[146] [149]Heimweh nach der Ewigkeit

Heilige Hochzeit

O schwüler Traum von Lust und Minne!
Ich wallte suchend durch das Land,
Da hat die schöne Teufelinne
Mit Schlangenblicken mich gebannt.
Ein Irrwisch, hat sie mich verblendet
Und hingeschleppt durch Nacht und Sumpf,
Bis ich verzweifelt, halb verendet
Zusammenbrach am Erlenstumpf.
Ich fühl's, mein Leben ist verloren.
Nur blinzelt noch das Augenlicht.
Auf einmal blüht aus Wolkenfloren
Der Sonne Rosenangesicht.
Und meine Seele will gesunden;
Vergessen ist der morsche Leib.
So hab ich endlich dich gefunden,
Ersehnte Braut, mein Sonnenweib!
Der Gram entflieht; ein letztes Sorgen
Umschleicht mich: daß ich wüst geträumt
Und diesen hochzeitlichen Morgen
Im Jugendwahne lang versäumt!
Doch still! Ein Trost ist mir geblieben:
Im Tod zu minnen, ward mein Loos!
Ein Augenblick, erfüllt mit Lieben,
Ist wie der Himmel tief und groß.
[149]
Komm, Sonnenmund, du Hochzeitsbecher,
Zum Abendmahle mir geweiht!
Im Kusse sterbend saugt der Zecher
Das Feuerblut der Ewigkeit.
Laß trinken, trinken deinen Gatten/
Bis ihm die Seele feierstill,
Ein Himmel ohne Wolkenschatten,
Ein Sonntag, so nicht enden will.

[150] Selig sterben

Wie drückend schwül der Sterbepfühl!
Es muß geschieden sein ...
O Sommernacht, ach flüstre nicht
So lockend süß herein!
Ihr Düfte blühender Linden,
Wie muß ich bitter empfinden,
Was ich versäumt!
Weh mir! Auf meiner Wiese
Viel tausend Blumen lohten,
Die alle heimlich schmachtend mir
Den Kelch der Liebe boten.
Ich hab ihn nicht genossen!
Ich wähnte, streng verschlossen
Sei jeder Kelch.
Und in mir glomm es jugendstark;
Hätt ich vertraut der Glut,
Die Sterne konnt ich keltern
Und zechen ihr heilig Blut.
Doch zwischen öden Wänden
Hielt ich in darbenden Händen
Das bleiche Haupt.
[151]
Ich wühlte tief nach einem Schatz.
Da tappte meine Hacke
Vorbei an Goldes Adern
Und biß sich fest in Schlacke.
Am Ende bin ich worden
Vom Eremitenorden
Ein trüber Gast.
O Sehnsucht, die in junger Brust
Ich Tor ließ ungestillt,
Wie loderst du im siechen
Geblüte nun so wild!
Wohlan, du magst im Sterben
Um Liebeslust noch werben
Mit heißem Kuß.
Hinaus zum Garten! Schüchtern lock
Der Haubenlerche Schlag.
Mit rosa Knospen tastet
Aus Wolkengrau der Tag.
Ein Wollustschauer wittert
Um Busch und Baum/ und zittert
Durch meinen Leib.
[152]
Und feierlich vom Leibe
Streif ich das düstre Kleid.
O kühles Bett im Blumenklee,
Wo Perlentau mich weiht!
Voll Inbrunst beug ich Rosen
Vom Hag herab zum Rosen
An mein Gesicht.
Horch, Harfenjubel! Strahlend wallt
Die Sonnenkönigin
Zum Blumenbett/ und neigt sich
Umfangend zu mir hin.
An ihren Busen flutet
Mein Sehnen und verblutet
Im Hochzeitskuß ...
Ja sauge meinen Odem
In deinen Flammenschwall!
Laß mich, ein Tropfen Sonnenblut,
Wild pulsen durch das All!
Heil mir! In alle Wonnen
Versäumter Jugendbronnen
Mein Schwelgen taucht.

[153] Klausners Trost

Von Purpursonnenblitzen
Des Forstes Lücken sprühn;
Der Abendwolken Spitzen
Wie Gletscherstirnen glühn
In klaren Himmelsräumen
Des Klausners Augen träumen,
Vor Wehmut feucht.
Da sitz ich nun gefangen/
Mein Kerker ist die Welt/
Und möcht emporgelangen
Zum freien Lichtgezelt.
Doch harte Fenstersprossen
Behalten abgeschlossen
Mich bis zum Tod.
Wohl bin mit blonden Haaren
Ich wie ein Frühlingswind
Viel Wonnen nachgefahren/
O weh, ich töricht Kind!
Spät unter Trauerweiden
Lernt ich mich still bescheiden
Und ward bekehrt.
[154]
Mir kam von seligen Auen
Die eine Gabe nur:
Inbrünstig aufzuschauen
Zur sternbesäten Flur.
Aus trüben Kerkerschachten
Zum Born des Lichtes schmachten
Ist all mein Trost.
Nun sei mir hochwillkommen
Zur Andacht, lauschige Nacht!
Verheißend ist entglommen
Des Sterngewimmels Pracht:
Endlose Weltenscharen
Sollst, Seele, du befahren;
Drum rüste dich!
Einst wird dir aufgeschlossen
Der Gitterzelle Tür;
Du wandelst weißumflossen
An Pförtners Hand herfür.
Die Segelschwingen breite
Und such in Ätherweite
Die neue Welt.

[155] Der ewige Abc-Schütz

Auf den Rücken geschnallt die nagelneue Mappe,
Fibel und Schiefertafel unter der großen Klappe,
Schwamm und Schieferstift bammelnd an Fädchen
Trollt ich mit kleinen Knaben und Mädchen
Zur Schule nach Abc-Schützen-Art/
Und war doch ein Greis,
Mit Haaren schlohweiß
Und wallendem Bart.
Bald hockt ich auf niedriger Klassenbank
Zwischen Ofen und Klassenschrank;
Der Herr Lehrer saß auf dem Katheder.
Laut und deutlich mußte nun jeder
Aus der Fibel buchstabieren,
Artikulieren, deklamieren.
Vom plärrenden Chorus hallte das Zimmer:
»I, m: Im! Im/ mer.
Ni, m: Nim! Nim/ mer!«
Ich stammelte mit, zerstreut, verlegen,
Wagte kein Auge vom Buch zu bewegen,
Wußte vor Scham mich nicht zu lassen.
Was tat ich nur hier? Ich konnt es nicht fassen.
Das Abc hatt ich längst kapiert,
Hatte Bibliotheken durchstudiert,
War Bücherverfasser, ein Denker, ein Dichter ...
Was tat ich hier zwischen dem Fibelgelichter?
[156]
Urplötzlich sah ich zu meinem Schrecken
Des Herren Lehrers hochwürdigen Bauch
Vor meinen Platz sich pflanzen und recken.
»Nun, Brunochen«, sprach er, »sag du's auch!
Ein kleines Blauveilchen ...?«
Ich erhob mich verblüfft, mit Zittern und Zagen;
Was sollt ich sagen? Ein kleines Blauveilchen?
Auf einmal erwachte, Zeile für Zeilchen,
Die Fabel aus meinen Kindertagen,
Und ich konnte mechanisch sagen:
»Ein/ klei/ nes/ Blau/ veil/ chen
Stand eben erst ein Weilchen
Unten im Tal am Bach.«
Da dacht es nach und sprach:
»Daß ich hier unten blüh,
Lohnt sich kaum der Müh;
Muß mich überall bücken
Und drücken;
Bin so ins Niedre gestellt;
Sehe gar nichts von der Welt.
Drum wär es ganz gescheit getan,
Ich stieg ein bißchen höher hinan.«
Und wie gesagt, so getan;
Aus dem Wiesenland
Mit eigener Hand
Zieht es ein Beinchen nach dem andern
[157]
Und begibt sich aufs Wandern.
»Drüben der Hügel wär mir schon recht!
Wenn ich den erreichen möcht,
Könnt ich ein Stückchen weiter sehn;
Dahin will ich gehn ...
Dahin will ich gehn ...
Will ich gehn ... '«
»Ja«, sprach der Herr Lehrer, »da hapert's noch sehr.
Gib künftig hübsch acht und lerne mehr!«
Da stand ich alter Esel blamiert/
Und wär am liebsten retiriert
In den Boden hinein ...
Zu meiner Erlösung begann zu schrein
Gellend die Glocke durchs Haus,
Und/ die Schule war aus!
Janhagel sprang mit Jubel und Tanzen
Über die Bänke, griff Mütze und Ranzen
Und lärmte in hundertfüßigem Trab
Holterdipolter die Treppe hinab.
Auf dem Hofe harrten voller Verlangen
Mütter und Tanten ihrer Rangen.
[158]
»Ich bin versetzt!« schrie ein kleiner Junge
Triumphierend aus voller Lunge./
Versetzt? Wie ein Pistolenschuß
Fuhr es mir freudig durch den Kopf:
Heut ist ja Semesterschluß!
Dann bin ich armer alter Tropf
Wohl endlich versetzt zur höheren Klasse!
Daß ich Träumer solche Eröffnung verpasse!
Zu einem Klassengenossen trat ich,
Klopfenden Herzens um Auskunft bat ich.
Der aber höhnte mit Geträtsch:
»Nee/ du bist sitzen geblieben/ ätsch!«
Entsetzen durchschlotterte meine Glieder.
Sitzen geblieben! Schon wieder/ schon wieder!
Da wandte der Bengel sich lachend um:
»Ist der aber dumm!
Ist schon längst in der obersten Klasse
Und will noch versetzt werden!
Wie kannst du versetzt werden?
Es gibt ja keine höhere Klasse!«
[159]
Gibt keine höhere Klasse?
Das Unbegreifliche, grob wie ein Sparren,
Ließ alle Gedanken und Sinne erstarren.
Gibt keine!
Auf dem Schulhof stand ich in wirrem Traum,
Schließlich allein mit dem Kästenbaum,
Der im Herbstwind brauste und stöhnte,
Sich dörrender Blätter entkrönte.
Ich blickte hinan, durch Gittergezweige:
»Sonne, wo bist du? Enthülle dich! Zeige
Den Höhenpfad für mein Aufwärtstrachten!
Den Quell, dahin meine Geister schmachten/
Aus dessen überirdischem Rauschen
Sie unerhörte Kunst erlauschen;
Zeige die höhere Klasse mir!«
Ich schaute mich um und/ sah die Mauern/
Und mußte schluchzend zusammenschauern,
Schüttelnd das Haupt/ wie König Lear:
»Es gibt ja keine!«
So bin ich erwacht. Ich zittre und weine.
Es war nur ein Traum!
Doch/ gibt es denn eine?

[160] Sternenfriede

Auf allen Forsten, Wiesengründen/
Auf meines Grames Heimat/ lagert Nacht.
Nur droben, droben jene Fernen
Verklären sich, entzünden
Die wundervollste Silberpracht
Von Funkelsternen.
O Sternenhimmel/
Du Weltengewimmel!
Ihr dunkelblauen
Lichtbesäten Auen
Der Ewigkeit!
Euch tief zu schauen
Ist Seligkeit,
Ist kühler Trost
Für diese brennenden Wunden/
Die mir, erbost
Gleich kläffenden Hunden,
Die Menschenmeute schlug, um nun
Mit sattem Hasse auszuruhn ...
O Sternenhimmel/
Du Weltengewimmel!
Milchstraße, ungeheuer, breit,
Vielbuchtig wie ein ausgetretener Strom
Durchquerst du die Unendlichkeit/
Welle an Welle,
[161]
Nebel an Nebel/
Jede Welle ein Lichtermeer,
Jeder Nebel ein Weltenheer.
An des Lichtstroms Ufern blühn
Große Sterne, schwefelflammenblau.
Manche funkeln rot und grün
Wie besonnter Blumentau.
Sternschnuppen sprühn/
Leuchtkäfer auf dunkler Flur.
Göttergleich auf hehren Thronen,
Blitzen mit den Kronen
Jupiter, Sirius, Arktur.
Zum Polarstern, seit Äonen,
Zielt der Wagen wie gebannt.
Von Demant
Flammt Orions Gürtelbild.
Gemma, reizend, mädchenmild,
Regenbogenbunt sich malend,
Winkt dem Mars/ der fackelrot,
Schlachten sinnend loht.
Alle Schwestern überstrahlend
Taucht der Liebe Stern mit Schneegefunkel
Aus des Forstes ernstem Dunkel.
Und wie feierliche, leise
Hingehauchte Harfenweise
[162]
Hör ich nun die Sterne klingen/
Mich im Auge/ sinnen, singen:
»Sei still und lausche/ lauschend gleite
Zum kühlen Rasen/ breit', breite
Die Arme andachtsvoll empor!
In Dunkelblau, in Silberschauer
Laß taumlig deine Augen sinken
Und dieser Kränkung letzte Trauer
In unserm Ruhemeer ertrinken!
Von Menschentorheit wund gesteinigt,
Im Strahlenquell gesund gereinigt,
Sollst du ein Heil der Erden,
Ein stiller Weiser werden.
Sei nur getreu der Sehnsucht,
Die um den Frieden freit!
Wer treulich schmachtend aufwärts schaut,
Dem wird das Höchste angetraut
In Ewigkeit, in Ewigkeit.
Und Ewigkeiten sind nicht weit,
Wenn fern entrückt ob Welt und Zeit
Im Sternenliede
Dein Sinn verschwimmt ...
Der Sternenfriede,
Der tiefste Friede sei mit dir!«

[163] Der verlorene Sohn

Ein Mysterium


Es sprach die Ewigkeit:
»Nur still, ihr Kindlein, ruht!
Bewahrt vor allem Streit,
Bleibt Gottes Fleisch und Blut.«
Doch ein Geschrei erwacht:
»Laß uns geboren werden!«/
So wurden Tag und Nacht,
Luft, Wasser, Himmel, Erden.
Das Menschenkindlein sog
Mit Auge, Mund und Ohr.
Die Sondergier betrog,
Daß es sein Herz verlor.
Von Habsucht ausgefüllt,
Denkt es der Herkunft kaum;
Die Heimat liegt verhüllt,
Vergessen wie ein Traum.
Und wenn es rückwärts lauscht,
Grüßt keine Mutter mehr;
Und nur ein Garten rauscht,
Ein wogend Wipfelheer.
[164]
Mit lichtem Schwerte droht
Ein Wächter vor der Pforte.
Wie Blitz sein Auge loht;
Wie Donner seine Worte:
»Im Heim der Ewigkeit
War einer bei dem andern.
Die unrastvolle Zeit
Läßt euch entfremdet wandern.
O Wüste Einsamkeit,
Wo jeder einzeln irrt!
Die Völker sind entzweit,
Die Sprachen sind verwirrt.
Und weil um Rache schreit
Vergossnes Bruderblut,
Nun denn, ihr Mörder, seid
Einander Höllenglut!«
So grollt der Rachegeist.
Doch horch, der Garten Eden,
Er säuselt und verheißt:
»Herbei! Ich heile jeden!
[165]
Erlösung wird beschert,
Wenn ihr, der Wüste leid,
Euch reuevoll bekehrt
Zur treuen Ewigkeit.
Herbei, ihr Zagen! Kommt
An meine Gartenmauer!
Zu eurem Troste frommt
Der ahnungsvolle Schauer.
Wenn meine Wipfel raunen
Und Nachtigallen singen,
Will euch vor süßem Staunen
Das volle Herz zerspringen.
Und so sich zwei vereinen
In Lieben und Erbarmen,
Da halten sie mit Weinen
Ihr Eden in den Armen.«

[166] Hahnenschrei

Hahnenschrei. Wie sachter Nebelregen
Rieselt Morgendämmern bleich vom Himmel;
Baum und Giebel grau und geisterhaft ...
Hahnenschrei im Dorfe hin und wieder/
Flüchtig Lallen einer Tagesahnung,
Die den Schlaf der Allnatur durchschauert.
Horch, Einsiedler! Deine schwere Wacht
Geht zu Ende. Von der übernächtig
Müden Stirne streife starre Sorgen,
Streife deiner Sehnsucht rastlos Grübeln.
Nur getrost! Die große Frühlingskraft,
Die geheimnisvoll der Erde Busen,
Wurzel, Knospentrieb und Menschenherzen
Schöpferisch durchbebt/ sie pulset weiter,
Braucht dein Sorgen nicht. Sie pulset weiter,
Wenn dein Wächteraug auch bricht, und dunkle
Todesflut den morschen Leib umspült.
Ruhst du ewig doch im Mutterschoße;
Da wird Todesflut zum Jugendborn.
Hahnenschrei. Nun auf, Einsiedler! Lisch
Endlich kummervoller Menschenliebe
Fackel/ die so düster dir zu Häupten
Schwelte diese lange, bange Nacht.
[167]
Laß an sanfter Ruhe treuen Busen
Deine aufgelösten Sinne sinken!
Kühl und duftig um dein Lager wallen
Fliederzweige ... Matter Hahnenschrei/
Letzter Scheidegruß von jenem dunkeln
Ufer, das die Seele, wie ertrinkend,
Doch so gern, verlor ... Ade, ade!
Einmal taucht sie noch empor; und zwischen
Schlaf und Wachen träumend, hört sie leises
Lerchenzwitschern ... Vöglein, lieber Herold,
Spürst du droben frischen Lebensodem,
Neugebornes Licht, das aus der Nacht
Rosenüppig blüht? Ja, Todesflut
Ward zum Jugendborn! Und gläubig lächelnd
Sinkt die Seele zum ersehnten Sterben
In die dunkle Flut ... Wie süß, wie süß!

[168] Ich bleibe

Durch die Nacht mit dumpfem Rauschen
Treibt vorbei des Stromes Wut;
Und mit träumerischem Lauschen
Starr ich auf die dunkle Flut.
Schattenhafte Kähne wallen
Mir vorbei, in Nacht hinein;
Liebe Stimmen, sie verhallen,
Und die Strömung tönt allein.
Ödes Schweigen, banges Dunkel!
Schmerzlich irrt mein Blick empor.
Da erblüht mit Trostgefunkel
Ein Gestirn dem Wolkenflor.
»Sieh, ich bleibe!« winkt sein Auge/
Und die bange Seele zieht
Auf zu diesem treuen Auge,
Wie ein Kind zur Mutter flieht.
Wenn dereinst des Todes Grauen
Dieses Herz umspült und bricht,
Laß noch einmal dich erschauen
Über Wassern, süßes Licht!
Bis den letzten Liebesfunken,
Der aus meinem Auge scheint,
Deine Blicke aufgetrunken
Und dem Sternenglanz vereint.

[169] Im Sarge

Aus schwarzem Sarge starrt,
Von Morgengrau erhellt,
Ein Toter bleich und ernsthaft
In die verlassne Welt.
Ein müdes Schluchzen irrt
Umher im Beigemach;
Im starren Totenantlitz
Wird keine Rührung wach.
In Wonne bricht der Morgen
Herein mit roter Glut,
Begrüßt von Vogelzwitschern;
Tief ernst der Tote ruht.
Er starrt empor und grübelt,
Wie es nur möglich war,
Daß er von Lust und Leide
Gebebt so manches Jahr.

[170] An eines Knaben Bahre

Waldhäusers Lied


Lebe wohl, verklärte Seele,
Bis uns lacht ein Wiedersehn,
Wann auch ich aus Staubes Höhle
Darf zur Sternenheimat gehn.
Liebreich ruft ein Hirt: »Willkommen
Auf besonnter Blumenweid';
Lämmlein, bist mir angenommen
In der Unschuld weißem Kleid.«
Gnade uns, wir könnten alle
Gleich so erdenledig sein,
Daß wir zum Schalmeienschalle
In den Frieden gingen ein.
Träumen laßt mich, Funkelsterne,
Hebt mich über Gräber weit!
Ach ich traue dir so gerne,
Heimweh nach der Ewigkeit!

[171] Flackerseelchen

Am offenen Fenster
Ein Flämmchen wacht,
Es flirrt und flackert
In wehender Nacht.
Ein Windstoß würgt es;
Da beugt es sich müd,
Als ob ein blaues
Blümchen verblüht.
Aus lischt sein Auge;
Ein letzter Strahl
Hinan zum heiligen
Sternensaal./
Arm Flackerseelchen,
Du Bettelkind,
Gern wärst du worden,
Was Sterne sind.
Mußt nun versprühen
In Nacht und Tod.
Jedoch getrost:
Der Lichtborn loht!
[172]
Dein Lichtborn droben,
Die glühenden Sonnen,
Dran heilige Sehnsucht
Dir ist entbronnen.
Und was du liebtest
In armer Zeit,
Dein Reichtum ist es
In Ewigkeit.
Der Sternenliebe
Ergib dich ganz!
So wirst du selber
Zu Sternenglanz.

[173] Herbstwanderung

Spürst du es herbsten, Wacholder?
Tiefdunkel grünen die Erlen/
Doch Sonne küßt immer holder.
Schwebt dorten nicht weiß Gespinnst?
Ach, Silberhaar, schweifende Wehmut
Ist all meines Sommers Gewinnst.
Wacholder, dir bleiben die Nadeln.
Laubherzlein mögen welken,
Uns beide soll Winterleid adeln.
Geistender Nebel auf Mooren.
Du Welt hast heimliche Schlüfte;
Wohin ging Jugend verloren?
Muß Moder denn alles beerben?
Hin rieseln die Augenblicke;
Ach, alles Leben ein Sterben.
Der Himmel mattrotes Gold.
O bliebe doch eine Treue
Dem Begrabenen ewig hold!
[174]
Abendfunken verglimmen.
Wie Flötenseufzer will endlos
Mein Sehnen ins Weite schwimmen.
Horch, säuseln nicht Friedhofs Cypressen?
Ich weiß eine Seele der Seelen,
Die kann kein Stäubchen vergessen.

[175] Wandervögel

Wandergänse eilen/
Schnatterhaft Gewimmel
Huscht in Schattenkeilen
Über Mondscheinhimmel.
Weicher Seelenlaut
Bebt aus hartem Schnarren.
Süßer Trost, zu lauschen
Und emporzustarren!
Treue Sonnensehnsucht,
Die um Mitternacht
Bei des Mondes Dämmern
Rastlos suchend wacht!
Was ich stumm verschlossen
Hielt in meiner Klause,
Raunen Gramgenossen
In das Herbstgebrause.
Weil ihr Heimatland
Nebeltrübe worden,
Flüchten sie mit greller
Klage aus dem Norden.
Doch in lichten Träumen
Glaubt ihr fromm Gemüt
An ein Südenland,
Wo die Sonne blüht.
[176]
Von der Sehnsucht Schrei
Wie bezaubert, schwanken
Raschelnd vor dem Fenster
Wilden Weines Ranken.
Auch das arme Laub
Träumt von einem andern,
Milden Land und möchte
Mit den Vögeln wandern.
Durch die Adern schauert
Zehrende Fieberglut;
Und in Schwärmerwahn
Lodert es wie Blut.
Fliegen will's und/ taumelt
Todesmatt hinab ...
Ach, sein Südenland
Ist ein Modergrab.
Warum bangst du, Herz?
Hast du nun erkannt,
Daß mit Laub und Vogel
Schmachtend du verwandt?
Kommen wird ein Herbsttag,
Wo du glühst wie Laub
Und mit deiner Sehnsucht
Taumelst in den Staub.
[177]
Doch vor lauter Treue
Stirbt die Sehnsucht nicht;
Aus gesunknem Laube
Flattert sie zum Licht,
Flattert jauchzend/ wie ein
Vogel, der zum Land
Seiner Sonnenträume
Nun die Richtung fand.

[178] Pilgerfahrt

Durch dunkle Grabzypressen haucht
Geheimnisvolles Raunen;
Aus weißen Fliederdolden taucht
Der Mond mit scheuem Staunen.
Und sieh, vom frischen Grabe
Hebt sich der Marmelstein,
Die Höhlung klafft/ ein bleicher Mann
Ersteht im Silberschein.
An seine wirre Stirne greift
Der Tote schlummertrunken;
Und wie sein Blick die Tafel streift,
Da stutzt er, bohrt versunken
Das Aug in seine Grabschrift
Und starrt/ bis an sein Ohr
Ein Hahnenschrei vom Dorfe gellt;
Da fährt er jäh empor.
Zum Dörflein heimwärts will er gehn/
Wie ehedem/ und zaudert
Und bleibt am Friedhofzaune stehn,
Von fremder Scheu durchschaudert:
»O Pilger, laß, was drüben liegt,
Wo sattsam du gegangen!
Auf neuen Pfaden weide
Geläutertes Verlangen!«
[179]
Bei Büschen, Hügeln, Dorf und Au
Verweilt sein Aug mit Grüßen,
Ade! und schwimmt in Tränentau.
Und wie er nun dem süßen
Trostliede lauscht der Nachtigall,
Da sucht er eine Gruft
Und küßt von weißer Rose
Erinnerungsvollen Duft.
»Zur Rüste, Pilger! Was so schwer
Dir lastet auf dem Herzen,
Tu ab von dir! und schürfe leer
Dein Herz von Schutt und Erzen!
Was du gelebet/ Schutt und Erz/
Sei nun gerecht gerichtet
Und hier auf deiner Tafel,
Zwei Hüglein, aufgeschichtet!«
Er wiegt das Haupt in stummem Weh/
Das gilt dem Schlackenhügel.
Doch aus dem andern, rein wie Schnee,
Formt er zwei Schwanenflügel;
Die fügt er an die Schultern
Und spannt sie breit und hehr,
Ein kühner Weltensucher/
Hinaus zum Sternenmeer.

License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Wille, Bruno. Heimweh nach der Ewigkeit. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A8B9-7