4. Das gastfreie Pfarrhaus

»Ist das grünliche Haus dort ein Gasthof?« hätte in Endersbach wohl jeder Fremde gefragt, wenn nach Endersbach andre Fremde gekommen wären als eben in das grünliche Haus. Wer aber in das sanfte, fast schüchterne Gesicht der Hausfrau sah und die abziehenden Gäste beobachtete, die niemals mit langem Gesicht und leerem Geldbeutel, sondern stets mit heiterer Miene und vollgepfropften Taschen abzogen, der konnte allmählich erraten, daß das kein Wirtshaus sei, sondern das Pfarrhaus des Orts.

In der Tat, es würden viele Gasthäuser für einen Zulauf dankbar sein wie den, mit dem das Pfarrhaus zu Endersbach gesegnet war. Selten verging ein Tag, wo nicht zu Fuß, zu Roß oder zu Wagen Gäste eingesprochen hätten, höchst mannigfaltige Gäste: flüchtig einkehrende aus der nächsten Umgegend, »nur so auf einem Spaziergang«, die man dann mit einiger Mühe zum Längerbleiben nötigen mußte; Gäste über Mittag, Gäste über Nacht; recht dauerhafte, solide Gäste, um Luftkuren, Wasserkuren, Traubenkuren zu brauchen; perennierende Gäste sogar, die das Landleben recht aus dem Grunde kennenlernen wollten, die sich beim Buttern beteiligten, indem sie frisches Butterbrot in Menge verschlangen, beim Melken, indem sie kuhwarme Milch tranken; die sich mit einem Buch in der Hand beim Grasmähen in das duftende Heu legten, wenn es eben zusammengerecht war; die in der Ernte die ersten Ernteküchlein aßen und im Herbst Trauben verzehrten, als müßten sie sich vorsehen bis an ihr Lebensende.

Da waren frühaufstehende Gäste, die den guten Pfarrer um seinen Morgenschlaf brachten; langschlafende Gäste, denen man den Kaffee bis neun Uhr warm halten mußte; trübselige Gäste, [215] die man aufheitern und schonend behandeln sollte; lustige Gäste, deren Gelächter den Trübseligen die Nerven angriff; Kindergäste, die das Obst unreif abrissen, des Pfarrers Lieblingskatze in den Schwanz kneipten und das Schwein in den Garten ließen; alte Gäste, die keinen Kinderlärm ertragen konnten: kurz, Gäste von allen Arten und Sorten, die sich aber zuletzt unter dem gastlichen Dache des Pfarrhauses so friedlich vertragen lernten, als ob sie bei jenem Künstler in die Schule gegangen wären, der Katzen und Ratten, Tauben und Marder aus einer Schüssel speisen ließ.

Aber warum dieser erstaunliche Zulauf zu dem Pfarrhause? War es ein Muster von Eleganz, von komfortabler Einrichtung? War es ein Palast an Umfang? War es ein Sitz besonderen Geistesreichtums? Oder blühten liebliche Töchter darin? Nichts von alledem. Der Pfarrer spielte zwar Violine, war aber kein Paganini noch Ole Bull; die Pfarrerin war ein guter, aber kein schöner Geist; das Pfarrhaus ein alter Rumpelkasten; Kinder hatten sie keine als eben die, die ihrer gerade bedurften. Wo also stak der Zauber? Das ist schwer zu sagen, wenn er nicht in der lautern Güte, der selbstvergessenden Liebe und ungeschminkten Herzlichkeit bestand, mit der hier alle Gäste aufgenommen und beherbergt wurden.

Hier waren alle willkommen, nicht die zumeist, die ihnen Vergnügen und Unterhaltung brachten; nein die, denen man geben, helfen und nützen konnte; und für die Freude, die Pfarrers andern bereiten durften, waren sie so kindlich dankbar, als hätte man ihnen das Größte gegeben. Was ihnen selbst angenehm und behaglich war, das hatten sie lange vergessen; daß sie nie mehr ruhig und in gewohnter Weise leben konnten, daran dachten sie nicht, sie hatten keine gewohnte Weise mehr. Wenn es regnete, fiel ihnen nie ein, daß sie nun doch vielleicht einmal hätten in Ruhe bleiben dürfen; nein, sie beklagten nur die etwaigen Gäste, die bei solchem Wetter unterwegs sein könnten. Hatten sie an einem schönen Tage sich gerüstet, auch einmal einen Besuch zu machen, und wurden vor dem Hause von einem Gegenzug besuchender Nachbarn abgeschnitten, ach, [216] da war's noch das größte Glück, daß sie nicht schon früher ausgegangen waren.

Eben dieser selbstvergessenden Güte wegen wurden sie auch nicht bloß heimgesucht von Freunden und Verwandten, vom Herrn Dekan auf der Visitation, vom Herrn Oberamtmann, wenn er Ruggericht, vom Notariatsassistenten, wenn er eine Teilung im Ort hatte: nein, sogar umherziehende Krämer, geistliche Kolporteure und dergleichen Leute suchten ein Obdach in dem mildtätigen Hause; selbst für auswärtige Maurergesellen, die im Orte arbeiteten, fand sich noch ein Dachstübchen, und für die armen fremden Weiber, die im nahen Wald Erdbeeren [217] und Himbeeren sammelten, wie für unzählige Handwerksburschen wenigstens ein Freitisch.

Auf Eleganz und Komfort konnte dabei natürlich nicht immer Rücksicht genommen werden. Das Sofa des Wohnzimmers hatte schon seinen siebenten Überzug zerrissen, da mußte man aufs Dauerhafte sehen. Der Raum des Pfarrhauses war für eine gewöhnliche Menschenfamilie berechnet, nicht für ein Weltbürgerobdach. Darum ging es hie und da eng genug zu, und die Betten, so reichlich sie auch vorhanden waren, mußten oft geteilt werden. Aber es hätten steinerne Herzen sein müssen, die nicht aus dieser warmen Liebesquelle ein Tröpfchen Genügsamkeit in sich aufgenommen hätten. Unter allen Mühen und Verlegenheiten, die aus dem Konflikt verschiedenartiger Gäste hervorgingen, wandelte die Pfarrfrau mit demselben sanften, freundlichen Gesicht, überall aufmerksam, wo sie einen Wunsch erspähen, einem Mangel abhelfen könne. Selbst der Garten schien etwas von der Gabe überkommen zu haben, immer geben zu können, ohne arm zu werden; denn kein Gast wurde ohne einen duftigen Blumenstrauß oder süße Früchte entlassen, und doch blühte und duftete es drunten unermüdet fort.

Die Pfarrmagd war immer in Eile, stets im Amtseifer, selten ward ihr's so gut, sich in behaglichem Geplauder wo verweilen zu können, und eine Pfarrmagd plaudert doch so gern! Sie ist so eine Art von Standesperson und sich ihrer Würde stets bewußt; ein Abglanz vom Nimbus des Pfarrhauses umfließt auch ihr Haupt, und wenn der Pfarrer Sonntags recht erwecklich predigt, so schaut sie triumphierend in der Kirche herum: »Nicht wahr, mein Herr sagt's euch!« Die Pfarrmagd in Endersbach aber konnte nicht oft sich in Ruhe dem Bewußtsein ihrer Würde hingeben; sie hatte nicht nur für die Gäste des Hauses zu sorgen, ihr ward auch das angenehme Amt, im ganzen Dorfe die Freude- und Hilfebringende zu sein.

Ihr müßt nämlich nicht glauben, über den Fremden seien die eigenen Ortskinder vergessen worden, gewiß nicht. Da war heute eine Wöchnerin, die eine kräftige Suppe brauchte; dort eine andre, der eine süße Weinspeise wohlgetan hätte; morgen [218] eine Frau in gesegneten Umständen, die besonderes Gelüste nach einem gebratenen Huhn verspürte, oder ein altes Weib, das nichts mehr als Kaffee vertragen konnte; drüben lag der Nachbarin krankes Mädchen, das nur gekochtes Obst genoß, unten im Dorfe der genesende Michele, der alles aß und nie genug hatte. Für sie alle reichte die Küche des Pfarrhauses, auf welcher der Segen jenes geweihten Ölkrügleins ruhte.

Ein Hauptreiz des Aufenthalts im Pfarrhause war auch, daß jedermann alles treiben durfte, was ihm zusagte, und in diesem Punkte vereinte es die schwäbische Gastlichkeit mit der freieren englischen Sitte. Man gab, was man hatte und konnte; man verlangte und erwartete nichts, als daß die Gäste vergnügt seien. Die Pfarrerin hätte womöglich noch einen Fischteich angelegt und eine Jagd gepachtet, um etwaige Jagd- und Fischliebhaber zu befriedigen. Die Gäste benutzten auch solche Freiheit zur Genüge und trieben, was ihr Herz begehrte. Nicht nur, daß sie spazieren gingen, spielten, sangen, ja sogar tanzten, wenn es ihnen einfiel (wobei die Frau Pfarrerin sogar die Läden schloß, um keinen Anstoß zu geben): die Kinder warfen Scheiben ein, fielen Löcher in den Kopf und brachen Arme und Beine; Jünglinge und Jungfrauen fingen glückliche und unglückliche Liebschaften an; eine besuchende Frau kam in die Wochen, um dem kinderlosen Ehepaar auch den Genuß von ganz kleinem Kindergeschrei zu verschaffen, und ein langweiliger alter Herr starb sogar zu Gast, nachdem er sich zuvor wochenlang hatte verpflegen lassen.

Die Pfarrmagd hatte natürlich auch ihre Gäste auf eigene Hand, Brüder, Basen, Paten und sonstigen Anhang, und es war recht anständig vom Hofhund, daß er nicht auch größere Zusammenkünfte mit befreundeten Hunden veranstaltete.

Gleich beim Beginn seines jungen Ehestandes hätte der Pfarrer seine Gastfreundschaft beinahe teuer bezahlen müssen. Es kam eines Tages ein seltsam und düster aussehender Mann in sein Dorf, der sich als Missionär zu erkennen gab und den Wunsch aussprach, hier eine Missionsstunde zu halten. Der Pfarrer räumte ihm bereitwillig die Kirche ein, ungeachtet ihm [219] der Mann mit seiner düstern, heftigen Frömmigkeit nicht gefiel. Da das Wirtshaus des Ortes schlecht war, so boten ihm die guten Pfarrleute die Wohnung in ihrem Hause an, obwohl sie auf dieser ihrer ersten Stelle so beschränkt im Raume waren, daß die junge Frau ins Zimmer ihrer Mutter ziehen mußte, um dem Gaste im Schlafzimmer bei ihrem Manne Platz zu machen.

Inmitten der Nacht wacht die Mutter an einem ängstlichen Traume auf; jetzt erst beunruhigte sie's, daß man den Pfarrer so ganz allein mit dem seltsamen Fremden gelassen. Sie steht endlich auf, um hinabzugehen und an der Türe zu lauschen; da alles still ist, geht sie wieder hinauf und legt sich zu Bette. Am frühen Morgen trafen sie den Missionär nicht mehr, der vor Tag abgereist war; der Pfarrer aber beklagte sich, daß ihn der unruhige Gast beinahe ganz um den Schlaf gebracht habe, da er die halbe Nacht im Zimmer auf und ab gegangen.

Nach langen Jahren, als der sonderbare Gast fast ganz vergessen war, kam ihnen in einem Missionsblatt der Bericht eines fremden Missionärs zu. Er erzählte darin, daß er sich vor Jahren auf einer Reise durch Deutschland in einer besonders trüben, heftig aufgeregten Gemütsstimmung befunden habe. Einmal sei er in einem Pfarrhause mit ungemeiner Güte aufgenommen und in des Pfarrers eigenem Schlafzimmer beherbergt worden. Da, in stiller, schlafloser Nacht, sei ihm der Gedanke gekommen, ob er nicht am besten täte, den Pfarrer so in all seiner Herzensgüte, in der Fülle seines Glückes aus dem Leben zu schaffen, ehe ihn der Hauch dieser bösen Welt vergifte. Er habe die ganze Nacht mit diesem Gedanken gerungen, ihn aber zuletzt niedergekämpft und sich vor Tage entfernt, um ihn nicht am Ende doch noch auszuführen. Die guten Pfarrleute überlief's kalt, wenn ihnen die schauerliche Liebeserweisung einfiel, die ihnen zugedacht gewesen war; ihr gütiges Herz ward aber dadurch nicht abgeschreckt.

Ein so unheimlicher Besuch hat nie mehr die gastliche Schwelle überschritten, und erst die Hand des stillen Gottesboten, der stets zur rechten Stunde kommt, hat das unsichtbare [220] Schild eingezogen, das dieses Pfarrhaus zu einem so gesuchten Gasthofe machte: eine offene Hand und ein liebevolles Herz.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Wildermuth, Ottilie. Erzählungen. Bilder und Geschichten aus Schwaben. Schwäbische Pfarrhäuser. 4. Das gastfreie Pfarrhaus. 4. Das gastfreie Pfarrhaus. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A7A4-E