach's – und rückte nun heraus mit einer umständlichen Darlegung, die sich auf mich bezog. Sie erwähnte das Schlittschuhlaufen, brachte sogar ein Gedicht in Erinnerung, das ich damals meinem verehrten Fräulein Rickele gewidmet hatte. Schließlich kam eine leise Hindeutung auf die Albfahrt, die ich vorhätte, ohne unterwegs auf einen Bissen Schinkenwurst rechnen zu können.

Obwohl diese Darlegung schüchtern und bittend herauskam, war sie mir peinlich. Doch unterbrach ich nicht. Fühlte mich [365] wie gelähmt – außerstande, zu begreifen, diese Fülle von Fleisch sei mein Rickele von damals. Allerdings glaubte ich die braunen Augen wiederzuerkennen. Aber nichts Märchenhaftes hatten sie – fremd, mißtrauisch begegneten sie meinem zagen Blick. Etwas eingeengt waren sie durch die feisten Backen. Rickeles Haar, obwohl jetzt silbergrau, hatte die starre Kraft von damals bewahrt. – Fräulein Schneckle brach ihre Rede ab, und nun entstand ein Schweigen, das den schnarchenden Atem der Meisterin auffällig machte.

Unschlüssig schien Frau Gackenheimer, wie sie sich stellen solle zu meinem Besuch. Bald lächelte sie verlegen, bald zog sie ein saures Gesicht, bald zuckte sie die Achseln. Und zögernd kam das Geständnis: »Ha no! Waas soll mr da sage? Von dem Gedichtle woiß i nix. Mr kann halt net älles im Kopf behalte, waas eim passiert ischt. Mit dem Schlittschuhlaufe hat's seine Richtikkeit! Ha jo! Damals ischt mr e Backfischle gwä – jetzt aber hat mr andres zu tun als ahn so Firlefanz zu denke. Und von wege der Schinkewurscht muß i leider sage, mr hänt koine mähr. Aber Schwartemage könnt i dem Herre ablasse.« Meine Verlegenheit mißverstehend, fügte sie mit gnädigem Lächeln hinzu: »Ha no – diesmal geht'sohne Floischmarke – mr send ja onter ons!« Und mit der Linken ergriff sie den Schwartenmagen, während die Rechte das Aufschneidemesser hielt. Verwirrt schlug ich die Augen nieder. Auf die feisten Arme starrte ich, auf die roten, rundlichen Finger.


*


Als wir auf der Gasse waren, atmete ich leichter. Schweigsam gingen wir nebeneinander. Endlich stammelte Tante Berta: »Mein Goot! Han i doch gmoint, jeder Mensch muß e Herz haben für seine Jugend, müsse sie drin bewahren wie e Kleinod. Aber jetzt ... Waas hat sie gsagt? Sie wiß [366] nicks mähr von alledem! Also hat sie ihr Kleinod verlore?« – Ich zuckte die Achseln. »Verloren? Wie ich sie jetzt kenne, hat sie es kaum je besessen.«

Die grauen Gassen kamen mir auf einmal öde vor – erloschen war ihr heimlich Schimmern, das Altgold, das ich sonst wahrgenommen hatte. Da hausen nun, dachte ich, nicht wenig solcher Menschen, die nichts mehr wissen wollen von ihrer Jugend. Eine Lücke haben sie in der Brust, ein Vakuum – oder, wenn da ein Herz ist, hat es sich verfetten lassen vom Speck der Gewöhnlichkeit. Sollte innen mal was geflackert haben, so ist es traurig ausgebrannt, an Stelle des Herzens haben sie einen Klumpen Schlacke.

Planlos gingen wir zur Neckarbrücke, dann die Treppe hinab zur Platanenallee. Hier ergriff mich besonders die Erinnerung an meine knabenhafte Schwärmerei für Rickele. Mein Freund Wendelin hatte mich damals halb scheu, halb warnend gefragt, was ich eigentlich im Sinne hab' mit dem Mädle. Ich hatte gestutzt – sehr unklar war mir, wonach ich mich sehnte. Erschauernd hatte ich mir ausgemalt, wie süß es sein müsse, mit Rickele durch das Seufzerwäldchen zu wandeln – bei Mondschein – meinen Arm um ihren Nacken gelegt, so daß ihr Köpfle an meiner Schulter ruhte ...

»Ist es wirklich wahr?« seufzte ich und empfand etwas wie Beschämung – »ist es möglich, daß Rickele mich einst begeistern konnte? Was bin ich doch für'n Schaf gewesen!« Nach diesem erlösenden Wort fand ich ein Lächeln.

»Ha no!« meinte Tante Berta – »wenn mr e grüner Fratz ischt, gibt mr ebbes aufs Lärvle! Später wird mr anders. Die Blüte verweht, auf die Frucht kommt's ahn. Ond im September gibt's welke Blätter. Freilich auch Altweibersommer. Die goldklare Feierstille lieb i mähr als den unruhigen Frühling.«

[367] Und nach dem Uhland-Denkmal, das unweit der Platanenallee steht, deutete sie hin: »Der Uhland drübe auf seim Poschtamentle tut mir aus der Säl' spreche in eme Gedichtle, das mir arg gfallt: ›Ich bin so hold den sanften Tagen – wann ihrer mild besonnten Flur gerührte Greise Abschied sagen – dann ist die Feier der Natur. Sie prangt nicht mähr mit Blüt' und Fülle, all ihre regen Kräfte ruhn – sie sammelt sich in süße Stille, in ihre Tiefen schaut sie nun. Die Säle, jüngst so hoch getragen, sie senket ihren stolzen Flug – sie lernt ein friedliches Entsagen – Erinnerung ist ihr genug.‹« – Sie war stehen geblieben, um mit Innigkeit diese Verse zu sprechen.

Es löste sich etwas von meinem Herzen, wie wenn von Lenzodem ein gefrorener Born auftaut: »Ja, gutes Bertale: Alte Liebe rostet nicht! Nur Menschen können rosten. Liebe, wo sie echt, bleibt ein blankes Kleinod. Oder ist sie nicht noch mehr als Diamant? Ist sie nicht, wie Sie sagen, ein Strahlen aus der Himmelspforte?«

[368] Der grüne Strom

Hainlins Tagebücher, die ich vom Professor Ritter erhielt, beschäftigten mich für Wochen.

Sie behandelten zunächst seine in Bonn verlebten Jahre. Da waren Notizen über die Rheinlandschaft. Als ihre Seele empfand der Sohn des Schwabenlandes den grünen Strom. Heilig kam er ihm vor, weil er so schön ist und mit seiner Feuchte die Rebenhügel, Gärten und Fluren lieblicher Dörfer tränkt, besonders aber, weil er eine Straße bildet aus der Enge ins Weite. Wie er aus Schlüften die Büchlein und Flüsse holt und geeinte Fluten zum Weltmeer wälzt, verbindet er die rings wohnenden Menschen mit dem großen Völkerleben.

Wenn Hainlin schauend an der Rheinwerft wandelte und die Wassermasse breit und wuchtig hinrollen sah, wenn ein Kettendampfer die Reihe belasteter Kähne keuchend stromaufwärts schleppte oder ein Salondampfer, wimmelnd von Vergnügungsreisenden, mit Musik zur Landung kam, wenn Hainlin die Aussteigenden Englisch, Holländisch, Französisch parlieren hörte und die verschiedenen Mundarten deutscher Stämme belauschte, das singende Platt von Köln, die rauhen Kehllaute des Schweizers, die vorlaute Witzelei des Berliners, das hastige Geschwätz des Frankfurters – wenn alsdann unser Kind der Schwäbischen Alb ans heimische Dörfle dachte, an die Schulen, die seine Jugend unter Klausur gehalten hatten, an das Spießernest am Neckar – so kam er sich vor wie ein Vogel, der aus dem Käfig [369] schlüpfen durfte und im Freien die Schwingen erstarken fühlt. Noch mehr! In dieser Erweiterung seines sozialen Erlebens spürte er einen religiösen Gehalt: Der Rheinstrom war ihm Sinnbild der Menschenseele, die aus ihres Ursprungs Kleinlichkeiten sehnsüchtig drängt zum göttlichen Ozean: in der Unendlichkeit aufzugehen.

Solchem Fühlen gab sich Hainlin gern auf dem Balkon einer Schifferkneipe hin, genannt »Zum Rheinkranen«. Einsam saß er da beim Weinschoppen – vor ihm, unter ihm rauschend die grüne Flut. In den Atem des Wassers mischt sich Teergeruch. Fernher dumpf eines Dampfers Ruf, das Gellen der Schiffsglocke. Drüben vom Dörfchen Beul kommt die Fähre geschwommen. Stromaufwärts lila im Abendschein das Siebengebirge, über Königswinter schroff der Drachenfels. Wie Hainlin so träumte und auf die hineilenden, wirbelnden Wassermassen schaute, kam es ihm vor, als bewege sich das Plätzchen, wo er saß – als sei es ein Kahn und trage ihn einem geheimnisvoll großen Ziel entgegen.

»Antschuldijen Sie!« sagte jemand, und Hainlin fand sich wieder auf dem Balkon der Schifferkneipe. Der ihn angeredet hatte, war ein blasser Jüngling mit blondem Schnurrbärtchen, schäbig gekleidet. Hainlin erinnerte sich, ihn bereits gesehen zu haben, am Schalter der Bibliothek – da hatte er ihm Bücher ausgehändigt. »Herr Bibliothekar,« fuhr der junge Mann fort und verbeugte sich linkisch – »antschuldijen Sie, daß ich Sie anspreche, außerdienstlich in äiner Bibliotheksanjelejenhäit.«

Ein armer Student aus Ostpreußen! dachte Hainlin und erhob sich höflich: »Ha freili! Om waas handelt sich's?« – »Um ein Buch! Können Sie mir sagen, unter walchem Titel die Jedichte von Angelus Silesius erschienen sind?« Hainlin konnte Auskunft geben. Der junge Mann machte Notiz in sein Büchlein, [370] verbeugte sich dankend und nahm am Nachbartische Platz. Der Wirt brachte den üblichen Porzellanschoppen, der Gast nippte und ließ seinen Träumerblick über den Rheinstrom gleiten.

Nach längerem Schweigen nahm Hainlin das Gespräch wieder auf: »Darf ich fragen? Sind Sie Theolog?« – Leichte Röte überflog des Jünglings Gesicht: »Ach näin! Studant bin ich käiner – bloß Schusterjesalle.« Hainlin stutzte, wollte es aber nicht merken lassen, und ermunterte lächelnd: »Ha no! Hans Sachs, der war ein Schuhmacher und Poet dazu! Ein andrer Schuster, Jakob Böhme, e großer Philosoph.«

Des jungen Mannes Augen leuchteten: »Es freut mich, daß Sie so vorurteilslos sind! Darf ich mich vorstellen? Burdinski häiß ich. Herr Professor Knodt war so jütich, mir Erlaubnis zu erwirken zur Benutzung der Bibliothek. Ich hab ihn kennen jelernt, als er sich bei meinem Mäister Stiebel anmessen ließ. Säitdem darf ich zu ihm kommen, und er läiht mir wohl ein Buch. Aber ich möcht ihn doch nicht viel behallijen. Un Sie, Herr Bibliothekar ...« – »Hainlin ist mein Name.« – »Also, Herr Hainlin, auch Sie möcht ich nich wäiter ...« – »Aber gar net! Im Gegeteil! Möchten S' noch ebbes plaudere, so tun S' an meim Tischle da Platz nemme, gelt?« Das tat Burdinski gern, und Hainlin hatte Teilnahme für den geistig strebsamen Schustergesellen.

Burdinski war der Sohn einer armen Sachsengängerin. Sein Handwerk, das ihm ein Zufall vermittelt hatte, galt als Notbehelf, solange sich kein besseres Mittel zur Fristung des Lebens bot. Daß er mit seinem Wochenlohn – fünfzehn Mark – auskam und sogar zuweilen ein Schöppchen Wein genehmigen durfte, war zwei Umständen zuzuschreiben: Abgelegte Kleidung, die ihm paßte, bekam er von Professor Knodt, und als Vegetarier wußte er sich sehr billig zu nähren. Als er einmal ohne [371] Arbeit gewesen war, hatte er für sechs Mark, die er als letztes besaß, Bohnenkerne gekauft – davon kochte er täglich ein paar Hände voll und tat die Bohnen in ein Linnensäckchen. Während er nun in Kölns Straßen Arbeit suchte, aß er von Zeit zu Zeit Bohnen und – spürte dabei keine Erschöpfung. Nur eine Kleinigkeit Obst und Brot hatte er sonst noch.

Ersparnisse, die er seinem ärmlichen Einkommen noch abgewann, befähigten ihn, zuweilen eine Rheinreise zu machen, auf Lastkähnen, die von Kettendampfern geschleppt wurden. Dafür, daß er den Schiffern die Stiefel flickte oder durch Belehrung gefällig war, durfte er an ihrer Mahlzeit teilnehmen. So war er wiederholt von Bonn bis Bingen gefahren, einmal auf einem holländischen Dampfer sogar bis Rotterdam. Burdinski war ein eremitischer Lebenskünstler, eine Art Diogenes – nur daß er Freuden des Daseins nicht verschmähte, wo sie auf unschuldige Weise zugänglich wurden.

Hainlin, der bisher einsam gelebt hatte und schon deshalb Zurückhaltung üben mußte, weil ihm die Stelle als Bibliothekargehilfe nur fünfzig Mark monatlich einbrachte, wozu Onkel Guhl allerdings noch zwanzig fügte, Hainlin wurde durch Burdinski, mit dem er in Verkehr blieb, veranlaßt, auch mal unternehmungsfroh in die Außenwelt zu tauchen. An manchem Abend plauderte er mit dem Schustergesellen beim Kölschen Bier im »Bären«; und wenn der eine oder andere sein Geld für ausreichend hielt, gingen die beiden zum »Rheinkranen«. Sogar dörfliche Kirchweihfeste besuchten sie, und in Küdinghofen, Dollendorf, Godesberg wurde mit Mädchen, die man im Tanzsaal vorfand, zu Klarinette und Hörn Rheinländer gewalzt.

Auf einer Kirmeß lernte Hainlin den Vater seiner Tänzerin kennen, einen Goldarbeiter namens Hannes, der gleich Burdinski zu den Autodidakten gehörte. Es war ein graubärtiger, [372] aus dunkeln Augen hohl blickender Mann, der pathetische Ausdrucksweise liebte. Ueber die französische Revolution verbreitete er sich mit Sachkenntnis, hatte lebhaften Sinn für Arbeiterfragen und war ein glühender Anhänger Lassalles. Durch ihn erhielt Hainlin die ersten Einblicke in den Sozialismus. Was ihn daran fesselte, war nicht so sehr seine volkswirtschaftliche Seite als die von ihm eröffnete Aussicht auf Veredelung des Menschentums. »Mich erschüttert«, sprach Hainlin, »die Tatsache, daß die besitzlose Masse neunzehn Zwanzigstel unseres Volkes ausmacht, daß also der Hauptteil des Ackers für geistige Kultur brachliegen bleibt, und daß gute Anlagen, mit denen die Natur den Proletar ausgestattet hat, massenhaft verkümmern, während man doch folgern darf, Bebauung des ganzen Volksackers werde die Leistungen in Wissenschaft, Technik, Kunst verzwanzigfachen. Eine Zivilisation, zu deren Art solche Vergeudung von Werten gehört, hat eigentlich keinen Ahnspruch auf den Ehrennamen Kultur.«

»Stimmt!« erwiderte Burdinski, »es ist übertünchte Barbaräi – und alle soziale Kulturpolitik soll man natürlich unterstützen. Die Frage is bloß, ob die sozialistischen Häilrezepte radikal jenuch sind – ob sie dieWurzel des Uebels besäitijen. Die Wurzel der Barbaräi is nämlich äinfach der Ejoismus. Zu eng im Jemüte sind die Manschen, nehmen nich jenuch Antäil aneinander. Sollen sie veredelt werden, so kann es bloß durch höhere Lebensanschauung jeschehn. Aber an diesem Hauptziel schießen fast alle Sozialen vorbäi – sie sind zu öißerlich. Vom Wohlstand erwarten sie schon das Himmelräich auf Erden. Darüber denke ich anders. Anjenommen, ich hätte hinfort dräitousend Mark Verdienst, – na? was wär's denn nu? Kurz wäre mäin Jlück – die paar Jenüsse, die manmehr hätte, wäre man eben rasch jewöhnt, na ja! un würde noch höher hinous [373] wollen, müßte schonfünftousend haben – un siehste, so is das soziale Emporkommen ne Schroube ohne Ende – schäinbar schroubt man sich hoch, das Jlück wird aber dabäi nich jrößer – das Jemüt sojar oft schlechter. Jald macht's Herz äijennützig – un durch Bildung – was man so nennt, will sagen Kanntnisse, werden die Manschen jewöhnlich bloß raffinierte Ejoisten, wo den Dümmern überflüjeln und ausböiten. Na, ja, was der Hannes von Ausböitung sagt, stimmt nich janz. Nämlich die Sozialen halten den Manschen für äin Produkt der Verhaltnisse – ich aber behoupte, aus'mHerzen kommt des Menschen Jeschick, verstehste? Nich aus den Kanntnissen – vielmehr aus säiner Jefühlswelt. Erkanne dich selbst! steht jeschrieben am Tempel der Wäishäit. Findet man die Jotthäit insich, so erschließt sich das wahre Himmelräich – nich durch Lösung der sozialen Frage – sie erlöst uns nich in dem, worauf es äijentlich ankommt.«

In einer Mainacht war's, daß Burdinski so sprach; die beiden Freunde gingen bei Mehlem dicht am Rhein, dessen Spiegel der Vollmond silbern überbrückte. Ins leise Rauschen und Gurgeln der Wasser mischte sich fernes Flöten einer Nachtigall. Lauschend blieb Burdinski stehen: »Drüben im Fliederbusch singt sie, wie ihr ums Herz – un is selich, sich ihrem Liebchen mittäilen zu können. Mansch! ich behoupte, jlücklich is jedes Jeschöpf, wenn's mit nem andern verbunden is durch Mitjefühl un Verstandnis. Bedenke doch bloß, wie sich 'n Hundeken fröit, wenn sein Herrchen zu ihm 'n jütiges Wort spricht oder es bloß anlacht – wie's dann hüpfen tut un wedelt und jauchzt ... Ja, ja, lieber Häinlin! Sich äins fühlen mit jetrennten Wesen, was man Liebe nennt, das ebent ... Un Mansch, ich behoupte, je jroßartiger de Jeschöpfe fortschräiten in jejensäitiger Mittäilung, desto selijer werden se ... Da, da hast es!«

[374] Heilige Ferne

An ein Lied mußte Hainlin denken, das sein Landsmann Hölderlin gesungen hat: Vom Strom, den der Frühling weckt, so daß Winters Fessel, die Eiskruste, bricht – der nun jauchzend seiner Bestimmung entgegenrollt, talab zum grenzenlosen Ozean. Ein Bild der Menschenseele, die vom Glastelfinger Heimweh zum Ewigen gezogen wird: »Der Frühling kommt, es dämmert das neue Grün. Er aber wandelt hin zu Unsterblichen. Denn nimmer darf er weilen, als bis ihn in die Arme der Vater aufnimmt.«

Ja, nimmer darf er rasten, der Erdensohn, den Zeitlichkeit umfangen hält. Werden und Vergehn reißen ihn vom Ruheplätzchen, das er liebgewonnen hat – und nichts, woran sein Herz hängt, bleibt ihm eigen. Wieder einmal sollte Hainlin das erfahren, im dritten und vierten Jahre seines Bonner Aufenthaltes. Zunächst verlor er seinen Freund Burdinski – und das kam so: Burdinski war Katholik, aber durch seine religiöse Selbständigkeit dem Formeldienste der Kirche entfremdet. Der Schuhmachermeister, bei dem er Arbeit hatte und neuerdings Schlafstelle, war von seinem Beichtvater ausgehorcht worden über den Gesellen und hatte nicht verhohlen, für Messe, Beichte, Kommunion sei dieser kuriose Kerl nicht zu haben. Da hatte der Priester verlangt: wenn der Gesell verstockt bleibe, müsse er entlassen werden; ein räudig Schaf könne ja die Herde anstecken. [375] Bei den paar Meistern, die sonst noch in Bonn Gesellen beschäftigten, fand Burdinski keine Arbeit, – so entschloß er sich, auf Wanderschaft zu gehn.

»So is das Leben!« meinte er wehmütig. »Alles fließt! Un in demsalben Flusse schwimmst du nie zum zwäitenmal. Liebe un Schau der Ewichkäit is der ruhige Pol in der Erscheinungen Flucht – an den halten wir uns, lieber Häinlin! Auf alles andere is käin Verlaß.« Das war Burdinskis Vermächtnis – Hainlin nahm's in sein Herz, und die Freunde trennten sich. Es gellte die Schiffsglocke, das Holzbrücklein wurde an Bord gezogen, zu schaufeln begann der Dampfer. Während er abfuhr und sich entfernte, winkte Burdinski mit himmelblauem Taschentuch. Hainlin fühlte sein Gesicht zucken – wandte sich, und – nun fand erinnerlich den Verlorenen wieder, sah ihm ins gute Träumergesicht und hörte die singende Stimme: »Liebe un Schau der Ewichkäit! Auf alles andere is käin Verlaß!«

»Gott« – wie Hainlin das Leben in Licht und Liebe nannte – Gott war jetzt der einzige Freund, mit dem Hainlin Umgang hatte. In der Wissenschaft gab sich ihm als Tiefstes »Gott« zu erleben. Indem Hainlin die Musik mit religiöser Mystik verwob, wurde er ein Kunstphilosoph, dessen Aufsätze in große Blätter des Rheinlandes gelangten und von denkenden Musikfreunden geschätzt wurden. Das Einkommen des Verfassers besserte sich, er hatte mehr Behaglichkeit. Schon knüpfte er an den Erfolg die Hoffnung, sich eine Existenz zu gründen, so daß Rosel die Seine werden könne.

Sehnsüchtiger Träumerei ergeben, hatte er einen Herzenserguß an Rosel unter der Feder, als von ihr ein Brief anlangte, der ihn von seiner Höhe jämmerlich abstürzen ließ. »Als du von Tübingen gegangen bist, liebster Freund, hast du mir gesagt, ich solle aufhören, mich als deine Braut zu betrachten. Du habest[376] keine Aussicht auf eine Lebensstellung, die dich befriedigen und zugleich zum Eheschluß befähigen könne. Und wie ich vor einem Jahr meine Herzensnot nicht länger hehlen gekonnt und dir geschrieben hab, Herr Bolkendorf wolle mich nimmer entbehren, hast du geantwortet: wenn er mich heiraten möge, sei wohl nichts andres einzuwenden, als daß er vermutlich ein Krüppel bleibe. Neuerdings aber, seit ihn der neue Professor in Behandlung hat, geht's überraschend gut mit ihm. Ohne Krücken, bloß mit dem Stock geht er zur Gartenlaube, hat sich vorgestern übern Neckar setzen lassen und die ganze Platanenallee durchspaziert. Er war selig, und bei der Erdbeerbowle, die zur Feier des Tages die Mutter auftischte, hat er gesagt, jetzt solle sich's entscheiden, ob ich die Seine werde. Er wisse, daß es jetzt aufwärts mit ihm gehe, und ich dürf es mit ihm wagen. Mir war's Weinen net fern – doch um dem guten Mann die Freude net zu vergällen, hab ich ein zuversichtlich Gesicht gemacht – und nichts weiter eingewandt, als daß ich dich halt einmal befragen möcht in der Sach. Mei Mütterle macht geltend, in den vier Jahren, die wir schon mit Bolkendorf hausen, seien wir so aneinander gewöhnt, daß es nicht bloß für ihn hart sein würd, uns von ihm zu trennen. Net grad drängen wolle sie mich, und wenn ich ihn net mög, könn unser Leben in Gotts Namen so weiter gehn, es müsse net grad gheiratet sein. Aber weil's den Bolkendorf doch arg freuen würd, und wegen meiner Versorgung – ich sei ja schon Zweiunddreißig – auch wegen der Leut, die ein bös Maul hänt, sei's besser, wenn's endlich zur Hochzeit käm. Und jetzt, mei Jergle, hilf mir aus dem Zweifel und sag frei: was soll geschehn?«

Das Herz tat Hainlin weh, als solle sein Liebstes zu Grabe getragen werden. In langer Grübelei nahm er Abschied vom zärtlichsten Traume seiner Jugend – dann schrieb er an Rosel:

[377] »Wenn dein Herz nichts gegen die Heirat hat, so brauchst du sie nicht zu unterlassen.« Dies Wort entschied, und es dauerte nicht lange, so sandte Hainlin einen Glückwunsch an »Frau Rosel Bolkendorf, geborene Funk«.

Als wolle ihn das Geschick verhöhnen, erfuhr gerade um diese Zeit sein Einkommen eine Besserung, die ihm erlaubt haben würde, Rosel zu heiraten. Ein Verlagsbuchhändler trug ihm an, ein Werk über Musik herauszubringen, Hainlin erwärmte sich für den Gegenstand, die viertausend Mark Honorar dünkten ihn ein Vermögen, und er begann aufs neue von Gärtnerei zu träumen – die sollte ihn trösten.

Einstweilen versuchte er's noch einmal mit der Menschengärtnerei. Bonn hatte nicht bloß eine Universität, auch viele Mädchenpensionate – und vom Töchter-Institut Bouvier ließ sich Hainlin als Lehrer für Literatur und Kunstwissenschaft beschäftigen. Auch diese Stellung war gut bezahlt, und nichts erschwerte den Unterricht. Die jungen Damen, Töchter rheinischer Kaufleute und Fabrikanten – darunter ein paar Belgierinnen und Engländerinnen –, benahmen sich gewählt und zeigten Interesse für die Vorträge. Allmählich zwar entdeckte Hainlin an mancher Schülerin Stumpfsinn, und die Sache wurde ihm nun etwas langweilig. Es verdroß ihn, daß Fräulein Bouvier auf oberflächlichen Drill ausging, auf eine Scheinbildung, die im Salon funkeln soll. »Pfui, nein! Das darf man nicht merken lassen!« »So was sagt man nicht in Herrengesellschaft!« »Mit der Frisur werden Sie keinen Staat machen!« »Zum Teebereiten legt man Tändelschürzen an, das sieht hausmütterlich aus.« Mit solchen Ermahnungen putzte Fräulein Bouvier am Gefieder ihrer Gänse herum. Besonders streng ging es her, wenn sie die Herde spazieren führte durch die Poppelsdorfer Allee. Die Damen gingen zwei und zwei hintereinander [378] und mußten sittig tun – Geschwätz, Gelächter, Kokettieren mit Studenten war streng verboten.

Persönliches Interesse an seinen Schülerinnen konnte Hainlin nicht nehmen, da sie vor lauter Getue nicht zur Aufrichtigkeit kamen. Aber ein Mädchen fesselte ihn, die zwanzigjährige Marga Deutges, eine zarte Blondine vom Niederrhein. Wenn er unterrichtete, ruhte ihr Blauauge auf ihm mit kindlicher Gläubigkeit. Wurde sie gefragt, so errötete sie freudig, hatte ein wehmütiges Lächeln, ihre Antwort war schüchtern, doch naturfrisch.

Eines Nachmittags im Januar, als Hainlin ein Buch aus dem Töchter-Institut holen wollte, fand er im Salon Fräulein Deutges. »Fräulein Marga? So ganz allein?« Am Fenster saß sie, bei einer bunten Stickerei und erhob sich grüßend: »Ach ja! Vom Spaziergang hab ich mich gedrückt. Ich mag den Gänsemarsch nicht, die schreckliche Ehrpusseligkeit.« – »Und da ziehn Sie vor, sich hier die Augen zu verderben? Es ist ja fast dunkel! Ihre Stickerei ist wohl für den Karneval, gelt?« – »Ach nein, Herr Kandidat! Ich wollte, Sie hätten recht! Oh, ein Kostüm für den Karneval! Aber hier läßt man keine Allotria gelten, hier versauert man vor Langerweile, uff!« – »Sie sind unverblümt, Fräulein Marga!« – »Bloß Ihnen gegenüber wag ich das. Darf ich nicht? Uebrigens war's ungeschickt von mir, über Langeweile gerade dem zu klagen, der hier meine Oase in der Wüste ist.«

Ihre zarte Hand, die sie in überströmender Herzlichkeit bot, hielt er in der seinen, erfreut über ihre Zutraulichkeit. »Also am Karneval möchten Sie teilnehmen? In den Jahren, die ich hier bin, hab ich vom Karneval grad nicks Erbaulichs gspürt.« – »Aber der Kölner Karneval soll großartig sein. Den Zug durch die Stadt möcht' ich sehn.« – »Daran könnt ebbes sein! Die [379] bunten witzigen Bilder interessieren auch mich – und vielleicht mach ich diesmal nen Abstecher nach Köln.« – »Ach, tun Sie das, Herr Hainlin! Und, wenn ich bitten dürfte – nehmen Sie mich mit!« – »Ha, Fräulein Marga, wo denken S hihn? Wie wär denn dees statthaft?« – »Statthaft? Fräulein Bouvier braucht davon nichts zu wissen! Ich nehme einfach Urlaub zum Geburtstag meiner Düsseldorfer Tante, und in Köln auf dem Bahnhof treffen wir uns; übrigens kann ich ja 'ne Maske vors Gesicht tun. Den Festzug erwarten wir in einer Straße, und wenn Sie mich dann los sein wollen, fahr' ich eben wirklich zu meiner Tante.«

Lächelnd blickte Hainlin auf die kleine Versucherin, und da er nicht rundweg ablehnte, verstärkte sie ihr Bitten durch stürmischen Frohsinn. »Sie werden schließlich enttäuscht sein, Fräulein Marga!« mahnte er. »Erstens paßt meine Schwärblütikkeit net in die Ausgelassenheit.« – »Aber Sie sind doch Künstler! Dichter!« warf sie ein – »streiten Sie nicht. Aber weiter! Zweitens? he? Schießen Sie los!« – »Zweitens werden Sie enttäuscht sein, weil manche Sach ihren Reiz bloß so lang hat, als sie fern ist! Kommen wir zu nah, treten wir aus der reinen Beschaulichkeitheraus, so – verwandelt sich die holde Ferne in – etwas Gewöhnliches.« Sie war ernst geworden und schwieg – dann blickte sie ihm ins Gesicht: »Was Sie da sagen, ist Wahrheit – bloß daß ich erwidern kann: Wenn uns der Kölner Karneval enttäuscht, so schadet das nichts weiter, die Sache ist geringfügig. Uebrigens bin ich nun mal so, daß ich einer Sehnsucht nachlaufe – auf die Gefahr hin, enttäuscht zu werden. Lieber sich mal die Finger verbrennen, als unerfahren bleiben und – in der Enge versauern!« – »So hat die Eva auch gedacht!« scherzte er; und sie erwiderte: »Ach was! Ein Paradies steht nicht gleich auf dem Spiel! Fräulein [380] Bouvier schaßt mich nicht sofort – und wenn selbst mein Verlobter was davon erführe, mag er mich doch ausschelten!« – »Sie sind verlobt?« – »Wußten Sie das nicht? Haben Sie noch nie den Ring an meinem Finger bemerkt? Uebrigens war mein Verlobter neulich hier.« – »Ach, der – korpulente Herr? Entschuldigen Sie – ich hielt ihn für Ihren Onkel.« – »Das könnt er auch sein – ist schon Fünfundvierzig. Aber gut ist er zu mir – hat mich armes Ding ... Fabrikmädel hätt' ich werden müssen, wenn er nicht ... der also will mich heiraten. Ich soll erst noch etwas Bildung lernen. Hermann hat nämlich eine große Fabrik und verlangt von mir mal 'ne vornehme Häuslichkeit ... Und sehn Sie, drum soll ich feine Benehmigung lernen, und so braucht er natürlich nicht zu wissen ... Was aber die holde Ferne betrifft, die man nach Ihrer Ansicht respektieren soll, so macht mir diese Frage nichts zu schaffen. Denn die Fernen, die mir aufdämmern, bleiben ohnehin fern, ich gerate nicht mal in Versuchung, zuzugreifen. Und wenn ich's täte, will ich – lieber enttäuscht sein, als ein Schaf bleiben.«

Also gut, der Plan wurde ausgeführt, Hainlin und Marga trafen sich in Köln, kostümierten sich in einem kleinen Gasthof – sie als Zigeunerin mit schwarzseidener Halbmaske, er als rotbemützter Jakobiner. Arm in Arm ging's durch die närrische Stadt, erst durch volkstümliche Lokale, wo ein paar bunte Szenen erlebt wurden, dann in eine Gasse, durch die der Karnevalszug kommen sollte. Der Ort schien insofern gut gewählt, als es da nicht viel Zuschauer gab. Unser Paar stand auf der Steinschwelle einer Haustür, so daß Marga gut sehen konnte. War auch das Warten langwierig, so hatte Marga doch Spaß an den Witzeleien, die rings laut wurden. Als Kind vom Niederrhein verstand sie das Köllsche Platt.

[381] Nun ging eine Bewegung durch die Menge, an den offenen Fenstern erschienen Neugierige. Die Haustür, an die sich Hainlin und Marga lehnten, wurde zweiflügelig geöffnet, und Hausbewohner drängten hervor, so daß Marga ihren erhöhten Posten nicht behaupten konnte. Klein, wie sie war, hatte sie hinter der Menschenmauer, die den Bürgersteig einnahm, einen ungünstigen Stand. Während unter frohem Gejohl der Menge die Vorreiter und ersten Wagen des Zuges erschienen, nahm Hainlin das Mädchen bei der Hand und hastete in die vorderste Zuschauerreihe. Aber da liefen sie Gefahr, von den Wagen erfaßt zu werden. Sie drängten rückwärts, unter Geschrei erfolgte Gegendrängen, und plötzlich sah Hainlin, daß sein Kopf vom weit ausladenden Borde eines Fuhrwerks bedroht war.

Hainlin hatte die Geistesgegenwart, sich rasch zu ducken – so verhütete er das Unglück, bloß daß er einen Stoß an den Backenknochen bekam. Da der nächste Wagen mit Abstand folgte, hatte er noch Zeit, die Jakobinermütze, die ihm abgerissen war, aufzuraffen und Marga fortzureißen, bis ein erträglicher Standpunkt gefunden war.

»Sie bluten ja!« raunte das Mädchen erschreckt, »wir wollen fort!« – »Es ist nichts!« behauptete er, obwohl ihm der Kopf dröhnte. Er wollte Marga nicht um das Vergnügen bringen, auf das sie sich gefreut hatte.

Was sie zu sehen bekamen, war allerdings unbedeutend – oder kam ihnen deshalb so vor, weil die Stimmung einmal verdorben war. Die Gruppen der altkölnischen Stadtsoldaten, der sogenannten Funken, der Winzer, Brauer, Schiffer, der Wagen des Prinzen Karneval, all diese bunten Bilder, die witzig und gar künstlerisch sein sollten, waren grell und roh, albern, zumal die Darsteller kein Feuer mehr hatten und hinter Fratzen ihre Müdigkeit versteckten.

[382] In einer Konditorei erholte sich das Paar. Hainlin kühlte die Backe mit Wasser, Marga bemutterte ihn, fütterte ihn mit süßem Eis. Das war der Glanzpunkt des Tages, zumal ihre blauen Augen rührend blickten und im Geplauder ihr Herz sich auftat, als wär's ein Pförtlein zum Paradiese. Nachdem sie in einer stillen Weinstube gespeist hatten, begaben sie sich auf den Maskenball. In Dunst und Tabaksqualm raste der Tanz, gepeitscht von der stampfenden Musik. Ein Strudel war's, Rausch, Taumel der Sinnlichkeit, stumpfe Hingabe an die Bewegung des Menschenknäuels. Doch daß Hainlin die zierliche Gestalt in sei nen Armen halten durfte, war ihm Wonne – die Menschen störten ihn. Plötzlich wurde Marga weggerissen von einem Pulcinell in kreidiger Larve, verschwunden war sie. Er mußte suchen. Aber da hing sie wieder an seinem Arm. Und raunte: »Du hattest recht! So was läßt man in Distanz! Der Kerl war widerwärtig. Wenn du willst, gehen wir!« Es war auch Zeit, sonst hätten sie den Abendzug verpaßt. Sie hatten solche Eile, daß sie sich nicht einmal umkleiden konnten im Gasthof, wo sie einen Teil ihrer Garderobe gelassen hatten. Im Karnevalkostüm mußten sie reisen.

In Bonn angelangt, verstand es Marga, in der Garderobe eines Lokals, wo getanzt wurde, sich umzukleiden, um wieder als braves Pensionsfräulein zu erscheinen. Hainlin behielt seine Halblarve mit der langen Nase auf, weil er Marga in die Gegend des Instituts begleiten wollte. Er führte die Verhüllte durch eine einsame Gasse, wo der Mond schien. Hier ging er langsam, blieb stehen und sagte weich: »Marga! Das Narrenfest hatte uns angesteckt. Was wir da fanden, war Stumpfsinn! Meinst du nicht auch?« – »Ja,« raunte sie, »aber bitte, nimm die Nase ab!« Er warf die Larve fort, faßte ihre Hände und sah in die feucht schimmernden Augen: »Marga! Alles sonst [383] war nichts! Aber als du mich füttertest und mir dein Herz auftatest, und als ich dich beim Tanz in den Armen hielt, da – war ich sälik.« – Ihr Busen hob sich, sie seufzte: »Ich auch!« – »Marga! Und weshalb hänt mr net lieber das Glück im stillen genossen – ohne störendes Beiwerk?« – »Gescheiter wär's gewesen,« hauchte sie. – »Und jetzt, da wir scheiden müssen – du willst ja Ostern heiraten – hier, wo's grad keinen Störer hat, gelt? Marga! Willst mir e Bussel geben?« Da hing sie an seinem Halse, sanft drückten auf seinen Mund die lieblichen Kinderlippen. Doch wie ein Traum war dies Glück verflattert. Nur daß ein heimlicher Schatz blieb, als sei auf eine Perlenschnur eine neue Perle gereiht, schön wie eine Wonneträne.

Dem Seelenrausch folgte ein garstiges Nachspiel. Das Paar war erkannt, war beobachtet worden. Hainlin erhielt von Fräulein Bouvier einen bissigen Brief, der ihm die Stellung kündigte. Gleichzeitig schrieb Marga, ihr Bräutigam komme, sie zu holen: »Aber unser Karneval ist doch keine Enttäuschung. Das Beste – wie treffend hast Du das gesagt – hat seinen Reiz eigentlich nur, solang es fern ist. Du sollst mir fortan fern sein, das Schicksal will es so. Nun wohl, so bleib' mir im Herzen, meine nie verblühende Seligkeit!«

Hainlin beschloß, nach Berlin zu übersiedeln – was übrigens seinem Werk über Musik und weiteren Unternehmungen zustatten kommen konnte. Durch eine Rheinfahrt wollte er Abschied nehmen vom grünen Strome. Der Wirt zum »Rheinkranen« vermittelte ihm die Fahrt auf einem Schleppdampfer – ungestört konnte er da träumen. Die Sonne ersten Frühlings lächelte, das Ufer mit den Rebenterrassen war ein lila Duft, wie Veilchen die schimmernde Ferne. Am Bugspriet saß Hainlin – so sah er fast nichts vom Schiffe, nur grüne Wasserfläche [384] und die Ufer, die sich wie Teiches-Gestade ausnahmen. Das machten die Windungen des Stroms. Da sie das Uferbild fortwährend verschoben, sah es aus, als ob vor dem nahenden Schiffer das Ufer zurückweiche.

»Ihr habt recht!« lächelte er wehmütig – »meinem Glastelfingen darf ich nicht nahe kommen – nur schauen will ich, nicht begehren! Klarer Spiegel sein, geistig lieben! Das allein heißt teilhaben am Ewigen ...«


Mein Auge träumt. Auf glattem Teiche gleitet Mein Segelkahn, Dem Abendhauch die Schwinge hingebreitet, Als wär's ein Schwan.

Die Ufer grün und blumig – Hügel blauen – Rings Duft und Glanz, Als wöbe bunt ein Volk von Elfenfrauen Den Schleiertanz.

In Staffeln klimmt die Rebe – Schattenlauben Bergan geschmiegt. Um Dorf und Turm ein Silberblitz von Tauben, Im Kreis gewiegt.

Zur Hürde ziehn die Herden von der Halde – Purpuren blinkt Ein Fensterlein: mein Märchenschloß am Walde Es winkt mir, winkt.

Ich komme! Schwill nun, Segel! Sei mir Flügel! Es gilt mein Glück! Schon naht der Kahn – da ziehn die Uferhügel Sich scheu zurück.

[385] Und will mein Arm erhaschen, sie entgleiten Wie Traumgebild – Und ach, mein Heimweh nach den Wunderweiten Bleibt ungestillt!

»Du stillst es, wenn du still bist!« lächeln milde Die Uferhöhn – »Daheim in deiner Tiefe blühn Gefilde Wie Eden schön.

Sei du ein Teich! Die Unrast all versunken In kühler Flut! O selig, wer von heilger Ferne trunken Im Schauen ruht!«

[386] Volksversammlung

Aus den beiden ersten Jahren, die Hainlin in Berlin zubrachte, verlautet in seinen Papieren, daß er an seinem Werk über Musik arbeitete, insbesondere über Zusammenhänge zwischen Kunst und Ethik spekulierte. Auch werden Eindrücke geschildert, die der Spaziergänger von Straßenbildern erhielt und Typen des Volkslebens: märkische Landschaft, brausende Kieferforste, Sandhügel, große Seen.

Dann taucht Burdinski wieder auf. In Zürich ist er gewesen, in Wien, Prag. Arbeitet nun in einem Schusterkeller der Schönhauser Allee, ist Mitglied des Fachvereins für Schuhmacher, interessiert sich für Arbeiterfragen und besucht volkstümliche Wissenschaftskurse des Handwerker-Vereins. Zu einem Einzelvortrag, den hier ein Oberlehrer hielt, war Hainlin mitgegangen, und dieser rednerische Versuch über den kulturellen Beruf des Mittelstandes war eben erledigt. Mit geschwungener Glocke eröffnete der Vereinsvorsitzende die »freie Aussprache«, wie er's nannte. »Ich bitte ums Wort,« rief ein hohlwangiger Mann. »Name, Stand, Wohnung!« forderte der Polizeileutnant, der mit einem Schutzmann beim Vorstandstisch saß, die Versammlung zu überwachen.

Ein Tischlermeister war der Mann, abgespannt und sorgenvoll, wie einer, der hart zu ringen hat. Er sprach wie ein gebildeter Mensch: »Der Mittelstand ist ein ins Meer vorspringender Felsen, den die Brandung von zwei Seiten zermürbt. Rechts [387] ist es das Großkapital, das uns Handwerksmeistern zusetzt – mit dem können wir auf die Dauer nicht konkurrieren – unsere Produkte fabriziert es zu billig, im Großbetrieb. Von links aber drangsalieren uns die Lohnarbeiter mit ihren Forderungen. So ist unsere Lage – begeistern kann sich unsereins nicht dafür. Sie ist ein Verhängnis, und das geht weiter. Bald kommen bloß noch zwei Wirtschaftsparteien in Betracht: Kapital und Arbeit. Die kämpfen den Entscheidungskampf, und wir Handwerksmeister sind die Opfer – so oder so. Wir sind eine Armee, die umgangen wird, zweiseitig, von einer Zange gefaßt – wie die Franzosen bei Sedan – wir werden dezimiert, wir müssen kapitulieren – und das ist der sogenannte Kulturberuf des Mittelstandes.« – Dies Schicksalsbild verfehlte nicht seinen Eindruck auf die Hörer – gepackt schwiegen sie, dann brach Beifall los.

Ein neuer Redner trat auf den Plan, ein hagerer Mann mit Künstlerhaar, das rasierte Gesicht faltig, eine rote Nelke im Knopfloch. Obwohl er Kneifer trug, brachte er das Papier, nach dessen Notizen er seinen Vortrag einrichtete, zuweilen dicht an die Augen. »Redakteur Teichmann,« nannte ihn der Vorsitzende. Der Polizeileutnant schien ihn zu kennen, er fragte nicht nach seiner Wohnung. »Was wir soeben gehört haben,« sagte Teichmann träumerisch, »ist der Schwanengesang des bürgerlichen Handwerks. Richtig erkannt sind die beiden Sozialmächte, zwischen denen es zermürbt wird: der Kapitalismus und die Proletarisierung. Bloß daß der Vorredner nicht sieht, auf welche Weise sich der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit lösen ließe.« Teichmann skizzierte nun in marxistischem Sinne die Wirtschaftsordnung des Kapitalismus und schloß: »Der soziale Mißstand, den ich hier in knappem Umriß zeige, läßt sich radikal nur dadurch beseitigen, daß das Kapital aufhört, wenigen zu gehören, daß es in Gemeinbesitz übergeht. Dann [388] erhält der Arbeiter den vollen Ertrag seiner Arbeit, nicht bloß einen Hungerlohn.« Teichmann hatte tastend gesprochen. Offenbar aus Rücksicht auf den überwachenden Beamten. Dieser hatte eifrig Notizen gemacht und an einer Stelle gestutzt, als glaube er, den Redner unterbrechen zu sollen. Aber dieser war zu vorsichtig, um sich eine Blöße zu geben, und im rechten Moment, nachdem er seine Hauptsache gesagt hatte, hörte er auf. Mit Spannung war die Versammlung ihm gefolgt, und er hatte die Hochachtung selbst solcher, die nicht sozialistisch dachten.

»Das Wort hat Herr – Edgar Neumann, Studiosus der Chemie.« Den Namen las der Vorsitzende von einer Visitenkarte. Ein hochgewachsener junger Mann, stahläugig, mit dunklem Kraushaar und Bärtchen auf der Oberlippe. Die Stimme frisch und keck: »Der vorletzte Redner – ich meine den Herrn Tischlermeister – hat den Mittelstand bloß von zwei Seiten betrachtet. Jedenfalls aber hat der Felsen, der ins Meer ragt, nicht bloß zwei Flanken, sondern noch eine Vorderseite und, was wichtig, eine vierte Seite: den Zusammenhang mit dem Festlande. Die Front muß jedenfalls bedacht werden: die Brust des Felsens, gegen die das Meer anstürmt. Diese Front richtet sich gegen den äußeren Feind; der Franzmann zum Beispiel bleibt unser Erbfeind, weil er Rache schnaubt. Er kann mal durch Bündnis mit anderen Feinden unseres Vaterlandes gefährlich werden. Schon deswegen müssen wir einig bleiben und stark. Sollte aber, im Zusammenwirken mit dem Erbübel Deutschlands, seiner Uneinigkeit, der äußere Feind dereinst Gewalt über Germania erringen, dann gnade Gott sowohl dem Mittelstand als auch dem Proletariat! Alsdann würde unser Volk in all seinen Schichten Sklave des Besiegers ...« Der Redner, der mit Leidenschaft sprach, wurde unterbrochen, weil etliche »Oho!« riefen. Schlagfertig war seine Erwiderung: »Wer 's nicht[389] glaubt, kennt einfach die Lehren der Geschichte nicht, die ja allenthalben zeigt, daß ein Sieger, der nichts mehr zu fürchten hat, seinen Sieg rücksichtslos aus beutet ...« Hierauf rief jemand: »Fünf Milliarden!« Diesen Stich wußte der Student zu parieren: »Die fünf Milliarden, die Frankreich zahlte, sind eine bescheidene Kriegsentschädigung – schon hat sich Frankreich erholt von diesem Aderlaß.« Die Versammlung murmelte zwar, schien aber dem Redner nicht unrecht zu geben. Und der sprach weiter: »Nachdem ich Ihr Aufmerken auf den äußeren Feind gerichtet habe, auf die Vorderseite des Felsens, der ins Meer ragt, komme ich auf die vierte Seite zu sprechen: auf seinen Zusammenhang mit dem Festlande. Wenn dieser gelockert wird, bricht der Fels ab und stürzt in die Brandung. Darum sollen wir, und nicht zum mindesten Sie, ehrenwerte Handwerksmeister und Gesellen, treu darauf bedacht sein, daß der Halt, den unser Volk noch hat, nicht untergraben werde. Dies Bollwerk in den Stürmen von vorn, von rechts, von links ist unserStaat, ist das einige Deutschland: unsere kaiserlich gekrönte Germania mit Schild und Schwert.«

Obwohl das Händeklatschen, das hier einsetzte, den Erfolg des Redners vollenden wollte, ließ er sich noch zu Worten hinreißen, die einen Umschlag der Stimmung herbeiführten: »Die Rücksicht auf Deutschlands Halt ist die leitende Idee des Mannes, den die Weltgeschichte zum Hüter unseres Vaterlandes bestellt hat – ich meine den Eisernen Kanzler. Seine Politik ist zu verstehen, wenn man seine Grundidee erfaßt. Daran freilich lassen es Bismarcks Feinde fehlen – die Parteien der Linken, die Fortschrittler und Sozialisten – verblendet von den Träumereien internationaler Demokraten und roter Utopisten.« Murrend widersprach ein Teil der Versammlung. »Doch, meine Herren, so ist es! Unsere Linkser – von Eugen Richter bis zu Johann Most – versündigen sich an [390] Germania, insofern sie ausländischen Fahnen nachlaufen ...« Einer rief »Oho!«, ein anderer schlug mit der Faust auf den Tisch: »Beweise!« Die Glocke des Vorsitzenden mahnte zur Mäßigung. »Sie wollen Beweise? Als ob die Ideale der Linken nicht undeutsch wären! Jüdisch sind sie!« – »Hört, hört!« – »Und aus Frankreich, England, Amerika stammen sie! Meinen unsere Liberalen denn nicht die Handels- und Ausbeuterfreiheit von Manchester? Die Gleichmacherei mit der Jakobinermütze? Jawohl! In die Schlagworte und bunten Lappen der französischen Revolution ist der blonde Michel vernarrt – darum hat Bismarck recht, wenn er mal die Rute nimmt und dem unartigen Michel eins drauf gibt ...« Hier erscholl der höhnische Zwischenruf: »Ausnahmegesetz!« Und der Student griff ihn auf: »Ja natürlich, Ausnahmegesetz! Wenn Michel in Gefahr ist, sich zur Meuterei verführen zu lassen, dann hat er sich das Ausnahmegesetz selber zuzuschreiben – verdient nichts anderes als die Karbatsche ...« – »Pfui!« schrien etliche, von ihren Sitzen aufspringend – die Versammlung war ein Brausen und Zischen – und schon hatte der Polizeileutnant drohend seinen Helm aufgesetzt, als es dem Vorsitzenden gelang, die Ruhe wiederherzustellen. Nicht durch das Gellen der Glocke, sondern indem er durch Zureden den heißspornigen Studenten zum Abtreten veranlaßte.

Burdinski war zur Tribüne gelaufen, und jetzt erklärte der Vorsitzende: »Ich muß die Anwesenden, Redner und Zuhörer, dringend ersuchen, hier nicht maßlos aufzutreten. Gereiztheiten sollen unbedingt vermieden werden – im übrigen hat hier jeder Standpunkt das Recht, sich frei auszusprechen ... Gemeldet hat sich der Schuhmacher Burdinski, Schönhauser Allee.«

»Mäine Herren! Eine unselije Wendung hat die Diskussion jenommen – indem der Herr Student, der sonst läidlich [391] jesprochen hat, schließlich aufs Ilattäis des wildesten Partäizwistes jeraten is. Das Ausnahmegesetz hat er beschönicht – un dabei is er – wie's jar nich anders kommen konnte – ausjerutscht un hinjeschlagen. Quittung darüber hat ihm die Versammlung ertäilt mit ihrem Zischen. Aber ouch was der Vorsitzende eben jesagt hat, is ne Abfertijung unseres Bismarck-Schwärmers, obwohl vielläicht ne unwillkürliche. Hier hat jeder Standpunkt das Recht, sich fräi auszusprechen – hat er jesacht. Ja, das Manschenrecht hat er, aber nich hat er das Recht als Staatsbürjer! Das is ja ebent der Jäist des Ausnahmegesetzes – vielmehr die jäistlose Brutalität ...« Nervös läutete der Vorsitzende: »Ich muß den Redner ermahnen, nicht so leidenschaftlich ...«

»Die Läidenschaft« – fuhr Burdinski ruhig fort – »is nich auf mäiner Säite, sondern bei jenen, die nich an den häilijen Jäist jlauben, der uns in alle Wahrhäit läiten soll, sondern an die rohe Faust! Bismarck, der wie sein Käiser für den christlichen Staat schwärmt, sollte doch den Rat beherzijen, den Jamaliel im Konzil der Schriftjelehrten zu Jerusalem jab, als man die Lehre des Varchpredijers mit dem damaligen Ausnahmejesetz niedermachen wollte. Wenn diese Bewejung – erwiderte Jamaliel – bloß ne Mache irrender Manschen is, wird sie von salber unterjehn, ohne daß wir nötich haben, Jewaltmittel anzuwenden. Sollte sie aber – was doch der Fall säin könnte – aus Jott stammen, so werden eure Scherjen un Schranken dajejen nichts ousrichten. Un so wende ich jetzt Jamaliels Rat auf unsere Zäit an: Laßt doch dem Jäist sein Recht! Fortschräiten kann er bloß auf die Jefahr hin, ouch mal irrezujehn. Mit brutaler Jewalt läßt er sich nich jängeln. Denn die Jedanken zerbrechen die Schranken der Tyrannäi – die Jedanken sind fräi!«

Lautlos gefesselt war die Versammlung, leuchtende Augen hingen am Redner, und jetzt entlud sich die Spannung in einem [392] tosenden Beifall, der aus dem Herzen kam. Burdinski war aber noch nicht zu Ende. »Mit säiner Polletik, die unter dem Schutz der in Waffen starrenden Jermania Millionäre züchtet, hat Bismarck vielläicht Erfolch – schäitern aber muß, was den Idealismus verjewalticht. Un wenn die Polletik mit Blut un Eisen den döitschen Michel schließlich zu nem Blut- un Eisensklaven macht ...«

Da sprang der behelmte Polizeileutnant entrüstet auf und donnerte im Kasernenton: »Laut Paragraph Neun des Gesetzes vom Oktober 1878 erkläre ich die Versammlung für aufgelöst!« Einen verächtlichen Blick warf Burdinski der Polizei zu und ging an seinen Tisch, zu Hainlin, der aufgesprungen war. »Pfui!« schrien viele – »Nieder mit der Blut- und Eisensklaverei!« – »Alles hat den Saal zu verlassen!« kommandierte der Polizeileutnant und gab dem Schutzmann eine Weisung, worauf dieser von der Tribüne hinunter in den Saal ging und barsch auf die Menge einredete. Um den Redakteur mit der roten Nelke drängten sich grimme Männer mit Schlapphüten und stimmten die Arbeiter-Marseillaise an: »Wohlauf, wer Recht und Freiheit achtet – zu unsrer Fahne steht zu Hauf – ob auch die Lüge uns umnachtet – bald steigt der Morgen hell herauf. Marsch marsch – marsch marsch!« Ein junger Heißsporn, bleich, mit rotem Schlips, stand auf dem Tisch und krähte: »Hoch die rote Republik!« War aber kaum heruntergesprungen, als ihn der Schutzmann in den Klauen hatte. Ein Knäuel von Männern umschlang die Gruppe, man protestierte wild und suchte durch Drängelei den Verhafteten von seinem Häscher zu trennen. Doch der stämmige Schutzmann, der sein Opfer mit beiden Fäusten am Bruststück des Rockes gepackt hielt, ließ nicht los, obwohl er von der Menge seitwärts in die Saalecke gedrängt wurde. Es sah aus, als ob nach einem Schiffbruch die Brandung ein Brett, [393] an das sich ein Mensch verzweifelt klammert, mit hochgebäumter Woge in eine Nische der Küstenklippe schleudert, von dort etwas rückwärts flutet, um aufs neue das Brett mit dem Angeklammerten an die Klippe prallen zu lassen. Der arme Schutzmann, dem die Rippen krachten, hatte den Verhafteten nicht festhalten können – diesem öffnete die Menge sofort eine Gasse, durch die er entsprang. Der Polizeileutnant auf der Tribüne war bleich – tat, als sähe er die Szene nicht – kam dann heruntergelaufen, doch nur, um die Leute, die am Ausgang des Saales zögerten, zu flotterem Gehen zu ermahnen.

Was aus der Sache noch wurde, warteten Burdinski und Hainlin nicht ab. Draußen, in der Sophienstraße, staute sich die Menge – ihre Aufregung wurde neu angeregt durch Schutzleute, die im Laufschritt nahten. »Da sehn Sie, was die von Ihnen jepriesene Polletik anrichtet!« sagte Burdinski zum Studenten Neumann, der zufällig vor ihm stand. Stutzig schaute der drein und erwiderte aufgeregt: »Herr Burdinski, ich stehe Ihnen als Zeuge zur Verfügung – Sie haben nichts gesagt, was eine Auflösung rechtfertigen könnte – ein Mißverständnis des Polizeileutnants liegt vor – Sie haben bloß gesagt: Wenn die Politik mit Blut und Eisen den deutschen Michel schließlich zu einem Blut- und Eisensklaven macht. Das ist keine Kanzlerbeleidigung, ist auch kein Verstoß gegen das Ausnahmegesetz. Ich habe Ihre Worte stenographiert – hier ist meine Visitenkarte.« Da Neumann diese Erklärung mit lauter Stimme gab, und da Burdinski ohnehin Aufsehen machte, so hatten sich Leute angesammelt. Aber Hainlin bat sie, auseinanderzugehen, und raunte Neumann zu: »Auf dr Gaß da kann mr net dischkutiere. Wenn die Herre noch mitnander zu rede hänt, na ganget mr in e stilles Lokal!«

[394] Zum fidelen Bierhuhn

Neumann, eine germanische Gestalt mit keckem Gesicht, das durch einen Schmiß gezeichnet war, übernahm die Führung in eine Weißbierkneipe, »Zum fidelen Bierhuhn« benannt. Vollgequalmt war sie und hauptsächlich von Studenten besucht. Flotte Kellnerinnen bedienten, trällerten oder plauderten mit den Gästen. Auf unpolierten, gescheuerten Tischen standen Glashumpen mit dem goldigen Weißbier.. Für gewöhnlich tranken ein paar Tischgenossen aus dem gleichen Kübel. Mancher, dem das Gebräu zu sauer oder zu dünn war, nippte dazu ein Gläschen Pfefferminz- oder Kümmelschnaps. Es gab auch Lichtenhainer; Hainlin kannte bereits dies harmlose Gesöff, das nach seiner Meinung wie geräucherte Buttermilch schmeckt; man trinkt es aus hölzernen Deckelkannen.

Neumann, von den Kellnerinnen wie ein Stammgast begrüßt, steuerte auf einen Tisch los, der soeben frei wurde, lud Hainlin und Burdinski ein, Platz zu nehmen, und setzte sich nebst seinem Leibfuchs, wie er den jungen Studenten nannte, der ihn begleitet hatte. Die beiden bestellten Lichtenhainer nebst Kümmelschnaps, Hainlin und Burdinski je ein Glas Lagerbier. Und dann sahen sie sich um. Vom Qualm, den die Studenten aus Zigarren und langen Pfeifen pafften, war das ganze Bild umnebelt. Fast jeder Tisch besetzt von Karten- und Würfelspielern, die sich aufgeregt gebärdeten und Kraftausdrücke liebten. Aus [395] Lederbechern wurde geknobelt, es rasselten und klapperten die Würfel, Skatkarten wurden knallend auf den Tisch gehauen, als wäre hier eine Reiterschlacht.

»Michel, meinhe – herrlicher Held!« krächzte eine kurzatmige, greisenhafte Stimme, ein Buckliger kam auf Neumann zugetorkelt. Daß er Student war, zeigte das bunte Band auf seiner Weste. Die schwimmenden, etwas listigen Augen hinter dem schief sitzenden Kneifer, das schlaffe, bleiche Gesicht, das süßliche Lächeln unter dem dünnen Schnurrbärtchen verrieten, daß er widerstandslos im Kneipendusel trieb. Die kurze, wenn auch langbeinige Gestalt suchte er hochzurecken und seinen Buckel durch den locker hängenden Gehrock zu bemänteln.

»Mein Name is Hildebrandt,« stellte er sich vor, Neumann fügte hinzu: »Vulgo Perkeo!« Der Bucklige war, um sich anzuvettern, einer unterwürfigen Höflichkeit beflissen und einer Witzelei, die durch Augenzwinkern und meckerndes Gelächter noch gehoben werden sollte. »Michel,« raunte er Neumann zu, unter bewundernden Blicken – »sei mein rettender Engel! Die Rauhbeine drüben wollen mich besoffen machen – un es fehlt nich viel, so bin ich's. Aber Schna – Schnaps, den mag ich heut nich mehr – es sei denn, daß mir Michel – mein herrlicher Held, ein Glas Lu – Luft spendiert – mähähä!«

»Dicke Emmi!« rief Neumann, »einen großen Pfefferminz – für unseren Perkeo!« Wie dies Wort laut wurde, stimmte eine skatende Gruppe das Lied an: »Das war der Zwerg Perkeo – im Heidelberger Schloß ...«

»Maul jehalten, Füchse!« schnauzte der Bucklige, und wie Emmi den Schnaps brachte, legte er schmachtend seinen Arm um die aufgeschwemmte Kneipenschönheit: »Versüße mein Feuerwasser, indem dein Rosenmündchen – mähä – davon nippt!« – Emmi lachte dumm, leerte das Glas auf einen Zug – und holte [396] ein neues. »Dazu 'n Lichtenhainer!« rief ihr der Bucklige nach – »ach ja, Michel, ich muß mich nüchtern saufen – von morjen ab heißt's Pandekten büffeln. Mein Alter hat mir Ultimatum jestellt – wenn ich bis dahin nich meinen Referendar jedeichselt habe, zieht er seine Hand von mir ab ... Auf Ehre, Michel! Brauchst nich zu jrinsen! Wetten, daß? Uebrijens, wo kommste her?? Siehst so politisch aus. Haste wieder 'ne Philippika jeschwungen in der Volksversammlung? Immer feste, Mensch! Schaff' uns den Mosaik vom Halse! Diesen – Fremdkörper in Jermanias Leibe ... Nich gelächelt, Herrschaften! Esis so! Wir Jermanen ...« Hier brach er seine Rede ab, weil er selbst im Dusel merkte, wie an Nachbartischen gefeixt wurde über den Rassenstolz des buckligen Schwächlings. – »Hätten wir recht viele deines Schlages,« erklärte Neumann, – »ja dann wäre unser Germanenvolk fein raus – Prost, Perkeo!« Ins hohle Gelächter der nächsten Tische stimmte der Bucklige sauer ein: »Mähähä!« Gleich darauf erhob er sich und wankte mit seiner Holzkanne zu einer Kartenspielergruppe.

Raunend wandte sich Burdinski an Hainlin: »Was sollen wir hier?« Neumann hatte die Worte vernommen: »Warum nich auch mal mit den Wölfen heulen? mit den Schweinen grunzen, wie?« – »Na ja!« knurrte Burdinski – »es kommt drauf an, was man für Ansprüche macht. Mag sein, ich bin zu wählerisch.« – Neumann hielt es für geraten, diese geringschätzige Bemerkung des Schustergesellen zu überhören, und wandte sich an Hainlin: »Man will doch auch mal 'n bißchen ausspannen – he? sich gehen lassen!« – Hainlin zuckte die Achsel: »Wie mr's nimmt! Auf recht unterschiedliche Art lassen sich die Leute gehn. Wollen Sie diese Art begünstigen?«

»Ja un jlouben Sie,« setzte Burdinski mit Schärfe ein, »daß aus Döitschland was Tüchtijes wird, wenn die studierende [397] Jugend ihre Muße nich jäistvoller zu verleben wäiß als in Bier- und Schnapsdusel, bäi Knobelbecher un Kellnerinnenjesindel?« – »Ach was!« sagte Neumann stirnrunzelnd, »heulmeiern Sie nicht! Man muß diese Dinge mit Humor nehmen – nich mit Schulmeisterei!« – »Humor?« entgegnete Burdinski – »nennen Sie das Humor, wenn diese fidelen Bierhühner Stumpfsinn für Jugendglück halten? Sie sprechen von Heulmeierei – ich aber erkläre Ihnen: Was unser Vaterland zerrüttet, is dieSaufmeierei der tonangebenden Jugend un ihre faule Kraftmeierei, ja faule! Denn ihren Männerstolz kehren sie nach unten heraus, nich nach oben, vielmehr ducken sie sich vor ihren Vorjesetzten als jesinnungslose Streber. Auf die Juden wird jeschimpft. Na ja! Aber der Jude söift nich – un is käin Jewaltprotz.«

Neumann winkte ab und lächelte spöttisch: »Ereifern Sie sich nicht! Wenn der Jude nicht säuft, geschieht es einfach, weil er keinen Stiebel vertragen kann. Wir Germanen sind anders – wir begeistern uns gern ...« – »In der Knäipe!« warf Burdinski dazwischen. – »Alle Begeisterung is ne Art Rausch,« fuhr Neumann unbeirrt fort – doch Burdinski versetzte: »Aber Rausch noch käine Bejäisterung!«


*


Hainlins Aufmerksamkeit wurde plötzlich in Anspruch genommen durch einen Gast, der eintrat. Seine Gesichtsbildung erinnerte an Wendelin Flammer – nur daß die Augen hinter einem grauglasigen Kneifer versteckt waren und die Züge nichts Klares hatten, sondern etwas flackernd Unrastiges. War's Fieber oder Ausschlag, was Stirn und Wange rotfleckig machte? Als Hainlins Auge dem des jungen Mannes begegnete, schien dieser zu stutzen – vielleicht beunruhigte ihn der prüfende Blick. Er ging in die entfernte Ecke des Lokals, wo ein leerer Tisch stand, hängte[398] seinen Schlapphut an den Haken und nahm Platz. Ein paarmal lugte er verstohlen herüber. Hainlin überlegte, ob das Wendelin sein könne. Nein, das Alter konnte nicht stimmen – dieser Mensch mit dem gewölbten Rücken und schon gelichteten Stirnhaar mußte mindestens fünf Jahre älter sein als Wendelin. Jetzt ging die dicke Emmi trällernd auf ihn zu und reichte ihm die Hand.

»Herr Neumann,« sagte Hainlin, »würden Sie mir den Gefallen erweisen, die Kellnerin da drüben unauffällig zu fragen, ob sie den jungen Mann kennt, mit dem sie spricht? Er kommt mir bekannt vor.« Neumann nickte zustimmend, und wie jetzt Emmi kam, winkte er sie herbei: »Wer ist der junge Mann, den Sie eben begrüßten?« – »Der? Wir nennen ihn den Klosterbruder – det is 'n entsprungener Mönch

Hainlin fuhr empor und ging hastig auf den Menschen los. Auch dieser erhob sich, staunend streckten die beiden einander die Hand entgegen: »Wendelin!« – »Herr Kandidat! I han glei gstutzt – aber Ihr großer Bart ...« – »Auch du, Wendelin, bischt – arg verändert! Geht's dir gsundheitlich net guet?« – Wendelins fahles Gesicht errötete leicht, die matten, etwas entzündeten Augen hinter dem dunklen Kneifer flackerten wirr. Er zuckte die Achseln, stumm bebten ihm die Lippen.

»Setzen wir uns!« sagte Hainlin. Aber da stand Burdinski bei ihm, den Mantel an: »Willscht gehe? Also! Ond wenn dir ebbes Onannehmliches passiere sollt – wege der Auflösung, gelt, du? Na kommscht zu mir!« Burdinski ging.

Wendelin Flammer hatte sich derart gesetzt, daß man sein Gesicht nicht beobachten konnte – den Kneifer abgenommen – voll Tränen standen ihm die Augen. »Waas hascht?« fragte Hainlin bestürzt – und Wendelin schluchzte: »Oh – warum – warum han i net – Sie behalte dürfe, Sie als [399] väterlichen Freund? 's wär halt anders worde mit mir! Aber so einsam, so beistandslos wie onsereins hat müssen 's Leben führen.« Wendelin beugte sich ganz nieder. »Den Vatter han i net kennt, ond's Mütterle ischt au so früh gstorbe. Wer hat sich da unser ahngnomme? Dr Uli hat's Piale lieb ghätt – ischt mei Freund worde – ond Sie, Herr Kandidat, hänt Ihre Teilnahme für Uli auf uns übertrage. Was Sie Guets an mir ond an Pia tan hänt, dees kann i net sage, gschweige vergelte. Aber's Irdische hat net Bestand – so hänt Sie fortmüsse von Tübinge, ond oh, mei liaber Kandidat! Warum hat's Schicksal Sie von uns grisse! Menschliche Stumpfheit und Tücke ischt schuld. Die Guten werden vertrieben, nausgbissen von den Gemeinen – ond dees ischt mei Gram. An einen Herrgott droben kann i nimmer glaube! So bleibt mir nicks, gar nicks!« Verzweifelt schlug er die Hände vors Gesicht.

»Aber, Wendelin!« begütigte Hainlin, die Hand auf seinen Arm gelegt – »net so! Warum denn mutlos?« – »I tu mi schäme! Bin zu tief gsunke!« – »Du bischt der alte! Bischt mei braver ...« – Schmerzlich schüttelte Wendelin den Kopf: »Hihn ischt mei Kern! Verdorbe bin i an Leib ond Seel!« Schluchzend warf er den Kopf über die aufgelegten Arme – Hainlin bemerkte, wie dünn ihm das Haupthaar, wie hager der Nacken geworden war. Und obwohl er das Trostwort gesprochen hatte, Wendelin sei der alte, empfand er mit Erschütterung, daß aus dem frischen, reinen, mädchenhaft hübschen Knaben ein verwüsteter Schwächling geworden war.

Da jetzt Neumann kam, rüttelte Hainlin den Zusammengesunkenen: »'s kommt ebber! Laß di netgehe'!« Das half, Wendelin richtete sich auf. Neumann wollte sich bloß empfehlen – es geschah in kurzer Höflichkeit. Und nun konnten die Tübinger Freunde ihre Aussprache fortsetzen: »Wendelin! Ist es[400] wahr, was die Kellnerin sagt, du seiest im Kloster gewesen und entsprungen?« – »Der Ausdruck ist zu romanhaft – i bin halt gange, ond jetzt leb i weltlich.« – »Wie denn? Wovon?« – »Als Korrektor für en wissenschaftlichen Verlag – lateinische, griechische, mathematische Werke tu i korrigiere. Werd net grad schlecht bezahlt – nur daß die Arbeit meine Augen ahngriffen hat und meine Nerven – i leid an Sehstörung und Kopfschmerz – der Arzt meint, e Badekur würd mir gut tun. Etwa in Aachen. Da könnt i zugleich auf dem Polytechnikum studiere, gelt? Bloß schad, daß i aus'm Kloschter ohne Abschluß-Prüfung fort bin! Um net bloß Hörer, sondern Studierender zu sein und später 's Staatsexamen machen zu können, muß mr's Abiturium haben. Ja, wenn sich dees noch jetzt schaffe ließ! Zom Pauken aber langt mei Kraft net.«

Wendelin goß den Schnaps, den die Kellnerin gebracht hatte, auf einen Zug hinunter. Und schwermütig abwinkend: »I han koi Lebensmuet. Verpfuscht bin i, 's Kloschter hat mi verdorbe. Da tut mr den Zögling gängele. Weh ihm alsdann, wenn er den Sprung ins Freie wagt! In die Welt tut er net passe, ond im Kloschter hat er's Daheim verlore. I weuß net, soll i zum Himmel halte oder zur Erd. Net Vogel bin i, net Maus – bin e Fledermaus, wo bei Tag sich verkriecht, nachts aber umhergeischtet – bloß daß bei mir der Geischt nicks mähr taugt – e Ruine bin i! Net mal, daß i die Kraft hab, meine jetzige Berufsarbeit zu tun – nachlässik bin i, verlottert – an Schlaffheit leid i, verrückt bin i, nicks bin i!« Und den Kopf in die Hand gestützt, brütete Wendelin ratlos vor sich hin.

Daß es an der Zeit sei, die Aussprache für diesmal abzubrechen, bekundete die Situation, die jetzt im »Fidelen Bierhuhn« Platz griff. Nach der Melodie »Heil dir im Siegerkranz« gröhlten seßhafte Kneipbrüder »Wir konzentrieren uns« [401] – um den runden Mitteltisch nahm man Platz und suchte die Widerstandskraft gegen den Alkohol noch einmal aufzupeitschen, indem man schneidig anstimmte: »Und wenn sich der Schwarm verlaufen hat um die mitternächtliche Stunde.« Unter Gelächter wurde eine Gestalt emporgehoben, samt dem Stuhl, auf dem sie saß: der bucklige Perkeo. In Erhabenheit, den Tisch zum Sockel, thronte er als Mittelpunkt seiner Sippschaft. In der herabhängenden Rechten die Holzkanne, aus der die Neige troff, weidete er sich am Ringelreihen, den die Studenten mit den Kellnerinnen um ihn drehten: »Das war der Zwerg Perkeo im Heidelberger Schloß,« ging der Gesang, und der Bucklige, dem einer sein Schnapsglas reichte, hob es mit blödem Lächeln und lallte: »Wärt ihr wie ich doch alle feuchtfröhlich und gescheit!«

[402] Im Kloster

Vor dem Hause, wo Hainlin wohnte, verabschiedete sich Wendelin, mit dem Versprechen, an einem der nächsten Abende zu kommen und alles übrige zu berichten. Doch er blieb aus, eine Woche, zwei Wochen – nun dachte Hainlin: Kommt der Berg nicht zu Mohammed, so soll dieser halt zum Berge gehn. Als seine Wohnung hatte Wendelin angegeben: Institut für Kirchenmusik – mit einem Musikstudenten zusammen wohne er beim Hausmeister.

Als Hainlin in dem Gebäude nach Flammer fragte, lud ihn der Musikstudent zur Aussprache ein und sagte, Flammer wohne nicht mehr in Berlin. Sein Onkel, der Kaplan, sei verstorben und Wendelin zum Begräbnis gereist. Habe auch mit der Erbschaft zu tun, die auf ihn gefallen sei. So habe Flammer nun die Mittel, Mathematik an einer Hochschule zu studieren. – »Nun kommt er doch wohl noch auf seine Höhe,« sagte Hainlin, fügte aber, als der andere wie ein Zweifler aussah, hinzu: »Oder meine Sie net

Achselzuckend sagte der Musikstudent: »Nur der Arzt könnte Entscheidendes sagen.« – »Sie halten Wendelin für ernstlich krank? I muß allerdings gestehe, daß i verschrocke war, als ich ihn neulich wiedersah – er machte den Eindruck, als ob er zehn Jahre älter wär ond obendrein zerrüttet.« – »Das ist er auch. Sein Blut ist vergiftet. Er trinkt scharfen Alkohol, und zwar im Uebermaß. Seine Zigaretten macht er aus türkischem Tabak, der Opium enthält. Und in Berlin war er intim mit [403] einem kranken Frauenzimmer – einer Kellnerin im Fidelen ...«

»Ha, um Gottes Wille!« unterbrach ihn Hainlin bestürzt. »Mein Wendelin? Diese keusche Blüte?«

»Ja, das war er! Damals als er aus dem Kloster kam, war er noch unverdorben – benahm sich wie Parsifal, der reine Tor.«

»Bitte, schildern Sie mir, wie er diese Jahre gelebt hat! Können Sie das?« – »Ja! Er hat mir's ausführlich erzählt.«

Und wie ein beschworener Geist stieg Wendelins Knabenzeit aus der Versunkenheit herauf.


*


Auf dem Bergfriedhof war Pia zu Grabe getragen. Ein paar Tage drauf hatte Wendelin das Erdhüglein besucht – es war besteckt mit weißen Papierblumen, in der Mitte ragte ein hölzernes Kruzifix. Wendelin war freudig gerührt über diese Fürsorge, die ein Unbekannter dem Grabe gewidmet hatte. Und fragte sich: Was nun schenk' ich meinem Piale? Weinend zog er den Rosenkranz hervor, den die Sterbende ihm vermacht hatte. Da kam es ihm vor, als raune Pia ihm zu, er solle in die Kapelle gehn zur Mutter Gottes.

Wie er da kniete, vor dem Bilde der Schmerzenreichen, fühlte er sich entrückt übers bange Erdendasein und sehnte sich, seine arme Seele ganz der Himmelsliebe hinzugeben. Und plötzlich kam ihm der Wunsch, zu leisten, was Pia hatte leisten wollen: im Kloster die Schuld schwacher Menschen löschen zu helfen. Ja, das sollte seine Gabe für Pia sein, zugleich sein Beitrag zur Entsühnung der Eltern, die das gefährliche Beispiel eines ungeweihten Liebesbundes gegeben hatten.

Wie ein erneuter Mensch kam er sich vor, als er die Kapelle verließ und abermals an Pias Grabe stand – es war, als ob sie ihn dankbar anlächle. Ueber die Mauer des Friedhofs spähte er ins Weite – hinter des Schwarzwalds blauem Gewoge [404] ging blutig die Sonne unter. Wendelin seufzte nach dem Abendfrieden der Seele, nach einer Beschaulichkeit, wie sie in weltentrückter Einsamkeit zu finden. Ein Kloster, wie er's in Bebenhausen geschaut hatte, konnte ihn locken – obwohl sein Verstand nichts vom Kirchendogma wissen wollte. Was er meinte, vertrug sich im Grunde mit seinem Freidenkertum. Eine Mystik war's, die auf Ewigkeits-Schau zielte. Immer noch trug er sich mit der Vorstellung, auf der Spitze des Glasberges sei ein riesenhafter Kristall, der das Weltall spiegele in mathematischer Klarheit und Folgerichtigkeit. Solche Beschaulichkeit hoffte Wendelin im Kloster zu finden.

Als das Ave-Läuten der Kapelle verhallt war, begab er sich nach Wurmlingen zum Onkel Gastwirt und eröffnete ihm feierlich seinen Entschluß, ins Kloster zu gehen. Die Familie hatte dafür nur Zustimmung und Ehrerbietung – die Nachbarschaft, das ganze Dorf sah im jungen Flammer einen Himmelskandidaten. Und wenn ihn Zweifel anwandelte, ob er sich nicht vorschnell entschlossen habe, glaubte er an seine Erklärung gebunden zu sein; er fürchtete das spöttische Lächeln der Leute, falls er nun doch weltlich bliebe.

Onkel Kaplan hatte einen Bekannten, der eine Klosterschule leitete, ein Juvenat, wo Ordenspriester ihre erste wissenschaftliche Vorbereitung erhalten. Es war allerdings fern gelegen, in einer holländischen Ortschaft bei Aachen. Doch in der Anstalt waren fast lauter Deutsche, und Deutsch war die vorherrschende Sprache.

Wendelins Gesuch um Aufnahme wurde genehmigt – als Juvenist trat er ein. Die phantastischen Erwartungen, mit denen er gekommen war, erhielten schon insofern einen Dämpfer, als das Kloster keine Spur von Romantik hatte, sondern nach einer Fabrik oder Kaserne aussah. Der Pater Direktor war [405] halb Feldwebel, halb pfäffischer Schleicher. Er ließ Wendelin fühlen, seine uneheliche Abkunft erwecke nicht grade Vertrauen, könne aber gesühnt werden durch besonders gute Führung.

Die Lebensweise der Juvenisten war hart, nach Vorschrift verlief jede Stunde. Wenn die Tür des Saals, wo die Jünglinge in eisernen Betten, getrennt durch Vorhänge, die Nacht durchschnarcht hatten, um Fünf aufgerissen wurde und der Befehl zum Aufstehn erscholl, ging allgemeines Gähnen und Seufzen los, dann ein Knarren der Bettstellen, Stimmengewirr, Poltern und Wasserplätschern. Dem Ankleiden folgten Gebet und Messe sowie einstündiges Studium. Dann erst kam Morgenkaffee und kurze Erholung. Der Klassenunterricht wurde von etlicher Körperbewegung unterbrochen. Mittags nach dem Beten erfolgte das Essen im Speisesaal, wobei Erbauliches vorgelesen wurde. Nach kurzer Körperarbeit und einem Rosenkranzbeten kamen Nachmittagsunterricht und eignes Studium. Das Abendessen war natürlich wieder mit geistlichem Wesen verquickt, und der Tag schloß mit Heiligenlegenden, Beten und Gewissenserforschung.

Hatte Wendelin schon das Tübinger Gymnasium für simpel gehalten, so kam ihm die Klosterschule geradezu stumpfsinnig vor. Hier herrschte abergläubisches Mittelalter, frei von Naturwissenschaft und modernen Ideen. In der Metaphysik hieß es: die Seele könne nicht anders als unsterblich sein, weil sie halt aus einem Stück sei. Das Menschenleben werde durch allerlei böse Dämonen gestört. In der Literaturstunde las man Schillers »Jungfrau von Orleans«, doch waren alle Stellen, die von Liebe handelten, durch Schwärzen unleserlich gemacht. Die Lehrer waren verknöcherte Priester ohne geistige Selbständigkeit. Mechanisch übten sie ihr Amt, wie überhaupt der Klosterbetrieb eine Maschine war.

[406] Eine Oase dieser Wüste bildete der temperamentvolle Pater Ambros. Leider war er nicht als Lehrer hier, nur als Gast, zur Erholung von einer Tropenkrankheit, die er sich in Holländisch-Indien geholt hatte. Hin und wieder durfte er den Bitten der Juvenisten willfahren und etwas aus seinem Leben erzählen. Er hatte den Insulanern im Stillen Ozean das Evangelium gepredigt und manches Abenteuer erlebt. Was er über die blaue See und das ewige Sonnenwetter, über die üppige Landschaft von Hawaii und die braunen Tropenkinder erzählte, erweckte in Wendelin eine Sehnsucht wie der Garten des Paradieses. Zuweilen, wenn er keine rechte Nachtruhe finden konnte, während im Schlafsaal das Schnarchen rasselte und alle Viertelstunde die Glocke klang, umgaukelten ihn Bilder der Südsee – es kam ihm vor, er sei da Missionar und Uli bei ihm. Traulich umschlungen, standen die Freunde auf einer Klippe, schauend über spiegelklare See.

Im Kloster hatte Wendelin keinen Freund und – durfte ihn nicht haben. War dem Zelator, dem Aufpasser, ein Juvenistenpaar der Zuneigung verdächtig, so erfolgte Anzeige, Strafe und Trennung der Verdächtigen. Sich anlächeln, einander die Hand drücken, miteinander flüstern war schon Sünde. Daß nun Wendelin keinen Vertrauten haben durfte, verödete sein Dasein, er wurde schwermütig. Sein leeres Herz suchte sich durch fromme Schwärmerei zu entschädigen. Heiligengeschichten und Erlebnisse der Mystiker rührten ihn mit Stimmungszauber. Gern weilte er unbeobachtet in der Klosterkapelle, kniend vor einer Madonna, die im Leide lächelte. Wenn der Novembersturm draußen um die Pfeiler brauste, schwelgte Wendelin in süßen Schauern, nach der ewigen Lampe lugend und den stillen Kerzenflammen. Etwas Einlullendes hatten die engelhaften Knabenchöre, die dumpfen Männerstimmen, der Singsang der Gebete nebst den Chor-Antworten, [407] die wie Glockenläuten waren. Diese Region der gotischen Wölbungen und bunten Fensterscheiben, der vom Goldreif gekrönten Gestalten, der Wachskerzen und Weihrauchwolken schien aus dumpfer Gefangenschaft einen Ausweg zu verheißen, zu den heiligen Weiten der Ewigkeit. Das war Wendelins Trost.

Hinzu kamen Aufmunterungen, die ihm seine Arbeit einbrachte. In der Mathematik galt er als Genie. Wegen seines seelenvollen Orgelspiels war er dem Organisten als Vertreter willkommen und allgemein beliebt. Es wurde sogar geduldet, daß er an einem Werke schrieb – er nannte es »Psychophysik der Tonkunst«.

Pater Direktor hoffte mit diesem Lumen seines Klosters glänzen zu können. Eins indessen tadelte er an Wendelin: seinen Hang zur Selbständigkeit. Zu ducken suchte er ihn durch die typische Drohung: »Hochmut kommt vor dem Fall! Immer fein demütig!« Sein Ideal war die Ordensregel, ihr Symbol die Klosterglocke. Für jede Viertelstunde hatte diese einen Befehl, indem sie anschlug oder in besonderen Takten läutete. Wendelin aber fühlte sich durch die Ordnungssklaverei stumpf gemacht und hätte dies Leben wohl schon bald aufgegeben, wäre nicht Aussicht gewesen, das Schlußexamen zu bestehen und dann Missionar zu werden oder Professor – oder Pater in einem Orden, der wissenschaftliche Beschaulichkeit pflegt. – Daß es anders kam, ist nicht bloßen Zufälligkeiten zuzuschreiben, sondern der Kluft, die zwischen dem äußeren Leben der Klosterleute und ihren Neigungen klaffte. Wo das Verlangen nach Freiheit noch nicht alle Tatkraft verloren hatte, sann es auf heimlichen Ausweg.

In einer schwülen Augustnacht war Wendelin vom Schlagen der Glocke wach geworden und konnte nicht wieder einschlafen. Ihn folterte das Bewußtsein, kasernenhaft zu hausen mit all diesen Juvenisten, unter denen er keinen Vertrauten hatte. »Pia!« seufzte er – »mei Piale! Du hoscht's guet! Dein [408] Bettlein auf der Spitze des schönen Hügels ist jetzt überwölbt von blauer Unendlichkeit, da wimmeln Funkelsterne ohne Zahl.«

Die Vorstellung von der Milchstraße und den Sternschnuppen, die gerade in diesen Nächten flogen, regte Wendelin zu solcher Sehnsucht auf, daß er jetzt durchaus den Sternenhimmel betrachten wollte. Vielleicht – so dachte er – hat Pater Ambros, dem in dieser Woche die Inspektion obliegt, ein Flurfenster offen gelassen, weil's ja heute so heiß war – und dann könnt' ich dort die Sterne beobachten.

Im Bett aufgerichtet, lauschte Wendelin, ob nicht einer seiner Nachbarn wache. Da nur Laute festen Schlafes zu vernehmen waren, bekleidete er sich rasch und schlich auf Socken aus dem Schlafsaal. Die Fenster des matt erleuchteten Flurs waren geschlossen – doch als er die Treppe hinuntergegangen war, stand die zum Hof führende Haustür offen.

Hinausschlüpfend prallte Wendelin auf eine Kuttengestalt, die soeben eintreten wollte: Pater Ambros hielt ihn bei den Schultern. Ließ ihn aber frei, sobald er ihn erkannt hatte und an seinem Zittern spürte, wie erschrocken er war. »Wohin?« raunte der Pater; und Wendelin: »Ach, verzeihen Hochwürden! Heimweh han i ghätt nach dene Stern.« – »Was?« kicherte Pater Ambros und ahmte die schwäbische Mundart nach – »Heimweh nach dene Stern? I glaub, im Ländle bischt eher dahoim als drobe, gelt?« – »Dees scho, Hochwürden. Von Stuggart bin i – aber dahoim han i so gern die Sternle betrachtet ond Sternschnuppe,« stotterte Wendelin. Lächelnd sah ihm der Pater ins Gesicht und meinte gutmütig: »So komm, Sternguckerle!«

Sie gingen in den Klosterhof, von da in den Gemüsegarten. Zwischen den Beeten schritt der Pater voran – zu einem Gewächshaus an der Mauer. Hier nahm er Platz auf einer Bank [409] und gab Wendelin einen Wink, sich gleichfalls zu setzen: »Also! Erquicke dich an deiner Sternenheimat!«

Und sein Angesicht wandte Wendelin himmelan – sich weidend am unendlichen Gewimmel der Milchstraße. Als eine Sternschnuppe aufleuchtete, fuhr er mit dem Arm in die Höhe. Auch der Pater hatte sie gesehn: »Nun, Flammer? Was hast du eben gewünscht? Du weißt doch: Wenn gerade eine Sternschnuppe fällt, so geht der Wunsch in Erfüllung.« – »Ach, Hochwürden! Was i gwünscht hab, weiß i selber net. Aber nach der Südsee hätt i Sähnsucht – da möcht i braune Heiden bekehren – wie Sie's tan hänt, Pater Ambros.« – »Ha, mein Sohn,« schmunzelte Pater Ambros – »wärst du da, dich täten die braunen Heiden eher bekehren als du sie!« Wendelin stutzte, in diesem Worte war etwas Großzügiges wie in der Sternschnuppe. Uebrigens rührte ihn das trauliche Du, mit dem er, ein Juvenist der Oberklassen, von Hochwürden angeredet war.

»Du möchtest also zur Mission?« fuhr der Pater fort – »solltest dir aber die Sache nicht so reizvoll denken, wie sie sich ausnimmt, wenn ich erzähle. Es ist ein hartes Leben, man wird in ungesunde Gegenden geschickt, und an Heimweh wirst du da erst recht leiden. Sieh zu, daß du in deinem Vaterlande bleibst und etwas Rechtes wirst. Du bist zu schade zum Klostermann. Weshalb bist du überhaupt darauf versessen, geistlich zu werden? Vorsicht, Kind! Noch liegt dein Schicksal in deiner Hand. Bist du erst zehn Jahre älter, so bist du mönchisch verknöchert, hast nicht mehr Elastizität, aus Eigenem etwas zu werden. Nun sag mir auch: was ist es mit dem Werk über Tonkunst, daran du schreibst? Wie ich höre, ist es nicht bloß physikalisch, sondern auch philosophisch. Du brauchst also philosophische Literatur, wenigstens eine gute Geschichte der Philosophie. Hast du die? Was weißt du zum Beispiel von den Pythagoräern? Herzlich [410] wenig! Was in unserm braven Kompendium steht! Andere Bücher erlaubt Pater Direx natürlich nicht.«

Daß Ambros so keck sprach, ließ Wendelin stutzen, und dann gestand er, von Pythagoras nicht mehr zu wissen als den mathematischen Satz und etliches, was über seine Zahlenmystik gemunkelt werde – zum Beispiel, daß die Sternsphären harmonisch zusammenklingen, daß man diese Harmonie bloß deshalb nicht höre, weil sich unser Ohr daran gewöhnt habe – so wie der Müller das Geräusch der Mühle überhört.

Zustimmend erinnerte Ambros an den »Faust«-Vers: »Die Sonne tönt nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang« – und fügte spöttisch hinzu: »Solche Ketzerschriften sind hier natürlich verboten. Aber du mußt sie lesen, wenn du was Besseres werden willst als ein Klostersimpel ... Nun genug für diesmal! Jetzt wieder ins Bett! Und geschlafen wird jetzt, nicht gegrübelt! Bloß noch über einen Punkt steh' mir Rede: Wie denkst du übers Beichten? Ich meine, ob du dabei nach eigenem Gewissen verfährst, oder dein Gewissen hast herausoperieren lassen aus deiner Brust und dafür den Befehl der Vorgesetzten eingeführt hast? Kennst du das Märchen von der Nachtigall, die am chinesischen Hofe verdrängt wurde durch eine mechanisch konstruierte Nachtigall? Hier im Kloster ist man auch so chinesisch, hier waltet nicht Gott im Herzen, sondern starre Verordnung.«

Wendelin schwieg – er fühlte, daß der Pater ihn mahne, sich nicht willenlos vom Beichtvater bestimmen zu lassen. Und Ambros sprach weiter: »Ich mag nicht pfäffisch sein! Ich beichte nur, was zu beichten mein Gewissen mich drängt. Das andere geht den Beichtiger nichts an! Zum Beispiel werde ich nicht beichten, daß ich den Wendelin Flammer abgefaßt habe, wie er ging, die Sterne zu begucken. Diesen Verstoß gegen die Hausordnung – aus Heimweh nach den Sternen – halte ich [411] für keine Sünde. Und wie meinst du, Kind?« – »Genau wie Hochwürden!« sagte Wendelin aufatmend und neigte sich zum Kusse über des Paters Hand.

Als dieser mit ihm zurück zum Kloster ging, raunte er noch: »Wenn unsere heutige Begegnung unbemerkt bleibt und du Vertrauen zu mir hast, so steht es dir frei, mir mal eine Probe aus deinem Werke vorzulesen. Aber sei verschwiegen! Hat der Direx dein Manuskript schon gelesen? Nein? Das ist gut – er würde wohl auch wenig davon verstehen. Hüte dich, daß er dir nicht dazwischen fährt mit seiner Zensur! Ich an deiner Stelle würde zweierlei Manuskript anlegen: eins, das für ihn ist, und ein heimliches. Ich spreche aus Erfahrung, kenne Pfaffenart.«

»Aber, Hochwürden, dann sind Sie eigentlich ...« stammelte Wendelin. – »Eigentlich?« erwiderte der Pater – »ja eigentlich gehör' ich anderswohin. Bin auch bloß zur Kur hier. Sobald ich wieder rüstig bin, geh' ich heim nach Indien – ja, ich bin daheim bei Sternen, die aus den Veden leuchten – die Upanischaden tönen mir Sphärenharmonie.«

[412] Sternschnuppe

Menschenkenner war Pater Ambros – seine Warnung vor dem Direktor erwies sich als zutreffend. Als Wendelin an seinem Werke schrieb, blickte ihm plötzlich der Direktor über die Schulter und äußerte den Wunsch, das Manuskript der Arbeit zu lesen. Wendelin, der den Ratschlag des Paters beherzigt hatte, gab nun das Manuskript her, das er für diesen Zweck zurechtgemacht hatte. Nach ein paar Wochen brachte es der Direktor zurück und gab Wendelin auf, die rotangestrichenen Stellen umzuarbeiten; sie seien nicht in Einklang mit den Lehren der heiligen Kirche. Wendelin tröstete sich damit, daß die Sache leidlich abgelaufen sei. Das eigentliche Werk war dem Unratschnüffler ja verholen geblieben. Dies wollte er nun bei Pater Ambros in Sicherheit bringen.

Eine stürmische Herbstnacht war's, als Wendelin, unmittelbar nachdem Pater Ambros den Schlafsaal inspiziert hatte, aus seinem Bett in die Kleider schlüpfte und ein vorbereitetes Bündel unter die Bettdecke legte – einen Schlafenden sollte das vortäuschen. Die Vorhänge, die jedes Bett vom andern absperrten, begünstigten Wendelins Entfernung. Im Flur fand er Pater Ambros, der gewartet hatte, ob kein Zwischenfall eintrete. Nun schlichen sie zur hinteren Pforte. Durch die geöffnete Tür stürzte ein Windstoß herein, irgendwo im Kloster schlug eine Tür zu. Ambros fuhr zusammen, legte die Hand auf den Mund und horcht. Da nichts Verdächtiges erfolgte, gingen die zwei hinaus [413] und schlossen die Pforte. Der Sturm peitschte mit Regentropfen. Die Kapuze hochgezogen, schritt der Mönch durch den Garten voran, hastig zum Gewächshaus. Erst nahebei war zu merken, daß innen eine Laterne brannte.

Als Ambros gebückt und hinter ihm Wendelin eintrat – sie mußten etliche Stufen abwärts, weil das Gewächshaus halb in die Erde gegraben war – kauerten im Laternenschimmer auf Strohbündeln ein paar Gestalten. »Pax vobiscum!« grüßte Ambros, jene murmelten: »Et cum spiritu tuo!« Bruder Gärtner war's und ein Bruder von der Küche. Nachdem die Ankömmlinge Platz genommen hatten, wurde zunächst eine Schnupftabaksdose herumgereicht, später eine Kanne Klosterwein.

»Das hast du brav gemacht, Bruder Kellermeister!« rief der Gärtner fröhlich einem Kuttenmanne zu, der soeben ins Gewächshaus eingetreten war und mit einem frostigen »Huhu« den Regen abschüttelte. Die Kapuze hatte er übers Gesicht gezogen. Am Eingang verweilte er, ein Gewächs betrachtend, das ihn zu fesseln schien. – Ambros, der aus der Weinkanne einen Zug getan hatte, stöhnte behaglich: »Ha, das wärmt bei dem Hundewetter, und ich muß mich noch ein bißchen ans Gute halten, das es hier gibt – viel ist es ja nicht. Uebrigens könnte das mein Abschiedstrunk sein.« – »Oho!« hieß es – »so plötzlich?«

»Ich stehe nicht dafür, daß mich nicht die Ungeduld übermannt. Einen Winter halt' ich nicht aus im dumpfen Pfaffenstall da – besser haust es sich jedenfalls bei meinem Freund in Düsseldorf. Hier verkommt man! In der Klosterbibliothek findet sich nichts Gescheites. Geistige Anregung, wie man sie nötig hat, ein freies Wort müssen wir in dieser Heimlichkeit holen wie der Dieb in der Nacht. Unserm jungen Freunde hier, der ein Werk ganz aus Eignem schafft, ist der Direx dazwischengefahren wie ein Inquisitor. Hast du die Manuskripte mitgebracht, [414] Wendelin? Laß schauen, was der Pfaff korrigiert hat. Haha, mit roter Tinte! Die Handschrift ist nicht von ihm – natürlich! Nicht einmal er hat's geschrieben, sondern sein Faktotum, der Lazaristenpater, auf dessen Weisheit er schwört.« In die Blätter schauend, fuhr Ambros spöttisch fort: »Hört, hört! Von der Hölle ist hier die Rede. Unser Freund Flammer hat folgendes geschrieben: ›Jede Dissonanz gipfelt in ihrer Auflösung, so daß die Musik als Sinnbild der ewigen Liebe gelten darf, die ja alle Dinge zum Besten kehrt.‹ Wendelin, da hast du eine selige Wahrheit erlebt! Aber nun hört, was der Zensor an den Rand geschrieben hat: ›Irrlehre‹! steht hier, dreifach unterstrichen. Und weiter: ›Das athanasianische Symbolum spricht vom ewigen Höllenfeuer, und die heiligen Väter lehren, durch Sünde werde der vollkommene Gott unendlich beleidigt, hieraus nun folgt dieEwigkeit der Hölle. Da gibt es also keine Auflösung der Dissonanz. Was sollen denn auchVerdammte mit Musik?‹«

Hier blickte Pater Ambros seinen Zuhörern ins Gesicht, grimm sich weidend an ihrer Verblüffung. Und schlug ein Hohngelächter an: »Haha! Klassisch! Was sollen Verdammte mit Musik? fragt dieser Mann Gottes – spottet seiner selbst und weiß nicht wie. Müßte eigentlich sich selber zu den Verdammten rechnen! An einen Herrgott glaubt er ja, der ganz musenlos ist, den jeder Organist beschämt. Kein Organist schließt sein Stück mit einer Dissonanz, er löst sie auf! Aber einem Herrgott traut dieser Pfaffe zu, am Schlusse seiner Schöpfung stehe ewige Verdammnis! Und so was will Christ sein! Nachfolger des Bergpredigers! Seine Karikatur ist das! Wollte ich meinen sanften Heiden predigen, Gott, der durch seinen Sohn die Menschen ermahnt, sogar den Feinden wohlzutun, dieser liebe Gott sei durch Evas Apfelbiß unendlich beleidigt und habe das Bedürfnis, [415] seine Geschöpfe dafür, daß sie nicht vollkommener aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen sind, abzustrafen mit ewiger Folter – o Kinder! Wenn ich derart meine Mission betriebe, meine braunen Inder würden mich anlächeln, als ob ich betrunken wär' – und würden entgegnen: Wenn du von deinem Gotte nichts Besseres weißt, wollen wir lieber, nach wie vor, unserem Brahma angehören. Dessen Sohn, das ewige Licht, so heißt es, soll die ganze Welt verklären. Also siegt die Liebe, nicht der Haß!«

Hingerissen war Wendelin, im Innersten erschüttert von dieser Rede. Eine Dissonanzauflösung war das, die seiner heiligsten Sehnsucht entsprach. »Ach, Hochwürden,« sagte er – »darf ich nun ein paar Worte von mir vorlesen? Aus Evangelium von der erlösenden Liebe klingen sie an. Enthalten sind sie nicht in dem Geschreibsel, das ich für den Direx zurechtgemacht habe, sondern in diesem Geheimmanuskript – das enthält ja meine wahre Ueberzeugung. Und das, lieber Pater, bitte ich Sie, hernach an sich zu nehmen – damit es nicht ein unseliger Zufall dem Direx in die Hände spielt.«

Das Heft, in dem Wendelin nun blätterte, wurde ihm auf einmal von hinten entrissen. Er glaubte, der Kuttenmann hab's getan, den man Bruder Kellermeister angesprochen hatte. Doch das Gesicht, in das Wendelin nun mit Entsetzen starrte, gehörte demDirektor an! Dem Direktor, der jetzt die Kapuze abgelassen hatte und höhnisch die verdutzte Gruppe musterte: »Ihr seid mir saubere Diener Gottes! Aber euer Direx wird euch Mores lehren – wird euch zeigen, wo der Zimmermann 's Loch gelassen hat in diesem Pfaffenstalle, wie einer von euch ein geweihtes Kloster zu nennen sich erfrecht! Pfui über euch!«

Als wären sie gelähmt, hockten Pater Ambros, die Brüder und Wendelin auf dem Stroh. Dann rappelte sich Pater Ambros [416] auf und sagte mit Festigkeit: »Der Horcher an der Wand hört seine eigne Schand! Da haben Sie mal die Wahrheit gehört!«

»Jugendverführer!« schrie der Direx – »das Asylrecht mißbrauchen Sie! Eingeschlichen haben Sie sich als Patient – und heimliche Zechgelage veranstalten Sie! Meine Herde hetzen Sie gegen mich – gegen die heilige Kirche! Ketzer!« – »Hoho!« lachte Ambros hohl – »ein kalter Wasserstrahl ist die Wahrheit – aber gesund! Sie schütteln sich wie ein nasser Pudel – das ist der eigentliche Grund Ihrer Entrüstung!«

Weiteren Auseinandersetzungen entzog sich der Direx, indem er das Gewächshaus verließ. Bruder Gärtner war aufgestanden und zuckte die Achsel, nahm den Weinkrug und trollte sich. Hilfesuchend blickte Wendelin den Pater an – der sprach: »Nun halt' dich tapfer, Jong! Und macht man dir die Hölle heiß, so tu wie ich! Mein Bündel schnür' ich und ziehe los. Du weißt doch, daß man dich freilassen muß, wenn du gehen willst. Krieche nicht zu Kreuze! Ich an deiner Stelle würde mein Talent nicht im Kloster vergraben. Studiere lieber was Exaktes, Mensch! Bitte deine Verwandten, daß sie die Hand dazu reichen! Und sollten sie dich verlassen, so begib dich nach Düsseldorf zum Doktor Habermann – das ist mein Freund, und dahin geh' ich morgen. Leb' wohl, Jong!« – Aufschluchzend beugte sich Wendelin über des Paters Hand, dieser sah ihn schmerzlich an und schlug das Kreuz.

Die nächsten Monate waren für Wendelin harte Zeit. Daß er nicht gleich dem Pater Ambros gefolgt war, erklärt sich aus seiner Erwägung, ob es nicht klüger sei, bis Ostern auszuharren, weil dann das Reifezeugnis für die oberste Klasse zu gewärtigen sei. In dessen Besitze konnte man zur Oberprima eines weltlichen Gymnasiums übergehen und ein Jahr darauf das Abiturium machen. An den Onkel Kaplan hatte Wendelin geschrieben [417] und alles gebeichtet. Die Antwort war eine dröhnende Moralpauke nebst der Drohung, er werde seine Hand von ihm abziehen, wenn Wendelin aus dem Kloster entweiche; und die Welt habe nur Verachtung für einen verdorbenen Klostermann.

Sprachen nun diese Gründe für sein Verbleiben im Kloster, so schrie sein Herz oft genug: Es ist unerträglich! Aus den Bußen zwar, die ihm auferlegt waren, machte er sich wenig – aber die pfäffische Gesinnung, die jetzt unverfroren hervortrat, war widerlich. Der Direx wollte ihn zum Kadavergehorsam drillen – die übrigen Lehrer behandelten ihn als räudiges Schaf – die Juvenisten waren Duckmäuser, die sich bei den Oberen lieb Kind machen wollten, indem sie Wendelin verachteten und quälten.

In Form der »offenen Beichte«, die für verdienstvoll galt, war Angeberei organisiert, und sie durchseuchte das ganze Klosterleben. Obwohl es den Juvenisten streng verboten war, Briefe nach außen zu richten, die nicht des Direx Genehmigung gefunden hatten, ließ sich Wendelin durch einen Laienbruder verleiten, ihm ein Schreiben an Pater Ambros anzuvertrauen. Es wurde nicht der Post übergeben, sondern dem Direktor. Weil nun darin geklagt war, das beschlagnahmte Manuskript werde ihm vorenthalten, wurde Wendelin vor den Pater Direktor zitiert, und dieser erklärte patzig: Das Manuskript sei längst im Schornstein; besser sei's, die Schrift brenne, als der Verfasser. Uebrigens solle sich Wendelin nicht einbilden, versetzt zu werden – ihm fehle die sittliche Reife.

Jetzt hielt Wendelin seine Empörung nicht zurück und verlangte, sofort aus dem Kloster entlassen zu werden. »Ja, in Form einer Relegation sind Sie entlassen!« schnauzte der Direx – und dabei blieb es.

[418] Der arme Eros

Vom Rate des Paters Ambros, nach Düsseldorf zu kommen, machte Wendelin Gebrauch und fand den Doktor Habermann. Ambros aber war nach Holländisch-Indien abgereist. Habermann, ein früherer Kaplan, der sich zum Altkatholizismus bekehrt hatte, beherbergte unseren Flüchtling und verschaffte ihm eine Hauslehrerstelle bei einer begüterten Witwe, die einen achtjährigen Knaben und ein kleineres Mädchen zu erziehen hatte.

Hier war Wendelin auf einmal wie im Himmel. Die Kinder waren lieb, und Klein-Katrinche, die ihr verstorbenes Väterchen vermißte, schloß sich zärtlich an Wendelin an. Von Frau Senftenberg wurde Wendelin mit einem Respekt behandelt, als ob er nicht erst neunzehnjährig wäre. Das machte sein ernstes, vergeistigtes Wesen. Uebrigens war Frau Senftenberg anschmiegsam, an ein Rankengewächs gemahnend, dem die Stütze fehlt. Sie sah es gern, daß Wendelin mit dem Knaben Ausflüge machte und im Dämmerstündchen schöne Geschichten für Klein-Katrinche wußte. Da ihr Mann ein nüchterner Fabrikant gewesen war, ging ihr im Verkehr mit Wendelin eine neue, schöne Welt auf. Nun hätschelte sie den Jüngling, kaufte ihm geschmackvolle Kleidung, stattete sein Zimmer gemütlich aus, mietete ein Harmonium und war dankbar, wenn sie unter seiner Leitung darauf üben durfte. Auf Konzert und Theater abonnierte sie für Wendelin – doch es war auffällig, daß sie niemals in seiner Gesellschaft hinging – offenbar um dem Gerede der Leute keinen [419] Stoff zu geben. Wie Wendelin über diese Dinge nachsann, kam ihm der Gedanke, ob es nicht möglich wäre, der sanften blonden Frau so nahe zu kommen, wie ihm seine zärtliche Träumerei vorgaukelte. Ob sie nicht vielleicht doch wagen würde, ihn zu heiraten? Sie war allerdings zehn Jahre älter als er, und – was ihn besonders demütigte – ein grüner Junge war er, nicht einmal für seinen Beruf vorbereitet.

Nun beriet er sich mit Frau Senftenberg über seine weitere Ausbildung und gestand: das Jahr bei ihr sei ihm wie ein Himmel gewesen, aber gerade dadurch nachteilig für seine wissenschaftliche Ausbildung. Die habe er vernachlässigt, und das bekümmere ihn. Je lieber er hier weile, desto heißer wünsche er, etwas Rechtes zu werden.

Frau Senftenberg war zunächst bestürzt, meinte aber: In ihrem Hause brauche er nichts anderes zu sein, als er eben sei. Wenn er aber wolle, dürfe er aufs Gymnasium gehen – sie sei schon zufrieden, wenn sie ihn zuweilen nachmittags bei den Kindern habe. In stürmischer Dankbarkeit griff Wendelin nach ihrer Hand und wagte, seine Lippen darauf zu drücken.

Seit er ein Ziel hatte, arbeitete er planmäßig fürs Abiturium. Es kam ihm vor, als behandle ihn die schöne Frau nun erst recht mit Zurückhaltung. Seine dunkel treibende Hoffnung loderte auf, als sie einmal sagte: Er brauche eigentlich kein Abiturium, bei ihr könne er ja Privatgelehrter sein. Dies einfältige, doch zärtlich andeutende Wort machte ihn verwirrt – einsilbig war er, in sich gekehrt. Frau Senftenberg schien zu stutzen und zog sich auf ihr Zimmer zurück.

Es war nicht möglich, daß zwei jugendfrische, liebebedürftige Menschen so nahe beieinander wohnen konnten, ohne sinnliche Sehnsucht füreinander zu empfinden. Daß sie zurückhaltend blieben, lag nur an Bedenken des Verstandes, an Rücksichten [420] auf die Satzungen der Welt. Die innere Zerrissenheit, an der Wendelin litt, mußte sich nun irgendwie rächen. Es geschah in einer Form, die in hundert ähnlichen Fällen harmlos bleibt, diesmal jedoch verhängnisvoll wurde.

Wendelin hatte nach dem Abendessen mit Frau Senftenberg Harmonium gespielt und sich von ihrer Nähe wie von den Klangwogen in Zärtlichkeit wiegen lassen. Doch plötzlich wurde sie kühl und verabschiedete sich für den Rest des Abends. Einsam saß Wendelin auf seinem Zimmer, verdrossen den Kopf in die Hand gestützt. Da regte es sich hinter ihm – es kam ihm vor, Frau Senftenberg sei hereingeschlüpft.

Aber nur das Stubenmädchen war's, das noch etwas in Ordnung zu bringen hatte. Seinen fragenden Blick erwiderte sie mit schelmischem Schmollen: »Ach Sie Stuwehocker! Worüm sinn Se denn nit emol e bißcheflott?« Sie war ein zierliches Schlänglein – erst seit ein paar Wochen hier in Stellung, hatte sie für Wendelin wiederholt ein Lächeln gehabt, als wolle sie ihn ermuntern. Um so leichter ließ er sich jetzt überrumpeln. Sein Blut war erhitzt durch Frau Senftenberg, die reizte, ohne zu erfüllen. Er war wie ein Sommertag, der zum Gewitter drängt.

Beklommen blickte er auf die niedliche Minna, die verheißend lächelte. Und er stammelte: »Flott soll ich? Wie denn?«

Sie dehnte sich: »J – a! Wat man so – flott nennt! E bißche durchbrenne! Heut spielt dr Millowitsch Hännesche.« – »Waas? Wer?« – »Awwer Herr Flammer! Kennt Ihr nit's Hännesche? Dat's ooch jut!« Und Minna lachte ihn aus. Vom weltberühmten Kölner Puppentheater wußte er nichts – von Millowitsch, der damit in Düsseldorf gastierte! »Ech lad Sie eyn!« meinte sie schelmisch – »heut führe Sie mich zu Millowitsch! In ner halwe Stond – wenn Frau Senftenberch zu Bett [421] jejangen is! Abjemacht!« – Wendelin konnte nicht Nein sagen – übrigens verlangte seine überspannte Natur nach Zerstreuung.

Minna erwartete ihn an der Straßenecke. Sie hatte sich sein gemacht, war kaum wiederzuerkennen. Er benahm sich linkisch und wortkarg. Als sie in die kleinbürgerliche Kneipe traten, wo das Puppentheater gastierte, in den verqualmten Saal, und als die Ausgelassenheit niederrheinischen Volkes, eine johlende Witzelei in befremdender Mundart, ihn umschwirrte, war's ihm schon leid, daß er sich auf diesen Abweg begeben hatte. Das Puppentheater hatte den derben Titel »Das dreieckige Verhältnis«. War von einer kindischen Harmlosigkeit: Hännesche, der rheinische Faxenmacher, hat einen Freund »Tünnes« – das ist einer, der immer möchte, aber nie dazu gelangt. Seiner »Alten« überdrüssig, unternimmt er eine Extratour mit einer Tänzerin. Gerade will er sie abküssen, da schneit die Alte herein ins gemietete Gasthauszimmer. Der flinke und schlaue Hännesche rettet die Situation, indem er die Decke vom Tisch reißt und wie einen Vorhang vor die leichtfertige Schöne breitet: »Nu hüren's! is dat nu Baumwoll – oder Seyde?« Diese einfältige Schlaubergerei entfesselte einen Sturm von Beifall. Das Beste an der Puppenkomödie war das Zusammenwirken des Publikums mit den Darstellern. Immerfort rief man übermütige Bemerkungen in das Spiel hinein, und schlagfertig antwortete Hännesche. Eine dieser witzigen Improvisationen war der Höhepunkt des Abends, und mit wieherndem Gelächter verließen die Stammgäste das Lokal.

Auch Wendelin und Minna gingen – sie selig aufgekratzt, er von der ungewohnten Nähe und Vertraulichkeit eines hübschen Mädels verwirrt. Noch zu ermuntern wußte sie ihn durch eine Flasche Wein in einem Lokal für Liebende. Um Mitternacht wandelte das Pärchen Arm in Arm über die Promenade, [422] und hier kam es zu einer Küsserei, der allerersten in Wendelins Leben.

Als die beiden ins Haus geschlichen waren, standen sie auf Wendelins Zimmer einander gegenüber. »Un jetz deust do mich aaf – jetz fall ich no owe jon in mien kaal Stuf, wo de blecke Dachbalke mir ming Eynsamkeit opzeije. Oder nit?« Dies Evawort entschied – der schwankende Adam fühlte sich hingerissen – und so kam's, daß er sein Paradies verlor.

Frau Senftenberg, zufällig in aller Frühe aufgestanden, entdeckte Minnas Nachtschwärmerei und den Zusammenhang der Dinge. Wendelin, der in einer so heiklen Lage ganz unerfahren war, verlor den Kopf und verließ sofort das Haus.

Doktor Habermann, dem er beichtete, kraute sich den Schädel, – wußte aber keinen anderen Rat, als daß der Sünder eben versuchen müsse, sich irgendwie durch die dornige Welt zu schlagen. So kam Wendelin nach Berlin – fand hier Stellung an einer Einjährigenpresse, dann als Korrektor eines Verlags für wissenschaftliche Werke.


*


Nachdem Hainlin diese Geschichte vernommen hatte, schwieg er lange. Und nach einem tiefen Seufzer murrte er:

»Wie der Ochs am Berg steht unsere Zivilisation vor der Aufgabe, das Verhältnis der Geschlechter gesund, schön, weise zu gestalten. Weil man sich keinen Rat weiß, steckt man wie der Vogel Strauß den Kopf in den Sand und läßt die Dinge laufen. Unser armer Wendelin ist ein Opfer solcher Mißwirtschaft. Zur Scheu vor dem Weibe hat man ihn förmlich gedrillt. Da war der Kaplan – mit dem pharisäischen Hinweis auf die Mutter, die sich durch uneheliche Kinder versündikt hab'. Da war verängstigend das Beispiel Pias und Ulis. Endlich die klösterliche Duckmäuserei. Wie nun Wendelin ins Freie kommt, [423] haust er bei einer schönen Frau, die ihn hätschelt. Zwei blühende Menschen, für einander geschaffen, leben familienhaft zusammen, über ein Jahr – aber ihr Schmachten für einander wagt sich nicht hervor. Natürlich wirkt die flotte Minna hinreißend; so betäubt Wendelin seine ungestillte Sehnsucht durch ein Surrogat. Und schließlich taumelt er in die Arme der Berliner Kellnerin. – Woher nun dieser Unsinn? Schäbige Interessen und soziale Grillen beherrschen die Herzen – die Meinung von Hinz und Kunz gilt etwas – Eros, der Genius der Gattung, wird mißhandelt und ins Elend verstoßen. In den Schulen wird Plato gebüffelt, sein heiliger Geist aber gelästert. An Helenas Gewand tüfteln die Pädagogen wie Flickschneider – von der Göttin haben sie keine Ahnung.«


*


Nach dieser Aussprache mit dem Musikstudenten vergingen fast zwei Jahre, ohne daß Hainlin irgend etwas über Wendelin erfuhr. Der Musikstudent war ausgezogen, ein an ihn gerichteter Brief kam als unbestellbar zurück. Der Zufall fügte, daß Hainlin, als er einen Konzertsaal verließ, den Musikstudenten traf. Und der sagte:

»Ich wollte Sie dieser Tage aufsuchen – habe Nachricht über Flammer – äußerst traurige. Er ist im Irrenhause.« – Sprachlos starrte Hainlin den andern an – dieser zuckte die Achsel und seufzte.

Wendelin Flammer hatte vor Wochen aus Basel geschrieben, als Hörer der Universität studiere er Mathematik und stehe im Begriff, eine Entdeckung abzuschließen, die nichts Geringeres bedeute als eine neue Epoche der Welterkenntnis – es sei die Vernullung der Unendlichkeit. Seine Gemütsverfassung sei die eines Märtyrers: Er leide an Gehirnfeuerwerk, verzehre sich im [424] Leuchten gleich einer Kerze – wie das eigentlich schon sein Name andeute: er sei ein Flammender – und sei bald ausgebrannt.

Weil diese Schreibweise krankhaft erschien, richtete der Musikstudent eine Anfrage an Frau Chevalier, wo Wendelin zur Miete wohnte. Die Antwort lautete: Herr Flammer sei ein guter Mensch, zerrütte aber seine Nerven durch Ueberarbeit und verschrobene Lebensweise. Die Nacht durch werde studiert, vormittags die Universität besucht, mittags geschlafen. Neulich habe sich ein Polizist erkundigt, was für ein Mensch der Flammer sei. Dann habe man ihn in Gewahrsam nehmen müssen, weil er auf belebter Straße vor einer Schauspielerin schwärmerisch aufs Knie gefallen sei. Und des weitern habe er sich auffällig gemacht durch das Zeitungs-Inserat: »Mathematiker, Zahlenmystiker sucht Aufenthalt in einem Kloster, wo man ihn ungeschoren läßt.«

»Ein Anfall von Tobsucht« – so schrieb Frau Chevalier – »ließ es geboten erscheinen, den armen Menschen in eine Irrenanstalt zu überführen. Um ihn gefügig zu machen, redeten wir ihm vor, auf sein Inserat habe sich ein Kloster gemeldet. Nebst einem Wärter begleitete ihn mein Mann nach Zürich und hinauf zum Burghölzli. Die Aussicht auf den Seee und die fernen Gletscher entzückten den Irren, daß er singend in die Anstalt einzog. Er hielt sie für das erwünschte Kloster, ließ sich auch nicht warnen durch herausschallendes Gekreisch eines Wahnsinnigen. Als die eiserne Gittertür hinter ihm klirrend ins Schloß fiel, zuckte er zusammen und wandte sich um. Meinem Mann ist unvergeßlich sein bestürzter Blick – dann hatten ihn zwei Wärter an den Armen gefaßt und führten ihn ab.«

[425] Genossen

Burdinskis Rede in der aufgelösten Versammlung sollte nicht ohne Folgen bleiben. Er war zum »Molkenmarkt« geladen, wie man die Berliner Polizei wegen ihres damaligen Standortes nannte. Hainlin, dem er sofort Mitteilung gemacht hatte, begab sich zum Studenten Neumann, der ja als Entlastungszeuge dienen wollte.

Neumann wohnte bei seiner Schwester, einer Frau Goldberg – und zufällig öffnete sie, als Hainlin die Wohnungsklingel gezogen hatte. Eine blasse, dunkelhaarige, zur Ueppigkeit neigende Frau in einer burgunderroten Haustracht. Die langwimprigen grauen Augen hatten einen schwermütigen Ausdruck. Dann lächelte sie gewinnend: »Ja, mein Bruder ist zu Haus! Bitte!«

Hainlin trat in den gutbürgerlichen Salon, wo ein Flügel stand. Der nun erscheinende Neumann begrüßte ihn herzlich und widmete dem Falle Burdinski lebhaftes Interesse. Bat sich nähere Auskunft über Burdinski aus und sagte: »Ein genialer Kerl! Uebrigens scheint er nicht mal Sozialdemokrat zu sein – ist wohl mehr religiöser Schwärmer, so was wie Mystiker, wie?«

»Er glaubt, daß die Menschheit nicht durch äußere Reform gebessert wird, sondern durch Revolution derGesinnung.« – »Verstehe! Aber erlauben Sie mir einen Rat, Herr Hainlin: Vor allem drücken Sie sich von der Zeugenaussage, bis die meinige gemacht ist. Ich möchte dem Gang der Untersuchung eine ganz bestimmte Richtung geben. Diesen Plan dürfen[426] Sie mir nicht verderben. Also Vorsicht! Daß Sie nicht zu ehrlich sind! Wenn Sie auf der Polizei die Anschauungen Ihres Freundes schildern, brauchen Sie lieber nicht die Worte, die Sie eben gesagt haben. Wenigstens nicht genau so! Sondern vertauschen Sie lieber die Worte Reform und Revolution! Sagen Sie also: Burdinski glaubt, daß die Menschheit nicht durch äußere Revolution gebessert wird, sondern durch Reform der Gesinnung. Das ist diplomatisch – der Ton macht die Musik – und Sie können sich denken, daß die Polizei mißtrauisch aufhorcht, wenn man irgend was Revolutionäres gelten läßt.«

Neumanns Berechnung erwies sich als zutreffend. Seinem Rate gemäß ließ ihm Hainlin den Vortritt. Wie er nun selber auf der Polizei war, ersah er gleich aus den Fragen, die der vernehmende Beamte stellte, wie günstig Neumann vorgearbeitet hatte. Da sich die Auffassung des Polizeileutnants, der eine Bismarck-Beleidigung konstruiert hatte, durch die anderen Zeugen widerlegen ließ, erklärte ihm der untersuchende Beamte schließlich: »Diesmal kommen Sie noch mit einem blauen Auge davon – nur merken Sie sich: Der Knüppel liegt beim Hund!«

Immerhin griff dieser Fall bestimmend in Burdinskis Schicksal ein. Der Schuhfabrikant, bei dem er arbeitete, entließ ihn, – mit der Begründung, ein Arbeiter, der unter Polizeiaussicht stehe, mache dem Geschäft Ungelegenheiten. Daß er beobachtet werde, merkte Burdinski an Gestalten, die ihm auflauerten und verstohlen folgten. Es waren kräftige Männer, anscheinend ehemalige Unteroffiziere, und auf sie paßte, was ein Bekannter Burdinskis, der Buchdrucker Glaser, von den Polizisten in Zivil behauptete: An ihren Stiefeln lassen sie sich erkennen – diese seien militärisch blank und seien plumpe Kommißstiefel, wie sie eben zum Dienst geliefert werden – deshalb habe solch ein [427] Spitzel was mit dem Pfau gemeinsam: er werde verlegen, wenn man ihm scharf auf die Füße sehe.

»Menschenskind!« – sagte Glaser zu Burdinski – »willst du jetzt 'ne seine Stelle haben, so komm mit zu Frau Klein. Die hat 'n Schusterkeller in der Linienstraße – ihr Mann, juter Jenosse, is ausjewiesen – nu führt sie det Jeschäft mit ihren ollen Jesellen. Der aber will jetzt nach Dresden. Also nimm du die Stelle, Mensch!«

Burdinski ging mit Glaser hin. Die dunkle Kellerwerkstatt war elend, aber Frau Klein, eine zierliche Blondine, hatte etwas Rührendes und wußte darzulegen, daß sich aus dem Geschäft etwas machen lasse. Sinnend sah Burdinski Frau Klein an, treuherzig erwiderte sie den Blick, und er beschloß, den Versuch zu wagen.

Von Glaser, der mit dem Schuster Klein freundschaftlich verkehrt hatte, erfuhr er Näheres über dessen Ausweisung. Vorigen Sommer hatten zehn Sozialdemokraten, Führer des geheimen Zentralkomitees, von der Polizei den Befehl erhalten, innerhalb dreier Tage die Stadt zu verlassen. Am Anhalter Bahnhof, wo die Abreise erfolgen sollte, waren nicht bloß ihre Frauen und Kinder zum Abschied erschienen, sondern auch ein paar hundert Genossen, geschmückt mit rotem Schlips und roter Nelke. Unter Händeschütteln wurden Herzensworte gewechselt und Liebesgaben überreicht – die Ausgewiesenen dankten bewegt und mahnten zum Ausharren für die gerechte Sache der Arbeiter. Das geschah in den Wartesälen vierter und dritter Klasse, die natürlich reichlich besetzt waren. 'Ein paar Anwesende mit roten Abzeichen hatten sich durch Horchen oder durch aufreizende Redensarten in den Verdacht gebracht, »Achtgroschenjungen« zu sein: billig bezahlte Spitzel.

Plötzlich erscholl das Kommando eines behelmten Polizeileutnants: »Ich fordere die Anwesenden auf, sofort die Wartesäle zu verlassen!« Alles verstummte, dann ging Murren los:

[428] »Na nu? Sachte! Will erst mein Bier austrinken! Kellner, zahlen!« Doch schon begannen die Schutzleute ihre Arbeit. Sie packten und pufften. »Wird's bald? Raus!« Kein Wunder, daß Widersetzlichkeiten vorkamen: »Nich anfassen! Wat erlauben Sie sich! Kommißlümmel!« Eine Weiberstimme kreischte, Säbel blitzten, mit geschwungenen Gummischläuchen trieben die Schutzleute die Menge vor sich her. Die Frau eines Ausgewiesenen, die mit ihrem Manne noch Abschiedsworte wechseln wollte, wurde an den Haaren herausgeschleift. Männer wurden geschlagen und am Kragen weggeschleppt.

Aber die Menge ließ sich nicht beseitigen – sie wimmelte durch die Bahnhofshalle, drängte auf den Bahnsteig, wo der Zug bereitstand – ein paar hundert Fahrkarten waren gelöst, von solchen, die den Ausgewiesenen noch Geleit bis Luckenwalde geben wollten. Bei der Ueberfüllung des Zuges mußten die Bahnbeamten Wagen anhängen. So entstand Aufenthalt, neue Gelegenheit für viele, ihre Herzlichkeit auszudrücken sowie ihre Entrüstung. Fortwährend erfolgten Verhaftungen, sie bedeuteten weitere Ausweisungen.

Als der Zug in Bewegung kam und die Menge mit den Abfahrenden, die aus den Fenstern winkten, letzte Grüße tauschte, erscholl die Melodie: »Heil dir im Siegerkranz« – die gesungenen Worte aber lauteten bloß: »Nicht Roß, nicht Reisige sichern die steile Höh', wo Fürsten stehn.«

Das Nachspiel war ein Prozeß, der zu Ausweisungen führte und zu bitteren Gefängnisstrafen. Jene Frau, die den Abschied von ihrem Manne nicht dem Kommando entsprechend genommen hatte, erhielt vier Monate Gefängnis. Um zur Roheit noch die Gemeinheit zu gesellen, boten Polizisten den Ausgewiesenen Geld für Verräterei an. Mancher Arbeiter wurde aus Angst vor drohender Ausweisung ein Spitzel.

[429] Dieser Bericht, den Glaser gab, war geeignet, Burdinskis Hilfsbereitschaft noch anzuspornen. Nun er eine sittliche Aufgabe fühlte, arbeitete er freudig, obwohl der Schusterkeller ein trüber Aufenthaltsort war. Sonnenschein brachten ihm Frau Kleins Kinder, der fünfjährige Fritz und das jüngere Mariechen. Ihr Geplauder war ihm traulich, wenn er seinen Pechdraht zog oder auf die Sohlen hämmerte. Ein Uebriges taten das schnurrende Kätzchen und der Kanarienvogel, der bei Geranienblüten am Fenster schmetterte.

Frau Klein, die mit dem Haushalt, mit Austragen oder Holen von Stiefeln und sonstiger Kundenbedienung zu tun hatte, sprach gern mit Burdinski nach dem Abendessen. Ihr Mann, erzählte sie, sei anfangs nach Luckenwalde gegangen, aber durch Nachfragen der Polizei um seine Stelle gebracht. Sei dann in Leipzig von neuer Ausweisung betroffen, desgleichen in Hamburg. Endlich in Stellung auf einem Ueberseedampfer, mache er allerlei Lederarbeiten. Für seine angegriffene Lunge sei die Seeluft gut – neulich habe er hundert Mark für die Sparkasse geschickt. Es sei bloß traurig, daß er gar nicht wiederkommen dürfe, nicht mal zum Besuch. Ihm aufs Schiff zu folgen, sei wegen der Kinder nicht angängig.

Die kleine Hausgemeinschaft, zu der noch der Lehrjunge Maxe gekommen war, lebte in musterhafter Ordnung, und das Einkommen besserte sich derart, daß Olga Klein, die als Frau eines Ausgewiesenen von der heimlichen Parteiorganisation eine Unterstützung von dreizehn Mark wöchentlich erhielt, sich mit neun begnügen wollte.

Sonntags ging Burdinski mit Frau Klein aus, und die Kinder wurden mitgeschleppt. Selten freilich kam man weiter als bis zum Pappelplatz, einem Anger, wo alltags die Soldaten übten. Fritz und Mariechen wühlten dann im Sand, und [430] Burdinski las der strickenden Frau aus einem Buche vor. Es geschah auch, daß sie ein kleines Gartenlokal der Schönhauser Allee aufsuchten, zu dem die Inschrift einlud: »Hier können Familien Kaffee kochen«. Das braune Pulver, das Frau Klein nebst Zucker mitgebracht hatte, wurde für ein paar Nickel aufgebrüht, und angeregt vom duftigen Getränk, hatte man eine behagliche Stunde zwischen grünem Gesträuch.

Auch Hainlin war ein paarmal dabei – in seinen Aufzeichnungen ist ein Ausflug zum Schützenhaus beschrieben. Glaser hatte dazu eingeladen – feiern wollte er, daß er sich als Geschäftsmann etabliert hatte. Ein kleiner Kapitalist namens Ahlert hatte eine Druckerei gekauft und Glaser zum Kompagnon genommen. Dieser war nicht bloß ein tüchtiger Werkführer, sondern hatte auch Ersparnisse. Neben dem Schützenhaus hatte ein Genosse namens Patzke einen gepachteten Acker, und da sollte Erntefest sein.

Nachdem nun die Männer im Schützenhaus Kegel geschoben, die Frauen Kaffee gekocht, die Kinder sich getummelt hatten, ging's hinüber in Patzkes Laube, wo ein Achtel Bier aufgelegt war und Papierlampen ihr buntes Licht in die Abenddämmerung streuten. Patzke, der sich Rechtskonsulent nannte, erzählte prahlerisch von schlauen Ratschlägen, die er prozessierenden Genossen gegeben habe. Und wandte sich an Glaser: »Weeßte, Fritze, dein Ahlert hättemich zum Kompagnon nehmen sollen.

Ei waih, würden wir Jeschäfte machen! Spaß beiseite! So eener als wie icke, der fehlt eich! Eenen Koofmich müßt ihr haben, der Koofmich is heitzutage die Seele von't Janze. Aufträje würd' ick eich beschaffen. Vabindungen ha' ick – Menschenskind! Ick jeh' morjen zu Ahlerten.« – »Nu hört aber uff mit's Jeschäft!« sagte ein Genosse. – »Ilaser soll seine Jedichte vorlesen! Er hat welche mit – seine Sachen – zum [431] Quietschen ulkig!« Glaser lächelte, rückte dann heraus mit Spottversen auf Bismarck, Stöcker und andere Zeitgenossen.

Vom Beifall, den dies Talent fand, fühlte sich Patzke angespornt, auch seinerseits zu glänzen. Er gefiel sich in der Rolle des lustigen Schwerenöters, brachte die Männer durch Berliner Redensarten zum Lachen und schäkerte mit den Weibern. Für Frau Klein hatte er besondere Aufmerksamkeit – seinen gepflegten Schnurrbart streichend, nannte er sie: »Schöne Frau«. Er benahm sich, als ob er Unteroffizier, dann Coupletsänger gewesen wäre. Glänzte mit komischen Versen, die er halb singend im Kehlkopfbaß deklamierte:


»War wohl wer in der Welt so frech

Als der Bürgermeister Tschech? ...

Selbst die brave Landesmutter

Schoß er durch das Unterfutter.«


Dies Attentat auf eine königliche Equipage gab Anlaß zu Bemerkungen über Hödel und Nobiling. Patzke rühmte sich, bei einem Arbeiterfeste die Ballade von den zwei Grenadieren so vorgetragen zu haben, daß es nicht heißt »Mein Kaiser, mein Kaiser gefangen«, sondern »Mein Kaiser, mein Kaiser muß hangen«.

Grimmes Gelächter – Patzke ließ sich bestaunen wegen seiner Waghalsigkeit. Und dann sang man Lieder aus einem verbotenen Buche. Nach französischer Operettenmelodie:


»Wir sind die Petrolöre,

Das sieht uns jeder an.

Drum tun wir alle Ehre

Dem Petroleum an.

Und weil es schön zu brennen ist

Und uns viel Licht verschafft,

So sei Petrol zu dieser Frist

Des Armen Lebenssaft.

[432]

Hie Petroleum, da Petroleum,

Hei! Petroleum um und um!

Laßt die Humpen Frisch vollpumpen!

Dreimal hoch Petroleum!«


Frau Klein hatte ihre Kinder zum Aufbruch gerüstet. Burdinski nahm Mariechen auf den Arm, Glaser wollte den Knaben tragen. – Hainlin atmete auf, die Gesellschaft war ihm peinlich. Mit kühlem Gruß verabschiedete man sich und ging schweigsam die vom Mond beleuchtete Landstraße.

Glaser begann: »Weeßte, Burdinski, woran mir Patzke erinnert? An det Sprichwort: Trau, schau, wem! Mancher, der so 'ne Lippe riskiert, is 'n Fauler!«

Burdinski überlegte, ehe er antwortete: »Du mäinst, ein Polizeispitzel? Wer wäiß! Schlimm is jedenfalls, daß sich der Arbäiter beäinflussen läßt von so 'nem jroßmauligen Radikalinski. Ueberhaupt bejäistert sich der Proletar für alles, was ihm radikal vorkommt – darunter versteht er, was die Kampfläidenschaft anstachelt.« – Glaser schwankte, ehe er antwortete: »Von Hetzern wie Patzke will 'k nischt wissen. Aber – radikale Kampfhähne brauchen wir Arbeeter – weil wir ebent im Kampfe stehn – imKlassen kampfe!«

»Die äine Klasse wollt ihr mobil machen jejen die andere, Haß jejen Haß – Jewalt jejen Jewalt. Un so wollt ihr Jewalt un Haß besäitigen

»Wat sollen wir sonst machen?« – »Was sonst? Bloß äine Macht bringt uns vorwärts: Verstandnis für äinander, Mitjefühl. Hinäinleben muß man sich in die Natur, in die andern Jeschöpfe; so mäinen's die alten Inder, wenn sie sagen: Alles bist du! Un dasselbe mäint der Barchpredijer: Liebe däinen Nächsten wie dich salbst!«

[433] »Dann wären wir also« – spottete Glaser – »jlücklich wieder bei die olle Kirche anjelangt, bei Stöckern un Konsorten.« – »Näin!« erklärte Burdinski – »die Kirche, wie wir sie haben, is was andres! Die Kirche is läider auch 'ne politische Orjanisation – Staatskirchentum is 'ne Art Klassenkampf – Ejoismus, Jewalt – den Teufel soll man nich mit Beelzebub austreiben wollen – bloß das ewije Licht kann uns helfen. Erst wenn der Sozialismus nichts will als das ewije Licht, erst dann is er echt!«

»Mensch, was du da redest, is wat für Schillern un Joethen, aber nich für unsern Arbeeter.« – »Kann säin!« seufzte Burdinski – »un das is die schlimmste Not der Arbäiter, daß ihnen so was zu hoch vorkommt. Mehr aus Materialle denken se. Den Läib möchten se pflejen wie die Bourgeois – un beherzijen nich, daß der schlimmste Mangel ihrer Klasse derjäistige is. Du saachst, höheres Menschentum wäre bloß was für Schiller un Joethe. Das is eben das Traurige: die Kluft zwischen dem Massenmanschen un den anderen, die bäi Schiller un Joethe stehn. Brücken über die Kluft soll man bauen!« – »Ja, Brücken bauen!« meinte Glaser bitter – »bau du mal Brücken unterm Sozialistenjesetz! Deine Schwärmerei fürs Jeistige will ick jewiß nich stören – aber vereinzelte Uffjeklärte, wie du, erreichen nischt! Dazu brauchen wir Orjanisation, Klassenkampf. Sonst knüppelt die Pollezei die janze Freiheitsbewejung nieder. Un denn is all der scheene Jeistfutsch, den Joethe un Schiller, Lassalle un Marx leuchten lassen – un uff deine Kultur prätzelt sich der Jeldsack ruff un erstickt se.«

[434] Spitzel

Wie eine stille Wasserfläche, die das Uferschilf und den Himmel spiegelt, aufgewühlt wird, wenn ein Hund hineintappt, so wurde Burdinskis Beschaulichkeit plötzlich gestört. Eines Sonntags, während er zum Besuch bei Hainlin war, erschien im Schusterkeller eine verschleierte Dame. Erst redete sie von Stiefeln. Dann begann sie: »Und wie geht es Ihrem Manne? Er is ja woll in London? Nich? Schade! Wenn er in London wäre, hätt' ich lohnende Arbeit für ihn. Mein Mann is nämlich Journalist un hätte gern schriftliche Berichte über Arbeiterbewegung un Politik. Stilisiert brauchen se nich zu sein, das besorcht mein Mann hinterher. Es genügt, wenn angegeben wird, welches die Führer sind – ich meine auch so Genossen, wo 'ne kleine Rolle spielen. Un was man so denkt und treibt in den Bezirken. Bloß Materialien braucht mein Mann – die verarbeitet er für Zeitungen. Die Sache wird nich schlecht bezahlt – un Ihr Mann würde sein Teil abbekommen – so'n Stücker dreißig, vierzig Emmchen für nen ordentlichen Bericht. Was meinen Sie? Und wenn Sie selber, Frau Klein, solche Berichte machten? Auch mündlich könnten Sie se mir geben.«

Erstarrt hatte Frau Klein zugehört: »Ich? Wa – was soll ich?« – »Aber warum denn nich? Sie werden das schon machen. Und ein Stück Geld verdienen. Bloß vor Burdinskin müssen Sie reinen Mund halten. Vorläufig wenigstens – solange wir seiner nich sicher sind. Später, wenn wir ihn bekehrt [435] haben, kann er selber Berichte schreiben. Das wäre ein Mitarbeiter für meinen Mann! Dann wird es Ihnen gut gehn. Wir richten Ihnen 'ne Stehbierhalle ein – da können die Genossen verkehren, un was Sie Interessantes hören, wird notiert, für meinen Mann. Na sehn Se, so hätten Sie 'n feines Leben – und wenn Se wollen, geb' ich Ihnen 'ne kleine Anzahlung.«

Nun hielt sich Frau Klein nicht länger: »Was? Sie wollen mich zum Judas machen? Raus! Auf der Stelle raus! Die Stiebel schmeiße ich Ihnen ins Jesichte, Sie Jiftschlange!« – »Aber, Frau Klein! Was erlauben Sie sich? Sie haben es, wie's scheint, noch nich nötig. Na warten Se man! Aus der Hand fressen Se uns noch!« Und naserümpfend machte sich die Dame fort.

In wilder Erregung war Frau Klein, als sie dem heimgekehrten Burdinski berichtete. Bleich stand er da, seine Lippen bebten. Glaser, der nach Tische kam und die Geschichte hörte, lachte bitter: »Da hast du's, Burdinski! In dein Wolkenkuckucksheim steckst du den Kopp – un wenn hier unten Jiftnattern schleichen, so saachst du: Kinder, keenen Kampf, keene Jewalt! Bloß das ewije Licht kann uns helfen! Proste Mahlzeit, du Schwärmer!« – Burdinski nagte an der Unterlippe.

Es sollte aber noch ärger kommen. Nachdem der Schusterkeller, wie zu merken war, ein paar Wochen von Aufpassern umlauert worden war, erschien ein Wachtmeister mit zwei Schutzleuten. Haussuchung wollten sie veranstalten, nach verbotenen Schriften. »Rücken Se man raus damit! Wir wissen ja doch, daß Sie die Londoner ›Freiheit‹ vertreiben – ja, Sie, Burdinski! Tun Se nich so unschuldig! Sie sind von die Mostsche Sorte! Der läßt sein Blatt von Hamburch aus an hiesige Vertrauensleute schicken. Heute sind hier Exemplare einjetroffen – heraus damit!«

[436] Burdinski zuckte die Achseln. Frau Klein leugnete – zornbebend berichtete sie dann die Geschichte von der verschleierten Dame. Der Wachtmeister sah sie groß an und schwieg. Alle Winkel ließ er durchwühlen, Schränke und Kästen, Küche und Betten, sogar die Stiefel, die zur Reparatur lagen. Schließlich erklärte er, zur Leibesvisitation schreiten zu müssen: »Wir wissen, hier ist heute ein Brief aus Hamburg abgegeben – wo ist er? Wo?« – »Ein Brief?« antwortete Frau Klein. »Wenn's weiter nichts ist! Das hätten Sie eher sagen können, dann wäre die ganze Kramerei erspart geblieben.« Und aus ihrem Täschchen zog sie den Brief, den der Briefträger vor einer Stunde gebracht hatte: »Von meinem Mann, der is auf 'nem Schiff beschäftigt – er schreibt, daß er gerade eine Fahrt nach Norwegen hinter sich hat.«

Das dargereichte Schreiben las der Wachtmeister: »Es waren aber auch Schriften im Kuvert – wo sind die?« – »Schriften im Kuvert? Nee! Aber ein paar Bilderbogen – damit will mein Mann den Kindern 'ne Freude machen – hier liejen se – un vorhin haben Sie se anjesehn.« Es waren Buntdrucke: Lappländer mit Zelten, Schlitten mit Renntieren. An der Faltung des Papiers sah man deutlich, daß die Bilderbogen im Kuvert gewesen waren. Der Wachtmeister machte ein verlegenes Gesicht und zog mit seinen Leuten ab.

Die Lage der Dinge wurde wie durch Blitzlicht aufgehellt, als gegen Mittag derselbe Postbote, der den Brief mit den Bildern gebracht hatte, einen zweiten Brief abgab, der war an Burdinski adressiert. Schon wollte Frau Klein dem Postboten ihr Herz ausschütten, als sie einen Blick von Burdinski auffing, der Schweigen gebot. Als nun der Briefträger gegangen war, brach Burdinski Entrüstung los: »Jemäinhäit!! Olja! Wie niederträchtich is diese Welt! Hier nämlich sind die [437] Schriften, nach denen die Polizeistrolche jesucht haben – äinfach zu spät is diese Sendung anjelangt, in dem ersten Brief aber, der heute früh hier abjejeben is, hat die Polizei die verbotenen Schriften vermutet. Er kommt auch aus Hamburch. Jetzt is bloß die Frage: Wer hat ihn abjeschickt? Ich habe die Ahnung, daß man uns was Strafbares zuschieben will. Schurken, Schurken!« Burdinski knirschte mit den Zähnen und schüttelte die Faust. »Verderben wollen se uns – zu Verbrechern stempeln! Vielläicht hat doch Ilaser recht: Zertreten soll man dies Jiftgewürm, zertreten!«

Obwohl Frau Klein dafür war, die Schriften sofort zu verbrennen, konnte sich Burdinski nicht dazu entschließen. Dies Verbotene war ihm interessant. Ja, wie eine Sünde kam's ihm vor, Druckpapier zu vernichten, dem Freiheitskämpfer ihre Sehnsucht anvertraut hatten. »Wer wäiß, ob nich jrade da 'ne Wahrhäit steht!«

»Aber hier dürfen die Sachen nich bleiben,« sagte Frau Klein – »die Strolche könnten ja noch mal suchen. Sofort bring' ich die Schriften zu Ilasern.« Und schon hatte sie ihr Umschlagtuch um, tat die verbotenen Schriften in ihren Handkorb und ging. – Nicht lange, so war sie zurück. Glasern hatte sie angetroffen. Ueber die Geschichte wär' er fuchsteufelswild. Die Schriften hätt' er in einem Versteck untergebracht. Im Hinterhause die Sargschreinerei gehöre einem Genossen. Da sei die »Freiheit« versteckt: in einem Kindersarge.

Als der Briefträger wieder mal kam, sagte Burdinski: »Na wissen Se, Ihr Postjehäimnis is fouler Zouber!« Der Beamte antwortete mit langsamem Kopfnicken: »Unser eens sieht manches – muß aber's Maul halten.«

Wenn Burdinski zu Glaser ging, lasen die beiden in den Londoner Schriften und suchten zu verstehen, wie sich Most die [438] Freiheit denke. »Wenn Anarchie Herrschaftslosigkeit heeßt,« – sagte Glaser zu Burdinski, »dann bist du ooch 'ne Art Anarchist. Un ick wär' ooch dafür, wenn ick nich sähe, wie weit die Menschen noch davon ab sind, aus freien Stücken Ordnung zu halten. Rejiert müssen se werden. Bei de Engels, da wäre Anarchie am Platze. Uff Erden braucht man immer noch 'ne Knute. Bloß det wir Arbeeter nich länger unter die Knute sein wollen,selber wollen wir se schwingen – fürs erste mal den Kapitalistenstaat abschaffen. Und heite abend, Burdinski, kommste mit in meine Iruppenvasammlung.« Wie Glaser nun auseinandersetzte, waren die Wahlkreise von Berlin heimlich in Bezirke gegliedert, diese in Gruppen. Glaser war ein Gruppenhauptmann. Und heute sollte ein Akademiker einen Vortrag in der Gruppe halten.

Burdinski ging mit Glaser, doch trennten sie sich am Andreasplatz, wo die Sitzung in einer Privatwohnung stattfinden sollte. Sie taten das aus Vorsicht, um nicht einem Spitzel aufzufallen. Im Hinterhaus, vier Treppen hoch, wohnte der Schlossergeselle, bei dem die Versammlung war. Die Stube war voll Menschen, zwanzig mochten es sein, auch ein paar Frauen waren dabei. Zuerst wurden geschäftliche Sachen erledigt, Gelder gezählt, verbotene Schriften ausgegeben und Bons zur Unterstützung der Ausgewiesenen.

Dann hatte Genosse Steinhauer das Wort, ein Buckliger in ärmlicher Kleidung, er hatte Chemie studiert. In fünfzehn Jahren – so führte er aus – werde die sozialistische Bewegung derart angewachsen sein, daß es zum Kampfe mit dem Staate komme. Friedlich könne die Sache unmöglich verlaufen – Bismarck, Puttkamer und Konsorten seien darauf aus, das Proletariat zur Verzweiflung zu treiben. Unerträglich mache man ihm das Leben. Die Regierung verfolge offenbar den [439] Plan, die Arbeiter zu provozieren, daß die Revolution vorschnell ausbricht – um sie dann niederzukartätschen.

Eine Bewegung ging durch die Versammlung, und einer rief: »Wir dürfen uns eben nich provozierenlassen! Das sagt auch Liebknecht!« – Steinhauer wußte den Einwurf sofort zu parieren: »Und recht hat Liebknecht – vor der Zeit dürfen wir uns nicht provozieren lassen – das bekäme uns schlecht. Aber wenn die Partei ein paar Millionen tüchtige Genossen hat, dann ist es Zeit, loszuschlagen. Die Frucht muß reif sein, dann fällt sie vom Baum. Aber dann soll man sie säuberlich aufheben, daß sie nicht zertreten wird. Seht, Genossen, auf diesen Zeitpunkt müssen wir uns vorbereiten. In der Oeffentlichkeit gilt es, die Revolution zu bremsen, damit sie nicht hervorbricht – in der Stille aber müssen wir rüsten, damit uns die Stunde der Entscheidung nicht überrumpelt

Nach dieser Einleitung, die beifällig aufgenommen wurde, ging Steinhauer zu einem Kapitel über, das er revolutionäre Kriegswissenschaft nannte. Von Dynamit war die Rede, von Handbomben und vom Stinkgase Kakodyl. Die Bereitung und Anwendung solcher Mittel wurde dargelegt und durch Zeichnungen erläutert.

Patzke, der zu Beginn des Vortrags noch Geschäftliches zu erledigen hatte, ergriff das Wort und schilderte, wie die Revolutionäre gegen die Berliner Kasernen vorzugehen hätten. Mit einem Schlage müßten die Dächer der umliegenden Straßen besetzt werden – dann seien die Soldaten in der Mausefalle.

Auch von Kniffen war die Rede, mit denen man den Spitzeln ihr Handwerk sauer machen könne. Patzke witzelte, er werde zurzeit wie ein General behandelt: Vor seinem Hause hab' er nämlich 'nen Doppelposten, und wenn er ausgehe, folge ihm seine Leibwache. Aber diese Faulen hätten keinen leichten Dienst;[440] er sei nämlich Dauerläufer und mache sich anheischig, jedem Verfolger zu entwischen oder ihn zu »versetzen«. Neulich habe er sie tüchtig herumgehetzt. Um ihnen zu entweichen, sei er auf die Pferdebahn gesprungen, und nun hätten die Faulen rennen müssen. Von einer Pferdebahn zur andern sei es so gegangen – und dies Verfahren biete den Vorteil, daß der Ausreißer sich ausruhen kann, die Verfolger aber abgemattet werden. Sobald ihnen eine Haltestelle Gelegenheit gibt, wieder nahe zu kommen, müsse der Ausreißer sofort auf 'ne andre Pferdebahn springen. Endlich sei den Faulen die Puste ausgegangen, und sie hätten die Jagd aufgegeben. Ein paar Tage später sei ihm einer von ihnen auf der Straße begegnet. »Na, Herr Polizeirat? sage ick – wie wär's? Solln wr wieder mal 'n kleenet Hindernisrennen riskiern? Da macht der Faule 'n wildet Jesichte und schnauzt: Mensch, Sie haben mir 'ne richtije Herzerweiterung beijebracht! Wenn Sie doch endlich mal ausjewiesen wären! Fünf Pullen Kognak jeb' ick zum besten.«


*


Solche Spitzelabenteuer hatten etwas von einer Seiltänzerei, die wie ein Spiel aussieht und auch gewöhnlich harmlos abläuft – bis mal ein Unfall geschieht.

Derselbe Briefträger, der die verbotenen Schriften gebracht hatte, kam morgens in den Schusterkeller, wo Burdinski an der Arbeit saß, während der Lehrjunge Stiefel austrug: »Nich wahr, Herr Burdinski? Sie sind dem Buchdrucker Ilaser sein Freund? Na, denn sagen Sie ihm, mein Kolleje, wo die Pakete austrächt, bringt ihm morjen ein jefährliches – da is nämlich Schweizerkäse drin.« – Burdinski stutzte: »Schweizerkäse?« Er wußte: das bedeutet die verbotene Züricher Zeitschrift »Der Sozialdemokrat«. – »Ja, Schweizerkäse!« fuhr der Briefträger fort – »un was das Schlimme is: die [441] Pollezei weiß es – un hat vor, die Schriften un zujleich den Empfänger abzufassen. Also muß man vorbeujen!Warnen Sie Ilasern! So, Burdinski! Ick habe mein Jewissen erleichtert; aber nu sorjen Se, det ick keene Nackenschläge krieje. Bloß Ilaser un Frau Klein, keen andrer darf wissen, det ick jepfiffen habe.«

Weil Burdinski besorgte, er könne beobachtet werden, schickte er Frau Klein zu Glaser. Als sie wieder zurück war, sagte sie, Glaser wolle ein seines Ding drehn, um die Polizei auch noch zu foppen.

Die Sache entwickelte sich nun folgendermaßen: In der Tat erhielt Glaser ein Paket, versiegelt, mit Wertangabe. Es kam aus Danzig, der Absender gab sich für einen Seiler aus und hatte als Inhalt »Seilerware« bezeichnet. Glaser öffnete mit Vorsicht, um die Pakethülle möglichst wenig zu beschädigen. Das Bündel Zeitschriften nahm er heraus und brachte es sofort in Sicherheit beim Nachbar Sargschreiner. Zurückgekehrt, tat er in die Papierhülle etwas hinein, das an Form und Gewicht den herausgenommenen Schriften ungefähr gleichkam, und so war das Paket äußerlich wiederhergestellt. – Die Polizei erschien weder am ersten noch am zweiten Tage. Sie lauerte draußen, denn Glaser beobachtete verdächtige Gestalten. Am dritten Tage nahm er das Paket unter den Arm und ging aus. Er merkte, daß ihm Spitzel folgten, tat aber harmlos und ging in die Gartenhalle der Brauerei Pfefferberg. Hier waren Genossen zu einer Tafelrunde beisammen – fragend waren ihre Blicke auf Glaser gerichtet, und wie er mit einer Kopfbewegung auf die herumlungernden Spitzel aufmerksam machte, schmunzelte er verstohlen. »Da wäre nu der Käse!« sagte er laut, das Paket auf den Tisch werfend. Die Genossen beugten sich darüber, es wurde geöffnet, und freudiges Johlen begrüßte den Inhalt.

[442] »Halt!« schnauzte da eine Polizeistimme – »keiner rühre sich von der Stelle! Und her mit dem Paket!« – »Nanu?« murrten die Genossen, und Glaser trumpfte laut auf: »Für den Inhalt sind nich wir verantwortlich, sondern der Absender, der den Strick geschickt hat.« – »Strick?« fragte der Polizeibeamte. Im Pakete war allerdings ein Strick, dazu ein Holzklotz. »Un hier is noch wat Jeschriebenes!« sagte Ilaser und las laut vor:


»Dem Judas gebt die Silberlinge,

Dazu den Klotz und diesen Strick –

Den Klotz zur Fußbank – und die Schlinge

Um sein verfluchtes Strolchgenick!«


Das Hohngelächter, in das die Genossen ausbrachen, mochte der Polizei wie Rachegeheul in die Ohren gellen. Der führende Beamte bekam einen roten Kopf. Um seine Autorität zu retten, beschlagnahmte er das Paket und erklärte, das weitere werde sich finden. Die abziehende Polizei mußte spitzige Bemerkungen über sich ergehen lassen, und die zechenden Genossen sangen:


»Mang uns mang is keener mang,

Der nich mang uns mang jehört!«


Die Exemplare des Züricher »Sozialdemokraten«, die im Sargmagazin versteckt waren, ließ Glaser liegen, bis er glaubte, nicht mehr scharf beobachtet zu werden. Dann fuhr aus dem Tore des Hauses ein Handwagen mit einem Kindersarge, und niemand ahnte, daß darin die verbotenen Schriften seien.

Burdinski hatte sich bereit erklärt, in einem bestimmten Hausflur den Wagen zu erwarten, aus dem Sarge die Schriften zu nehmen und fünf Genossen zu überbringen, die im Volkskaffeehaus Stralauer Straße warten sollten. Als Frau Klein von diesem Plane erfuhr, machte sie geltend, die Aufpasser, die [443] noch immer den Schusterkeller im Auge hätten, könnten ihm nachschleichen. Lieber wolle sie selber die Sache ausführen. Ein Paar Stiefel wolle sie tragen, als ob sie Kundenbesuch mache. Ihr zu folgen, erscheine den Spitzeln längst als verlorene Mühe. Burdinski fügte sich dem Vorschlage.

Die Sache ging so weit gut, daß Frau Klein im bezeichneten Hausflur die Schriften empfing und ins Volkskaffeehaus brachte, wo die Genossen harrten. Als jeder sein Paket erhalten hatte, erhoben sich drei Pferdebahnkutscher, die an einem Tische Karten gespielt hatten, und erklärten die Gesellschaft für verhaftet. Rollenden Auges stand Frau Klein da und sagte schneidend: »Verhaftet? Wer sind Sie überhaupt? Lassen Sie Ihre Hundemarke sehn!« – »Frechdachs!« knurrte einer der Beamten und zeigte sein Stück Blech.

Die Verhafteten wurden mit dem grünen Wagen nach Moabit befördert, ins Zellengefängnis – ein böser Prozeß war zu erwarten. Burdinski war trostlos – lieber wär's ihm gewesen, selber verhaftet zu sein, als die Frau, die er von Herzen gern hatte, in Gefangenschaft zu wissen und das Klagen der Kinder zu hören. Etwas leichter wurde ihm, als Frau Ahlert bat, ihr die Kinder ins Haus zu geben – und als dann von Frau Klein folgender Brief kam:


»Lieber Burdinski!


Es geht mir gut, ich erhole mich in der Ruhe hier, und nun bin ich froh, daß die Kinder versorgt sind. Tu mir den Gefallen, Dich nicht zu bekümmern. Tröste Dich mit Deinen Büchern! Wir haben beide ein gutes Gewissen.«

[444] Hainlin heiratet

Spielten sich diese Schicksale im Kreise der Genossen ab, mit denen Hainlin Umgang hatte, so ging an einer andern Stelle seines Horizonts der Stern auf, der ihn fesseln sollte. Im Konzerthaus Bilse sah er unterm Publikum Neumann nebst Schwester, und als er ihnen an der Garderobe begegnete, kam es zu einem Gespräch, das beide Teile gern fortgesetzt hätten. Hainlin war einverstanden, als Neumann vorschlug, mitsammen in die Griechische Weinstube zu gehn.

Neumann benahm sich freundlich und burschikos, seine Schwester als stille Beobachterin, doch liebenswürdig. Der Reiz ihres Körperbaues wurde noch gehoben durch das dunkelseidene, mit Rot verbrämte Gewand. Im kühn geschlungenen Braunhaar glühte ein Granatschmuck. Die Farbe des sanft gerundeten Gesichts erinnerte an gelblichen Marmor, nur daß die Wangen von zarter Röte durchhaucht waren. Verstohlen betrachtete Hainlin das hellgraue Auge, das durch den Schleier dunkler Wimpern rätselhaft wirkte. Es ähnelte einem Waldsee, aus dem eine Nixe lugt und lauscht.

Von dem Pianisten, der hinreißend gewirkt hatte, ging das Gespräch zu Chopin über, und Neumann machte die Bemerkung: »Chopin? Mit dem treibt meine Schwester Götzendienst. Spielt ihn aber nicht übel – das muß ihr sonst mäkelnder Bruder anerkennen.« Hainlin verhehlte nicht, sein Heros sei der Himmelstürmer Beethoven, und dem gegenüber erscheine [445] Chopin weichlich. »Ich widerspreche durchaus nicht,« sagte Frau Marianka – »aber die träumerische Passivität, die Weiblichkeit, wie Sie sagen, hatauch ihr Recht. Sie, Herr Hainlin, sind ein Mann – ich glaube fast, ein geistiger Titan, der auf hohe Berge klimmt. Ich bin ein Weib, durch Leiden mutlos geworden – im trüben Winkel träum' ich bei meinem Chopin.«

Etwas beschämt durch ihre Nachgiebigkeit milderte Hainlin sein Urteil über Chopin und rühmte dessen Präludien und Tänze. Die Wärme, mit der er jetzt sprach, berührte die Geschwister wohltuend. Freudig horchten sie auf, als eine Wendung des Gesprächs verriet, Hainlin sei der Verfasser gewisser Aufsätze über Musik.

Mariankas Anmut und schwärmerische Hingabe hatte auf Hainlin, der sich sonst einsam fühlte, solchen Eindruck gemacht, daß er in seiner Kammer lange wachträumend lag. Mit Mariankas Worten beschäftigt, mit ihrer schmeichelnden Stimme und dem wehmütigen Lächeln ihres weichen Gesichts. Die Nixe des Waldteiches stieg vom dunkeln Grund als weiße Seerose empor, den Kelch öffnend, während der Mond mit leisem Klingen schien, und Nebelgebilde zwischen den Erlen brodelten. Dann wieder war die Seerose ein Marmorleib, kühl, doch voll heimlicher Glut – und diese Glut zu wecken, war bangsüße Lockung.

Ein Chopin-Abend, den man verabredet hatte, gestaltete sich für Hainlin zum Ereignis. Pochenden Herzens ging er hin, noch im Banne seiner Träumerei. Auf das nasse Straßenwetter wirkte wohlig der warme Salon mit der bunten Ampel, der Samt weicher Sessel, rings die Blumen und das üppige Blattgewächs. Außer Marianka und ihrem Bruder war eine junge hübsche Dame anwesend, Neumann machte ihr den Hof. Traulich plauderten die zwei Paare, deren jedes fast für sich blieb. Den Imbiß bot ein kaltes Büfett, von gutem Geschmack [446] zusammengestellt. Als nach dem Tee Herr Neumann Sekt perlen ließ und Mariankas weiße Hände über die Tasten des Flügels huschten, wurde die Stimmung ein bang süßes Erschauern: Chopin waltete, der Zauberer. Es war, als harfe einsame Sehnsucht zum Wimmern einer Dachtraufe – dann blaute Sommernacht – ein Park im Mondschein, und auf dem Strahl des Springbrunnens gaukelt eine Glaskugel. Was huscht aus dem Schatten blühenden Gesträuches? Ein bleiches Weib – nackten Armes hebt sie einen blinkenden Dolch zum Monde ...

Hainlin saß neben Marianka, um ihr die Noten zu blättern. Leise wiegte sie den Kopf, Hainlin anlächelnd, als ob sie mit ihm tanze. Und es verfing sich seine Seele in ihre Seele – ähnlich einem Nachtschmetterling, der in ein erleuchtetes Gemach geraten, die Wände entlang taumelt und bedenklich ums Licht schwirrt.

Dann saßen Marianka und Hainlin beisammen auf dem Sofa. Mokka nippend, sprachen sie leise von ihren Schicksalen. Marianka gestand, ihr sei ein Stein vom Herzen, nun die Scheidung von ihrem Manne endlich Rechtskraft habe. Was sie gelitten, solle jetzt verschwiegen bleiben – denn diese Stunde offenbare ihr, daß es noch ein Glück gebe. Gerührt ergriff Hainlin ihre Hand, eine samtweiche, kleine Hand, und hielt sie zwischen seinen Händen, was sie dankbaren Blickes geschehen ließ.

»Woran denken Sie?« hauchte Marianka, »erzählen Sie mir von sich! Wenn Herzen aneinander Anteil nehmen, solcher Zusammenklang ist doch die heiligste Musik.«

Und es berichtete Hainlin von seiner Jugend, schilderte sein Albdörfle, das Leben im Kloster Maulbronn und im Tübinger Stift, verschwieg auch nicht seine trauervolle Liebe zu Rosel.

»Ein Jüngling liebt ein Mädchen,« lächelte Marianka wehmütig – »das hat einen andern erwählt – der andre liebt eine [447] andre und hat sich mit dieser vermählt ... Es ist eine alte Geschichte. Rosel ist also nicht mal glücklich mit dem andern? Du lieber Himmel! Die Menschen werden genarrt von einem Dämon, der ihnen, wo sie das Glück ergreifen können, Bedenken einflößt, allerlei Wenn und Aber, so daß sie die günstige Stunde versäumen. Hinterher heißt es: Was du in der Minute ausgeschlagen, bringt keine Ewigkeit zurück.«

Hainlin schwieg beklommen, er fühlte, daß ein Schicksal sich entscheiden wolle. »Nun?« fragte Marianka leise – ein Schmeicheln war in ihrer Stimme, fast ein Flehen.

»Ich?« fragte er verwirrt – »wenn mir das Glück endlich einmal hold wär, ich möcht's schon fest halten.« Sie reichte ihm ihre Hand, er drückte seine Lippen darauf – und es war, als flüstre sie: »Liebling!«

Herr Neumann nahm am Flügel Platz, um seine Dame, die etwas singen sollte, zu begleiten. So hatte das trauliche Geplauder ein Ende – konnte auch nicht wieder aufgenommen werden, da man hinterher gemeinsam an einem Tischchen Früchte aß. Nur durch Blicke und anspielende Worte drückten Hainlin und Marianka ihr Einverständnis aus.

Die nächsten Tage waren für Hainlin voll seelischer Unrast. Marianka beschäftigte ihn fortwährend. Störte ihm den Schlummer, verwirrte seine Gedanken, wenn sie sich zur Arbeit sammeln sollten, ließ ihn aufspringen, als hab' er etwas zu suchen. Ungeduldig seufzte er, es war ihm, als solle jemand kommen. Auf der Flöte blies er schmachtende Weisen, brach aber plötzlich ab und ging auf die Straße. Ein bewußtes Ziel hatte er nicht, fand sich aber bald vor dem Hause, wo Marianka wohnte. Er schwankte, ob er sich damit begnügen solle, zu den Fenstern hinaufzublicken, oder ob er einen Besuch wagen dürfe. Die Aufwartung, die er am Tage nach dem Chopin-Abend [448] gemacht hatte, war insofern verfehlt, als bloß Neumann ihn empfangen hatte. Als Hainlin nun zum andernmal die Klingel gezogen hatte, öffnete das Stubenmädchen und erklärte mit etwas spöttischem Bedauern, die gnädige Frau sei abermals abwesend, auch Herr Neumann. Aber dann machte ihm Neumann einen Gegenbesuch und brachte von seiner Schwester folgende Zeilen: »Wohl ohne Beteuerung glauben Sie mir, lieber Freund, daß ich recht betrübt war, Sie beide Male zu verpassen. Und nun kommt auch noch ein Brief von meinem Rechtsanwalt, der mich in Vermögensangelegenheiten nach Kattowitz ruft. In einer Woche aber bin ich zurück, und dann – nicht wahr? soll unsre Musik jubeln: Krone des Lebens –« Hainlin kannte dies Goethewort und ergänzte den Gedankenstrich: »Krone des Lebens, Glück ohne Ruh, Liebe, bist du!« Bangfroh pochte ihm das Herz. Aus dem Gespräche mit Neumann, das er auf Marianka zu lenken wußte, erfuhr er etliches über ihren Lebensgang: Die Geschwister waren auf einem schlesischen Gute, dann in Kattowitz aufgewachsen – ihr Vater, frühzeitig Witwer, war Direktor einer Kohlengrube gewesen – Geldinteressen hatten Mariankas Verheiratung mit einem Großkaufmann zustandegebracht – sein rücksichtsloses Benehmen hatte die Ehe gestört – der Scheidungsprozeß war völlig zu Mariankas Gunsten verlaufen. Und nun würde sie – wie Neumann sagte – ihre von Schwermut angewelkten Blütenblätter abtun, um sich zu neuer Frische zu entfalten.

Plötzlich in der Rolle eines gern gesehenen Freiers, nutzte Hainlin die vom Schicksal gewährte Atempause, um sich über sein Herz klar zu werden. In einem Briefe an Rosel schilderte er offen, was vorgefallen war, und fragte gradezu, ob es ihr schmerzlich sein würde, wenn er heirate. Rosels unverzügliche Antwort lautete: Daß es ihr schmerzlich sei, könne sie nicht [449] leugnen – er aber solle sich keine Vorwürfe machen; wofern solche überhaupt am Platze seien, habe sie selber die Schuld. Sei doch von ihr zuerst der Bund verleugnet, der zwei Herzen seit der Kindheit verschmolzen halte. »Verleugnet« sei nicht ganz das rechte Wort – treue Liebe zu ihrem Jörgle hege sie noch immer, und einzig das Schicksal sei's, wodurch ein Schein von Untreue entstehe: »Frau Bolkendorf bin i worden, hab mir halt keinen Ausweg gewußt – doch mein Herz bleibt stets bei Dir! Kann man denn nicht einen Menschen lieben von ganzer Seele und zugleich noch einen andern? Darum hab ich meinem Manne gesagt: Tu nicht an mir zweifeln! Wenn der liebe Gott für jedes seiner zahllosen Kinder unzerstückelte Liebe hat, dürfen auch wir, zum Bilde Gottes geschaffen, nach solcher Liebe streben. Und Dir, Jörgle, gilt das gleiche. Heirate Du Deine Marianka! Sei glücklich mit ihr! Behalt aber e bißle lieb Deine Dich segnende Rosel.«

Diesen Brief netzte Hainlin mit Tränen einer seltsam schmerzlichen Freude. Leichter war ihm das Herz – wußte er doch nun, daß er Marianka heiraten dürfe, ohne in Widerspruch mit sich zu geraten. Als er zu ihr kam und sie allein fand, und als aus ihrem Auge zärtliches Verlangen blühte, umfing er sie wortlos.

Als das Paar zur ersten Aussprache gekommen war, mochte Hainlin Rosels Brief nicht verhehlen. Marianka las und gab ihn lächelnd zurück. War Schelmerei in ihrem Lächeln? oder eine Art Spott? »Ihr guten Kinder! Eine himmlische Liebe macht mich nicht eifersüchtig. Aber komm', Schatz! Jetzt zeig ich dir, wie Marianka liebt.« Und in weiche Arme zog sie ihn zu glühender Liebkosung.

Mit der Hochzeit wollte man nicht zögern – die Zurüstung erforderte wenig Umstände, da das Paar die vorhandene Wohnung beibehalten wollte. Marianka legte ihre Vermögensverhältnisse [450] dar – Hainlin war überrascht, eine so begüterte Braut zu haben. In die Freude, materieller Sorgen entrückt zu sein, mischte sich Verschämtheit darüber, daß er sich ernähren lassen solle von seiner Frau. Er verhehlte das nicht. »Aber, Schatzl!« schmollte Marianka – »also besser würde dir's passen, wenn ich arm wäre? Möchtest die Abhängigkeit von dir auf mich abschieben? Holla, Freundchen! Das Zeitalter der Frauenemanzipation hat begonnen – lange genug ist die Frau des Mannes Kreatur und Haremsdame gewesen – jetzt wird's anders! Ich habe jedenfalls den Ehrgeiz, mein Schatzl freizuhalten, und das muß er annehmen, sonst kommt etwas Herbes in mein Glück. Und gleich heute fahren wir aus, dich auszustaffieren zum Ehemann comme il faut. Hörst du? Oder soll ich deine Sklavin sein?« Unter ihren Schmeichelreden gab er nach und fühlte sich wie ein verhätscheltes Kind.

Sie schenkte ihm ein Portefeuille, gefüllt mit vielen Geldscheinen, ließ eine Droschke holen und fuhr mit ihm der Reihe nach zu den Geschäftsläden, wo Einkäufe zu machen waren. Beim Juwelier wurden ein paar Ringe erstanden – der für Hainlin bestimmte hatte einen gleißenden Diamanten. Einen Anzug aus Samt kaufte Marianka ihrem Verlobten – er sei ein Künstler, sagte sie, und müsse auch so aussehen – übrigens hebe sich sein Goldhaar vom glänzenden Schwarz wundervoll ab. Hainlin war wie berauscht von den Zärtlichkeiten, mit denen sie ihn überschüttete.

Die Hochzeit sollte so intim und still wie möglich sein. In Grünheide, einem Dörfchen, das Hainlin auf seinen Streifereien durch märkische Landschaft entdeckt und liebgewonnen hatte, fand sich der alte Pfarrer bereit, das Paar zu trauen. Neumann nebst seiner Freundin und Burdinski waren die Trauzeugen im Kirchlein, das auf einem Hügel am Werlsee lag.

[451] Nach der Feier gab es im Pfarrhause ein Frühstück, zu dem Marianka allerlei Gutes mitgebracht hatte. Eine Kahnfahrt erfolgte, zur Liebesinsel. War auch das Wetter spätherbstlich rauh, so glühte die Gesellschaft vom Sekt. Uebrigens wurde am Strande der Insel, zwischen gelbem Schilfrohr und hochstämmigen Erlen, Feuer gemacht, um Kaffee zu kochen. Burdinski, anfangs niedergeschlagen, weil Frau Klein noch immer in Untersuchungshaft saß, taute auf, zumal die Landschaft mit den Seen und moorigen Fließen, den Schilfmassen, Erlen und Kiefern an seine masurische Heimat erinnerte.

Als man die Liebesinsel wieder verlassen hatte und an einem Landungssteg, der sich zufällig darbot, angelegt hatte, trat aus seinem Häuschen ein grauköpfiger Mann. Sein Pfeifchen schmauchend, grüßte er die Gesellschaft und ließ sich auf ein Gespräch ein. Er sei der olle Krause, sagte er, seines Zeichens ein Schiffer, aber zu seinem Handwerk nicht mehr recht tauglich. Immerhin wolle er demnächst wieder aus einen Spreekahn gehen, zu seinem Sohn; zum Steuern sei er ja noch zu brauchen. Das Haus hier wolle er verkaufen. Es sei ihm jetzt zu einsam – vor ein paar Wochen nämlich habe er seine Ehehälfte verloren. Mit einem Kauflustigen unterhandle er bereits – der wolle bloß zu wenig zahlen.

Hainlin bat, das Häuschen besichtigen zu dürfen – es war ein ganz schlichtes, doch gemütliches Heim mit hübschem Garten. Den Obstertrag rühmte der Alte. »Ha!« sagte Hainlin – »alleweil hat mich verlangt, Gärtner zu sein – jetzt bietet sich mir e Gärtle dar mit Häusle! Und ums Geld bin i net verlege. Meine Schriftstellerei hat mir e Sparkassenbüchle eingebracht. He, Marianka, waas meinscht? Soll i kaufe?« – »Wie es dir behagt, Schatzl! Mir ist's recht!« entgegnete sie, und Neumann blinzelte zustimmend; den Preis des Grundstückes hielt er für sehr bescheiden.

[452] »Abgemacht!« erklärte Hainlin – »ich bin also bereit, zu kaufen.« In Gegenwart des Pfarrers wurde die Anzahlung geleistet – Hainlin strahlte vor Freude. Als man nun das erworbene Grundstück im einzelnen betrachtete und – wie das so üblich – gleich Pläne zur Umgestaltung durchgesprochen hatte, scherzte Hainlin: »He, Burdinski! Denk emal! Ausgezogen bin ich heut, mir meine Frau zu hole – aber net bloß, daß ichdie jetzt hab, e Fraule schön und klug und gut –dazu han i noch Eigentum gefunde, e Häusle mit Garte – e Hütte traulich am stillen See, wie im Märle von Undine, gelt?«

Der alte Pastor, den der Sekt etwas duselig gemacht hatte, wollte geistreich sein: »Saul, der Jüngling, Sohn des Kis, war ausgezogen, die verirrte Eselin zu suchen – und was fand er? Ein Königreich!«

»Hörst du's, Marianka?« witzelte Neumann – »mit dem Königreich ist diese Hütte gemeint – und wer folglich mit der verirrten Eselin?« – Der Pastor blickte unsicher: »Ich wollte bloß sagen, hier unser junger Ehemann sei geradezu ein Glückspilz!«

Der alte Fischer Krause horchte auf, und wie er begriff, was für eine Gesellschaft dies sei, streckte er Hainlin die Hand hin: »Ach so! Sie hebben Hochzeit jemacht! Da wünsch ich ooch Ilück!«

Inzwischen faselte der Pastor weiter: »Ach ja! Das Sprichwort von den zwei glücklichen Tagen bewährt sich hier – den einen hat man, wenn man's Grundstück kauft, den andern, wenn man's wieder los ist.«

»Na, ich danke!« lachte Neumann – »was zwi schen diesen zwei glücklichen Tagen liegt, dürfte folglich mit mancherlei Verdruß durchwachsen sein.« – Der entgleiste Pastor suchte einzulenken: »Ich meine bloß, das Sprichwort trifft insofern zu, als unser frischgebackener Ehemann, der hier die reizende [453] Hütte gekauft hat, den einen der beiden Glückstage erlebt – den andern aber hat heute der Verkäufer – hab' ich recht, Vater Krause?«

Der Gefragte schien schwerhörig zu sein – wie ein Hörrohr hielt er die Hand – laut sprach nun der Pastor auf ihn ein: »Schließlich sind Sie doch froh, daß Sie se los sind! He?« – Erst blickte Schiffer Krause den Pastor stutzig an, dann paffte er aufgeregt aus seiner Pfeife und meinte: »Ob ick froh bin? Wie man's nimmt, Herr Pastor! Vadruß? Ja woll, den hat se mich dicke jemacht! Aber seit se nu fort is, fühl' ick mir doch so einsam – un möchte sie schon zurücke holen.«

Hainlin, der das auf die Hütte bezog – wie ja auch der Pastor – erklärte: »Aber, lieber Mann! Sie können sie ja behalten! Wenn ihnen der Verlust so schmerzlich ist.« – Krause blickte verdutzt – er begriff nicht. Neumann rief ihm ins Ohr: »Wenn Sie wollen, läßt sich die Sache wieder rückgängig machen.« – »Rückjängig?« stammelte Krause – »wenn se doch dot is!«

Zu einem schreienden Lachen verzog Neumann das Gesicht: »Seine Frau meint der Mann – und wir reden von der Hütte!« – »Aber, Krause!« lächelte der Pastor – »wir reden doch nicht von Ihrer Frau!« – »Nich? Hebben Se nich jesaacht, ick soll froh sind, det ick ihr los bin? Hebben Se nich von die zweeIlückstage jesprochen?« – Neumann schlug auf den Schenkel: »Aus – ge – zeich – net! Auch in derEhe gibt's zwei glückliche Tage! Den einen, wenn man seine Ehehälfte erworben hat, den andern, wenn man sie wieder los ist! Aus – ge – zeich – net!«

Zwischen Heiterkeit und Verlegenheit biß sich Marianka auf die Lippe, Hainlin, der gutmütig lachte, suchte die komisch zerrüttete Lage wiederherzustellen: »Ha freili, mir grauet vor der [454] Götter Neide! Ond wer weiß, ob mir, dem neuen Eigentümer dieses Gartenhäuschens, noch solch e froher Taag beschieden ist wie der heutige. Eins aber sag i dir, Burdinski: Wenn Frau Klein wieder in Freiheit ist, zieht sie mit den Kindern da heraus, sich zu erholen, gelt? Ond dees wird mir sicher ein Glückstag.« Burdinski hatte Tränen im Auge – die Lippen zusammengepreßt, schüttelte er dem Freunde die Hand.

So hatte Hainlins Ehe einen guten Anfang genommen. Doch auf heiteres Wetter folgt graues Gewölk: Als er eine Woche später vom Bahnhof Fangschleuse nach Grünheide ging, Angelegenheiten des gekauften Grundstückes zu erledigen, war ihm das Herz schwer, und er wußte nicht warum. Beunruhigte ihn vielleicht das Grundstück? Kam der Rückschlag auf die Freude des Kaufs?

Plötzlich sah er den Ring an seinem Finger blitzen – und mit diesem Blitz war ihm sein Inneres aufgehellt. »Verheiratet bischt!« sprach er zu sich – »ond net an Rosel!«

Wie Echo klang Neumanns Spottgelächter: »Aus – ge – zeich – net! Auch in der Ehe gibt's zwei glückliche Tage! Den einen, wenn man die Ehehälfte erworben hat – den andern, wenn man sie wiederlos ist – haha!« – Scheu blickte sich Hainlin um – Kiefernstämme sah er, im rauhen Winde stöhnten die Wipfel.

[455] Zwischen Heimat und Fremde

Die Anzeige von seiner Hochzeit hatte Hainlin auch an Marga Deutges geschickt oder – wie sie jetzt hieß – Frau Marga Osterkamp, geborene Deutges, in Harburg. Jener Fabrikant, mit dem die Bonner Pensionatsschülerin verlobt gewesen war, hatte sie heimgeführt. In ihrem Glückwunschbrief hieß es: »Wissen Sie noch, Herr Hainlin, wie Sie von der Ferne sagten, sie habe was Heiliges? Es stimmt – und doch möcht' ich, wir wären nicht so weit voneinander getrennt. Ich muß oft seufzen. Nur in einer Hinsicht hab ich's glänzend: Holde, gesunde Kinderchen sind mir geschenkt – ein Knabe und zwei Mädchen. Wenn Sie mal an die Waterkant kommen, müssen Sie uns besuchen! Oh, dann wollen wir vom Kölner Karneval plaudern, wollen alles Liebe und Leidige von damals durchhecheln.«

Rosel hatte zur Hochzeit nebst einem treuen Briefe ein Album mit Photographien gesandt. Alles Schwäbische, wofür Hainlin schwärmte, war hier vertreten: Rosel selbst natürlich und ihre Mutter, Onkel Guhl, Frau Schneckle und Berta. Ferner Ansichten vom Tübinger Stift, von Hohen-Tübingen und der Neckarbrücke, von Bebenhausen, Einsiedel und der Wurmlinger Kapelle, sogar vom Schnützelputzhäusel.

Hainlin war tief bewegt von dieser Gabe und brütete über einer Landkarte der Alb. »Spazierst du wieder mal im Ländle?« sagte Marianka und blickte ihm schmeichelnd über die Schulter. »Wir müssen doch mal hin! Wenn wir die bisher versäumte [456] Hochzeitsreise an die Riviera nachholen, könnten wir ja den Abstecher machen in Jörgs Märlesreich.«

Rosels Bild hatte Marianka lange betrachtet, dann fragte sie kühl: »Und die liebst du? Warum eigentlich?« – Hainlin fühlte einen Stich in seinem Herzen – fremd kam ihm Marianka vor. Da er schwieg, fuhr sie fort: »Ihr habt euch seit eurer Kindheit lieb, na ja! Aber Kind bleibt man nicht – und sie ist jetzt schon Mitte der Dreißig – übrigens eines andern Frau – wohl richtiger Krankenpflegerin. Die Aermste! Ich kann mir denken, wie sie dich vermißt. Aber du, warum bist du so vernarrt in sie?« – Nur mit einem traurigen Blick antwortete Hainlin und einem Zucken seiner Lippen – dann ging er in sein Studierzimmer.

Die Wohnung in der Charlottenstraße war, was man elegant und komfortabel nennt, doch Hainlin wollte sich da nicht heimisch fühlen. Die Fenster waren mit Gardinen verhängt, daher nicht hell genug – überdies fast ohne Sonnenschein. Schwere Teppiche machten den Schritt lautlos, Decken mit Stickerei lagen auf den Möbelplatten. Die großen Gemälde an den Wänden waren anspruchsvoll gerahmt, hatten aber nichts Warmes. In der Glasschale zwischen blütenlosem Blattgewächs schwammen Goldfische, schluckten das langweilig klare Wasser und glotzten durch die Wand des Kerkers – alle paar Wochen lag einer mit dem Bauch an der Oberfläche, dann sagte das Stubenmädchen: »Inädche Frau müssen wieder 'n paar neue kaufen.«

Dieses Stubenmädchen war eine fade Person. »So Leut mag i net, wo bloß am Lohn hange ond ohneHerz schaffen. Mädle, wo oft alle paar Monat ihre Herrschaft wechsle, hänt kein Heim und können die Wohnung net heimisch machen.« – »Schatzi, du bist zu anspruchsvoll. Ich verlange vom Stubenmädchen die ausgemachte Arbeit, weiter geht sie mich nichts an. Heimisch sollen sie sich fühlen? Ach Kind! Glaube mir: man [457] verliert bei den Leuten an Respekt, wenn man sich mit ihnen gemein macht – sie werden dummdreist und tanzen einem schließlich auf der Nase herum. Mein kluger Vater sagte immer: Distanz muß man wahren für alles! Man darf die Leute nicht als gleichberechtigt behandeln. Dein Träumerherz möchte immer mit Charakteren rechnen, wie sie im Reiche Gottes sind. Aber da wohnen wir nicht, wir wohnen in einer Welt, wo's recht gemischt hergeht. An Burdinski und Frau Kleins Erfahrungen siehst du ja, was dabei herausspringt, wenn man aus Schwärmerei anrennt gegen unsere Staatsordnung, die doch wie eine Mauer gefügt ist. Glaube mir – ich bin kühle Rechnerin – niemals werden diese Sozialisten zur Weltherrschaft gelangen. Aus dem einfachen Grunde, weil bloß der Egoismus sich aufs Herrschen versteht, und weil die Menschen im Egoismus wurzeln – Begehren und Genießen bleibt immer heiß und wild.«

Schweigend starrte Hainlin vor sich hin. Marianka sprach weiter: »Sechs Monate also hat die arme Frau Klein bekommen? Und nun wird sie wohl noch ausgewiesen wie ihr Mann? Was meinst du?« – »Zur Ausweisung von Müttern hat sich dr Puttkamer noch net verstiege. Er scheut vor der öffentlichen Meinung, und die ischt halt gegen Ausweisung von Frauen, zumal wenn sie Kinder haben.«

»Es war ein guter Einfall von dir, Frau Klein mit ihren Kindern nach Grünheide einzuladen. Im Freien kann sie sich erholen. Aus dem Gefängnis in den dustern Schusterkeller überzusiedeln, das wäre kümmerliche Befreiung. Schade nur, daß Burdinski nicht auch nach Grünheide kann. Sollte sich nicht draußen für ihn eine Existenz finden? Er könnte ja was anderes betreiben als die Schusterei.«

»I han auch schon dran denkt. Aber dem steht ebbes im Weg. Frau Klein ischt halt ihres Mannes Frau. Daß er [458] ausgewiesen ist, betrachtet Burdinski als einen Grund, der erst recht zu Rücksicht verpflichtet.«

»Ach wirklich?« staunte Marianka. – »Ich hätte kaum gedacht, daß Proletarier so zart die Ehe respektieren – es heißt doch, die Sozialisten seien für Weibergemeinschaft.«

»Sogar für All gemeinschaft – hab ich gesagt – aber Allgemeinschaft ist Güte! Aus Güte hält Burdinski zu Frau Klein. Ja, wäre sie Witwe, er würd sie heiraten.«

»Das wäre fabelhaft gutmütig. Sie ist doch arm – und ist keine junge Frau mehr! Zwar noch ganz niedlich – aber sie hat zwei Kinder

»Ha!« lächelte Hainlin – »dees wär für Burdinski erst recht ein Grund zum Heiraten! Liebe Kinder sind's – Kinder sind überhaupt der Ehe Sonnenschein

»Meinst du? Wenn aber zu den zwei Kindern noch ein paar hinzu kommen?«

»Welchen Gärtner tät's net freue, wenn sei Gärtle reiche Frucht hat!«

»Mit dieser Gartenschwärmerei verwirrst du die Frage. Kinder sind nicht immer willkommene Frucht – Kinder fallen den Eltern schwer. Na ja, und wenn man schon das Opfer bringen möchte, um einen Stammhalter zu haben, so wär's doch töricht, darüber hinaus zugehn. Die Franzosen erweisen sich auch in dieser Frage als Kulturvolk – mit ihremZwei kindersystem.«

Mißbilligend wiegte Hainlin den Kopf: »Unna tur ischt dees!«

Sie zuckte die Achsel: »Unnatur ist so ziemlich die ganze Zivilisation – Unnatur ist dieser Teppich, dies Mobiliar, unsere Kleidung, unsere Lebensweise. Du, Schatzl, schwärmst für Natur – ich lasse dir deine Liebhaberei – bin aber nun mal für Kultur

[459] »Diese Franzosen, denen in der Ehe ihre bürgerliche Behaglichkeit oberstes Gesetz ist, sind Egoisten, die ihr Herz knapp halten, bloß damit ihr Geldbeutel dick bleibt.«

Nun wurde Marianka unruhig: »Aber, Schatzl! Wenn's nach dir ginge – wieviel Kinder sollten dann wir haben?«

Lächelnd spreizte er seine fünf Finger. Mit beiden Händen griff sie nach der Schläfe: »Oh!«

»Oder auch sieben – neun – ein Dutzend, wenn du magst!« – »Scherz beiseite! Klar ist doch, daß die Eltern einer Kinder herde nichts weiter sind als derenAnhängsel. Bloß für die Kinder müssen sie sorgen. Aber ich will kein bloßes Mittel für das Menschengeschlecht sein – sondern auch etwas fürmich!« Schmeichelnd legte sie den Arm um seinen Nacken: »Und wär' ich nichts mehr für mich, wie könnte ich dann etwas sein für dich, Schatzl?«


*


Mit dem Frühjahr begann für Hainlin eine besonders glückliche Zeit, insofern die kleine Besitzung am Waldsee seine Liebe zur Gärtnerei befriedigte. Ein paar Wochen hintereinander weilte er draußen. Grub und karrte Dünger wie ein Bäuerlein. Ging mit der Gießkanne, zimmerte eine Laube, war sogar Maurer und Dachdecker. Sonnabends gegen Abend kam gewöhnlich Burdinski, um einen Tag mit seinem Freunde zu verleben und auch seinerseits im Sonnenschein zu hantieren. Zuweilen war noch Frau Ahlert mit den Kleinschen Kindern dabei. Dann betreuten diese ein paar Beete, die man das Kleinsche Rittergut nannte. Besonders die Blumen, mit denen Frau Klein begrüßt werden sollte.

Und endlich, zur Zeit der Lilienblüte, erschien Frau Klein an Burdinskis Arm, von den Kindern umschmeichelt. Ihre Blässe [460] verriet, was sie durchgemacht hatte, doch sie benahm sich rüstig und klagte in keiner Weise über ihre Gefängniszeit. Beunruhigt hatte sie nichts als die Frage, wie die Polizei in Erfahrung gebracht habe, daß im Volkskaffeehaus die Ausgabe der verbotenen Schriften stattfinde. »Es muß doch einer gepfiffen haben!« meinte sie. »Glaser wird keinen Schwupper gemacht haben – der ist vorsichtig. Offenbar hat die Polizei mindestens schon einen Tag vorher Wind bekommen – die drei Beamten erwarteten uns ja. Hier muß was faul sein.«

»Wir werden die Sache untersuchen. Aber jetzt, lassen wir sie ruhen! Jetzt soll uns bloß Liebes und Frohes beschäftigen!«

Man fuhr Kahn – landete auf der Liebesinsel, wo die nunmehr belaubten Erlen und die Birken mit dem lichtgrünen Haar im lauen Winde säuselten. Man ruderte ins Löcknitzfließ, das, mehrere Seen verbindend, eine Sumpfwildnis durchschlängelt. Frösche quarrten, im dichten Schilf schwatzten Rohrsperlinge. Frau Klein träumte verzückt, Burdinski lächelte vor sich hin. Hainlin ließ den Kahn steuerlos – nichts begehrte man als die Junisonne, den blauen Himmel, die weißen Wölkchen, gespiegelt im Wasser, das lispelnde Röhricht mit den schwebenden Libellen, die Süßigkeit der gelben Seerosen, den Harzduft der Wacholderbüsche, die den nahen Kiefernwald säumten. Nun bebten aus Hainlins Flöte wonnige Weisen – er dachte an die schwäbische Heimat – Burdinski an sein Masuren.

Marianka fehlte – sie nahm an solchem Naturgefühl selten teil, an städtischen Interessen hing sie: an menschendurchströmten Straßen, an Konzert und Theater, am Tiergarten, wo sie in den Zelten ein Kaffeekränzchen mit Freundinnen hatte.

Daß die geplante Reise nach dem Süden unterblieb, weil Hainlin vom Grünheider Gärtchen gefesselt wurde, tat Marianka leid, obwohl sie davon kaum etwas merken ließ.

[461] Als sie erwähnte, ihre Erbtante würde es gern sehen, wenn sie mit ihrem Manne für ein paar Wochen zum Besuch käme – die Tante hatte ein Gütchen an der pommerschen Küste –, erwiderte Hainlin, vor Herbst dürfe er seinen Garten nicht im Stich lassen, zumal jetzt das Treibhaus gebaut werde. Wenn aber Marianka gern zu ihrer Tante möge, solle sie doch reisen – die Seeluft werde ihr gut tun.

Marianka reiste also zur Tante, während Hainlin in Grünheide gärtnerte. Aber keine vier Wochen, und er hatte solche Sehnsucht nach Marianka, daß er Frau Klein bat, mit den Kindern für ein Weilchen nach Grünheide überzusiedeln, damit er seiner Frau nachreisen könne.

Mit freudiger Genugtuung empfing ihn Marianka. Ein paar Tage blieb das Paar bei der Tante, dann machte es einen Abstecher nach Bornholm. Auf Hainlins Wunsch war das geschehen – ihn reizte diese naturhafte Insel mit den Granitklippen und Brandungen. Er liebte es, über Heidehügel zu schweifen, die anrollende See zu belauschen, einsame Feldlandschaft zu durchwandern, in einem Bauerngehöft einzukehren und mit den Leuten Dänisch zu radebrechen.

Marianka blieb lieber in Blanks Hotel – las Journale, plauderte mit Hotelgästen, ging zum kleinen Hafen und beobachtete die Abfahrt des Dampfers.

Herr Starke, ein Arzt aus Stettin, leistete ihr zuweilen Gesellschaft – sie sah ihn gern, und auch Hainlin fand ihn leidlich. Starke war ein Hüne von Gestalt, mit durchdringenden Blauaugen, blondem Vollbart, kühner Adlernase. Leidenschaftlicher Segler, nahm er Hainlin mit hinaus in die schäumenden Wellen. Der Schwabe war begeistert vom seemännischen Wesen und von der nordischen Landschaft. »Nordisch?« lächelte Starke – »da sollten Sie erst mal nach Norwegen kommen!«

[462] Und von Norwegens Felsenbuchten war nun viel die Rede. Hainlin schlug Marianka vor, die nächste Sommerreise nach Norwegen zu machen. Sie war einverstanden: »Aber Sie, Herr Doktor Starke, müssen Führer sein.«

Als das Ehepaar auf dem Dampfer war, der es heimführen sollte, und bei der Abfahrt Marianka mit dem Taschentuch wedelte, rief Starke: »Also, gnädige Frau – nächsten Sommer in der Mitternachtssonne – am Malström!«

»Wo?« rief sie zurück, während der Dampfer zu schaukeln begann. – »Am Malström! Das ist der große Strudel bei den Lofoten. Den möcht' ich durchsegeln! Sind Sie dabei? Nicht? Na, denn fahr ich alleine! Far well!«

»Dees ischt e Kerle!« sagte Hainlin anerkennend, als der Hafen, wo der verbliebene Starke den Hut schwenkte, allmählich zurückwich. – »So stelle ich mir Tell vor,« meinte Marianka – »solche Naturwüchsigkeit hab' ich gern.«

[463] Die Nordlandreise

Mitte Juni, so war mit Starke ausgemacht, wollte man sich in Saßnitz treffen und mit dem Dampfer über Malmö fahren, zunächst nach Drontheim. Es ging auch alles plangemäß. In der Stadt am blauen Fjord, zwischen malerischen Höhenzügen, erfolgte ein kurzes Ausrasten – dann fuhr der Touristendampfer stracks gen Norden.

Nacht gab es nicht mehr. Um Mitternacht schwebte die Sonne überm Horizonte, glutig wie bei uns die Abendsonne. Da es fortwährend hell war und die Blicke nach der Küste, in die Buchten hinein, auf die Klippen und Bergriesen immer neu gefesselt wurden, kam die Reisegesellschaft nie zur Ruhe, fühlte sich müde oder nervös aufgepeitscht. Hainlin saß auf Deck und blätterte in einem Buche: »Hör', Marianka, was der Tegner sagt: Mitternachtssonne mit blutroter Pracht färbte die Bergeszinnen – es war nicht Tag, es war nicht Nacht, es schwebte mitten innen.«

»Ach ja!« gähnte Marianka – »die Sonne sieht aus wie ein Auge, das vom Wachen gerötet ist. Daß hier die Nacht fehlt, kommt mir wie eine Lücke in meinem Leben vor. Die Natur ist ja hier recht interessant – aber ich sehne mich nach unserm dustern Berliner Zimmer und dem weichen Bett. Kultur ist eben auch 'ne schöne Sache.«

[464] Ganz großartig wurde die Seelandschaft, als die Lofoten kamen. Eine Kette von Felseneilanden, dem Eismeer vorgelagert, erstrecken sie sich vom norwegischen Festlande in den Ozean – wie eines Riesenfisches Gerippe, das in die Wirbelknochen und Gräten zerfallen ist.

»Die Dolomiten!« jubelte Starke, als Felsenberge wie Zinken aus der See ragten. – »Die Dolomiten in den Ozean gestellt!«

Mit einem kleinen Postdampfer ging es nun von Insel zu Insel. Nach der Südspitze der Lofoten fuhr man im Segelboot, und Starke fühlte sich in seinem Element. Herausfordernd fragte er die Schiffer, ob sie mit ihm durch den Malström fahren wollten. Sie schwiegen, den Fremdling kalt musternd.

Starke wandte sich an Marianka: »Dieser gewaltige Strudel entsteht, indem die Flut durch eine Felsengasse in einen Kessel strömt. Früher ging die Sage, auf dem Meeresgrunde sei hier ein Loch, ein Schacht – und das hineinstürzende Wasser komme erst bei Indien heraus. Von Schiffen, die mit Mann und Maus der Strudel verschlungen habe, sei keine Planke wiedergesehen.«

Auf Mariankas dringende Bitte begnügte sich Starke, den Strudel bloß von der Küste aus zu betrachten. Hainlin und Marianka begleiteten ihn auf die ragende Klippe, wo Moose und karge Beerensträucher blühten. Die Aussicht zeigte, etwa eine halbe Meile entfernt, eine Brandung und ein paar kleine Felseninseln, dahinter offene See. Die Felsbrocken vorn waren von Vogelschwärmen bevölkert – Lummen hockten träge, es flatterten kreischende Möwen. »Nun haben wir uns wohl satt gesehen an dieser Wüstenei – mich verlangt nach einem Glase Grog!«

Beim Abstieg vom zackigen Felsen vertrat sich Marianka den Fuß und fühlte sich kaum fähig, zu gehen. Hainlin wollte aus Birkengesträuch einen tragbaren Sitz machen – Starke bat um [465] die Erlaubnis, die gnädige Frau einfach zu tragen. Als sie nicht widersprach, hatte der Hüne sie wie ein Kind auf seine Schulter gehoben und hielt ihre Hände in den seinen. So stieg er abwärts, fest und sicher – während Marianka gegen Schwindelgefühl anzukämpfen hatte.

Im kleinen Gasthaus zu Helle war Starke ärztlich um Marianka bemüht. Er massierte den Fuß und machte einen Verband. »In acht Tagen ist Frau Marianka wieder sicher auf dem Fuße. Die Schonzeit kann nicht langweilig sein, wenn wir sie an Bord verleben. Der Dampfer trägt uns ja fortwährend. Ihre zwei Kavaliere, gnädige Frau, werden ja auch wetteifern, Ihnen die Stunden zu versüßen – so wie ich jetzt diese zwei Stücken Zucker in Ihr Toddyglas tue.«

Das feurige Getränk sorgte für gute Stimmung, und bald scherzte man über das Abenteuer. »Dees muß i sage, Doktor,« meinte Hainlin – »e Kerle sind Sie! Mei Fraule ischt net leicht – ond solche Last hänt Sie den steilen Felsenpfad nunter getrage, als wär deesnicks

»Für Alpenkraxler, wie ich einer bin, ist das auch nicks,« entgegnete Starke. »Das heißt, gnädige Frau, den Ausdruck nicks' beziehe ich bloß auf meine Muskelarbeit – nicht etwa auf die holde Last.« – »Süßholzraspler!« – »Auf Ehre! Wie ein Gott kam ich mir vor.«

»Gut gesagt!« meinte Hainlin – »wie ein Olympier sahen Sie tatsächlich aus – so kühn und sicher. Wie Zeus, als er die schöne Europa trug. Das Bild hat allerdings eine komische Seite – wenn mr nämlich bedenkt, daß Zeus die Gestalt eines Stieres angenommen hatte. Ha, eines Stieres Kraft hänt Sie allerdings! Prosit!«

Nach einer längeren Rast in Digermülln, auf der ausgedehnten Felseninsel Hinnö, fühlte sich Marianka fähig, eine [466] Partie ins Gebirge mitzumachen. Mit dem Segelboot ging es durch den düstern Raftsund, eine Wasserstraße zwischen gewaltigen Bergen. Auf der Westseite öffnet sich überraschend eine Gasse. Fast senkrecht ragen rechts und links die Felsenwände – in den Schluchten, die von oben nach unten gerissen sind, liegt Schnee. Wo die Sonne wärmen kann, sind leuchtend grüne Teppiche von Moos, Rosen und Beerengesträuch. An schattigen Stellen hängen Gletscher in die See. Schwarz sieht die Flut im Felsenkessel aus.

In diesem sogenannten Trold-Fjord landete das Boot, und nachdem in einer Nische der Felsenwand Feuer gemacht und die Gesellschaft mit Kaffee erfrischt war, ging es längs eines Gießbaches auf rauhem, sumpfigem Pfade steil in die Berge.

Nach einer Stunde war das Ziel erreicht: ein Bergsee zwischen Felsen, die fast senkrecht an die tausend Fuß emporragen. Gletscher gleiten auf den See, den folglich auch im Sommer Eis bedeckt.

»Hier ist das unheimliche Reich der Berggespenster, von denen die nordischen Jäger und Fischer fabeln,« sagte Starke. Und Hainlin, der zu den gleißenden Gletschern emporstarrte, fügte träumerisch hinzu: »Blank sind wir ganz und gar – aber auch ewig unfruchtbar.« – »Ist das nicht aus dem Faust?« fragte Starke. – »Ja, aus der Walpurgisnacht – schöne Hexen jammern so!«

Marianka, die auf einem Felsblock saß, hatte aufgehorcht: »Hexen? Unfruchtbar? Was will der Dichter sagen?«

Hainlin erwiderte: »Es kommt halt vor, daß e Weib, um nix von seiner blanken Schönheit einzubüßen, sich scheut vor der Mutterschaft und also unfruchtbar bleibt.«

Ueber Mariankas Gesicht huschte ein Schatten: »Und Hexen sollen das sein?«

[467] »Alles Unfruchtbare ist für Goethe sinnlos. So ist es zu erklären, daß sich in der Walpurgisnacht Naturen versammeln, deren Treiben unfruchtbar ist – das ist die Bedeutung jener Hexen, die Mephistos Gefolgschaft bilden. Er ist die chaotische Seite unseres Lebens – das Gemeine, Schlechte, Unsinnige.«

»Willst du sagen, daß ein unfruchtbares Weib gemein ist?« Schneidend klang ihre Stimme.

Ueberrascht blickte Hainlin. Wie eine unheimlich brütende Norne kauerte sie zwischen dem Urgestein und rollte die Augen finster zu den Gletschern. Hainlin suchte nach Worten, um sich gegen die Mißdeutung zu verwahren.

Aber schon hatte Marianka sich gefaßt. Sich erhebend, erklärte sie kühl: »Lassen wir die Wortgefechte!«

»Aber, Marianka! Mit keinem Wörtle han i ebbes gegen dich gesagt! Oder? Doktor, Sie sindZeuge

»Oh ihr Männer!« sagte Marianka wegwerfend – »mich friert überhaupt.« Schon ging sie und hatte, da Hainlin zögerte, einen Vorsprung.

»Ach ja, die Weiberchen!« wandte sich Starke an Hainlin – »was die alles raushören, wenn unsereins mal was Ungewöhnliches sagt! Uebrigens, Hainlin – einem Frauenarzt gestatten Sie diese Bemerkung: vielleicht ist Marianka der Fruchtbarkeit näher als sie ahnt. Ihre Nervosität hat einen körperlichen Grund.« – »Unser Berliner Arzt,« meinte Hainlin – »den sie befragt hat, ob sie Aussicht habe auf Mutterschaft, hat daran gezweifelt und hat sie verstimmt durch sein Gutachten.« – »Ach was, Gutachten! Ich selber bin Frauenspezialist. Selbst organischen Mängeln läßt sich beikommen. Schon Massage, hm! Aber sagen Sie, Hainlin, denken Sie wirklich so streng, daß eine Ehe in Ihren Augen gleich entwertet ist, wenn sie unfruchtbar bleibt? Das wäre eine grelle Uebertreibung. Jedenfalls [468] sollte man den Begriff Fruchtbarkeit auch auf das Seelische ausdehnen, auf das Liebe und Tüchtige, das sich oft in kinderlosen Ehen findet. Auch mit geistigen Kindern kann man sich Unsterblichkeit verdienen.«

»Hallo!« rief Marianka aus der Ferne und winkte. – »Wir kommen!« antwortete Starke.

Noch einmal schaute Hainlin auf den mit Schollen bedeckten Bergsee – auf die Gletscher, die sich von den hohen Felswänden hernieder erstreckten. Eisige Fremde hauchte ihm Schauer ins Mark. Und sein Heimweh schluchzte auf – ein schmerzliches Sehnen nach dem freundlichen, fruchtbaren Sonnenländle.

Da fiel sein Blick auf den Ring, den er am Finger trug. Und es gleißte der Diamant wie die Gebirgsgletscher: »Blank sind wir ganz und gar – aber auch ewig unfruchtbar.«

[469] Hainlins Heimkehr

Als unser Paar wieder in der Charlottenstraße hauste, hatte es zunächst das Bedürfnis, sich gründlich auszuruhn von all den starken Eindrücken der Fremde. Dann begab sich Hainlin nach Grünheide. Burdinski, der ihn gärtnerisch vertreten hatte, war unzufrieden mit dem regenlosen Sommerwetter, das ihn gezwungen hatte, Tag für Tag stundenlang die Gießkanne anzuwenden. Als Marianka einmal herauskam, sagte sie spitzig: »Na, weißt du, Schatzl, in diesem Sande wird deine Gärtnerei nicht gerade erfolgreich sein. Die Mark gehört also wohl auch zu den unfruchtbaren Hexen – aber ein bissel gern hast du sie doch – ein Lückenbüßer ist sie für deine Heimat – wie ich Lückenbüßer bin für dein Rosel.«

Als abermals ein Sommer gekommen und wieder von Reisen die Rede war, meinte Hainlin: »Du wolltest ja wohl zur Riviera?« – Marianka sah ihn prüfend an und lächelte: »Ist das dein Ernst? Zur heißen Zeit geht man nicht an die Riviera. Aber du willst wohl andeuten, daß du gern einen Abstecher ins Ländle machen würdest. Na, warum denn nicht? Besuche deine Jugendflamme! Dabei ist natürlich die zweite Flamme überflüssig. Eigentlich bin ich sogar schon deine dritte – denn gesteh', die Marga mit den drei Kindern, die dir zur Hochzeit gratuliert hat, kommt auch in Betracht. Du errötest? Ich bin nicht eifersüchtig! Wenigstens nicht auf [470] Frau Rosel Bolkendorf. Bloß daß mir eure Innigkeiten nicht gerade erbaulich wären. Du verstehst – was du nicht willst, daß man dir tu – Gesetzt, ich wollte auch schön tun mit einem Dritten – na, siehst du! Also, Schatzl, reise allein nach Tübingen! Bleib ein paar Wochen! Ich verspreche dir, mich nicht zu langweilen.« – Fast beschämt von Mariankas Großmut, küßte er ihre Hand und sagte, so wolle er denn reisen – es werde, wie er fühle, ein Abschied von seiner Jugend sein.


*


Als der Zug in den Bahnhof Tübingen einlief, sah Hainlin, aus dem Fenster gebeugt, drei Frauen – sie winkten mit Tüchern und Sonnenschirmen. Er griff nach seinem Koffer, vom Zuge, der noch im Fahren war, sprang er ab und stürzte in Rosels Arme. Er fühlte, daß ihre Gestalt die Kraft und Ueppigkeit von damals verloren hatte. Ihr Kuß hatte etwas Unbeholfenes, ihre Hand bebte in der seinen, ihr Gesicht war eine angewelkte Blume. Bekümmert sah er sie an und küßte nochmals. Ihre Lippen waren mutlos, und er bemerkte, eine Locke an ihrer Schläfe war weiß.

Einen anderen Eindruck machte Rosels Mutter. Ihr rundes Gesicht blühte, das dunkelblonde Haar zeigte noch kein Ergrauen – diese Matrone war fast jugendlich. Und Hainlin wandte sich an die dritte Gestalt: Zärtlich strahlte Berta Schneckle, das schmächtige Gesichtchen rosig überhaucht. Mit Berta wisperte ein Knabe, als gehöre er zur Gruppe. »Ha freile!« sagte Berta, »warum ziehscht dei Käpple net? Gib dem Herrn Kandidate die Hand!« Das tat der Knabe unter artiger Verbeugung. »Ei, wer ischt denn dees?« fragte Hainlin – und gab selber die Antwort: »Klein-Wendelin, gelt?« Aus Tübinger Briefen war ihm bekannt, daß Pias und Ulis Kind, Wendelin getauft, von Schneckles in Pflege genommen war. In plötzlicher Zärtlichkeit [471] nahm Hainlin den Kopf des Knaben zwischen seine Hände. Das hübsche Gesicht erinnerte an Pia, besonders durch die Rehaugen, aber auch ein Zug von Uli war darin: seine strahlende Keckheit.

Nun setzte sich die Gruppe in Bewegung. Hainlin führte Frau Funk und hatte Rosel den linken Arm gereicht – scheu hielt sie ihn gefaßt. Da waren nun die Alleen und Rasenflächen, hinterm rauschenden Flusse die gute alte Stadt, das Stift, die ragende Burg. Und da war das traute Haus. Anerkennend nickte Hainlin, als er das Messingschild an der Haustür las: »Berta Schneckle, geprüfte Krankenpflegerin«. – »Ja!« erklärte Frau Schneckle stolz – »guete Praxis hat sie scho!«

In der Wohnung war alles beim alten, jedenfalls in der Stube, die Hainlin früher bewohnt hatte und auch jetzt bezog. Als er das bekränzte Plakat »Willkommen« gelobt hatte und den Rosenstrauß auf dem weiß gedeckten Tisch, öffnete er die Tür zum Altan. Drunten blank der Neckar, jenseits hochwipflig die Platanenallee, herüber lugte das Blau der Berge. Rosel stand an Hainlins Seite und deutete auf das Haus am Neckarbad: »In der Laube sitz i heut abend ond hör zu, wenn du hier obe flöte tuscht, gelt? Ond morge kommscht zu meim Mann. Heut tut er sich net sonderlich wohl fühle – ond i möcht ihn net lang allei lasse.«

Hainlin war betroffen – er hatte sich gedacht, den ganzen Nachmittag und Abend mit Rosel zu verleben, überhaupt fast immer mit ihr zusammen zu sein, die paar Tage, die er in Tübingen bleiben wollte. Und nun ging sie, nachdem sie ihn kaum begrüßt hatte. Etwas Frostiges hatte ihn angehaucht, er stand traurig.

Mitfühlend streichelte sie seine Hand, und in aufwallender Liebe schlang er den Arm um sie. Unter sanftem Lächeln war sie ein Weilchen seinem Kosen ergeben. Dann griff sie nach [472] seiner Hand und führte ihn zur Stube. Hier hatten die anderen Frauen einen Gugelhupfkuchen aufgetischt und spendeten aus der mächtigen Kanne duftenden Kaffee. Im Plaudern kam Gemütlichkeit zur Geltung. Rosel aber und ihre Mutter hielten nicht lange aus. »Onser arms Heinerle hat uns nötik,« entschuldigte Frau Funk.

»Will's denn gar net besser mit ihm werde?« fragte Hainlin. Frau Funk schüttelte seufzend den Kopf.

Draußen klopfte jemand – es war der Briefträger. Der Brief, den er brachte, war von Marianka. Ihn überfliegend, las Hainlin: »Als ich mich gestern abend legte und Dein Bett sah, erschrak ich. Mich überwältigte die Sorge, ich könne Dich verlieren, weil Du ja heimkehrst zu Deiner ersten Liebe ... on revient toujours ... Jetzt bist Du bei ihr – nach der Du Heimweh hattest an meiner Seite. Und wenn Ihr in Tübingen von gemeinsamen Jugenderlebnissen plaudert, fließen Eure Blicke ineinander. Ich aber, in meiner Verlassenheit, was fange ich an? Ich beiße die Zähne ins Taschentuch – habe eigentlich jetzt keinen Menschen, dem ich mich anvertrauen könnte. Komme mir so haltlos vor wie ein dürres Blatt.«


*


Als Hainlin andern Tages am Stift vorbeikam, begegnete ihm eine Bürgersfrau, die ihn von früher kannte. »Grieß Goot, Herr Kandidat! Au wieder da? Wollet Sie zur Frau Bolkedorf? Auf 'm Markt ischt die. Und ihr Mueter, die Frau Funk, ischt graad die Bursagass' nunter.«

Durch diese Mitteilung ließ sich Hainlin nicht abhalten, schon jetzt Bolkendorfs Heim aufzusuchen. In die Wohnung freilich mochte er nicht gleich gehn – mit Bolkendorf allein zu sein, hätte er gern vermieden. In der Gartenlaube wollte er Rosels Rückkunft abwarten.

[473] Es rührte ihn, den Garten genau so wiederzufinden, wie er ihn kannte. Rosen blühten und Rittersporn, es strotzten die Beete von Endiviensalat. In der Laube, die wilder Wein umsponnen hielt, war's dunkel und kühl; hier am Tische, wo Hainlin einst gesessen hatte, nahm er Platz – hinter ihm rauschte der Neckar.

Nicht lange, so vernahm er Stimmen vom Hause her. Jemand sagte zu Rosel, der Herr Kandidat sei im Garten. Glückselig lächelte Hainlin bei der Vorstellung, Rosel werde nun, ihn suchend, in die Laube eintreten – dann wolle er sie umfangen.

Und richtig, es nahten hurtige Schritte – sie kam, als errate sie, wo er sei. Ihre schlanke Gestalt trat ein, sich bückend unter den Ranken, und schon hatte er die Arme um sie geschlungen. »Jergle! Oh du!« So hing sie an seinem Halse – »Rosel, mein Lieb!« Sie küßten sich. Auge fand das Auge – Mund drückte sich auf Mund. Dann hörten sie vom Haus her den Kanarienvogel schmettern, den Sommerwind im Laube lispeln, den Fluß raunen ...

Auf einmal dumpf ein Stöhnen – dann Schluchzen ... Rosel war aufgesprungen und zur Laube hinaus geschlüpft. Hainlin folgte und sah: Hinter der Laube Bolkendorf im Fahrstuhl, – dicht an der Laube, nur das Blättergewebe hatte ihn getrennt vom kosenden Paar. So war er schon gesessen, ehe Hainlin gekommen war – hatte sie belauscht.

Der lahme Mann mit dem Graubart hielt beide Hände vors Gesicht geschlagen und zuckte in krampfhaftem Weinen. Schmerzlich bestürzt stand Rosel bei ihm und suchte zu beschwichtigen – seine Locken streichelte sie: »Heinerle! Sei net bös! Dr Jerg ond i sind wie Brueder ond Schweschter!« Nun tat er die Hände weg – betränt blickten die blauen Augen zu Rosel auf [474] – kein Vorwurf war's, ein Flehen um Mitleid: »Bös? Das bin ich nicht! Aber so hilflos, ach so verlassen!«

Und an Hainlin wandte er sich mit einem langen Blick, der eine stumme Sprache hatte. Argwöhnisches Spähen war darin. »Laß mich allein mit ihm!« raunte er Rosel zu. – »Ja!« nickte sie und atmete tief – »redet mitsammen!«

Sie ging – leidvoll blickten sich die Männer an – heiser begann Bolkendorf: »Sind Sie gekommen, Herr Hainlin, mir Rosel abspenstig zu machen? Ich kann's kaum glauben! Rosel hat so viel Gutes von Ihnen erzählt – sie behauptet, man müsse Sie lieben. Drum – wenn Sie so sind – nicht wahr? Dann darf ich ruhig sein!« So bettelte der Gelähmte.

Hainlin blickte starr vor sich hin, und gequält kam die Antwort: »Herr Bolkendorf! Viel ließe sich hier sagen – aber was sind Worte! Sie drücken aus, was die Leute meinen, ach, die Leute! Ich aber und Rosel – was wir erlebt haben von Kindheit an – richtiger noch: was Rosel und ich mitsammen sind – das ...« Seine Lippen bebten – ratlos zuckte er die Achseln.

Angstvoll blickte Bolkendorf und nickte langsam: »Ich weiß – verstehe! Hier ist auch nichts zu machen, als daß wir unser bissel Verstand zusammennehmen, nicht wahr? Also überlegen Sie: Rosel ist nun mal meine Frau. Vielleicht bedauert sie's manchmal – vielleicht hätt' ich gescheiter getan, ihre Mutter zu heiraten – aber – sie ist nun mal meine Frau. Bedenken Sie doch, Herr Hainlin: In der Ehe mit mir hat Rosel Halt gehabt und hat ihn noch. Ein Baum ist bald umgehaun, aber Jahre waren nötig, ihn aus dem Keim aufzuziehn. Ist er gebrochen, so gibt's keine Heilung mehr. Das gilt übrigens nicht bloß fürmeine Ehe, zugleich für Ihre. Sie sind, wie ich[475] höre, sogar glücklich verheiratet. Der Ring an Ihrem Finger bestätigt es mit seinem Gefunkel. Nun denn, halten Sie fest, was Sie haben – und lassen Sie auch mich in meinem Besitz! Ich würde sonst völlig verarmen, wäre geradezu vernichtet – vernichtet! Rosel ist mir alles, alles!«

Bei dem klagenden Geständnis brach Bolkendorf von neuem in Tränen aus. Es war gut, daß jetzt Frau Funk erschien und Rosel. Mitleidig bemühten sich die Frauen um den Gelähmten. Er beruhigte sich und raunte Frau Funk etwas zu. Ein wehmütiges Grüßen hatten die beiden Männer für einander – dann – rollte Frau Funk den Wagen des Gelähmten weg, und Hainlin stand mit Rosel allein.

Traurig blickte sie zu ihm auf. Er wußte nichts zu sagen. Bis sie endlich die bange Starrheit brach: »Solle mr net e bißle umhergehe im Garte?« Sie wandelten zwischen den Beeten. Teilnahmlos sahen sie hin – als wollten sie bloß die öde Zeit hinbringen.

Gequält brachte Hainlin heraus: »Jetzt – möcht i bloß noch Ulis Grab besuche – dann wär hier mei Sach erledikt.« – Rosel hauchte: »Auch i – gang heut auf'n Friedhof.« –

So findet mein Stürmen auf den Glasberg ein kläglich Ende! dachte Hainlin – abgeglitten bin ich – wie die andern – nur daß ich noch ein wenig Anhalt habe – in einen Riß der Glasfläche krall' ich mich ein. Aber bald stürz' ich – in den Höllengrund!


*

Abends war's – die Grabzypresse rauschte.
Traurig saß ein Paar
Zwischen Hügeln. Was es sann, belauschte
Gott allein und rings der Toten Schar.
[476]
An des Todes dornumwobnen Toren
Betteln wir um Ruh –
Unsre Heimat Eden ging verloren,
Seit wir zwei geworden: Ich und Du.
Gott verband uns. Schon als Kinder träumten
Wir uns Mann und Frau.
Doch die Trennung kam. Was wir versäumten,
Ist dahin – die Locke wird nun grau.
Zu den Toten gehn wir – die gestatten
Unsre Herzensglut.
Aber gramvoll grübeln unsre Gatten,
Und sie löschten gern wie Wasserflut.
Ist kein Ausweg? – Sieh den Zeisig hüpfen
Dort im Eibenstrauch!
Durch die Lücken – lockt er – lerne schlüpfen!
Wo ein Käfig, ist ein Türlein auch.
Vogel, schweig! Dein Türlein heißt Verschulden.
Treulos sein tut weh.
Lieb' ist Wohltat! Lieb' ist keusch im Dulden –
Sprießt wie Märzenglöcklein unterm Schnee.
Einst – wenn unsre Gatten beide sterben –
Mag es schuldlos sein,
Daß wir noch ein Glück, ein spätes, erben –
Unser Ehepriester heißt Freund Hain ...
Doch wir träumen! Unsre Gatten leben!
Küssen wir die Hand,
Die uns heilsam strenge Zucht gegeben
Und des Vögleins Lockung überwand.
[477]
Laß uns treu den Gatten angehören!
Zwar leibeigen nicht –
Seelen dürfen lieben! Nie kann stören
Einer Liebe Licht das andre Licht.
Schwarze Dünste – in der Abendsonne
Sind sie Purpurglanz.
Licht der Gottesliebe! deine Wonne
Strömt durchs All – und jeder hat sie ganz.
Laß uns, Engel, Wang an Wange lehnen,
Groß ins Leuchten schaun!
Und im Schauen ströme unser Sehnen
Hier von Grüften heim zu Edens Aun!
Fern zwei Rosenwölkchen – sie zerrinnen
In das Goldmeer weit –
Hauchgleich weben sie für unser Minnen
Weltentrückt das späte Hochzeitskleid.
[478] Der Zusammenbruch

Hainlin hatte den Abend und die ganze Nacht im Eisenbahnwagen zugebracht und morgens Berlin erreicht. Nachdem er sein Gepäck der Aufbewahrungsstelle überliefert hatte, fuhr er mit der Pferdebahn zur Charlottenstraße. Uebermüdet freute er sich auf behagliches Ausruhn daheim.

Mit dem Schlüssel, den er bei sich hatte, öffnete er die Flurtür. Als er seinen Reisemantel an den Keiderpflock hängte, sah er da einen Herrenhut – es war ein breitkrämpiger Samthut. Doktor Starke? trugder nicht solch einen?

Indem Hainlin stutzte, trat aus der Küche das Stubenmädchen. Wie sie ihn sah, erstarrte sie offenen Mundes: »Ach – äh! Herr Hainlin kommen schon? Bitte, hierher! Treten Sie einstweilen – in die Küche! Einen Augenblick – ich, äh ...«

»Waas?« fragte Hainlin befremdet – und wollte, ihrem Drängen entsprechend, in die Küche gehn. Da fiel ihm auf, daß sie Miene machte, an ihm vorbeizuschlüpfen. Sie verhehlt etwas! schoß es ihm durch den Kopf. »Halt!« gebot er, das Mädchen am Arm ergreifend – »ischt hier wer?« – »Ach nein! Bloß die gnädige Frau hat ... äh ...«

»Waas hat sie?« Hastig trat er in den Salon – ging ins Studierzimmer. Niemand da! Also weiter! Er ahnte, es sei etwas vorgefallen!

[479] Der schmale Flur führte zu Mariankas Schlafzimmer. Sie wird doch nicht krank sein? Sollte Doktor Starke? Sein Hut, sein Hut!

Die Schlafzimmertür, innen verriegelt, gab dem Drucke nach – und wie sie aufsprang, vernahm Hainlin Mariankas leisen Aufschrei.

Wie ein Blitz in der Nacht dem Wanderer enthüllt, daß er vor einen Abgrund geraten ist, so genügte der rasche Blick, um die Situation zu erfassen. Wie gelähmt stand Hainlin. Dann – trat er zurück und – drückte die Tür zu.

Wie er in seinem Studierzimmer stand, brach ein Stöhnen aus tiefer Brust – ineinander krallten sich die Hände. Dabei bemerkte Hainlin den Ring an seinem Finger – zog ihn ab und legte ihn auf den Schreibtisch. Einem Zettel vertraute er die Worte an: »Dies Glied unserer Kette nimm zurück! Und wenn's der andre haben will, mag er's nehmen! Leb wohl!« Aus der Küche lugte scheu das Stubenmädchen – er warf die Tür ins Schloß.


*


Straßengetümmel umgab ihn – Wagen rollten, die Leute hasteten zu ihrem Tagewerk, als wäre die Welt noch im alten Gleise. Aber für Hainlin war sie ein Haufen Scherben.

Zerschlagen fühlte er sich – sein Herz zuckte, der Kopf tat ihm weh. Ratlos sah er sich um: Was beginnen? Wohin? Nur fort von diesen Menschen, den treulosen! In irgendeinen Versteck!

»Hotel« las er auf einem Schilde – es war ein bescheidenes Haus. Hainlin ging hinein – zum Portier sprach er heiser: »Ein stilles Zimmer!«

Der Kellner kam – musterte den neuen Gast und legte das Fremdenbuch vor. Hainlin trug seinen Namen ein. Hier stand [480] gedruckt: »Kommt von – reist nach –« Bitter lächelnd schrieb er: »Von Berlin nach Glastelfingen«. Der Kellner, der ihm über die Schulter sah, mochte denken, Glastelfingen sei ein süddeutsches Städtchen.

Dann war Hainlin in einem Zimmer, dessen Bett vom Stubenmädchen mit frischer Wäsche bezogen wurde. Das dauerte ihm endlos. Als er dann allein war, warf er sich, nur halb entkleidet, aufs Bett. Es wimmelten die Gedanken durcheinander – er schloß die Augen, wollte nichts sehen. Aber innerlich sehen mußte er: Mariankas Schlafzimmer, ihr Bett ... Hören mußte er ihren leisen Aufschrei. Dazu hier das Straßengeräusch – Steinsetzer verrichteten Pflasterarbeit – unter ihren Handpicken wimmerte der Stein – das klang fast wie Mariankas Aufschrei.

Nun trällerte auf dem Flur das Stubenmädchen einen Gassenhauer: »Fischerin, du kleine, fahre nicht alleine auf die hohe See hinaus – in das wilde Sturmgebraus!« Es schrillte die elektrische Klingel – auf dem Flur lief man hin und her.

Trotz solcher Störungen mußte Hainlin genickt haben – verworrene Bilder waren ihm durch den Kopf gegangen. An Burdinski hatte er gedacht, an Grünheide, an Garten und Haus. An die Hochzeit, – wie Mariankas Bruder gewitzelt hatte: »Zwei glückliche Tage gibt's in der Ehe – den einen, wenn man seine Ehehälfte erworben hat – den andern, wenn man sie wieder los ist.«

Stöhnend richtete sich Hainlin auf. Nur der Gedanke an Burdinski und Frau Klein war etwas Mildes in seiner Seele. Sie bildeten ja eine Ausnahme unter den Menschen, die sonst so rohgierig sind, so schonungslos. Hainlin stand auf und machte sich fertig. Drückte den Knopf der Klingel und verlangte die Rechnung. Als er bezahlt hatte, tauchte er abermals ins Straßengewühl.

[481] Am Bahnhof Alexanderplatz ersah er aus dem Fahrplan, daß bis zum Zug, mit dem er nach Fangschleuse fahren wollte, noch zwanzig Minuten waren. Da kam ihm der Wunsch, erst Frau Klein aufzusuchen – zur Linienstraße war's ja nicht weit.

Als er in den Schusterkeller hinabgestiegen war, saß auf dem Schemel ein fremder Mensch, der eingestellte Geselle. Frau Klein trat gerade aus der Küche – ihr Anblick befremdete – denn sie trug ein schwarzes Kleid und einen beflorten Hut. »Sind Sie in Trauer, Frau Klein?« – »Mein Mann ist tot.« Sie preßte die Lippen zusammen: »Die Ausweisungen haben ihn mürbe gemacht.« Mit dem Taschentuch wischte sie die Augen – brach aber plötzlich in Empörung aus: »Und nu das mit Glaser!«

»Glaser? Was ist mit dem?« – Es sprühte aus ihrem Auge: »Verleumdet hat man ihn! Ein Spitzel sei er, sagt Patzke. Gemeine Lüge! Der Spitzel ist Patzke!« – »Spitzel?« sagte Hainlin dumpf. »Eines Mannes Rede ist keines Mannes Rede! Mag Glaser ein Ehrengericht von Genossen beantragen!«

Verächtlich winkte Frau Klein ab:

»Ach die Genossen! Die sind rasch fertig mit ihrem Urteil! Eben hab' ich das erlebt. Komme ja von Glaser. Bei dem war die ganze Stube voll Genossen – und alle schäumten vor Wut. Ueber Glaser, denUnschuldigen! Mich haben sie vor die Tür gesetzt, wie ich ihn verteidigt habe. Aber Sie, Herr Hainlin, Sie haben Ansehen bei den Leuten, durch Ihre Vorträge. Reden Sie den Aufgeregten vernünftig zu! Bitte, gehen Sie sofort zu Glaser! Schützen Sie ihn! Weichen Sie ihm nicht von der Seite. Ich kann mich jetzt nicht um ihn bekümmern. Muß Burdinski hier erwarten – hab' ihm nach Grünheide telegraphiert, er soll sofort kommen.«

[482] Hainlin tat einen Seufzer – aber nicht schwerer war ihm das Herz, eher leichter. Hatte er doch einen Gefährten im Unglück – und eine Aufgabe. »Ich gehe zu Glaser! Und wenn Burdinski kommt, treff' ich den bei Ihnen, gelt? Nicht in der Charlottenstraße – da wohn' ich nicht mehr.«


*


In der Buchdruckerei Ahlert & Glaser war es still, man schien die Arbeit eingestellt zu haben. Als Hainlin an Glasers Tür klopfte, hörte er eine zankende Männerstimme. Weil das Klopfen nicht beachtet wurde, trat Hainlin ohne weiteres ein.

Glaser saß am Tische, den Kopf in die Hand gestützt – bleich, verstört – blutrünstig, als habe man ihn geschlagen. Ein hohlwangiger Arbeiter schüttelte vor ihm die Fäuste, trampelte mit beiden Füßen und kreischte: »Häng dir uff, Mensch! Häng dir uff! Laß dir bloß nich mehr bei uns blicken! Vadufte, du Aas, stinkijet! fui, fui!«

»Justav!« stöhnte Glaser, »erst noch hier! Det Jeld mußte mitnehmen – die Abrechnung! Et stimmt uff'n Sechser! Un nu mein letztes Wort: Ick bin keen Lump!« So brüllte er verzerrten Gesichts, schluchzend barg er's in aufgestützten Armen.

Der andre starrte hin, schüttelte den Kopf und atmete schwer. Dann strich er das Geld ein, nahm den Abrechnungszettel und ging.

»Glaser!« sagte Hainlin, ihm die Schulter rüttelnd. »Ich bin's, Hainlin! Und ich – glaube an Sie! Gewiß, Sie sind unschuldig!«

Sofort richtete sich Glaser auf und sah Hainlin vollen Blickes an: »Ja! un – schuldig!«

»Erzählen Sie, Glaser! Weihen Sie mich ein! Die Sache muß sich ja aufklären! Ihre Genossen sollen wieder Zutrauen finden!«

[483] In Glasers Augen lohte es düster: »Zutrauen? Aus dem Zutrauen solcher Jenossen mach ick mirnischt! Mit die bin ick fertich! Wissen Se, wat die jetan haben? An – je – spuckt haben se mich! Verdroschen haben se mich!Jetreten wie 'nen räudijen Köter! Un det wolln Jenossen sind? Wilde Tiere sind's!Feindliche Brüder! Neidisch, mißtrauisch, vablendet, vahetzt, hintalistich un toll! Unkraut erstickt de janze Arbeeterbewejung! Dadraus wirdnich das, was ihre Propheten vaheißen – ick habe meinen Ilauben valoren. Ick will nischt sehn, nischt hören von den janzen Schwarm! Nach Kamerun jeh ick!« Er war aufgesprungen – schlüpfte mit ängstlicher Hast in seinen Mantel, tat ein Ränzel um, das in Bereitschaft war, und griff nach Hut und Stock.

Hainlin folgte ihm auf die Straße. »Nach'n Alexanderplatz!« raunte Glaser – »ick will nach Hamburch fahren!«

»Hamburg?« Das Wort erinnerte Hainlin an Harburg, wo Marga wohnte – und Harburg war ja nahe bei Hamburg. So kam ihm der Einfall, mit Glaser zu fahren, dann nach Harburg. Besuchen wollte er Marga nicht – das hätte eine Aussprache gegeben, und die scheute er. Aber noch einmal gesehen hätte er sie gern, nebst ihren Kindern – er wollte sie belauern, nur von weitem sehn.

Glaser blieb stehen, wie unschlüssig. »Herr Hainlin! Da fällt mir ein: Ick muß zum Notar – det muß noch heute erledigt werden. Besser, wir fahren erst morjen nach Hamburch.«

Während man nach einem Notar suchte, äußerte Glaser den Wunsch, Hainlin möge ins Büro mit kommen. Vielleicht, daß ein Zeuge nötig sei – er wolle nämlich seinen Geschäftsanteil an der Buchdruckerei auf Frau Klein übertragen.

[484] Hainlin stutzte: »Frau Klein? Wie kommt die dazu, einen Anteil an so 'nem G'schäft zu kaufen? Oder – wie meinen Sie das?«

»Kaufen, nee! Jeschenkt soll sie ihn haben. Un wenn se Burdinskin heiratet, so kann ja der den Jeschäftsmann machen.«

»Aber Sie, Glaser? Können denn Sie eine solche Summe glatt verschenken?« – »Ah!« sagte er wegwerfend, »zuwider is mich der janze Kitt! Frau Klein, na ja, die kann ihn brauchen. Mir hat der Mammon dies höllenmäßije Schicksal heraufbeschworen. Den Patzke hat er neidisch jemacht – der war darauf erpicht, mir den Anteil abzukoofen. Wie er sah, det ick nich wollte, hat der Halunke den schwarzen Plan ausjebrütet, mich hier unmöjlich zu machen bei die Jenossen.«

Hainlin stand starr: »Ha! Na wär dr Patzke eTeufel!« – »Der verfluchte Mammon hat ihn dazujemacht

»Tun Sie mir dees verzähle, Glaser!« – »Später, später!«

Es dauerte nicht lange, so war vom Notar die Uebereignungsurkunde ausgefertigt. Wie nun Glaser gehn wollte, nahm Hainlin das Wort: »Herr Notar, auch ich habe mich entschlossen, etwas von meinem Eigentum zu verschenken: Ein Grundstück, in Grünheide gelegen, an meinen FreundBurdinski.« Die Angaben über Personen und Grundbuchzeichen wurden gemacht – dann war auch dieser Akt erledigt.

Als Hainlin und Glaser wieder auf der Straße waren, blickten sie einander an – beide atmeten auf, von einer Last befreit – und jedes der beiden Gesichter war umgewandelt: Aus dem Gram lugte etwas Sanft-Stilles.

»Verstehn tu ich Sie, Glaser! Mir hat's Schicksal ähnlich mitgespielt wie Ihnen. Ich würd' Ihnen alles sagen, darf's [485] aber net – gewisse Menschen möcht i halt schone. Aber jetzt der Patzke, der verdient keine Schonung. Also wie war's mit dem? Tun Sie mir dees verzähle, gelt?«

Am Friedrichshain waren die beiden angelangt, fanden im Gebüsch eine leere Bank, und nun enthüllte Glaser die ränkevolle Geschichte: Patzke war der Schuft, der Glasers Ehre zugrundegerichtet hatte. War's auch, der Frau Klein und die anderen Expedienten des verbotenen Blattes der Polizei überliefert hatte. Und das war so gekommen:

Die Liste mit den Namen der heimlichen Expedienten hatte Glaser in seiner Zither versteckt. Frau Ahlert, die es lächelnd beobachtet hatte, war so unbedacht gewesen, es auszuplaudern, Patzke gegenüber, der sie beständig umschmeichelte. Dabei hatte sie sich nichts Arges gedacht – hatte sich bloß ein wenig lustig machen wollen über Glasers Geheimniskrämerei, wie sie es nannte. Patzke aber hatte nichts andres im Sinn, als die ahnungslose Frau über Glaser auszuholen, um diesen in der sozialdemokratischen Bewegung unmöglich zu machen. Dann gedachte er ihm seinen Geschäftsanteil billig abzukaufen und, als Ahlerts Kompagnon, die Druckerei zu einer Goldgrube zu machen.

Auch noch aus einem andern Grunde wollte er Glaser ruinieren: Er hatte das Gefühl, Glaser beargwöhne ihn. Und dem war auch so; seit der Verhaftung im Volkskaffeehause hegte Glaser den Verdacht, Patzke sei der Angeber. Patzke wollte nun nach dem Grundsatze verfahren: Zuvorkommender Hieb ist die beste Abwehr. Er verdächtigte also Glaser bei den Genossen, er habe aus alter Schwärmerei für Frau Klein seinen Nebenbuhler Burdinski beseitigen, ihn daher mit der Expedition des »Sozialdemokraten« in die Polizeifalle locken wollen. Daß nicht Burdinski, sondern Frau Klein die Schriften zum [486] Volkskaffeehause gebracht habe, sei eine bloß zufällige Abweichung von Glasers Plan gewesen.

Als es Patzke gelungen war, Glaser bei den Genossen derart anzuschwärzen, fuhr er sein schweres Geschütz auf. In einer geheimen Versammlung sagte er: »Jetzt wolln wr mal dem Ilaser ne feine Falle stellen. Seht diesen Brief, Jenossen! Hier ha' ick ufjeschrieben, wat ick Ilasern nächstens vorschwatzen werde: ne erfundene Jeschichte von ne jeheime Vabindung. Is nu Ilaser Spitzel, so wird er der Pollezeiberichten, wat er von mir jehört hat, un die dämliche Pollezei wird druff rinfallen un denVasuch machen, det Umstürzlernest auszuheben. Na, un denn wissen wir Bescheid! Vastanden, Jenossen? Is det nich sauber injefädelt?«

Ein Bedenken gegen diesen Plan wurde laut: Selbst wenn die Polizei auf die erfundene Geschichte reinfiele, wäre noch nicht mit aller Bestimmtheit erwiesen, daß Glaser der Spitzel ist; es könnte ja eine dritte Person, die von der Geschichte gehört hat, den Bericht an die Polizei geliefert haben.

»Dritte Person?« entgegnete Patzke – »unmöchlich! Es kann ebent keene dritte Person in Betracht kommen. Unter vier Augen will ick Ilasern die Jeschichte beibringen – un will hinzufüjen: Ilaser! Det du keenen Dritten wat merken läßt! Deine Ehre steht uff'm Spiel – Also, Jenossen: Wenn er nach solcher Verwarnung doch pfeift, na denn is er eben nich vertrauenswürdich! Also abjemacht, Jenossen! Un hierüberjeb' ick euch den Brief vasiejelt! Nu wolln wr sehn, wat kommt

Ein paar Tage später berief Patzke dieselben Genossen und führte sie nach der Ackerstraße zum Restaurant von Ludwig. Ein Paket, das Patzke trug, wurde einem Packträger übergeben, den man am Stettiner Bahnhof aufgegriffen hatte. Er sollte [487] es in jenes Restaurant zum Wirt bringen. Das Weitere werde sich finden.

Als nun der Packträger, den man vorangeschickt hatte, seinen Auftrag ausgerichtet hatte, ging Patzke mit den Genossen ins Restaurant und fragte den Wirt, ob für ihn etwas abgegeben sei. – »Ja woll, dies Paket!« antwortete der Wirt, Patzke erhielt es und saß mit den Genossen am Tisch, um es zu öffnen. Plötzlich tauchten Polizisten auf und verhafteten die Gesellschaft. Als sich gleich darauf herausstellte, daß im Pakete nichts Verbotenes war, nur ein Paar zerrissene Filzpantinen, zog die Polizei verlegen ab.

»Haha!« scholl Patzkes Hohngelächter. »Un jetzt, Jenossen, meinen Brief raus! Erst revidiert det Siejel! Et is unvasehrt! Also uffjemacht! Un nu lees eenervor, wat da steht

Im Brief stand: »Ich habe Glasern unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit anvertraut: am 5. August, nachmittags sechs Uhr, wird bei Ludwig in der Ackerstraße ein Paket mit Liederbüchern abgegeben und an die hinbestellten Expedienten verteilt. Aber keine dritte Person darf davon Wind bekommen. Das habe ich aber Glasern bloß gesagt, um ihn auf dieProbe zu stellen.«

»Seht ihr, Jenossen?« triumphierte Patzke. »Ick habe Ilasern durchschaut – un uff meine List is errinjefallen! Klar wie Kloßbrühe is nu: Een Spitzel is Ilaser! Hat an die Polezei varaten, wat ick ihm anvertraut habe – un de Pollezei natürlich hat jejlaubt, eenen fetten Fang zu tun. Also, Jenossen – den Ilaser missen wr schleunigst unschädlich machen. Sofort alle Mann zu ihm!«

»Jawoll, zu Ilasern!« hatte die aufjehetzte Rotte geschnaubt – und so war Glaser der Tücke zum Opfer gefallen.

[488] »Ond jetzt, Glaser, mach i den Vorschlag: Ganget mr zunäkscht in e stills Lokal und stärke mr uns! Auch ich bin erschöpft – hab die Nacht keinen Schlaf ghätt und hab heut noch nicks gegessen. Hernach tun mr uns Schlafgelegenheit suche – ond morgen reisen wir.«

Die Unglücksgefährten begaben sich in eine Destille. Hainlin trank Weißbier und aß etwas. Glaser hatte nur für Schnaps Neigung. »Wir müssen uns doch nutrennen, Herr Hainlin,« sagte Glaser, »denn wo ick übernachte, da passen Sie nich hin

»Wenn daas Ihr einziks Bedenken ischt, Glaser, so sag ich Ihne: In ein Hotel gang i net! Davon han i heut genug! Ins ärmlichste Quartier gang i gern mit Ihne.«

In schweigender Prüfung sah ihn Glaser an: »Aber wissen Sie, wo ick heute nächtigen will? Im Asyl für Obdachlose! Dahin zieht es mich – die janzValassenen sind meine wahren Jenossen – bei die kann ick mir beruhijen un bin heimisch bloß bei die

»Sie hänt recht! I versteh! Ond komm gern mit ins Asyl, falls i net störe tu – ond falls mr Leut in so guter Kleidung net abweise tut.«

Wirklich empfand es Hainlin als Erlösung, nicht wieder in ein Hotel gehen zu brauchen. Das Getriebe daselbst kam ihm abstoßend vor. War's doch ein Mechanismus, der in allen Teilen von Selbstsucht getrieben wird, und dessen gefällige Art so viel Gemachtes, Erlogenes hat. Hinter der Schmiegsamkeit des Personals lauert die Sucht nach Trinkgeld. Der Gast ist Gegenstand der Ausbeutung.

Die ganze Volkswirtschaft, die Zivilisation sogar, ist, so kam es Hainlin vor, von Selbstsucht getrieben. Möglichst viel Geld, [489] Genuß und Glanz sollen die Geschäfte, sollen alle Berufe bringen.

Die Geselligkeit, die sogenannte Gemütlichkeit, dran man sich erwärmt, hat viel heuchlerisches Getue. Die gutbürgerliche Welt, Mariankas Kreis, ist eine Maskerade von glatten Larven.

Aber freilich – was Glaser jetzt erlebt hatte, bildete einen erschütternden Beweis, daß auch die Arbeiterklasse von Minderwertigkeit wimmelt.

In Hainlin war ein Aufschluchzen – durch seine Seele zitterte das Lied: »Ich bin ein Fremdling überall! Wo bist du, wo bist du, mein geliebtes Land? Gesucht, geahnt und nie gekannt!«

Als der Abend dämmerte, begaben sich Glaser und Hainlin zur nahen Büschingstraße. Vor dem Asyl standen in zwei Reihen Männer, die Einlaß begehrten. Die Ankömmlinge schlossen sich an und harrten. Neben Hainlin war ein bartloser Bursche, bestaubt von der Landstraße. Da war ferner ein Graukopf mit Stoppelbart. Ein polnischer Landarbeiter in abgerissener Kleidung. Seine Schnapsflasche trank er aus, weil sie im Asyl nicht geduldet wurde.

Jetzt kam der Hausvater und schritt die Front der Obdachlosen ab, jeden musternd. Hin und wieder hatte er etwas zu fragen, schalt auch wohl: »Sie kommen schon wieder? Das ist gegen die Vorschrift. Diesmal noch will ich ein Auge zudrücken – weil wir heute Platz haben.«

Als der Hausvater zu Hainlin kam, stutzte er: »Na nu? Wat wollen Sie denn hier? Sie haben doch ne feine Kluft! Wat sind Sie? Künstler?« – Hainlin nickte, und selbstgefällig schmunzelte der Hausvater: »Unsereens hat 'n Blick dafür!«

Nach beendeter Musterung kommandierte der Hausvater: »Rrechts – om! Links schwenkt, marsch!« So zog die Kolonne [490] ins Asyl – der Sonnenbruder ahmte mit den Lippen das Trompetengeschmetter eines Militärmarsches nach.

Innen war abermalige Musterung, und es wurde gefragt, wer baden und wer seine Kluft in die Bienenbäckerei bringen wolle. Durch Glaser erfuhr Hainlin: gemeint sei ein Dörrapparat für verlauste Kleider – Bienen nennt man in der Vagabundensprache die Läuse.

In einer Halle an langen Tafeln saßen die Asylisten und löffelten Mehlsuppe aus Blechnäpfen. Es wurde noch etwas geplaudert, nicht laut, eher schüchtern. Dann ging's in die Schlafräume, in die »Falle«. Die eisernen Bettgestelle enthielten Strohsack, Kopfkissen und Decke.

Als Hainlin entkleidet unter seiner Decke lag, wandte er sich zum Nachbarbett, das Glaser innehatte, und nickte ihm zu: »Schlaf, Bruder! Vergiß die Welt!« Und während nun Schnarchen rasselte, schwammen die Seelen auf stiller Flut im Traumkahn hinüber zu wundersamen Ufern. Was Hainlin ins Hotelbuch geschrieben hatte, er reise nach Glastelfingen, das gelang ihm für diese Nacht.

[491] Zwei Heidehügel

Am Morgen holte Hainlin seinen Koffer vom Anhalter Bahnhof und fuhr mit der Pferdebahn zum Lehrter Bahnhof, wo ihn Glaser erwartete. Vierter Klasse kamen sie nach Hamburg – Glaser nahm Abschied, Hainlin fuhr weiter nach Harburg.

Die Fabrik von Osterkamp war bald gefunden, und beim Pförtner erkundigte sich Hainlin, wo Herr Osterkamp wohne. »Wollen Sie ihn sprechen? Er ist in der Fabrik.« – »Danke, nein! hier mag i net störe – möcht bloß der Frau Osterkamp meine Aufwartung machen.« – »Die gnädige Frau ist aber verreist.« – »Verreist? Oh, wie schad! Ond wohin denn verreist?« – »In die Heide – nach Achterkrog.«

Achterkrog war ein Oertchen an der See. Teils mit der Bahn, teils wandernd gelangte Hainlin hin. Im Wirtshause erkundigte er sich bei der Wirtin vorsichtig nach Frau Osterkamp und erfuhr, die wohne im Forsthause, zwei Stunden von hier. Es sei leicht zu finden – man brauche bloß in die Heide zu gehen und auf den nächsten Hügel los – dahinter sei der Wald, und an dessen Rande liege das Forsthaus.

Hainlin beschloß, im Achterkrog zu übernachten, um zunächst einmal die See zu beschauen, die hinter der Düne brüllte. Am Morgen wollte er das Forsthaus aufsuchen.

Zum letzten Häuschen des Fleckens gelangt, bemerkte er, wie im Winde, der von der Heide schnob, ein Schmetterling geflattert [492] kam – ähnlich einem welken Blatt, das dahintreibt. Und ins Gärtchen der Strandhütte taumelte der matte Sommervogel – zu einer Malve, die dort weiß blühte. Es war ein Trauermantel – und wehmütigen Reiz hatte das Bildchen: auf dem Blütenschnee spreizte der Verirrte die dunklen Flügel, sich ein wenig an der Sonne zu wärmen. Es war sein letztes Glück; gleich darauf riß ihn ein Windstoß seewärts – auf die Wasserwüste war das haltlose Seelchen geschleudert, und Wogenmäuler schnappten nach ihm.


Ein Trauermantel im Nebelsturm

Ueber Stoppel und Heidekraut.

Zur Düne trieb der Falter,

Wo drohend das Weltmeer blaut.


Bei der Gartenmauer am letzten Strand,

Von Brandung schon umsprüht,

Da wankt die weiße Malve,

Ein Spätling, fast verblüht.


Der hingetaumelte Falter hängt

Dunkel am Blütenschnee,

Zu rasten ein süßes Weilchen –

Dann reißt ihn der Sturm zur See.


O haltlos flatternde Zärtlichkeit,

Wie welkes Laub verweht!

Im Wogenmaul nicht anders,

Als ob ein Schaum zergeht.


*


[493] Morgens, in klarer Sonne, schritt Hainlin durch die Heide. Sie war ein lila Blütenmeer, aus dem zuweilen eine Gruppe dunkelgrüner Wacholdersäulen ragte. Das sandige Land bildete Wellen, draus hob sich der Hügel, den die Wirtin bezeichnet hatte – auf seiner Höhe ragten Steine.

Um den Hügel führte eine Wagenspur – und da lag das Forsthaus am Walde, der sich über moorigen Boden erstreckte. Nach rechts ging die Heide weiter – ins Grenzenlose, so konnte man denken – nur daß in violetter Ferne ein anderer Hügel mit einer Felsenkuppe ragte.

Vom Hügel, an dessen Fuß er sich befand, scholl eine Kinderstimme. Vorsichtig näherte sich Hainlin dem Gipfel. Ein Knabe und ein Mädchen streiften durch das Heidekraut, als ob sie etwas sammelten. Auf des Hügels Kuppe saß bei einem kleinen Mädchen eine junge Frau in städtischer Kleidung: Hainlin den Rücken gekehrt, las sie in einem Buche.

Sie ist es! sprach Hainlins pochendes Herz, und es war fast Schreck, was ihn lähmte. Dann faßte er sich und nutzte den Augenblick, um Marga zu betrachten. Da sie ins Lesen vertieft war und ihr Kind das Gesichtchen abgewandt hatte, konnte Hainlin unbemerkt näherkommen – und blickte Marga von der Seite an. Sie sah frisch aus, rosig – von der Schläfe wehte ein goldiges Löckchen – die Gestalt war frauenhaft.

»Mammi! Da is wer!« sagte das kleine Mädchen, und schleunigst wandte sich Hainlin ab. Er bückte sich nach Heidekraut und schlenderte wie planlos den Hügel hinab.

Ob sie mich beachtet hat? Ob meine Gestalt ihr Erinnerungen weckt? dachte er – und schwankte, ob dies zu wünschen sei oder nicht.

Einmal fühlte er den Drang, auf den Hügel zu stürmen und sie in seine Arme zu reißen. Dann griff er seufzend an seine [494] Stirn. An Marianka hatte er plötzlich denken müssen – an den Gram, den sie über ihn heraufbeschworen hatte. Sollte nun er, dem das Herz davon noch blutete, störend eingreifen in den ruhigen Zustand einer Ehe? Margas Ehe zerrütten?

Entschlossen entfernte er sich von Marga – schritt nun fest und flott durch die Heide. Nicht zum Forsthaus; sondern dem blauenden Felsenhügel entgegen.

Daselbst angelangt, ging er zum Gipfel, setzte sich auf den Steinblock und schaute zurück zu Margas Hügel. Ob sie noch da war, ließ sich nicht erkennen. Versonnen nahm er aus dem Ränzel seine Flöte, und es zitterten Seufzer der Sehnsucht über die lila wogende Weite. Sonst war es still – nur Bienen summten leise, ein Wacholder raschelte im Winde, schleppenden Fluges krächzten Krähen.

Unweit war ein Dörfchen, und hier fand Hainlin Unterkunft. Es war bei einer Schulmeisterwitwe, die ihr ererbtes Häuschen hatte und von den Bienen Honig erntete. In einem Märleslande fühlte sich Hainlin – er mochte sich nicht trennen von dieser Heide, wo man Herr blieb in seinen Träumen. Oft stieg er auf den Heidehügel, schaute nach Margas Hügel und blies Flöte.

Der Herbst war gekommen, Nebelwind schnob über die verblühte Heide – mit schnarrendem Sehnsuchtslaut zogen Wildgänse im Keilgeschwader südenwärts. Ein paar Schwäne kamen auch geflogen – ermüdet schienen sie einem Genossengeschwader nachzurudern. –

Nach Marga erkundigte sich Hainlin niemals – keine Nachricht aus dem Reiche trüber Wirklichkeit sollte sein Innenleben mehr stören. Hier suchte er Neuland, suchte die Friedensinsel in wüster See. Und die Insel tauchte auf, er spürte, daß er sie erreichen werde.


[495]

Zwei Heidehügel ragen – Die Oede trennt sie weit. Es sind versteinte Klagen Der Einsamkeit.

Die Felsenkuppen spähen: Rings Heide struppig braun. Hinüber schweifen Krähen Und Wolkenfraun.

Die Krähen haben Flügel Zum lila Heidesaum – Die beiden Felsenhügel Verwebt nur Traum.

Sie dürfen kaum sich grüßen Als blauer Duft von fern – Und schmiegten sich zu Füßen Einander gern.

Die Wanderschwäne flogen Im gelben Abendschein; Ein letzter kam gezogen Müd' hinterdrein ...

Herbstregen wob in Floren, Da war der Blick geraubt, Und in sich starr verloren Das Hügelhaupt.

Im Finstern schnob von Norden Der barsche Flockengreis – Und morgens waren worden Zwei Scheitel weiß.

[496] Jedoch ein Sternenfriede Hat nächtens sie geweiht – Da lauschen sie dem Liebe Der Ewigkeit:

»Getrost! wenn Stern bei Sterne Wie Laub vom Wipfel fällt, Wenn Nähe sich und Ferne Umfangen hält, –

Getrost! wenn Berge tauchen Ins lang geliebte Tal Und sich erlöst zu Hauchen Der Steine Qual:

So finden sich zwei Hügel, Ein spätes Hochzeitspaar – Und sind zwei weiße Flügel, Die wölbt auf spiegelklarer Flut Ein stiller Schwan.«

[497] Mit dem Ruhebecher

Auf einem Heidegang war Hainlin von Regen durchnäßt – heimgekehrt, fühlte er sich von Frost durchschüttelt. Am Morgen fand ihn seine Wirtin im Fieber – er stöhnte – alle Glieder taten ihm weh. Ein Arzt, weither geholt, stellte Gelenkrheumatismus fest. Durch Medikamente brachte er den Patienten aus dem einen Uebel heraus, um ihn dem andern zu überantworten: einem Herzleiden.

Inniger Trost für Hainlin war das Erscheinen Margas an seinem Bette. Von der Heideförsterin hatte sie gehört, jener Herr, der auf dem fernen Hügel manchmal Flöte geblasen, liege gefährlich krank. Da mehrere Kennzeichen auf Hainlin hindeuteten, den sie schon damals, als er dicht bei ihr war, zu erkennen geglaubt hatte, war sie zum Patienten gegangen.

Ueber die Aussprache der beiden kann man Vermutungen hegen; Hainlins Tagebuch besagt nur, Marga habe ihn liebreich gepflegt.

So weit hergestellt, daß der Herzleidende die weite Reise zum Onkel Guhl unternehmen durfte, schrieb er einen Brief an Marianka: »Das Märle vom Glasberg, das ich Dir erzählt hab', bewahrheitet sich an mir: Abgerutscht bin ich, lieg' unten zerschlagen und fühle, daß ich nicht lange mehr dies Dasein werde zu tragen haben. Recht so! Ich passe nicht hinein. Hab' alleweil den Fehler gemacht, von ihm etwas zu erwarten, was es [498] nicht leistet, seiner Natur nach nicht leisten kann. Mein Reich ist nicht von dieser Welt – ist vielmehr jenes heimliche Dörfle, das in der äußeren Wirklichkeit nicht existiert. Mein Glastelfingen soll mich nun ganz haben. Du, liebe Marianka, bist mehr realistisch veranlagt. Drum hab ich für gut befunden, daß wir uns nicht durch äußeres Band aneinander gefesselt fühlen. Als ich Dir den Ring dagelassen hab', ist es nicht bloß die eherechtliche Seite unseres Verhältnisses gewesen, was ich als Kette empfunden hab'. Nein, der Ring ist ein Glied jener Kette, die uns schwache Geschöpfe an die Sinnenwelt schmiedet. Mich wie Dich. Es liegt mir fern, Dich, Marianka, zu kränken – auch damals hab ich das nicht wollen, als ich an das Faust-Wort von den blanken, unfruchtbaren Hexen erinnerte. Deines Herzens Gram laß mich lindern mit einem anderen Faust-Wort. Lies nach, was der Doktor Marianus von den »Leichtverführbaren« sagt:


»Wer zerreißt aus eigner Kraft

Der Gelüste Ketten?

Wie entgleitet schnell der Fuß

Schiefem, glattem Boden!

Wen betört nicht Blick und Gruß,

Schmeichelhafter Odem?«


Recht haben auch die halb erlösten Engel:

»Uns bleibt ein Erdenrest

Zu tragen peinlich –

Und wär' er von Asbest,

Er ist nicht reinlich.«


Ja, »geeinte Zwienatur« ist jedes Menschenkind, und nur die »ewige Liebe« vermag das höhere Element vom niederen [499] zu scheiden, das Gold von der Schlacke. Die ewige Liebe – teure Marianka – die soll uns beisammen halten, und wir vergeben einander die Schwächen, die in unserer körperlichen Ichnatur begründet sind. Bitte, laß mich einsam! Ich reise ins Neckarländle, zum Onkel Guhl, der ein berufener Führer ins Ewige ist. Da möcht ich an meiner Läuterung schaffen, solang ich Odem hab. Uebers Grab hinaus bleib ich der Deine – wie ich Rosel zugehörig bin – und Marga. Glastelfingen ist das Engelheim, wo man nicht freit im irdischen Sinne, wo Eifersucht keinen Sinn hat, weil Mein und Dein im Ewigen verschmelzen

Die paar Monate, die Hainlin noch am Leben blieb, bilden die lieblichste Zeit seines Erdenwallens. Er hauste beim Onkel Guhl in Eberhards Einsiedelei. Umhegt fühlte er sich von der Ewigkeit, deren Donnerwort ihm hier erklungen war, und in ihrem Leuchten verklärte sich sein Schicksal. Neben Onkel Guhl weilten an seinem Lager Rosel an Berta; für etliche Zeit auch Marianka und Marga, die aus Sehnsucht gekommen waren.

»Da hab ich nun« – lächelte Hainlin – »mein Himmelreich im Herzen – ich sterbe umgeben von dem, was ich liebe.«

Friedevoll entschleierte sich ihm das große Rätsel – sein Sterben war, als ob Vollmond aus Wolken quillt.


Der Garten schwarz – Gestalten seh ich kauern, In Flor gemummt. Sind's Büsche? Blätter wagen kaum zu schauern, Alsbald verstummt.

So fremd, so steinern alles, wie besprochen Von Hexerei. Die Seelen sind wie Vögel, scheu verkrochen Beim Eulenschrei.

[500] Und bist du steinern, Welt, laß dich beschwören: Sei Seele, Welt! Geheime Sucht, einander zu gehören, Hat uns gesellt.

Wir suchen uns, wir liegen auf der Lauer In Dunkelheit: O Bann der Fremdheit, löse dich im Schauer Der Zärtlichkeit!

Komm, Zärtlichkeit! Ich bin allein. Ein Zecher Bei Ampelschein ... Wie Rebenblüte duftet mir im Becher Der Edelwein.

Den Trost der Oede soll ich nicht vermissen: Aufglüht der Mond – Ein Fürst in Purpur, der auf Wolkenkissen Beschaulich thront.

Nun hoch den Kelch! Dir, Vollmond, gilt mein Trinken! Da lächelt hold Durch Glas und Rebenflut sein Augenwinken Wie Bernsteingold.

Ein Kelch, ein blanker, süßen Rausches Quelle Bist, Mond, auch du. Dein Licht durchrieselt mich – o kühle Welle Der Seelenruh!

Erlöser Mond, wenn über Flur und Bäume Dein Silber haucht, Wenn Allgefühl die sanften Schwärmerträume In alles taucht!

[501] Traumkönig Mond! Es huldigt deinem Glanze Die Wolkenfee; Aus ihrem feierlichen Schleiertanze Blitzt keuscher Schnee.

Zum Sterben süß dies Leuchten! O dies Schweigen Der Rätselnacht! Wie's heimlich klingt! So zittern Flöten, geigen Herbstgrillen sacht.

Mir bangt nach jenem ewigklaren Frieden – Wer den erlauscht, Der hat den Becher Gral, ist schon hienieden Aus Gott berauscht ...

Es tropft der Tau; Nachtmotten surren trunken Ums Ampellicht – Und Stirn an Stirn, so bin ich hingesunken Zum Mondgesicht.

[502] Totenbeschwörung

Noch ein Gedicht von Hainlin sollte ich kennen lernen. In einem Buche war's, das droben im Schnützelputzhäusel aufbewahrt wurde. So kam's, daß ich noch einmal zu diesem Ort lieblicher Kindheitsträume gelangte.

Klein-Uli sollte mich hinführen. Professor Ritter konnte den Aufstieg seinem Beine nicht zumuten. Begleitete uns aber bis zur Universitätsbibliothek, wo er seine Arbeit über Hölderlin betrieb.

Den Botanischen Garten hatten wir hinter uns, waren an der Universität vorbei und standen betrachtend vor der Bibliothek. An der Außenwand dieses vornehmen Neubaues sind Bildnisse von Geisteshelden. »Aber Hölderlin ist nicht dabei,« meinte der Professor spöttisch. »Wohl Uhland! ha freili! der war ja Universitätsprofessor. Hölderlin aber hat's net mal zum Stiftsrepetenten gebracht. Ist ein simpler Hauslehrer gewesen, wiederholt stellungslos, so daß er bei Freunden oder bei seim Mütterle Unterschlupf suchen mußte. Dies Götterkind, das im Geistesschauen den Olymp nicht verleugnete, war auf Erden ein unbeholfener Träumer. Als er, von elender Wirklichkeit zerbrochen, in Tübingen die ärmliche Pflegestätte hatte, schalt ihn, wenn er sich auf Spaziergang wagte, Janhagel einen Narren. Jetzt weiß der deutsche Michel, der gern mit seinen Dichtern und Denkern protzt, von Hölderlin immer noch so gut wie nichts. Die Tübinger raunen davon, es hab im Neckarturm ein [503] irrsinniger Dichter gehaust ... Doch nun, Herr Doktor, kommen Sie mit mir in die Bibliothek! Ich zeig' Ihnen leuchtende Spuren des Genius Hölderlin. Bearbeite seine Handschriften, die aus dem Stuttgarter Archiv hergeliehen sind. Die Gelegenheit ist wahrzunehmen, gelt?«

Durch einen Flur gelangten wir in den Lesesaal. Im hellen, weiten Raume saßen an langen Tischen über Büchern grübelnde Männer, schreibende Studentinnen. Die Stille der Beschaulichkeit gemahnte an Tempelandacht. Eine Beschwörung von Geistern schien hier stattzufinden, und dazu paßte das große Wandgemälde:

Szene aus Homer. Am Eingang zur Unterwelt veranstaltet Odysseus ein Totenopfer. Aus der Tiefe nahen Schatten von Toten – Kinder und Bräute, kummergebeugte Greise und Männer in Rüstung. Auch Sänger mit der Harfe, weisheitsvolle Seher. Vom Opferblut nippen möchten die Seelen, um wieder einmal mit irdischem Leben verbunden zu sein – die Erinnerung daran war ihnen bisher benommen – sie haben ja vom Strom der Vergessenheit geschlürft. Immerhin regt sich ein dunkles Heimweh, und lüstern sind sie nach dem dampfenden, roten Lebenssaft. Hat ein Schatten davon genossen, so fühlt er sich verkörpert. Darf mit dem Opfernden plaudern – darf sich nach der Oberwelt erkundigen. Auch Fragen beantworten, die Odysseus stellt So enthüllen sich diesem mancherlei Schicksale. Sogar in die tiefere Unterwelt gewinnt er Einblick. Und erreicht den Hauptzweck seines Abenteuers: der Seher Teiresias sagt ihm wahr, wie seine lange Irrfahrt enden solle. Wiedersehen werde er die Heimat, sein trautes Felseneiland Ithaka, die Gattin und den Sohn.

In das Bild vertieft, fand ich darin einen Bezug auf mich: Auch ich, ein Vielgereister, suche die Heimat. Und bringe ebenfalls Totenopfer dar, Schatten meiner Jugend beschwörend, daß [504] sie aus der Unterwelt heraufsteigen. Blut geb' ich ihnen zu trinken, damit sie Verkörperung gewinnen und ihr Geheimnis offenbaren.


*


Unterm Arme nahm mich der Professor, mir die Handschriften zu zeigen, die im Nebengemach aufbewahrt wurden. Der Knabe hatte Weisung, im Lesesaal zu warten.

Eine Mappe legte der Professor auf den Tisch und nahm mit Ehrerbietung vergilbte Papiere heraus: Hölderlins Briefe – die Handschrift ist rund und schön, fest und klar.

»Eine Stelle lassen Sie sich zeigen! An seinen Halbbruder schreibt der Dichter – bekennt ihm, er hab' in den letzten Jahren einen lieblos kalten Ton angestimmt. Zu entschuldigen sucht er sich auf eine tiefsinnige Art. Lesen Sie!«

Der Professor wies mit dem Finger die Zeilen:»Ein Unglaube an die ewige Liebe hatte sich meiner bemächtigt ...«

Betroffen hielt ich inne und sann: Unglaube an die ewige Liebe? Das allerdings ist ein verwüstender, ist wohl der einzig schlimme Unglaube!

Und ich las weiter: »Ich sollte auch dahinein geraten – in diesen furchtbaren Aberglauben! Aberglauben an das, was eben Zeichen der Seele und Liebe ist. Was aber, wenn es so nicht verstanden wird, ihr Tod ist.«

Wie wahr! Wer nicht den Glauben an die ewige Liebe hat, ist verstrickt in einen Aberglauben, der tödlich sein kann für unsere eigentliche Seele. »Glaub' es, Teuerster,« – schloß Hölderlin das Bekenntnis seiner innerlichen Verödung – »ich hatte gerungen bis zur tödlichen Ermattung – um das höhere Leben festzuhalten im Glauben und im Schauen.«

[505] »Ist das nicht ein Aufleuchten jener Liebe selbst, von der die Rede ist?« meinte der Professor begeistert. »Das Glauben der Liebe ist das höhere Leben, ein Schauen der ewigen Wahrheit. Diese Offenbarung macht mir klar, warum mein armer Vater vom Glasberg stürzte. Weil ihm die bösartigste aller Sorgen, das Zweifeln am geliebten Herzen, ja an unserem Gotteskern – weil ihm dieser Geier mit hartem Flügelschlag das Auge getroffen und geblendet, das Schauen der Liebe genommen hatte. Anders starb Hainlin – ihm leuchtete das Morgenrot der Ewigkeit. Es ist dasselbe Schauen, das Hölderlin durch den griechischen Eremiten verkünden läßt ...«

Und aus einem Heft blätterte der Professor die Notiz heraus: »Eins zu sein mit allem, was lebt, das ist das Leben der Gottheit – das ist der Himmel auf Erden – ist Gipfel der Gedanken und Freuden.«

»Ist der Glasberggipfel,« sagte ich – »wo die Prinzessin, die wahre Seele, gefunden und erlöst wird. Vorausgesetzt, daß man auf Erden fähig ist, vom ewigen Leben – zu nippen. Ja, eins zu sein mit allem, was da lebt – mit allem! Das wäre ein geradezu übermenschliches Leben, für uns kaum faßbar in seiner Hoheit.«

»Uebermenschlich, das stimmt! Nur auf diese Weise verwirklicht sich Zarathustras Sehnsucht: der Uebermensch,« versicherte der Professor – und es erschütterte mich freudig, daß ein Mann so sprechen konnte, der grausige Schlachten durchfochten hatte. Weich fügte er hinzu: »In der Liebe haben wir den Anteil am Göttlichen. Wir sehnen uns danach in jenem Glastelfinger Heimweh, von dem das Gedicht im Schnützelputzhäusel handelt.«

Um seine Studien nicht länger zu verzögern, nahm ich Abschied von Professor Ritter. Er geleitete mich wieder zur Lesehalle, wo sein Knabe wartete. Mit dem ging ich.

[506] Aus der Tiefe empor

Von der Lustnauer Baumstraße führte mich Klein-Uli links ab – zur Waldhäuser Höhe. »Mr heißt sie jetzt Aeberhards-Höhe,« erklärte der Knabe.

Zwischen zwei schmucken Landhäusern steigt der Weg empor. Bald öffnet sich zur Rechten der Ausblick ins Lustnauer Tal. Um den gotischen Kirchturm breitet sich das Dorf, neumodische Bürgerheime ragen an der Baumstraße. In meiner Kindheit war hier alles schlicht, gemütlicher als jetzt. Der kasernenartige Bau auf halber Eberhards-Höhe, eine Heilanstalt, paßt nicht ins Idyll der Gärten, die sich am Hang emporstaffeln. Schade, daß von den Wengerthäusle, die einst zahlreich von der Berghalde lächelten, nur wenige übrig sind.

Die Aussicht verschwindet, wir passieren einen Hohlweg, der steil aufwärts führt, überwölbt von Weißdorn und Haselbüschen. Rechts kommt eine Schlucht, in deren struppiger Tiefe ein Wassergefälle rauscht.

Klein-Uli beugt sich übers feste Holzgeländer: »Dees da ischt unsre Wolfsschlucht – i han sie so getauft.«

»Ah!« lächle ich – »Samiel, erscheine!«

»Freile!« scherzt der Knabe – »von da führt e heimlicher Gang grad in die Höll. Aber Sie brauche dees net zu glaube!«

»Ich verstehe!«

»In der Wolfsschlucht bin i mal drunte gwä – o jele! arg wühscht sieht's da aus. Nesseln tun brenne, Dorne steche. Wo [507] Baumwurzle aus der Erd krieche, hat's Löcher – Kröten ond Ratten – sogar e Kreuzotterle hat mr da erlegt.«

»Hu, wie graulich!«

Raunend fuhr der Knabe fort: »Wissen Sie, Herr Doktor – wie mr's Bild von Odysseus betrachtet hänt, han i mir denkt: So ähnlich wie die Wolfsschlucht mag dr Eingang zur Unterwelt sein, draus die Toten kommen sind ... Aber freile, eine Unterwelt gibt's überhaupt net! Hölle scho gar net! Dees ischtAberglaube, Mythologie – gelt?«

Des Kindes Geplauder lenkte mich auf eine Idee, die ich zunächst im stillen verfolgte – weshalb meine Antwort einsilbig ausfiel.

Was mir durch den Sinn ging, war die Mythe von Hermes: Er ist der Luft- und Geistgott, Herr über den Odem, über Leben und Tod – ist daher der Psychopompos oder Seelenführer. Die Seelen der Toten bringt er zur Unterwelt. Seine weitere Aufgabe ist jedoch, aufwärts zu führen, zur himmlischen Höhe. Ein Christus der Griechen ist Hermes, niedergefahren zur Hölle, auferstanden von den Toten, Erlöser der Unterwelt ...

Nun aber meint der Knabe: Eine Unterwelt gibt es gar nicht! Im buchstäblichen Sinne gibt es natürlich keine. Aber diese Völkeridee ist kein bloßer Aberglaube.

Die Unterwelt bedeutet ja nicht allein den Ort, wo die Schatten weilen, sondern philosophisch bedeutet sie das Reich formlosen Stoffes. Aus Formlosigkeit haben sich die Geschöpfe gestaltet, zu ihr kehren sie verwesend zurück.

Wozu aber dies Aufwärts und Wiederabwärts? Ist es Wellenschlag am Meeresstrand? Ist es die Bemühung jenes Unterweltbewohners Sisyphus, der seinen Felsblock auf den Hügel wälzen soll, jedesmal aber, wenn das Ziel beinahe erreicht ist, aus den Händen rollen läßt?

[508] Oder gibt es ein Auf und Ab, in dem sich eineLeistung vollzieht? Des Uhrpendels Hin und Her leistet etwas: das Uhrwerk geht, der Zeiger rückt. So ist vielleicht auch Werden und Vergehen der Geschöpfe mehr als sinnloses Spiel. Irdisch Leben bedeutet: Gelegenheit haben zum Aufstieg ins Ewige. Oft wird die Gelegenheit verpaßt. Doch dieser Verlust kann wieder gutgemacht werden; der große Wellenschlag bietet immer neue Gelegenheit. Vielleicht hat darum die Natur Zeit ohne Ende –niemals aufhören soll die Möglichkeit, zum Bessern zu gelangen.

Daß ein Schüler mich begleitet, bringt mich auf folgenden Einfall: »Hör', Uli! Du bist jetzt in der sechsten Klasse, und ich war auch einmal darin. Das Pensum, das ihr zu bewältigen habt, ist wohldasselbe wie zu meiner Zeit! In den viereinhalb Jahrzehnten, die seitdem verflossen sind, hat das Pensum keinen Fortschritt gemacht. Der Schüler schreitet ein wenig fort, indem er die sechste Klasse durchmacht: wenn er sie beginnt, gibt's einfache Aufgaben, zuletzt sieht man, daß ein Stück Weges zurück gelegt ist, aber das Pensum dieser Klasse kehrt, sobald die Versetzung geleistet ist, zurück, von wo es ausgegangen ist. Da haben wir nun das ewige Auf und Ab, den Wellenschlag, ein Hin und Her, wie's der Perpendikel macht. Als ob's keinen Fortschritt in der Welt gäbe. Ist das nicht wunderlich, Uli?«

Der Knabe lächelt: »Ja, wemmer's so betrachtet! Aber Fortschritt gibt's halt dooch! Darin besteht er, daß mr aus der sechsten Klass' versetzt wird in diefünfte. Wer klebe bleibt, der freili machtnochmals dees Pensum durch. Ond 's kommen ja alleweil Schüler von unten rauf. Dees muß so sein.«

[509] »Du willst sagen: Der Fortschritt geht durch die sechste Klasse hindurch

»Ha freili!«

»In die fünfte Klasse geht's dann ...«

»Ond von da noch höher.«

»Unter einer Klasse versteht man also die dem Schüler angemessene Gelegenheit, etwas zu lernen – nicht wahr?«

Belustigt staunte Klein-Uli: »Ha! Dees ischt doch klar!«

»Warum ich's dennoch ausspreche? Weil mir die Frage kommt, ob die Menschheit nicht vielleicht eine bloße Klasse ist.«

Der Knabe stutzt: »Mögli wär's.«

»Oft hört man: die Menschheit schreitet fort und wird's noch zum Himmelreich auf Erden bringen. Aber wenn sie bloß eine Klasse ist, wie etwa die sechste, kann man zwar bis zum Ende ihres Pensums gelangen, bis zur Grenze ihrer Fassungskraft – nicht darüber hinaus! Fürs höhere Pensum ist dann eben die höhere Klasse da. Drum gehört das sogenannte Himmelreich auf Erdennicht zum Pensum der Menschheit – wenigstens nicht in dem Sinne, wie's verkündet wird von landläufigen Aposteln – als ob nach hunderttausend Jahren die ganze Menschenmasse gut und glücklich sein werde. Mir scheint, die Dummen werden nicht alle, auch nicht die Gemeinen, Wüsten und Wilden ... Was meinst du? Sieh mal diesen Weltkrieg! Es hat vorher mancher gesagt: So etwas ist nicht zeitgemäß, die Menschheit hat ja Fortschritte an Gesittung gemacht. Nun aber haben wir die Bescherung: das Erdenrund in zwei Lager gespalten, und blutiger geht's her als im eifersüchtigen Ringen zwischen Rom und Karthago, wüster als in der Völkerwanderung und im Dreißigjährigen Krieg. Die Menschheit ist nicht hinausgelangt über ihre Flegeljahre.«

[510] Uli schmunzelte. Sann und meinte: »Da möcht mr halt – naus aus der Flegelklass'!«

»Nicht wahr? In die höhere! Aber erst muß manReise dafür gewinnen.«

Und der Knabe mit schüchternem Zögern: »Sie denken, gelt? an den Himmel

»Jedenfalls halte ich die Menschheit für eineDurchgangsstation – das Ziel wird nicht in ihr erreicht. Sie gibt dem einzelnen Gelegenheiten, sich zu läutern – so daß er dem Ewigennäher kommt. Allzu viele freilich lernen garwenig und bleiben sitzen – das Pensum geradedieser Klasse ist überaus schwer


*


Schweigsam stiegen wir. Ueber die Wolfsschlucht führte die Straße in aller Bequemlichkeit. Noch einen Blick tat ich hinunter. Und dachte abermals an die Unterwelt.

Das Chaos ist die Unterwelt. Worin aber besteht das Chaos? Im wüsten Durcheinander, so daß der Teil sich nicht ums Ganze bekümmert, einem bornierten Eigensinn ergeben. Jegliche Ordnung fehlt.

Sie zu wecken, ist Aufgabe des Seelenführers Hermes. Aus dumpfer Niedrigkeit ringe sich Geistiges empor: Zusammenstimmen, Ueberordnung,Gemeinschaft.

Gern hätte ich solche Einfälle mit dem Professor durchgesprochen. Nun er fehlte, nahm ich mit Klein-Uli vorlieb und versuchte, den klugen Knaben in meine Anschauungsweise einzuführen:

»Die Wolfsschlucht kommt dir also wie der Eingang zur Unterwelt vor? Laß dir davon eine Geschichte erzählen. Die Unterwelt ist kein Aberglaube – sie bedeutet, was die Griechen [511] auch Chaos nennen. Bevor das Dasein Sinn hatte, war's wüst und leer – wenn auch schon Geist hauch über den Wassern schwebte. In der Chaostiefe gab's keinerlei Einigkeit, da war ein Kampf aller gegen alle. Drachen balgten sich, ineinander verbissen.

Nun geschah's, daß etliche dieser Viecher höher krochen und zur Oeffnung der Schlucht gelangten. Durch Gestrüpp lugte da ein Lichtstrahl – nie zuvor hatten die Drachen solch einen Schimmer gesehen. Wie gebannt hielten sie inne mit ihrem Hader – die Schönheit des Lichtes bezauberte sie, daß sie verliebt waren in den Lichtstrahl. Und sie sannen darauf, ihn zu erobern. Aber damit läßt sich Gutes nicht gewinnen. Es erging den Drachen nicht anders als jenen Riesen, die den Olympus erstürmen wollten – zur Unterwelt stürzten sie hinab. Doch in der finstern Tiefe sehnten sich die Ungetüme erst recht zum Licht. Die Liebe war geweckt. Und sie bändigt das Wilde, machtanschmiegsam, kann den Höllenhund zum Lamm entwickeln. Ja – und ...«

Da ich eine Weile schwieg, fragte Uli: »Und? Wie geht's weiter

»Ja, siehst du, darauf bin ich selber gespannt. Wir sind noch mitten in der Begebenheit, die ich schilderte. Die Unterwelt ist gewissermaßen unsere Welt – die Menschen haben noch etwas vomDrachen. Und da bleibt kein Rat, als daß siefortfahren sollen, dem Lichtstrahl ihr Herz zu weihen – und aus der Tiefe empor zu klimmen.«

[512] Auf der Höhe

Dreiviertel der Höhe haben wir erstiegen und wandeln nun an der Halde hin. Da weitet sich die wundervolle Aussicht, mir traut von Kindheit her. Im Tale die graue Stadt mit der Stiftskirche. Dicht dabei die alte Feste auf dem Berge, der sich bis zur Wurmlinger Kapelle dehnt. Links der Oesterberg. Nach Lustnau zu begrenzt ihn Buchenwald, dessen Wipfel rotgolden schimmern, wie auch die Bergwälder hinterm Neckartal. Dies erste Lodern des Herbstes stimmt wehmütig zum sanften Blau der Alb.

Dort hinten Berg an Berg gereiht. Leuchtende Bilder eines Sagenliedes. Da sind auch die Burgen, von denen ich als Kind schwärmte. Wie Efeu um Ruinen wob damals meine Sehnsucht um die alte Zeit, wo's noch urwüchsige Kraft gab. Drüben auf den Schlössern Neuffen, Teck und Urach, auf dem Hohenstaufen und dem Hohenzollern sah meine Träumerei goldlockige Recken, den Speer gezückt, Riesen und Drachen.

Diese Romantik geht nun zu Ende. Die Ritter, die einst Drachentöter waren – so ruft eine Volksmenge, haben selber etwas Drachenhaftes – Raubtiere sind's, wie ihre Wappentiere: Greif, Adler, Wolf und Leu.

Auf dem Acker, den der Bauer mit dem Ochsen pflügt, wandelt ein Schwarm Stare. Sie picken sich Nahrung aus der frisch umgestürzten Scholle. Aus mattblauen Lüften schrillt eines Habichts Schrei – und scheu schwirren die Stare auf. Ihr Geschwader macht eine Schwenkung zur Pappelgruppe, die [513] in der Nähe ragt. Das Gezweige bietet Deckung – darin lassen sich die Stare nieder.

»Da nauf!« spricht der Knabe und geht voran. Zwischen terrassenförmigen Gartenbeeten führen Steinstufen empor. Und ich erkenne das Gelände, wo ich, die Schule schwänzend, mit Fräulein Rosel zum Schnützelputzhäusel gegangen bin – wo später Hainlins Abschied gefeiert wurde.

»Seit wann sind die Rebstöcke fort?« frage ich bedauernd, und die Antwort lautet: »Ui jele! Arg lang! Mei Vatter ischt noch im Gymnasium gwä, da hat mr scho den Wengert abgschafft. Die Weigärtnerei tut sich bei uns net lohne. Aber drobe am Häusle hat's noch die alte Kammerz – die tragt guet!«

Rechts und links auf den Beeten bei Kohl und Rüben blühen Astern, gelb und blau. Mohnstauden stehen dürr – ihre Köpfe sind abgeerntet. An Bohnenranken hängen reife Schoten. Beerengesträuch, Birnen- und Zwetschgenbäume.

Ei, da bist du ja, liebes Schnützelputzhäusel! Kommst mir vor wie eine alte Waldfrau, von der es heißt, sie sei heimlich eine Fee. Hinter dir beginnt das Märchenland – Wiesen, wo lila Herbstzeitlosen blühen, Apfelbäume, ein Gartenhain – ins Grenzenlose scheint er sich zu dehnen. So ähnlich mag der GartenEden gewesen sein! schwärmte ich als Kind. Und wenn man auf der Hochebene weitergeht, findet man wohl das geheimnisvolle Dorf. Da gibt's ganze Felder duftender Hyazinthen, weiß und blau – ragende Edelkastanien und Weinlauben, an denen die Trauben strotzen, wie's nur im Sonnenlande sein kann. Mein Kindheitstraum von Glastelfingen, der in Dornröschenschlaf gesunken war, schlägt wieder die Augen auf.

Wir stehn beim Schnützelputzhäusel. Es sieht fast aus wie einst. Hat freilich auch etwas Befremdendes. Verwittert [514] lugt die Kalkwand aus vergilbter Weinberankung. Schwarzbraun und rissig das Gebälk. Das Fenster mit grünem Laden verschlossen. Die Windharfe auf der Dachspitze ist noch vorhanden – sie schweigt.

Und zum Trepple kommen wir, das auf der Rückseite zum Oberstüble führt. Der Knabe hat den Schlüssel mitgebracht und schließt auf. Gleich nach unserm Eintreten öffnet er Fenster und Laden. Das weißgetünchte Gemach hat in seiner Einfachheit etwas Rührendes.

Am Fenstertische nehm' ich Platz und schau' in die blauende Weite. Auf einer der Pappeln, die in der Nähe ragen, hat der Starenschwarm Platz genommen und jauchzt nun ins goldige Lodern des Altweibersommers.

Jung Uli öffnet einen Schrank und legt ein großes Schreibebuch vor mich hin. Wie ich's betrachte, kommt mir die Erinnerung, daß es von Hainlin, als er Abschied nahm, dem Schnützelputzhäusel gestiftet wurde. Ich schlage auf – da sind Hainlins harmonisch runde Schriftzüge.

Klein-Uli meint, ungestört könne ich mich ins Buch vertiefen, er wolle derweilen draußen nach den letzten Birnen schauen.

Während ich lese, schwillt der Luftzug ums Häusel an – ein sanftes Heulen geht durch Türspalt und offenes Fenster. Und nun tönt die Windharfe.

Wie eigen! In den Pappeln drüben ist dieser Hauch bloß ein Geräusch, in der Windharfe wird er zu holder Harmonie. So findet der ewige Lebensgeist, alle Weiten durchflutend, verschiedene Resonanz, je nachdem er durch dieses oder jenes Gemüt weht – und je nach Stunde und Stimmung.

Als ich das Gedicht zu Ende gelesen habe und aufschaue, bin ich überwältigt von einer süßen Wehmut: Da hat mich nun [515] das Schicksal an eine Station meiner Lebensreise geführt, die ich bereits vor einem Menschenalter berührt habe. Der Knabe von damals steht jetzt an der Schwelle zum Greisenalter. Abschied nimmt er von dem, was hinten liegt und unter ihm.

Die Schlucht, an der wir vorbeigekommen sind, bedeutet meines Lebens dumpfe Tiefe. Nun ich oben angelangt bin, im Sonnig-Freien, vergönnt mir der kühl-klare Herbst, zu durchschauen, wie alles Leben, mein und meiner Gefährten Schicksal, nichts ist als ein Suchen nach den verheißenen Wundern des Glasbergs. Hinaufkommen möchte man. Mit Arbeit sich emporarbeiten. Oder mit List, mit Kühnheit, Gewalt – sei's auf ehrenvolle, sei's auf unwürdige Art.

Und was erreicht man? Mühsal und Enttäuschung. Begierde, die sich wie eine Kerze verzehrt. Gewiß auch mancherlei Lust – aber gleich der bunten Seifenblase ist sie rasch zerstoben. Gaukelwerk der Hoffnung, Spuk der Sorge. Schließlich wohl ein Abgleiten in die Wolfsschlucht.

Aber gibt es nichts Besseres? Muß denn die Fahrt zum Glasberg Trauerspiel sein? Hainlin hat die Erlösung erspürt: Besinne dich, Seele! Hast du nicht eine Schwungkraft, die mit Flügeln der Morgenröte zum Berggipfel trägt? Keine Schranke gibt es, zu hemmen heilige Sehnsucht. Freilich nicht äußerlich beschert sie – nur im Innern, in deiner heiligen Tiefe. Am Tautropfen deiner Unschuldsblume funkelt das eine, allen Blumenperlen gemeinsame Licht.

Erkenne, Glasbergsucher, daß deine Träumerei vom Märchendorfe nichts andres meint, nichts andres ist als Heimweh nach jenem Garten Eden, der heimlich blüht in deinem Gemüte. Das selige Glastelfingen ist deine reinste Liebe, dein Anteil, Menschenkind, am ewigen Leben!

[516] Glastelfingen

Ich bin der Träumlesjörg, erpicht auf Märle –

Ein Schwab; er wird mit vierzig Jahren klug.

Mir bleibt als Galgenfrist noch manches Jährle,

Doch vom Sinnieren krieg' ich nie genug.


Schön Märle spinnen gilt mir mehr denn Klugsein;

Da reimt sich, was dem Herzen wohlgefällt.

Die Leute sagen: Traum, der müsse Trug sein –

Doch was mich trog, war nur die kluge Welt.


So laß mich, Welt! Verstöre nicht mein Sinnen!

Laß wandeln mich auf Klee am Hügelhang.

Ein Engel, den ich ahne, lockt mein Minnen –

Wie Harfentraum im Winde sein Gesang.


Der Engel schwebt mir vor; ich möcht ihn schauen.

Doch bleibt er heimlich – wie durch Buchenwald

Der blaue Himmel flirrt, und wie durch Auen

Im krautverwachsnen Bett ein Bächlein lallt.


Ich seh' ihn elfenhaft auf Halmen schaukeln

Auf einmal ist es lila Rittersporn.

Ich seh' sein blaues Kleid durch Aehren gaukeln –

Ein Pfauenfalter taumelt übers Korn.


[517]

Wo bist du? Schwebtest du zu Bergverstecken?

Da ragt auf Beeten Mohn mit Silberköpfen;

Um Stangen rankt der Hopfen; Brombeerhecken –

Die Perlen funkelschwarz an Blätterzöpfen.


Auf Rasen kurze Rast bei Apfelbäumen –

Aus breitem Wipfel lockt die goldne Frucht.

Und immer süßer gibt es da zu träumen,

Und immer höher lockt des Engels Flucht.


Ihr Wolkenlämmer droben, weiß Gewimmel,

Wer ist euch Hirtin? Sie, die mich entzückt?

Darf ich zur Aether-Au? Und hat der Himmel

Dem Jörg die Jakobsleiter hergerückt?


*

Hinan die Stufensteige zwischen Reben!
Ein Lachen, horch! Es war dein Silberlaut!
Wo steckt mein Schelm? Und willst du stets entschweben,
Mein süßes Rätsel, lose Elfenbraut?
»Hier ist es lauschig!« winkt das Wengerthäusle –
»Mein Traubenstock umarmt Gebälk und Mauer.
So komm und finde hier dein Herzensmäusle,
Das blonde Kind vom Glastelfinger Bauer!« –
»Nicht hier! Fort flog sie!« hör' ich Bienen raunen –
»Im Stüble hat sie kurz sich aufgehalten.«
Ich rasch das Trepple hoch – und steh' in Staunen:
Sie ist nicht hier – jedoch ich seh' ihr Walten.
[518]
Der Tisch gedeckt – den konnte sie nur decken!
Purpuren im Pokale glüht der Wein;
Auf blütenweißem Linnen Weizenwecken;
Im Wasserglas der Unschuld Röselein.
Ich spür's, wer das beschert. Darf ich mich setzen?
Wie Grüßen kommt ein Hauch vom Rosenglas.
Als wär's ein Abendmahl, will ich mich letzen
Am sanften Brot, am kühlen Feuernaß.
Doch wo ist sie? Mich rührt ein wonnig Bangen –
Wie einst den Knaben beim verschollnen Lied,
Das fern am Dorf zwei Liebesleute sangen,
Wann dunkel sie der Sonntagabend schied.
Ich sinne, vor den Augen beide Hände;
Ich seufze: Bleibt mir Liebchen ewig weit? –
Auf einmal blaut es durch die Fingerwände:
Da ist sie wieder, ist ihr Veilchenkleid!
Die Augen auf! Durchs Fenster seh ich blauen
Die Alb – wie Sagenberge von Kristall.
Hier deine Heimat! lächeln Wald und Auen –
Dein Engel ist's – den hast du überall.
*

Sei, wo du willst – im Herzen blüht dein Minnen;
Und wo du schwärmst, da hast du deinen Traum.
Die lautre Heimat, finde sie tief innen
Und greife nicht hinaus in fremden Raum!
[519]
Sei kein Laternle du, das seinen Schimmer
Auf dunkle Pfade wirst – und nach ihm hascht!
Gib's auf, o Närrle! Draußen wird ja nimmer,
Was innen glimmt, als Beute überrascht.
Und zweifelst du, so suche Glastelfingen!
Geh' fragen nach des Michelbauers Maid!
Vernimm's von Wandrern, die schon lange gingen;
Sie seufzen: Glastelfingen? Himmelweit!
Versuch's und steige! Magre Haberfelder
Und kahle Bühle, die noch höher sind;
Morast mit finstern Binsen; Tannenwälder
Umstarren wüst ein Felsenlabyrinth.
Ein Glöcklein wimmert von der Bergkapelle,
Und droben siehst du blaue Schleier wehn:
Drei Glockenblumen sind's, die an der Schwelle
Der öden Felsengrotte schweigsam stehn.
Zuletzt ein Berg – wie Glast der Abendwolke.
Das möchte, denkst du, Glastelfingen sein!
Da wäre Jörg entrückt dem klugen Volke,
Das Märlesträume hält für Gaukelschein!
Jedoch der Berg ist Glas! Da muß man zagen!
So glatt und steil – kein Fuß, der da sich hält.
Ob Mann und Roß das Abenteuer wagen,
Sie gleiten ab – da liegen sie zerschellt.
Glücksritter einst, nun bleichende Gerippe;
Der Schädel grinst, ins Leere krallt die Faust;
Gen Himmel trotzt die unerreichte Klippe –
Und horch, mein Engel singt, so droben haust:
[520]
»Ich bin's, die dich gelockt – bin die Walküre
Von Glastelfingen, Michels Töchterlein.
Der will nicht, daß mich Ungestüm entführe;
Wer rauben will, der mag des Todes sein.
Sei du, wie jene nicht, die hergezogen,
Als gält's, vom Himmel reißen einen Stern!
Ei Märlesjörg! Sinnierend komm' geflogen!
Wer lieben kann, hat nie das Liebchen fern.
Schon selig bist du, weil ich dir gefalle.
So hast du mich – und mein und dein sind gleich.
Dies Engelheim, die blaue Aetherhalle,
Ist deiner Sehnsucht heimlich Innenreich.
Und alle Sehnsucht soll Erfüllung werden.
Was einer liebt, das wird er selber sein!
Der Erdengier gebührt das Reich der Erden –
An Erde klammert sich das Totenbein.
Zwar wirst auch du, am Glasberg hingesunken,
Den Stürmern gleich, wie Fackelbrand verglühn –
Doch aus der Asche soll dein Heimwehfunken
Beseligt still zur Sternenheimat sprühn.«
[521]

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TextGrid Repository (2012). Wille, Bruno. Romane. Glasberg. Glasberg. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A8CD-C