[7] Genrebilder aus einer kleinen Stadt

1. Eine alte Jungfer

In der Vorstadt des Städtchens, wo ich meine Jugend verlebt, stand ein gar freundliches Häuschen, das aus seinen vier Fenstern recht hell in die Welt hinausschaute; daneben ein Garten, nicht eben kunstvoll angelegt noch zierlich gepflegt, sondern zum Teil mit Küchengewächsen, zum größeren aber mit lustigem Gras und mit Obstbäumen bestanden. Dicht neben dem Häuschen breitete ein stattlicher Nußbaum seine dunkelgrünen Zweige aus und warf seinen Schatten und zur Herbstzeit seine Früchte gastlich weit in die Straße hinein, ein geschätzter Sammelplatz für die liebe Jugend der ganzen Vorstadt. Minder freundlich und einladend erschien ein Paar kleiner fetter Möpse, die sich abwechselnd oder gemeinsam auf der Gartenmauer sehen ließen und die obbemeldete Jugend und die Vorübergehenden beharrlich anbellten, ohne jedoch die mindeste Furcht zu erregen, da ihre beschwerliche Leibesbeschaffenheit ihnen nicht gestattet hätte, ihre Drohungen auszuführen.

Wer nun erwartet, an den Fenstern des Häuschens einen lockigen Mädchenkopf zu erblicken, wie das in ländlichen Novellen der Fall zu sein pflegt, der täuscht sich. Nein, so oft die Hausglocke gezogen wurde, und das geschah sehr oft, erschien am Fenster das allzeit freundliche, aber sehr runzelvolle Angesicht der Jungfer Mine, der unumschränkten Herrin und Besitzerin des Häuschens. Und doch wurde dieses gealterte Antlitz von jung und alt so gern gesehen wie nur je eine blühende Mädchenrose, und ihre Beliebtheit stieg noch von Jahr zu Jahr, was bei jungen Schönheiten gar selten der Fall ist.

Die Jungfer Mine war der hilfreiche Genius des Städtchens. Wie die Glocke begleitete sie »des Lebens wechselvolles Spiel«, [7] aber nicht herzlos, sondern mit dem allerherzlichsten Mitgefühl. Wo Kindtaufe war, da durfte Jungfer Mine nicht fehlen; geschäftig und eifrig, aber leise, leise, um die Wöchnerin nicht zu stören, schaffte und waltete sie in Küche und Vorzimmer, um alles zu besorgen, was an Speise und Trank zur Erhöhung der Festlichkeit gehörte. Ins Zimmer ging sie nicht, auf kein Bitten: »Behüte, laßt mich gehen, Kinder! Ich kann nicht, ich habe zu schaffen.« Sie glich den Erdleutlein, die den Menschenkindern mit emsigen Händen ihre Arbeit verrichten und vor Tag verschwinden. – Ein Hochzeitsmahl war vollends ihr Element; da konnte man tagelang zuvor in allen Räumen des Hauses ihre etwas singende Stimme, ihr geschäftiges Hin- und Hertrippeln hören. Sie war unentbehrlich; denn wer hätte solche Torten gebacken, solche Braten gewürzt, wer vor allem solche Nudeln geschnitten wie die Jungfer Mine? – Wo der Tod in einem Hause eingekehrt war, da war sie die erste, die mit bescheidener, aufrichtiger Teilnahme nahte und mit geschickter Hand den Leidtragenden die leiblichen Mühen und Sorgen abzunehmen wußte, die betrübten Herzen so schwer werden.

Alle Kinder lachten ihr schon von weitem entgegen, denn allen hatte sie schon eine Freude gemacht. Wie fröhlich stürmte das junge Volk zur Osterzeit in den Garten der Jungfer Mine, wo eine lange Reihe von Nestchen bereit stand, mit bunten Eiern und Backwerk gefüllt, mehr, als die kinderreichste Mutter zu spenden hatte! Und wie manchen Bissen hatte sich die gute Seele am Munde abgespart, bis sie um Weihnachten die Hanne, ihre treue Dienerin, von Haus zu Haus senden konnte, wo befreundete Kinder waren, um allen eine kleine Weihnachtsfreude zu spenden!

Eine Geschichte hat sie nicht gehabt, die Jungfer Mine. So mitteilend und gesprächig sie war, so hat doch nie eine Seele etwas von ihr gehört über die Zeit, wo ihr Herz jung war; niemand weiß, ob sie auch einmal geliebt, gehofft und geträumt; ob sie eben als ein vergessenes Blümchen stehen geblieben, oder ob die Schuld eines Ungetreuen sie betrogen um des Weibes schönstes Lebensziel. Ihr einfacher Lebensgang lag[8] offen vor aller Augen; ihr Vater war Bürgermeister des Städtchens gewesen, in dem sie ihre Tage verlebte, und sie hatte eine harmlose fröhliche Jugendzeit unter günstigen Verhältnissen verbracht. Ein paar alte Herren der Gegend, die sie noch fleißig heimsuchten, versicherten, daß sie ein recht hübsches Mädchen und eine flinke Tänzerin gewesen sei, welche Bemerkung sie immer recht günstig, wenn auch mit niedergeschlagenen Augen und vielen Verwahrungen aufnahm. Zur Zeit, wo ich sie kannte, zeigte ihr Äußeres nun eben keine Spuren ehemaliger Reize mehr; aber auf das eingefallene Gesicht mit den freundlichen Äuglein hatte die Herzensgüte ihre unsichtbaren, aber fühlbaren Züge geschrieben, so daß man doch gern hineinsehen mußte. Auf ihren Putz konnte sie vollends ganz und gar nichts verwenden, dazu war sie immer viel zu sehr beschäftigt, und wenn ihre Freundinnen sie mit einem modernen Putzartikel versahen, so hatte er gar bald seine feine Form verloren; zumal die Hauben, mit denen sie ihr spärliches graues Haar bedeckte, saßen immer schief, da sie im Geschäftseifer sich hinter den Ohren zu kratzen pflegte.

Ihre Eltern verlor sie ziemlich frühe, auch die einzige Schwester, die im Orte verheiratet war. Die Hand des Witwers derselben wies sie entschieden zurück. Das Erbe der Eltern war klein; ein Hauptbestandteil desselben war ein gelähmter, gichtkranker Bruder. Doch gelang es ihr mit großen sonstigen Opfern und Einschränkungen, das höchste Ziel ihrer Wünsche, ein eigenes kleines Häuschen nebst Garten zu erringen. Das bezog sie mit den zwei Möpsen, mit Hanne, ihrer getreuen Dienerin, und dem Bruder, den sie lange Jahre mit klageloser Geduld, mit unermüdeter Liebe, mit unerschütterter Freundlichkeit pflegte bis zu seinem Tode.

Die Jungfer Mine sah man allzeit zufrieden und wohlgemut. Wie groß auch oft ihr Mangel, ihre Entbehrungen sein mochten, niemand hörte sie klagen; sie hatte immer einen Grund zu besonderer Dankbarkeit. Sie hatte auch genug zu tun, bis sie sich freute mit allen Fröhlichen und weinte mit allen Traurigen; wie hätte sie noch Zeit gefunden, an sich zu denken? Sie [9] war immer in Eile, stets rastlos tätig für andre, und es kann sich niemand denken, sie in Ruhe gesehen zu haben.

Die Hanne war gerade durch ihre Verschiedenheit die unentbehrliche Gehilfin der Jungfer Mine. So bescheiden, schüchtern und rücksichtsvoll diese, so rasch, keck und entschlossen war jene im Verkehr mit den Leuten. Sie verteidigte mit Löwenmut den Garten ihrer Jungfer gegen diebische Gassenjungen, ihren Brunnen gegen schmutzige Viehtreiber, ihre schmalen Einkünfte gegen säumige Zinszahler. Sie hing ihr mit unerschütterlicher Treue an und hätte sich eher zerreißen als ihrer Jungfer ein Härchen krümmen lassen. Als ganz junges Mädchen von ihr aufgenommen, diente sie ihr ohne allen Lohn; sie wußte aus dem kleinen Garten einen fast fabelhaften Gewinn zu ziehen und verwandte den Überschuß ihrer rüstigen Kräfte zum Waschen und andern Arbeiten um Taglohn. Den Lohn lieferte sie pflichtmäßig ihrer Jungfer ab, diese bestritt dagegen ihre einfachen Bedürfnisse.

Jungfer Mine war eine ganz besondere Gönnerin der Jugend, vom wilden Knaben bis zum Studenten, vom spielenden Kinde bis zum aufgeblühten Mädchen. Deshalb war ihr Häuschen auch gar oft der Sammelplatz der fröhlichen Jugend, und die Verschiedenheit ihrer Besucher gab oft zu komischen Szenen Anlaß. – Einmal wußte man, wie man in kleinen Städten alles weiß, daß Jungfer Mine den Besuch von zwei Damen des Ortes erwartete, die sich durch strenge Frömmigkeit und entschiedene Weltverachtung auszeichneten; sogleich ward sämtliche anwesende männliche Jugend aufgeboten: Schreiber, Kommis, Apothekergehilfen, ein langer Zug leichtfertig aussehender Leute begab sich vor das Haus der Jungfer Mine und schellte gewaltig, um sich zum Kaffee anzusagen. Den Schluß des Zugs bildete das Malerle, ein zwerghaftes Männlein, das sich eine Zeitlang im Städtchen aufhielt und die ganze Gegend abkonterfeite. Was für ein Schreck befiel die gute Jungfer, als sie die Freischar da unten erblickte und an ihr Zusammentreffen mit den gestrengen Damen dachte! Trotz aller Gastlichkeit öffnete sie das Haus nicht, sondern unterhandelte zum Fenster [10] hinaus, bis auf das Versprechen eines guten Kaffees unter dem Nußbaum für den nächsten Tag der Haufe lachend abzog.

Ein andermal saß ein Trupp lustiger Studenten, die ihre Ferienzeit verjubelten, an einem Sonntag am runden Tisch in ihrem behaglichen Stübchen und hatte soeben trotz der bescheidenen Einreden der Jungfer Mine ein Kartenspiel begonnen, als es am Hause läutete. Siehe da, es war der Herr Diakonus, ein besonders hochverehrter Freund der Jungfer Mine! Nun war er zwar ein sehr freundlicher, duldsamer Mann, aber der Tisch voll rauchender Studenten, das Kartenspiel am Sonntag – das war denn doch zu arg! »O ihr lieben Herren! Ich kann euch nicht mehr brauchen: – der Herr Helfer! – Geht doch in den Garten! – Hanne, führ sie hinten hinaus!« rief sie, in großem Eifer hin und her rennend. Lachend zog die junge Schar ab ins Nebenzimmer, die fatalen Karten jedoch schob sie eilig unter die Tischdecke und empfing nun den Herrn Diakonus. Aber, o weh! Während des Gesprächs zupfte dieser unwillkürlich an der Decke, und die Karten fielen ihm in Masse auf den Schoß. Daneben streckte das junge Volk die Köpfe durch die Wandöffnung über dem Ofen und brachte durch komisches Gesichterschneiden die ehrbare Jungfrau dermaßen außer Fassung, daß es am Ende das beste war, die Frevler zu verraten, worauf die Szene mit allgemeinem Lachen schloß.

Sie wurde von der Jugend auch jederzeit in Ehren gehalten. Während der Herbstferien wurde alljährlich ein sogenannter »allgemeiner Herbst« gehalten, von dem man singend und schießend im Fackelzug heimkehrte. Jungfer Mine nahm nie Anteil an so großartigen und geräuschvollen Festen, wo man ihrer Hilfe ja doch nicht bedurfte. Vor ihrem Häuschen aber hielt jedesmal der fröhliche Zug bei der Heimkehr und brachte ihr ein Ständchen, ohne besondere Auswahl der Musikstücke; Jungfer Mine stand dann freundlich am Fenster und dankte mit züchtigem Verneigen. Ich erinnere mich wohl, wie die Studenten ihr einmal jubelnd zusangen:


»Ach wie bald, ach wie bald
Schwindet Schönheit und Gestalt« usw.

[11] und wie sie dann lächelnd mit dem Finger drohte: »Ei, ihr Schelmenherrn!« Niemand hat besser einen Spaß verstanden als die Jungfer Mine, sogar über ihr Alter, und das will viel sagen bei einem ledigen Frauenzimmer.

Ihre allerhöchste Freude war aber, wenn sie einem liebenden Pärchen irgendwie Vorschub tun konnte; ihr ganzes Herz lachte, wenn sie junge Herzen gegeneinander aufgehen sah, und manch glückliche Verbindung ist durch ihre so anspruchslos geleistete Beihilfe zustande gekommen. Wie erfinderisch war sie in Wendungen, mit denen sie liebende Herzen durch das Lob des Geliebten zu erfreuen wußte! Wie unermüdet, Liebende bei ungünstigen Aussichten zur Treue und Ausdauer zu ermahnen! »Liebs Kind, ich koch' Ihnen einmal das Hochzeitsessen!« war stets der Dank, mit dem sie jungen Mädchen kleine Aufmerksamkeiten und Freundlichkeiten vergütete. – In einer Schublade, in der viele Briefpäckchen aus ihren vergangenen Tagen pünktlich geordnet aufbewahrt lagen, vielleicht auch ein eigenes Herzensgeheimnis der guten Jungfer darunter, bewahrte sie mit besonderer Sorgfalt ein Paket Briefe mit schwarzen Bändern umbunden. Es war die Korrespondenz eines jungen Paares, das auch einst unter ihrem Schutz sich geliebt hatte und durch Elternhärte getrennt worden war, und dessen Andenken sie mit immer neuer Wehmut erfüllte. Nie aber hätte eine unerlaubte Liebe auch nur im entferntesten auf ihren Schutz rechnen dürfen. Behüte! die Jungfer Mine war eine streng rechtliche Person, Gott und der Obrigkeit untertan, und sprach trotz aller Sanftmut eine sehr entschiedene Entrüstung aus gegen alles, was gegen göttliche Ordnung und die heilige Sitte verstieß.

»Laß mich mit jedermann in Fried' und Freundschaft leben!« war ihr tägliches Gebet zu Gott, und der liebe Gott hat es erhört, indem er ihr ein fromm und freundlich Gemüt gegeben, das allen diente und es mit keinem verderben konnte. Durch alle Spaltungen, die in kleinen Städten am tiefsten eingreifen, durch alle Zänkereien und öffentliche wie Privatstreitigkeiten ging sie unberührt und unangefochten und wußte mit den [12] Häuptern kriegführender Mächte Freundschaft zu bewahren, ohne Achselträgerei und Zweizüngigkeit. Sie tat allen zulieb, was sie vermochte, redete keinem Anwesenden zu Gefallen, keinem Abwesenden zuleid und meinte es mit jedem so von Herzen wohl, daß ihr jeder gut bleiben mußte; und so war es ihr vergönnt, mitten in vielem Unfrieden ihre Tage in Frieden zu verleben und zu beschließen.

Ihr Besitztum war beinahe Gemeingut; das Gras in ihrem Garten war immer zertreten, weil es den Kindern als Spielplatz diente; ihre Obstbäume kamen nicht zum Gedeihen, weil die ganze Stadt Waschseile daran aufzog, um den sonnigen Platz zum Trocknen zu benützen. Die Hanne eiferte oft gewaltig gegen diese [13] Duldsamkeit, und die gute Jungfer hatte alle ihre Beredsamkeit aufzuwenden, um sie wieder zu beschwichtigen.

Auch der Unterschied der Stände, der in kleinen Städten so scharf abgegrenzt ist, war für Jungfer Mine aufgehoben. Obgleich sie ihrem bescheidenen Anzug wie ihrer Herkunft nach zum Honoratiorenstande gehörte, war sie doch daheim und befreundet in allen ehrbaren Bürgerhäusern, wo man ihres Beistandes bedurfte, und ihre »Weiblein«, wie sie ihre Freundinnen aus dem Bürgerstande nannte, wurden jederzeit mit derselben Rücksicht und Freundlichkeit aufgenommen wie die ersten Frauen der Stadt. Ihr besonders guter Freund war Nachbar David, ein alter Hufschmied. Er besorgte ihr die Holzeinkäufe und nahm sich ihrer überall treuherzig an, wo ihre Güte und ihre Schutzlosigkeit mißbraucht werden konnten. Er war ihr Wetterprophet, dessen Meinung immer entschied, wenn es zweifelhaft war, ob die Wäsche ins Freie gehängt werden könne. Sobald ein Ungewitter am Himmel aufstieg, warf der ehrliche Meister sein Schurzfell ab und begab sich zur Jungfer Mine, die große Furcht vor Gewittern hatte; sie bewirtete ihn dann mit einem Kelche selbstfabrizierten Likörs, und sie trösteten einander mit Gesprächen über die Zeitläufte und mit Vorlesungen aus Arnds »Wahrem Christentum« und aus dem »Schatzkästlein«, bis das Gewitter vorüber war.

Das ehrwürdige Paar Möpse spielte keine kleine Rolle im Hause, und ein guter Teil der Sorgfalt der Jungfer Mine war ihnen zugewendet. Die Katze und der Kanarienvogel waren nur untergeordnete Subjekte. Die Katze hatte zwar ein Kissen unter dem Ofen, die beiden Möpse aber, Mopper und Weible genannt, nahmen ihre eigenen gepolsterten Stühle daneben ein, wenn sie es nicht vorzogen, bei gutem Wetter im Garten zu promenieren und die Leute zu insultieren. »Es muß das Herz an etwas hangen,« sagte sie zur Entschuldigung ihrer Vorliebe für die garstigen Tiere. Der Tod der Möpse betrübte sie tief; doch nahm sie mit gutem Humor den Beileidsbesuch auf, den ihr einige Freundinnen in tiefer Trauerkleidung abstatteten.

[14] Mit Lektüre hat sich Jungfer Mine nie viel befaßt, weder mit sentimentaler noch mit gelehrter. Ein gescheites Wort konnte man aber doch mit ihr reden, und niemand hat je Langeweile bei ihr gehabt. Deshalb waren auch ihre Kaffeevisiten, der einzige Luxus, den sich die Jungfer erlaubte, sehr gern besucht; nicht nur weil sie den besten Kaffee und die gelungensten Kuchen bereitete, sondern weil in dem kleinen Stübchen mit den geflickten Gardinen und dem verblichenen Sofa ein guter Geist wehte, der das Gespräch lebendig machte und die Herzen fröhlich. In Klatschereien stimmte sie nie mit ein; es war ihr unmöglich, von einem Menschen Böses zu sagen.

Auch für das mütterliche Gefühl, das in jedem weiblichen Busen schlummert, sollte es nicht an einem Gegenstand für sie fehlen, obgleich es ein altes Kind war, das man ihrer treuen Fürsorge übergab. Ein ehemaliger Kaufmann aus guter Familie, dem in seinen jungen Jahren die südamerikanische Sonne das Gehirn ausgebrannt, lebte als harmloser Narr in der kleinen Stadt. Er war der zufriedenste Mensch, den man sehen konnte, stets vergnügt, stets aufgeräumt, und, obschon bei Jahren, hüpfte und sprang er mehr, als er ging. Der Fritz nun wurde in die freundliche Obhut der Jungfer Mine befohlen. Sie räumte ihm das Stübchen ein, das seither ihre Heiligtümer verwahrt hatte: den »Papa« und die »Mama«, lebensgroße Kinderbilder in hölzernen Röckchen, an denen ein Hündlein hinaufsprang, und eine spanische Wand, darauf die sieben Bitten des Vaterunser bildlich dargestellt waren; sie behütete und pflegte ihn mit mütterlicher Sorgfalt. In dem netten Hause und dem freundlichen Garten war der Fritz ganz in seinem Element; er schenkte sein Herz abwechslungsweise bald der Jungfer, die er aber daneben sehr respektierte; bald der Hanne, der es zum erstenmal in ihrem Leben begegnete, daß jemand ihre Reize bewunderte. »Hübsch, Hanna, hübsch!« rief er ihr ermunternd zu, so oft er sie erblickte, setzte auch von Zeit zu Zeit den Hochzeitstag fest, ohne sich zu grämen, wenn der Termin immer wieder hinausgeschoben wurde. Ein verwandter Beamter war so freundlich, den Fritz in seiner Kanzlei zu [15] beschäftigen, obgleich seine schriftlichen Arbeiten unbrauchbar waren, da allzeit seine krausen Ideen sich darein mischten. Aber er fühlte sich dadurch so beschäftigt, so wichtig! Er eilte mit einer so glücklichen Amtsmiene auf sein Büro, während Jungfer Mine und die Hanne daheim sein Stübchen ordneten und sein Mahl bereiteten. Nur ein Leiden hatte der arme Fritz, das zugleich eine Plage für die Jungfer war: die Hexen, von denen er nach seiner Meinung jede Nacht heimgesucht wurde. Er schnitt sich Stöcke und Stöckchen von jeder Größe, um die Hexen damit durchzuklopfen, und das gab oft einen wahren Hexentanz in seiner Stube, bis ihn die sanftmütige Stimme der Jungfer Mine aus der andern Stube her wieder beruhigte.

Da der Fritz bei der Küche der Jungfer Mine so wohl gedieh, meldeten sich auch vernünftige Leute, anständige junge Männer vom Schreibereifach um Kost und Wohnung bei ihr; der Holzstall wurde noch zu einem Stübchen eingerichtet, und der Pflichten-und Geschäftskreis der Jungfer hatte sich bedeutend erweitert. Wie eilig hatte sie nun, um von ihren sonstigen »Expeditionen« rechtzeitig heimzukommen! Sogar »Offertenmacher«, wie sie die Kommis Voyageurs nannte, wurden nun hie und da als Kaffeegäste zu ihr gebracht, und noch sehe ich sie, wie sie einst in höchster Eile über die Straße rannte und allen Bekannten, die sie zum Spaß aufzuhalten suchten, zurief: »Kann nicht, muß heim, hab' vier Herren und eine Gans!«

Alles geht hienieden dem Ende zu, und der guten Jungfer Mine, die in Ehren und bei vollen Kräften ein schönes Alter erreicht hatte, wollte der liebe Gott die Leiden eines langen Lagers und die Beschwerden des hilflosen Alters ersparen. Sie erkrankte bei der treuen Pflege ihrer Dienerin, die ein Fieber befallen hatte; sie mußte sich legen, um nicht wieder aufzustehen. Verlassen war sie nicht in ihren letzten Tagen: sie, die so vielen gedient, wurde von freundlichen Händen treulich gepflegt, und sie entschlief in ihrem Gott mit frohem und dankbarem Herzen, von vielen aufrichtig betrauert.

Nach ihrem Tode fand sich, daß ihr Vermögen außer dem [16] Häuschen so gering war, daß niemand begreifen konnte, wie es ihr möglich gewesen, davon zu leben. Und doch war sie so reich gewesen an Freuden für andere. Die Hanne blieb zum Lohn ihrer langen treuen Dienste als alleinige Erbin des Häuschens und Gartens zurück; für ein armes Mädchen ihres Standes ein beneidenswerter Besitz! Aber sie hat sich dessen nicht mehr lange gefreut, obgleich sie von der Krankheit, in der sie noch die letzte Pflege ihrer Herrin genossen hatte, wiederhergestellt war. Man hörte ihre laute, scharfe Stimme nicht mehr, mit der sie sonst so eifrig die Rechte ihrer Jungfer verfochten hatte; still und bleich schlich sie umher, es schien ihr Lebensnerv gebrochen, und nach einem halben Jahr folgte sie ihrer Herrin nach zur letzten Ruhestatt.

Wenige der alten Freunde der Jungfer Mine leben nun noch in dem Städtchen, und so ist auch ihr Grab verlassen und vergessen; von den schönen Levkojen und Reseden, die wir aus ihrem Garten dorthin verpflanzt hatten, ist nichts mehr zu sehen, aber ein Fruchtbäumlein hat darauf Wurzel gefaßt und beschattet es mit seinen grünen Zweigen. – Leicht sie ihr die Erde, der guten Jungfer Mine, und sanft ihre Ruhe, ihr, die sich hienieden keine Ruhe gegönnt hat!

2. Der Engländer

Es sind wohl je und je Geschichten geschrieben worden, deren Schauplatz eine kleine Stadt war. Die Pointe dabei, wenn ich mich recht erinnere, war dann allzeit ein geheimnisvoller oder wenigstens interessanter Fremder, der die Zungen der Frau Basen und die Herzen der jungen Mädchen in Bewegung setzte. Nun mag ich mich aber besinnen, wie ich will, so hat sich in unsrer kleinen Stadt nichts derart gezeigt. Wurde zwar eines Tages ein bleicher Jüngling mit Gendarmen eingeliefert, der sich als einen verkannten Edeln und Professor aus Lyon zu erkennen gab; aber es stellte sich binnen kurzem heraus, daß besagter Professor ein Betrüger und Schelm, also mit vollem[17] Recht transportiert war. Ferner erschien einmal abends auf der sehr besuchten Kegelbahn ein ältlicher, steifer Herr mit ganz feinen Manieren, dessen Andeutungen ihn etwa als einen russischen General außer Dienst oder Diplomaten erscheinen ließen, und die Herren wußten bei ihrer Nachhausekunft gar viel zu rühmen von seinem feinen adligen Benehmen und seiner würdevollen Zurückhaltung. Am folgenden Morgen aber war derselbige Diplomat so herablassend, daß er von Haus zu Haus ging mit dem Anerbieten, die etwaigen Hühneraugen auszuschneiden; führte auch eine grüne Korduanmappe mit sich, voll von Zeugnissen von hohen und höchsten Herrschaften über seine Gewandtheit in dieser edlen Kunst. Vielleicht, das nahm man zum Troste an, war er heimlicherweise doch ein Spion, der's nur nicht sagte; er hätte auch in solcher Eigenschaft schlechte Geschäfte gemacht, es gab blutwenig zu spionieren im Städtchen Marbach.

Einmal aber, ja einmal fuhr dennoch in einem sonderbar gestalteten Einspänner ein unbekannter Herr mit einem anständig aussehenden, noch jugendlichen Frauenzimmer am ersten Gasthof in Marbach vor und erkundigte sich alsobald nach freistehenden Wohnungen. Derselbige war auffallend lang und mager, trug einen Rock, Beinkleider und Gamaschen von Lederfarbe, einen ebensolchen Hut und ein Gesicht von derselben Couleur; es schien, er habe seine ganze Person am Stück in diesen dauerhaften Farbstoff tunken lassen. Seine lange Figur wurde durch seinen turmhohen Hut noch vergrößert, sowie sich seine fabelhaft langen Arme durch die Ärmel, die eine Viertelelle länger waren als erforderlich, fast bis zur Erde zogen.

Die Dame bei ihm schien nicht seine Frau zu sein und sich nicht besonders behaglich zu fühlen. Nach genossenem Imbiß schickten sie sich an, die wenigen freien Wohnungen des Städtchens zu besehen, und der lederfarbene Herr fand sogleich, was er suchte, in ein paar hübschen Zimmern im vierten Stock, mit freundlicher Aussicht auf die Apotheke und eine neue Metzig. Er versicherte den Hausbesitzer, daß ihm besonders lieb sei, eine so hochgelegene Wohnung zu finden, da das Steigen seiner [18] Brust sehr zusage. Der Hausknecht, der ihm als Führer vom Gasthof mitgegeben war, bemerkte bescheiden, daß auf dem Turm auch noch ein Stübchen zu vermieten wäre, womit sogar das Benefiz des Hochwächterdienstes verbunden. Das lehnte der Lederfarbene höflich ab, da in solcher Höhe die Luft nicht gesund sei, namentlich weil sich alle Dünste in die Höhe ziehen.

[19] Der Unbekannte beabsichtigte gar nicht als solcher fortzuexistieren; er war, nach seiner Mitteilung, ein Engländer, der sich aber schon seit langen Jahren in Deutschland heimisch gemacht und der einen stillen, freundlich gelegenen Ort suchte, wo er seine Tage beschließen könne. Diesen Ort hatte er nun in dem Städtchen Marbach entdeckt, fragte nach dem Kirchhof, wo er sich ein Plätzchen für sein Grab erkiesen wolle, und bestellte den Notar, um sein Testament aufzusetzen.

Nun sah der Engländer aber gar nicht aus, als ob er seinem Ende so nahe wäre; er gehörte überhaupt zu der Klasse von Leuten, bei denen man nie beurteilen kann, ob sie jung oder alt sind; er kam einem auch nicht vor, als ob er jemals klein gewesen und groß gewachsen sei, vielmehr glich er einem Stück, das in einer Versteigerung nicht verkauft worden ist und nur so herumfährt. Aus seinen Papieren aber, die er dem Notar vorwies, ergab sich, daß er wirklich schon ziemlich bejahrt war. Als Zeuge zu der Testamentaufsetzung wurde unter andern der Hausbesitzer gebeten, und dieser Ehrenmann war höchlich überrascht und gerührt, als der Engländer nach so kurzer Bekanntschaft ihm ein recht anständiges Legat bestimmte; auch die Armen der Stadt waren nicht vergessen und ein schon früher festgesetztes Vermächtnis für seine Haushälterin erneuert. Der Engländer versicherte dem gerührten Hausbesitzer, daß es ja ganz natürlich sei, daß die Familie, in deren Schoß er seine letzten Tage verlebe, auch ein Andenken an ihn behalte, und das Verhältnis zwischen Hausherr und Mietsmann gestaltete sich durch diese freundliche Fürsorge recht gemütlich.

Obgleich nach all diesem scheint, daß der Engländer nach Marbach gekommen war, um daselbst zu sterben, so vernachlässigte er die Pflicht der Selbsterhaltung keineswegs. Sein einziges Studium, seine ausschließliche Lektüre waren medizinische Werke; das System aber, nach dem er seine Diät einrichtete, war eigentlich aus keinem davon genommen. Sobald er sein Zimmer im Besitz hatte, ließ er den Schreiner holen und befahl ihm, die Füße seiner Bettstelle gänzlich abzusägen; denn da nach seiner Ansicht der Dampf sich nach oben zog, so [20] behauptete er in der gesundesten Luft zu schlafen, wenn er möglichst niedrig gebettet war. Seine Kost bestand fast ausschließlich aus Gerstenschleim, Kalbsbraten und gelben Rüben, welch letztere er in solchen Massen einkaufte, daß er das ganze Jahr hindurch Vorrat hatte. Das Thermometer war sein bester Freund, den er fast beständig bei der Hand hatte, um nachzusehen, ob das Zimmer die richtige Temperatur habe. War es zu kühl, so mußte augenblicklich geheizt werden, und wäre es im höchsten Sommer gewesen; war es zu heiß, so ließ er eine große Wasserkufe ins Zimmer tragen, um die Luft abzukühlen, und war sehr übler Laune, wenn diese Maßregel keine gehörige Wirkung tat. Große Fußwanderungen gehörten auch zu seiner Diät, und es nahm sich sonderbar aus, wie er unterwegs mit eigentümlicher Gewandtheit sich Zuckerpasten in den Mund warf, die er in seinem großen Ärmel verborgen hielt; solches, behauptete er, sei ganz vorzüglich für die Brust und den Atem – kurz, er war unerschöpflich an Mitteln, das menschliche Leben zu verlängern, und konnten seine Erben das Glück der Hoffnung gründlich kennenlernen.

Die Kunde, daß das lederfarbene Subjekt ein Engländer sei und bereits ein Testament gemacht habe, verlieh ihm im Städtchen einiges Ansehen. Man glaubte auch, seine lederfarbene Haut und Kleidung sei nur so eine Art Reiseüberzug zur Schonung, wie über einen Regenschirm, und er würde eines Tags schön und elegant hervorgehen. Dem war aber nicht so; er war und blieb derselbe, und eine vorteilhafte Farbe war's für seine Märsche: er hätte sich im Straßenstaube baden können, ohne sich im mindesten zu verändern. Auswanderungen waren dazumal selten und englische Sprachkenntnis so wenig gekannt und gesucht als spanische. Als aber ein lebendiger Engländer auf dem Platze war, überkam doch einen strebsamen ältlichen Herrn die Lust, Englisch zu lernen, und er lud zu diesem Zweck den Herrn Cramble zum Kaffee ein, der, wie aus dem schon Erzählten hervorgeht, des Deutschen vollkommen mächtig war. Zuerst wollte man die Konjugationen kennenlernen, also mit den Fürwörtern beginnen: »Was heißt: Ich?« fragte der [21] Deutsche. – »I«, antwortete der Engländer. – »Ei? Nun das ist ja ganz gut behalten! Du?« – »Thou« – »Sau« sprach der Deutsche nach, »thou« berichtigte der Engländer; »tsau« versuchte der Schüler wieder, »nicht tsau, thou!« schrie der Lehrer, »sehen Sie, so!« und er zeigte ihm, wie man die Zunge an die Zähne drücken müsse, um den englischen Zischlaut hervorzubringen. Der Schüler wollte es noch besser machen und streckte die Zunge heraus; da wollte aber weder thou noch Sau hervorkommen, und der indignierte Herr beschloß, an eine so grobe Sprache keine Mühe mehr zu wenden.

Herrn Crambles Haushälterin, ein anständiges Frauenzimmer von guter Herkunft, aus einer andern Stadt, in der er sich früher niedergelassen gehabt hatte, um dort seine Tage zu beschließen, hatte sich durch ihre schutzlose Lage und das bedeutende Legat bestimmen lassen, diese Stelle zu übernehmen, mußte aber die Aussicht auf ein eigen Kapitälchen gar sauer verdienen. Der Herr Cramble war ganz erstaunlich sparsam und erwartete natürlich, daß sie durchaus in seine ökonomischen Pläne eingehe. An englischen Komfort schien er keine Ansprüche zu machen; es wurde zum Beispiel nie auf einem Tischtuch gespeist aus dem einfachen Grunde, weil ein Tisch eher gewaschen sei als ein Tischtuch; von Kaffee war keine Rede, verdünnten Gerstenschleim, lauwarm getrunken, erklärte er für das zweckmäßigste Frühstück; auch liebte er durchaus nicht, wenn sie andern Umgang pflog, und somit war ihr Dasein ein ziemlich freudloses; ihr guter Ruf war übrigens nicht in der mindesten Gefahr bei ihm. Nur die Aussicht auf die Erbschaft, die ihr doch wenigstens dereinst ein trauliches eigenes Jungfernstübchen sicherte, gab ihr Geduld und Ausdauer. Sehr überrascht aber war sie, eines Morgens folgende Zuschrift zu bekommen:


»Liebwerteste Jungfer Henriette Steinin!

Da ich zwar von meinem Schwager, der Gschwisterkind zu des Notars Schreiber in Ihne Ihrem Wohnort ist, vernommen, daß der engellische Herr Grembel, bei dem ich auch seine Haushaltung gefirt habe, Ihne in seinem Testament ein Vermächtniß [22] vermacht hat, so halte ich das übrigens für wüst von Ihne, einer armen Person das Ihrige abzunehmen, wo der Herr Grembel in sein Testament hier mir auch so ein Legad vermacht hat und ich ihn bis zu seinem Tode bereits nicht verlassen hätte, außer daß er sagte, daß ich keine Bildung genug hätte, vor was der eine Bildung braucht zu ihm seine Gelberüben zu schaben und Gerstensuppe zu kochen, weiß ich allerdings nicht. Und laße Ihnen wißen, daß ich es insofern vor alle Gerichte bringen werde und laße es vor den König kommen so einer armen Persohn ein Legad zu berauben.

Ihre dienstwillige

Barbara Rothin.«


Herr Cramble, dem die Haushälterin dies Dokument mitteilte, kam gar nicht aus der Fassung: er habe dieser früheren Haushälterin allerdings ein Legat bestimmt gehabt, aber nur auf den Fall, daß sie bis zu seinem Tode in seinen Diensten bleibe; dies frühere Legat und Testament hebe sich aber von selbst durch das neuere, gültige auf.

Der Fräulein Henriette war die Sache dennoch bedenklich; die gelben Rüben kamen ihr immer unschmackhafter, der Engländer immer dauerhafter vor, und sie beschloß, irgend einen Sperling in der Hand diesem Kraniche auf dem Dache vorzuziehen. Sobald sie ein anderweitiges anständiges Unterkommen, wenn auch ohne Aussicht auf Legat, gefunden, sagte sie Herrn Cramble ihre Dienste auf. Er bedauerte sehr, daß sie ihr Glück so mit Füßen trete, tröstete sich aber bald über den Verlust.

Mittlerweile hatte sich Herr Cramble überzeugt, daß Marbach noch nicht die rechte Stätte für seinen letzten Ruheplatz sei; er glaubte ihn aber gefunden zu haben in einem kleinen Städtchen etliche Stunden davon. Auch einer Haushälterin bedurfte er wieder; die Ansicht der gekränkten Jungfer Barbara, daß es nicht viel Bildung brauche, um seine gelben Rüben zu schaben, schien ihm einzuleuchten, und so warf er diesmal sein Auge auf die ehrbare Tochter eines kinderreichen Schreinermeisters in Marbach. Das Mädchen bezeigte anfangs gar wenig [23] Lust, Herrn Cramble aber war es Ernst mit der Sache; er beschied Vater und Mutter samt der Tochter in seinen neuen Wohnort, ließ dort in ihrer Gegenwart vor Notar und Zeugen ein abermaliges Testament in bester Form verlesen, in dem ihr ein noch ansehnlicheres Legat als ihren Vorgängerinnen zugesichert war, falls sie ihn vor seinem Tode nicht freiwillig verlasse. Das war doch gar zu verlockend für fürsorgliche Eltern, und sie stellten der Luise ihre zukünftigen Aussichten, wenn der Engländer einmal das Zeitliche gesegnet, aufs glänzendste vor: sie sei ja jung und stark, und er könne doch nicht umhin, einmal zu sterben, irgend einmal; und die Luise gab nach und richtete sich in dem neuen Haushalt ein.

Der Engländer aber war nicht lange an dem neuen Aufenthaltsort, als er abermals fand, daß das noch kein geeigneter Platz zum Abscheiden sei; somit zog er samt der Luise in ein viel entlegeneres Städtchen. Da sie in der Korrespondenz nicht stark war, so blieben die Ihrigen jahrelang ohne Nachricht von ihr, bis endlich wieder einmal ein Brief ankam.

Der Schreiner erbrach ihn und durchlief den Inhalt, um ihn vorzulesen; plötzlich rief er ganz erfreut aus: »Ach, denk nur, Weib, der Engländer ist richtig gestorben, das hätt' ich ihm doch nicht zugetraut!« – »Ist's wahr?« rief die Frau, »aber das ist doch schön von ihm; weiß man's gewiß?« Die Geschwister eilten herbei, um den Grund des elterlichen Vergnügens zu erfahren: »Ja, denket, der Herr Grembel ist gestorben, und die Luise bekommt jetzt schon das schöne Erbe, und sie ist doch erst vier Jahre bei ihm, und er ist nicht einmal so gar alt geworden, erst zweiundsiebzig, da hätt' man's ihm noch gar nicht zumuten können; er hätt' ja auch achtzig oder gar neunzig alt werden können, wie der alte Torwart selig.« Und alles war ganz voll Dank und Rührung, daß der Herr Grembel richtig gestorben war.

Seit er Marbach verlassen, war der Engländer noch in vier oder fünf Städten und Städtchen herumgekommen, bis es mit dem Sterben ernst geworden war; in jedem hatte er ein Testament gemacht, in dem die Ortsarmen und sein jeweiliger [24] Mietsherr bedacht waren. All diese Willensmeinungen wurden nach den Landesgesetzen von selbst ungültig; die Luise aber war auf dem Platz geblieben als Siegerin über all die Henrietten, Barbaras, Lotten und Friederiken, die als frühere Haushälterinnen bedacht gewesen waren; sie stand mit ihrem Legat noch im letzten Testament. Nachdem sie ihrem verblichenen Gebieter einen redlichen Tränenzoll geweiht, zog sie ab mit dem Erbe, das sie zu einer gesuchten Partie in ihrem Stande machte, ja das ihr noch Aussicht gab auf irgend einen jungen Kaufmann oder Apotheker, der ein eigenes Geschäft gründen wollte.

Wer und woher Cramble war, hat sich erst nach seinem Tode genau herausgestellt. Er war von Natur ein Handlungskommis zu Liverpool, der durch den Gewinn des großen Loses aus einer bescheidenen, fast dürftigen Existenz mit einem Schlage in die Fülle des Reichtums versetzt worden war.

Von da an hatte er das Festland nach Norden und Süden, Osten und Westen bereist, zuerst um Lebensgenuß, zuletzt um eine Grabstätte zu suchen. Ein bedeutendes Darlehen, das er einem ungarischen Grafen zur Herstellung seiner Güter gab und um das ihn dieser betrogen, hatte seinen Reichtum bedeutend geschmälert. Von daher stammte seine Sparsamkeit und fast zynische Lebensweise, von daher wohl auch das Mißtrauen, das ihn bewog, jede Dienstleistung durch Aussicht auf ein Erbe zu erkaufen.

Und ein eigentümlicher Hohn des Schicksals! Er, der jahrelang keinen Lebenszweck gekannt, als sich ein friedliches Grab zu sichern, sollte auch dies nicht ohne Schwierigkeit finden. Er hatte sich im Tode erst noch recht nach Herzenslust ausgestreckt, und als man den Sarg, dem ein anständiges kleines Geleite, bestehend aus einigen Nachbarn und dem Vater der Luise, folgte, ins Grab senken wollte, fand sich, daß dieses zu kurz war. So mußte denn erst das Grab verlängert werden, während die betrübte Trauerversammlung sich verlief und Herr Cramble in einsamer Größe in seinem Sarge auf dem Kirchhof stehen blieb.

[25] Das also ist die Geschichte von dem Engländer, dessen bewundertste Tat die war, daß er richtig gestorben ist. Ruhe seiner Asche!

3. Ein ungerächtes Opfer

Ich erinnere mich, daß ich hie und da in den Straßen von Marbach einen Mann von gedrücktem Aussehen herumschleichen sah, der besonders rasch und scheu auf die Seite wich, wenn ihm einer der Beamten des Städtchens begegnete. Es mochte weiter niemand mit ihm zu tun haben, obschon er ein äußerlich geordnetes Leben führte und ein fleißiger Mann war. Was es aber war, das die Menschen von ihm scheuchte und seinem Auge den scheuen Blick gab, das sagten sich nur hie und da im Vertrauen ein paar ältere Leute, denen seine Geschichte bekannt war.

Er war ein Schuster und vor etwa dreißig Jahren als schmucker Bursche von der Wanderschaft zurückgekehrt. Das halbe Städtchen war damals zusammengelaufen, als es hieß: »Des Steiners Wilhelm ist von der Wanderschaft da und hat eine Frau mitgebracht von ›da drinnen 'raus‹ 1, und sie hat Kleider, schöner als die Frau Oberrichterin, und schwätzt ganz welsch.« Wirklich hatte er ein gar hübsches, fein aussehendes Weibchen bei sich, das ihm aus Sachsen, wo er bei ihrem Vater in Arbeit gestanden hatte, ins Schwabenland gefolgt war. Es gab viel Verwunderns, Redens und Fragens; seine »Freund'« 2 konnten sich lange nicht darein finden, das zarte, »herrenmäßig« aussehende Frauenzimmer als ihres Wilhelms Weib anzusehen; besonders war ihr fremder Dialekt ein Gegenstand des Erstaunens und heimlichen Gekichers.

Er hatte ihr goldene Berge versprochen, dem guten Kinde, bis sie sich entschlossen hatte, ihre Heimat zu verlassen: wie es eine gar schöne und fürnehme Stadt sei, wo er daheim, und [26] fast das ganze Jahr Sommer; wie er sein eigen Haus dastehen habe, und wie bei ihm zu Hause ein Schuhmacher noch etwas ganz andres vorstelle als in Sachsen. Auch sei von Marbach noch keiner so weit herumgekommen wie er; da könne es ihm gar nicht fehlen, die allerbeste Kundschaft zu bekommen, er werde Geld verdienen wie Heu. Dann lasse er sie alle zwei Jahre in einer Kutsche heimführen zum Besuch bei ihren Eltern. Was sagt ein Mensch nicht alles, um zu seinem Zweck zu kommen!

Der Wilhelm mochte wohl ein gut Teil davon selbst glauben und fast ebenso enttäuscht gewesen sein wie sein junges Weib, als er durch die krummen Straßen seiner Vaterstadt zog und sie in die trübe Hinterstube eines baufälligen Hauses führte, das sein Anteil an dem väterlichen Nachlaß war und zu dem er noch als Ausding den »Bide«, einen blödsinnigen Vetter, zu übernehmen hatte, der seither bei seiner Schwester in der Kost gewesen war.

Die junge Frau schickte sich indes, so gut sie konnte; auch tat Wilhelm sein Möglichstes, ihr doch für den Anfang einen guten Eindruck zu geben. Er veranstaltete im Gasthof eine Nachfeier seiner Hochzeit, die in Sachsen begangen worden war, wozu er die ganze Verwandtschaft einlud, und der Stadtzinkenist, ein Schulkamerad von ihm, blies dabei eine vielbekannte Weise, die gewöhnlich bei Hochzeiten gespielt [27] wird und welcher der Volkswitz den traurigen Text unterlegt hat:


»Du meinst, wir blasen dir Wecken und Wein,
Und wir blasen dich ins Elend 'nein.«

Ein Glück, daß das Weibchen nichts wußte von dem Text, sonst hätte ihr die Musik wie eine böse Mahnung an ihre traurige Zukunft klingen können. Obgleich sie bereits eine Regung von Heimweh spürte, so strengte sie sich doch an, freundlich zu sein und wenigstens mit einem Lächeln auf die vielen Fragen zu antworten, die sie in der breiten schwäbischen Mundart gar nicht verstand. – Solange die Familie noch vermutete, sie sei reich, wurde sie von dieser recht »geehrt«, auch hie und da aus Neugierde von einer der angesehenen Bürgersfrauen zu einem Kaffee eingeladen, weil man sie gern über ihre Heimat ausfragen und ihr »g'späßiges Gewelsch« anhören mochte.

Nun sollte die Haushaltung der jungen Leute beginnen. Hinsichtlich des Vermögens seines Weibes hatte sich Wilhelm sehr getäuscht; ein paar hübsche Kleider und Häubchen bildeten den Hauptbestandteil ihrer Mitgift, die nebst seinen geringen Ersparnissen eben hinreichte, um die ersten Einkäufe an Hausrat und Leder zu bestreiten. Doch gab's in der ersten Zeit Arbeit in Hülle und Fülle; jedermann wollte sehen, wie's der Wilhelm nun verstehe, seit er »so weit 'rum« gewesen sei und so fürnehm spreche; denn er redete eigentlich noch viel sächsischer als seine Frau.

Ein paar junge Herren bestellten sich bei Wilhelm Stiefel, in der Hoffnung, die hübsche Meistersfrau zu sehen, und sogar des Herrn Oberamtmanns Töchter ließen sich Schuhe bei ihm machen. Leider war aber seine Arbeit gar nicht so vortrefflich, und da er, um recht schnell zu der gerühmten Einnahme zu kommen, die gewöhnlichen Preise verdoppelte, so verlor sich die Kundschaft bald, und er hatte nur noch in der Verwandtschaft zu arbeiten, wo man ihm den halben Preis abdingte und auch diese Hälfte kaum bezahlte.

Karoline, seine Frau, konnte sich aber eben gar nicht zurechtfinden in dem schwäbischen Hauswesen. Schon am ersten Tag [28] [30]hatte sie ihren Wilhelm gefragt, ob er denn auch schon ein »Mehdchen« gemietet habe. Der Wilhelm, um sie noch bei guter Laune zu erhalten, vertröstete sie, man könne eine Magd erst aufs Ziel dingen, sie müsse sich eben indes behelfen; Holz und Wasser könne ihr ja der Bide tragen. Vor dem Bide und seinem simpelhaften Lachen fürchtete sich aber Karoline entsetzlich und wagte kaum ihn anzusehen; er hingegen schien großes Wohlgefallen an ihr zu finden, was er ihr durch freundliches Angrinsen und allerlei Gebärden zu zeigen suchte. Er nannte sie immer »Mädle«, eines der wenigen Worte, die er aussprechen konnte und mit dem er nur junge hübsche Gestalten bezeichnete.

So sollte nun Karoline die Haushaltung besorgen, daneben dem Manne im Handwerk helfen und mit ihren zarten, weichen Händen aus rauhem Hanf den Schustersdraht spinnen; sollte kochen, waschen und putzen, alles allein. Obgleich selbst eine Schusterstochter, war sie der harten Arbeit ungewohnt; sie hatte ihre feinen Händchen fast nur zum Spitzenklöppeln gebraucht, eine Arbeit, die hier niemand schätzte und begehrte. In der Familie verlor sich die Bewunderung für sie gar bald, als sich herausstellte, wie sie eben in der Haushaltung »gar nichts« sei; die Schwägerin schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sie nach Tee fragte, um ihn zum Abendessen zu bereiten: das habe sie ihr Lebtag nicht gehört, daß »sottige« (solche) Leut' beim g'sunden Leib Tee trinken; das solle sie den Privatleuten lassen und Wassersuppe kochen und einen Hafen voll Grundbirnen. Als es aber gar im Städtchen bekannt wurde, daß sie auf die saure Milch Zucker und Zimt gestreut habe, da berief man den Wilhelm, wo er ging und stand, um sein hoffärtiges und »aushausiges« Weib, die so wunderliche Bräuch' anfange, so daß er oft ganz wild heimkam.

Als nun nach und nach die Kundschaft ausblieb und das Geld immer seltener wurde; als Leder bezahlt werden sollte und nichts dazu im Hause war; als das Weib, wie die Schwester meinte, für die Haushaltung mehr Geld in einem Tage verbrauchte als sie in acht, da wurde der Mann mehr und mehr [30] übler Laune. Er vergaß, was er selbst wohl hätte wissen können, daß der Frau ein schwäbischer Haushalt fremd sein mußte, und ließ es immer härter sie entgelten, daß er sie getäuscht. Das arme Weib strengte sich nach Kräften an, ihn zufrieden zu stellen; aber da niemand sie mit Liebe zurechtwies, griff sie's immer ungeschickt an. Der Bide stand ihr treulich bei, wo er konnte, und sie gewöhnte sich an ihn; ja das arme Kind wurde bald froh, in dem Grinsen dieser halbtierischen Züge und seinen unbeholfenen Hilfeleistungen die Beweise einer Zuneigung und Freundlichkeit zu sehen, die sie vergeblich suchte bei dem Manne, dem zulieb sie Vater und Mutter verlassen hatte. Sie verkaufte heimlich ihre ganze Kleiderherrlichkeit, weil sie des Mannes Schelten und Toben über ihren Hausverbrauch fürchtete. Ihr Herz hatte an den Fähnchen gehangen, sie waren ja noch von daheim! Es war ihr, als sei sie nun allein auf der Welt, seit sie ihr letztes gutes Kleid um geringes Geld in die Hände einer Unterkäuferin gegeben hatte.

Um seine Wahl besser ins Licht zu stellen und das geringe Beibringen seiner Frau zu beschönigen, hatte Steiner den Verwandten versichert, sein Schwiegervater sei eigentlich reich, er habe nur nichts »von ihm geben können«, weil gar viel im Geschäft stecke; aber wenn's ans Erben gehe, bekomme sein Weib noch schwer Geld. Da kam aber eines Tags aus Sachsen die Botschaft, Michael Lange, der Vater der Schusterin, sei gestorben, und sein Nachlaß habe eben zugereicht, die Schulden zu decken. – So war denn beiden die letzte Hoffnung vereitelt: dem Wilhelm auf das Erbe des Schwiegervaters, das er sich doch selbst besser vorgestellt hatte; der Karoline die Aussicht auf die Heimkehr, die noch ihr einziger Trost gewesen war. Auf die Kutsche hatte sie längst verzichtet, das arme Kind; sie wäre ja gerne mit bloßen Füßen heimgewandert! Und nun erst, da ihr die Heimat abgestorben war – ihre Mutter war längst tot –, bemächtigte sich ihrer ein verzehrendes Heimweh, das sie immer untauglicher machte zu den Hausgeschäften.

Zwei Kinder, die sie geboren hatte, vermehrten nur ihr Unglück; der Mann gestattete kein Kindsmädchen, er meinte, der [31] Bide könne wohl die Kinder zuzeiten hüten; auch ging dieser Bide wirklich mit grinsender Zärtlichkeit und möglichster Vorsicht mit den Kleinen um. Aber der vermehrten Arbeit bei geschwächtem Körper und immer größerer Verarmung war Karoline nicht gewachsen, und als die Kinder, schon schwächlich im Lebenskeim, im zarten Alter dahinstarben, da bemächtigte sich ihrer immer tiefere Schwermut. Der Bide betrachtete sie oft traurig, wenn er sie so in stummem Jammer dasitzen sah, und schob ihr sein eigenes, sparsam zugeschnittenes Brotstück hin: »Da, Mädle, iß!«, weil er kein Leid kannte als den Hunger.

Der Mann, um der Trübsal seines Hauswesens zu entfliehen, verfiel auf den gewöhnlichen Ausweg der Leute seines Schlages: er legte sich aufs Trinken. Daß dies das Schicksal des armen Weibes nicht verbesserte, läßt sich denken. – Eines Abends hörte man ein wildes Geschrei in Steiners Hause; man eilte herzu und fand Steiner ringend mit dem Bide, der eine bis dahin allen unbekannte bärenmäßige Stärke zeigte, man konnte den Schuster kaum von ihm losmachen. Das Weib lag in dumpfem Schluchzen am Boden mit verhülltem Gesicht und antwortete auf keine Frage. Erst nach und nach brachte man von Steiner selbst heraus, daß er sein Weib hatte mit Schlägen mißhandeln wollen, der Bide aber sich wie wütend dazwischen geworfen und ihn fast umgebracht habe. Von da an sprach das Weib kein Wort mehr; die Hände vors Gesicht geschlagen, saß sie den ganzen Tag in einem Winkel der Stube; nur hie und da schlich sie leis wie ein Schatten umher, um die notdürftigste Nahrung zu nehmen. Der Bide aber hütete sie den ganzen Tag mit großer Sorgfalt und ließ den Schuster ihr nicht nahekommen; nachts, wenn er genötigt war, seine Schlafstätte zu suchen, zog er langsam rücklings ab und drohte dem Mann noch mit geballter Faust. – Steiner mußte notgedrungen eine Magd halten; aber das bleiche Weib schien die Flüche nicht mehr zu vernehmen, die er wegen dieser vermehrten Ausgabe über sie hindonnerte.

Eines Morgens vor Tage läutete es am Hause des Ortschirurgen. Er glaubte ein Gespenst zu sehen, als die schwermütige [32] Schustersfrau unten stand, die von vielen fast vergessen war, weil sie so lange nicht mehr ans Tageslicht gekommen. Entsetzt sah er, als er sie einließ, daß ihr Kleid voll Blut war. Mit leiser Stimme, aber in ganz ruhigem Tone und mit klaren, vernünftigen Worten sagte sie ihm, ihr Mann habe sie ins Herz gestochen, sie werde nun sterben. Sie entblöste ihre Brust und zeigte eine tiefe Wunde am Herzen, die augenscheinlich mit der Ahle gemacht war. Der Chirurg verband das ohnmächtig gewordene Weib eilends und ließ sie nach Hause bringen. Den Schuster fand man hinten im Höfchen mit verstörtem Aussehen. Er sagte, er suche sein Weib; sie sei vor Tage aufgestanden, habe das Haus verlassen, er fürchte, sie habe sich ein Leid getan, seine Ahle sei blutig. Wirklich fand man in der Stube neben dem Bett die blutige Ahle am Boden. Das arme Weib aber erwachte nicht mehr zu Leben und Besinnung, sie starb vor Abend.

Die Bodenkammer, wo der Bide schlief, war von außen fest verriegelt; der Schuster sagte, das habe immer so sein müssen, damit dem unvernünftigen Menschen kein Leid geschehe. Der Bide polterte an der Tür, bis man öffnete. Als er in die Stube kam, wo das sterbende Weib lag, fiel er mit einem entsetzlichen Jammergebrüll bei ihr nieder; dann stürzte er sich wie wütend auf den Schuster, den man Mühe hatte vor seinen Angriffen zu schützen.

Der Schuster ward auf die Aussage des Chirurgen vor Gericht gefordert. Er leugnete hartnäckig, seinem Weibe ein Leid getan zu haben. Es wisse ja jedermann, daß sie schwermütig sei und daß solche Leute immer an Selbstmord denken; sie habe schon lange sich etwas am Leben tun wollen, er habe ihr deshalb kein Instrument in der Hand gelassen; nun habe sie aber doch die Ahle erwischt. – Das arme Opfer war auf ewig verstummt, ihr gestörter Geisteszustand war bekannt, kein Kläger konnte mehr auftreten. Der Schuster wurde von der Instanz entbunden. Den Bide konnte man nicht mehr in seinem Hause lassen, jener wäre seines Lebens nicht sicher gewesen; man brachte den Blödsinnigen im Armenhause unter.

[33]

Aber fortan schlich der Schuster fast so still und bleich umher wie einst sein armes Weib, das in der fremden Erde eine bessere Ruhe gefunden als auf ihr. Niemand sprach mit ihm, und wo er von ferne den Richter sah, vor dem er in Untersuchung gewesen, da lenkte er weit ab, um ihm nicht zu begegnen. – Er beerbte einen entfernt wohnenden kinderlosen Bruder und wurde ein vermöglicher Mann, aber das brachte ihm kein Glück. Lange Jahre schleppte er ein freudeloses Leben hin, und als er starb, folgten nur die nächsten Anverwandten seiner Bahre. Sie gruben sein Grab weitab von dem seines Weibes, damit das ungerächte Opfer den Toten nicht aufstören möge aus seiner Ruhe.

Fußnoten

1 Aus dem Ausland.

2 Verwandten.

[34] 4. Das unterbrochene Hochzeitsfest

Vor dem Tore des Städtchens stand ein hübsches Haus, das der »neue Konditor« erbaut hatte, der erst kürzlich hereingezogen war. Ein Konditor war eine wichtige Erscheinung; seither hatte man bloß einen Zuckerbäcker gehabt, der in einem finstern Laden hauste und von dessen Dasein man nur zur Weihnachtszeit Kenntnis nahm, wo große Lebkuchen in Herzgestalt bei ihm zu haben waren.

Herr Protzel, der neue Ankömmling, war überdies auch der erste Gewerbsmann, der es wagte, sich zu den Honoratioren des Städtchens zu zählen, welche Anmaßung zuerst mit etwas scheelen Augen gesehen, aber am Ende doch geduldet wurde. Hatte er ja einen Sohn, der Medizin studierte, wenn auch der Erfolg noch etwas zweifelhaft war, und seine Tochter, die rotwangige Rike, ein gutmütiges, etwas einfältiges Mädchen, hatte, wie man aus sicheren Quellen wußte, bereits eine Liebschaft mit einem Juristen gehabt und war jetzt mit einem Pfarrer versprochen.

Eines Abends zeigte sich eine besonders lebendige Bewegung in und vor dem Protzelschen Hause. Vor diesem stand ein bereits hochbepackter Wagen, auf dessen Gipfel immer noch [34] neue Möbel, mit bauschigen Betten dazwischen, geladen wurden, lauter Stücke, die lange vorher schon auf der Straße ausgestellt gewesen und einen Kreis von Kindern und anderem schaulustigen Volk um sich versammelt hatten.

Herr Protzel, der dicke Papa, ging geschäftig umher und half dem Fuhrmann, der mit Seufzen die Last betrachtete, die seine dürren Mähren morgen zu schleppen hatten. Rike bewegte sich mit einem Kopf voll Papilloten am Fenster hin und her und trug ihren Hochzeitstaat zusammen. Der Sohn Theodor schaute sehr vornehm in einer roten Zerevismütze dem Treiben zu und half insoweit, als er von den bereitgestellten Speisen reichlich kostete. Die Frau Mama wußte vollends nicht, wo ihr der Kopf stand; sie sollte fürs Einpacken sorgen, Brezeln rüsten zum morgigen Frühstück, einen Schinken zur heutigen Nachtkost, ferner etliche haltbare Speisen, die sie der Rike mitgeben könnte, daneben noch den Brautstaat besichtigen und einen Tee bereit halten für den Bräutigam, der jeden Augenblick erwartet wurde; denn man wird aus all diesen Anstalten leichtlich ersehen haben, daß der Tag gekommen war, wo der Herr Pfarrer seine Braut heimholen wollte.

Die Eltern waren trotz aller Wehmut des Abschieds höchst vergnügt, ihre Rike nun bald als Frau Pfarrerin zu sehen; Rike selbst aber schien nicht in sehr bräutlicher Stimmung. Selbst der Brautstaat machte ihr wenig Freude, und sie bemerkte gegen die Mutter ein mal halblaut, sie möchte doch wissen, was wohl der Ferdinand dazu sagen würde. Von der Frau Mama ward sie wegen dieser unpassenden Erinnerung gehörig ausgezankt. »Hätte der Ferdinand etwas von dir gewollt, so hätte er sich lange zeigen können, eh' der Pfarrer um dich angehalten, und statt daß du nun Gott danken solltest, daß sich so ein guter Anstand zeigt, denkst du noch ...« Der mütterliche Redefluß ward unterbrochen durch das Anrasseln der stattlichen, wenn auch etwas baufälligen Kutsche, aus welcher der Herr Pfarrer schon längst mit zarter Sehnsucht den Kopf herausstreckte.

Die ganze Familie zog ihm zu froher Begrüßung entgegen, auch das Bräutchen faßte sich, ließ sich die bräutigamliche Zärtlichkeit [35] gefallen und erfreute und verwunderte sich gebührlich über den schönen Schal, den ihr der Bräutigam verehrte.

Einige bedenkliche Omina warfen freilich ihren Schatten in die Vorfreude des Festes: Jungfer Mine, die uns schon bekannt ist, hatte versprochen, eine Biskuittorte von ihrer eigenen Meisterhand zu liefern; die Hanne aber war auf der Schwelle des Bäckerhauses über einen der Möpse gestürzt, der ihr unberufenerweise nachgelaufen war, und die edle Masse floß ungebacken in den Staub. Das blaue Taffetkleid, das die Nähterin in tiefer Nacht noch für die Mama gefertigt, wurde aus nächtlichem Versehen mit grünen Fransen [36] garniert, und andre waren in Marbach nimmer aufzutreiben – aber mit großer Seele setzte sich die Familie Protzel über diese Unfälle weg und beschloß, sich dessenungeachtet zu amüsieren.

Die Gesellschaft saß beim Nachtessen, und der Herr Tochtermann malte eben den glänzenden Empfang aus, den ihm wahrscheinlich seine Gemeinde zugedacht. Rike ging hinaus, um ein neues Gericht aufzutragen; da stand auf der Treppe des Nachbar Zimmermanns Suffiele (Sophie) und winkte ihr eifrig, herunter zu kommen: es wolle sie jemand heimlich sprechen. Wer stellt sich das Erstaunen und den Schreck des armen Bräutchens vor, als drunten der Ferdinand stand, der flotte Jurist, der ihr vor einem Jahre drei Monate lang so eifrig den Hof gemacht und an einem schönen Mondscheinabend ihr das Versprechen ewiger Liebe abgenommen, der aber seither nichts mehr von sich hatte hören lassen, obgleich er bereits im »Merkur« angezeigt, wo er seinen Wohnsitz als Rechtspraktikant genommen, und obgleich Rike durch eine Freundin ihn von der Bewerbung des Pfarrers hatte in Kenntnis setzen lassen.

Da ihre Unterredung ohne Zeugen war, so weiß niemand, wie heftig er dem armen Kinde zugesetzt, mit was für schrecklichen Dingen er gedroht, im Falle sie ihm den Pfarrer vorzöge. Genug, Rike kam zum Tisch zurück mit rotgeweinten Augen, die aber auf Rechnung der bräutlichen Bewegung geschrieben wurden. Die Mama trieb alles bald zur Ruhe, da der Herr Helfer schon auf morgens sechs Uhr zur Kopulation bestellt war, damit das junge Ehepaar noch zu rechter Zeit in dem etwas entlegenen Wohnort des Pfarrers eintreffen könne. Rike aber versah sich in aller Stille mit einem Hausschlüssel und legte Hut und Mantel bereit.

Am andern Morgen ward es schon um vier Uhr laut im Hause; die Mama mochte dem Töchterlein wohl noch den Schlaf gönnen, als aber der Dehmes erschien, um die Braut zu frisieren, da mußte sie denn doch geweckt werden. – Den Dehmes darf ich aber nicht vergessen, wenn ich von Marbach spreche; war er doch lange Jahre das Faktotum des Städtchens, [37] und wenn er nicht gestorben wäre, so hätte man gar nicht geglaubt, daß es möglich sei, ohne den Dehmes auszukommen. Er hieß eigentlich Nikodemus und war der Sohn eines getauften Juden, selbst ein guter Christ, ein kleines, wuseliges Männchen, das mit seinen kurzen Beinchen in einem Tage weiter kam als andre mit langen in zwei. Er war ursprünglich seines Handwerks ein Friseur, aber er war auch ein Kürschner, er konnte auch Hühneraugen ausschneiden, Flecken herausmachen und Warzenvertreiben; er machte den Vorschneider und Aufwärter bei Gastmählern, den Vorreiter bei Schlittenfahrten, den Expreßboten bei wichtigen Angelegenheiten, den Leichenbitter bei Sterbefällen, kurz, er war in allem zu Hause, der Dehmes, und spezieller Hausfreund in den meisten Familien.

Trotz all seiner Kunst konnte er aber diesmal die Rike nicht frisieren, denn – die war nirgends zu finden. Mit Entsetzen kam die Mama aus ihrem leeren Schlafzimmer, wo sie dem Anschein nach gar nicht geruht hatte. Ein furchtbarer Tumult entstand im Hause; das Suffiele, die schon lang' spioniert hatte, war bald bei der Hand und berichtete, wie gestern abend »im Dämmer« ein fremder Herr die Jungfer Rike zu sprechen begehrt [38] habe und wie er, soviel sie von weitem habe sehen können, ganz »zweifelhäftig« (verzweifelt) mit ihr getan habe. An ihrer Beschreibung erkannte man alsbald den Ferdinand, und der Gedanke an eine Entführung versetzte die ganze Familie in maßlose Empörung. Der Student fluchte, daß in dem Nest kein Reitpferd zu haben sei, er wollte sie bald eingeholt haben und blutig die Schmach seines Hauses rächen; der Pfarrer sprach davon, die zwei dürren Schimmel einspannen zu lassen, die ihm ein dankbares Beichtkind zur Hochzeitsreise geliehen, und so den Flüchtigen nachzusetzen; die Mama lief mit der Blondenhaube umher, die sie verkehrt auf hatte, und berief die ganze Nachbarschaft zu Rat und Hilfe.

Da gab der benachbarte Bäcker an, er habe vor Tage ein Frauenzimmer mit einem Herrn dem Torturm zulaufen sehen. Nun ging der Mama ein Licht auf: »So sind sie am Ende nur bis zur Base Turmbläserin geflüchtet!« – Die Turmbläserin, eine Verwandte der Frau Protzel, war eine ehrwürdige alte Frau, deren eingefallene Wangen und bescheidene Haltung sehr im Kontrast standen mit dem Namen, den man ihr beilegte, weil sie als Witwe des vormaligen und Mutter des jetzigen Stadtzinkenisten die kleine Wohnung auf dem Turme innehatte, von dessen Altan alle Sonntage durch ihren Sohn und dessen fünf musikalische Sprößlinge eine volltönende Choralmusik geblasen wurde.

So klomm also die erschütterte Familie, mit Ausnahme des Bräutigams, die Turmtreppen hinan. Die Frau Base Turmbläserin, eine gar rechtschaffene Frau, war bereits auf und empfing sie sehr verlegen; ihre Tochter war gleichfalls verblüfft, sie erwiderten aber auf die hastigen Fragen, sie wüßten nichts und hätten niemand gesehen. – Die beiden Herren begannen indessen ohne weitere Umstände eine Hausdurchsuchung – kein sehr großartiges Unternehmen in dem beschränkten Lokale. Bald wurde denn auch die zitternde Rike unter dem Bette der Frau Base hervorgezogen; schwieriger war es, den Rechtspraktikanten aufzufinden; endlich entdeckte man ihn in einem Möbel, dessen Name nicht wohl genannt [39] werden kann und das wegen der Bauverhältnisse des Turms hier in so großartigen Dimensionen vorhanden war, daß es sogar dem ziemlich hochgewachsenen Juristen zum Schlupfwinkel dienen konnte. Der Entdeckte versuchte durch ein äußerst martialisches Gesicht seine etwas mißliche Situation zu heben, ward aber mit einem solchen Hagel von Vorwürfen und Lamentationen überschüttet, daß er, davon eingeschüchtert, endlich erklärte, wenn Rike den Pfarrer ihm vorziehe, so trete er zurück. Die arme Rike ließ sich durch die Drohungen des Vaters und den Jammer der Mutter bald bewegen, mit ins Haus zurückzukehren. Der Bräutigam empfing sie ohne Vorwürfe, und der Dehmes sollte sein Werk an dem ziemlich verstörten Kopf der Braut beginnen; aber inmitten seiner Arbeit sprang sie immer wieder auf: »Nein, ich kann nicht, ich kann von dem Ferdinand nicht lassen!«

Inzwischen hatte sich der Herr Helfer in der Kirche eingefunden, in welcher bereits eine ziemliche Anzahl schaulustiger Frauenzimmer versammelt war; auch übte auf der Orgel der Schulmeister mit dem fähigeren Teile der Schuljugend ein Hochzeitslied ein – aber kein Brautpaar erschien. Endlich ward der Mesner als Bote ausgesandt. Die Frau Mama vertröstete ihn: »Sie kommen bald!« Der Bräutigam stürzte in Rikes Zimmer, deren Toilette noch lange nicht vollendet war, und beschwor sie, nun doch sich zu entschließen und zu eilen – vergeblich! Der Mesner erschien zum zweitenmal mit ziemlich brummigem Ton; das Volk harrte auf der Straße. Ich war damals noch ein Kind und war nebst meinen Geschwistern eine Stunde früher aufgestanden, um doch auch den Hochzeitszug zu sehen. Wir guckten uns fast die Augen aus – kein Brautpaar. Endlich erscholl die Kunde, es werde nichts aus der Hochzeit, die Rike wolle schlechterdings den Pfarrer nicht.

Das Volk zerstreute sich, der Herr Helfer ging nach Hause, die Jungfrauen und die singende Jugend zogen sich zurück; im Hause Protzel stieg aber der Tumult und die Verwirrung auf den höchsten Grad. Rike ergriff den Ausweg, beständig zu heulen und zu schreien; die Mama schlug sich auf ihre Seite [40] und suchte sie in Schutz zu nehmen; der Bräutigam bestellte seine Pferde, rannte indes verzweifelt umher und stieß den Kopf gegen die Wand, zum Glück aber mit vorgehaltenen Händen; der Sohn putzte Pistolen, um sich mit dem Ferdinand zu schießen, welcher gefährliche Plan jedoch nicht ausgeführt wurde; Papa Protzel wetzte ein Tranchiermesser und erklärte, er wolle zuerst Frau und Tochter, dann sich selbst erstechen; vergaß aber wieder die blutdürstigen Gedanken über dem Anblick des verzierten Hochzeitschinkens, der mit den Namenszügen des Brautpaars geschmückt und zu dessen Zerlegung das geschliffene Messer eben geschickt war.

[41] Der Bräutigam fuhr ab. Was er und seine Gemeinde für Gesichter gemacht haben, als ihm daheim eine Deputation entgegenkam mit der singenden Schuljugend und einem bekränzten Hammel, der die Inschrift trug:


»Weil unsere Frau Pfarrerin ist so brav,
So bringen wir ihr ein junges Schaf –«

davon schweigt die Geschichte, und es kam keine Kunde darüber nach Marbach.

Die Familie Protzel verweilte nicht mehr lange in dem Städtchen; ungünstige Vermögensverhältnisse veranlaßten den Mann, sein neuerbautes Haus zu verlassen und einen andern Wohnort zu wählen.

Die arme Rike aber hatte ein trauriges Geschick. Für den Rechtspraktikanten hatte, scheint es, nur die Aufgabe Reiz gehabt, sie noch am Hochzeitsmorgen im Sturm zu erobern; als sie sein unbestrittener Besitz war, verlor sie Reiz und Wert für ihn. Durch allerlei Intrigen brachte er sie in den Verdacht eines Liebesverhältnisses mit seinem Bruder und ergriff diesen Vorwand, sich gänzlich von ihr loszumachen. Der Bruder aber hatte auch nicht Lust, sie zu übernehmen, und so blieb das arme Kind sitzen, verlassen und vergessen; man hat in Marbach nichts mehr von ihr gesehen.

Seither ging aber in Marbach der Geistliche zu einer Trauung erst dann in die Kirche, wenn das Brautpaar bereits zur Stelle war, und noch lange war das unterbrochene Hochzeitsfest ein Gegenstand gründlicher Eröterungen und Besprechungen in allen Zirkeln des Städtchens.

5. Der alte Frey

Die schönste Zierde der freundlich gelegenen kleinen Stadt bildet »der schimmernde Gürtel des Schwabenlandes«, der gute, heimische Neckarfluß. Ich glaube kaum, daß er sonst irgendwo auf kurzer Strecke so mannigfache und reizende Ansichten bietet wie hier. Einmal, an einer Biegung zwischen dunklem [42] Weidengehölz, wo er nach der Volksmeinung so tief sein soll, »daß es über ein Haus hinaus ginge« (ein recht dehnbarer Begriff), gleicht er einem stillen, geheimnisvollen See, so unmerklich fließt er dahin, so unbewegt spiegelt sich das Ufergebüsch in seiner lautlosen Flut. Bald rauscht er gar fröhlich über helle Kieselsteinchen und schlingt sich um die schattige Nachtigalleninsel, wohin im Frühling die romantische Jugend rudert, um Veilchen zu pflücken und dem Philomelengesang zu lauschen, oder die schöne und vornehme Welt der nahen Garnisonsstadt auf buntbewimpelten Schiffen Lustfahrten macht. Leiser zieht er vorüber an der grünen Bleichinsel, und gelbe Seerosen mit ihren saftigen Blättern decken das stille Gewässer; dann fließt er wieder stolz hinaus ins offene Land und achtet nicht der stillen Murr, die durch eine gespenstische Brücke zwischen dunklen Weiden sachte herbeischleicht, um ihr trübes Wasser mit seinem klaren zu vereinen. Selbst da noch bleibt er schön, wo er als Kanal durch Menschenhände für praktische Zwecke in Anspruch genommen ist; silberschäumend stürzt er sich eine künstliche Schleuse hinab, durch die der Horkheimer Schiffer seinen bescheidenen Kauffahrer und der »Jokele« sein Floß schwellt. Und wie belebt ist sein [43] Gewässer zur Sommerzeit! Nicht nur durch die stattlichen Enten- und Gänseherden des Müllers, sondern auch durch das lustige Völkchen der »Wasserkinder«, die Sprößlinge der umwohnenden Fabrikarbeiter und Müller, ein fröhliches Nereidengeschlecht, das den ganzen lieben Tag, aller überflüssigen Hülle beraubt, im Wasser plätschert oder im Uferkies spielt, wenn sie nicht als ungebetene Hilfe das rastlose Schiff des Fährmanns schieben und zum Schreck seiner Passagiere in ihrem Naturzustand unter die anständige Menschheit hineinhüpfen.

Oh, ich könnte euch tagelang erzählen von den Schönheiten meines heimatlichen Neckars, zu Nutz und Frommen all derer, die nicht Zeit und Geld haben, eine Rheinreise zu unternehmen.

Das war nun aber zunächst nicht meine Absicht, sintemal wir gegenwärtig gar reich sind an Naturstudien.

Wenn ihr vom Neckarstrand aufseht zu dem grünen Rebenhügel, von dem das Städtchen über seine altersgrauen Mauern hinunterblickt, so fällt euch wohl ein hübsches stattliches Haus in die Augen, das sich außerhalb der Mauer an diese anlehnt und zwischen Traubengeländen und Obstbäumen gar einladend aussieht. Daneben hat es etwas Geheimnisvolles, indem man nirgends einen Eingang sieht; erst seitwärts erblickt man eine Türe, die über einen gepflasterten Hofraum ins Haus führt, was ihm ein fast orientalisches Ansehen gibt.

Der Eigentümer dieses wohlumschlossenen Besitztums hauste zur Zeit, als ich ihn kannte, fast ganz abgeschieden, ohne Verkehr mit der Außenwelt, in seinem Hause und Garten; ein rüstiger Greis mit einem rötlichen, stark ausgeprägten Gesicht, der seine geistige und körperliche Frische aus manchem Strudel gerettet, an dem minder kräftige Naturen gescheitert wären.

Er wollte nicht viel mehr von der Welt hören, der alte Frey, er hatte sie gründlich satt bekommen! Nur wenigen, bei denen er noch an aufrichtiges Wohlmeinen glaubte, stand seine Pforte gastlich offen. Unter diese wenigen gehörte mein Vater, und zwischen ihm und dem alten Frey fand ein steter Austausch kleiner Aufmerksamkeiten und Freundlichkeiten statt, bei dem [44] wir Kinder bereitwillig das Botenamt übernahmen. Bald schickte der alte Frey selbsterzogene, schöngefiederte Kapaunen, die mit einem Gegengeschenk von uraltem Kirschengeist vergolten wurden; dann wieder köstliche Trauben, auf die ihm der Vater seltene Obstsorten mit wunderbarlichen Namen: Götterapfel aus der Moldau, rosenfarbener Sommertaubenapfel usw., als Gegengruß sandte; oder kam zur Weihnachtszeit auserlesenes Hutzelbrot, das Herr Frey eigenhändig verfertigt hatte und zu dessen Erwiderung die Mutter eine Pastete verfertigen mußte.

Für uns fiel dann stets ein reicher Botenlohn an Leckerbissen aller Art ab; namentlich erinnere ich mich eines schönen Morgens, an dem wir beschlossen, den Tag über zu fasten, um uns in der Enthaltsamkeit zu üben, wie in Campes Robinson geschrieben steht, wo aber selbige edlen Vorsätze elendiglich untergingen an den Regensburger Striezeln und Nürnberger Kringeln, die uns der alte Frey verehrt hatte. Gar manchmal hat uns auf dem Heimweg vom Neckarbad ein freundlicher Ruf in seinen Garten gelockt zur freien Weide unter den Johannis- und Stachelbeeren. Die Kindheit, leichtherzig und vergeßlich, wie sie scheint, bewahrt doch solche Guttaten in treuem Gedächtnis; darum sind die wohlfeilen Freundlichkeiten, die ein Kinderherz erfreuen, gewiß nicht in Sand gesät.

Der alte Frey hatte nicht jederzeit so abgeschlossen in seiner Feste gehaust, nicht immer seine Freundlichkeit auf so wenige beschränkt. Es gab eine Zeit, wo die grünen Hügel um seinen Weinberg her widerhallten von dem Gekrach der Herbstschüsse, von dem Jubel fröhlicher Zecher; wo die Fluten des Neckars rot erglänzten von den Raketen und Feuerkugeln, die bei seinen Herbstfesten emporstiegen; wo man Champagner aus Schoppengläsern trank und die Holderküchlein gebacken am Baume hingen; wo der alte Frey, damals in Fülle der Manneskraft, mit fürstlichem Übermut Geldmünzen unter die balgende Straßenjugend warf.

Solche Zeiten übersprudelnder Lebenslust und stürmischer Gastlichkeit pflegen wohl am leichtesten zu der Salomonischen [45] Weisheit zu führen: »Alles ist eitel,« und mehr als ein Timon ist aus solch teurer Schule hervorgegangen.

Wer aber war denn der alte Frey, und woher stammte der Reichtum, den er mit so vollen Händen um sich warf? In den Augen des Volkes gibt ein schnell erworbener Besitz häufig ein dämonisches Ansehen, und so hörte man allerlei geheimnisvolles Geflüster über ihn, solange er noch in der Fülle seines Wohllebens war. Unheimliche Gerüchte liefen um über die Quelle seines Reichtums, zumal da man behauptete, er glaube an keinen Gott und keinen Teufel; man sehe ihn nachts wie wütend in seinem Garten umherrasen, er habe seine Seele den Mächten der Finsternis verschrieben um Geld und Gut; auch verstehe er zu »knüpfen«, d.h. den Fall der Würfel im Spiele zu lenken. Ja auch das Geheimnis, das den Tod seiner ersten Gattin deckte, sollte eine dunkle Tat verhüllen; man flüsterte davon, er habe sie in einem Wutanfall mit der Papierschere erstochen.

Wir aber wollen diese Geheimnisse ruhen lassen und uns an die Wirklichkeit halten. Der Frey war kein Engländer und kein indischer Nabob, er war sozusagen »nicht weit her«, ein eingeborenes Stadtkind. Aber von erlauchtem Geschlecht war er doch, wenngleich nur eines schlichten Bäckers Sohn; der erste Dichter des Schwabenlandes, der Ruhm und Glanz der kleinen Stadt, war sein leiblicher Vetter; ja, Freys Mutter hatte eine Zeitlang den Kleinen der Frau Hauptmann Schiller, ihrer Base, mit ihrem eigenen Knaben zugleich gestillt, und so hatte Frey dieselbe Muttermilch mit ihm getrunken. Und er war stolz auf diese glorreiche Verwandtschaft; ja er rühmte sich selbst eines Funkens von dem Dichtergeiste seines großen Milchbruders. Zeuge des waren einige poetische Inschriften, die da und dort an Bäumen und auf Steinen in seinem Garten angebracht waren; ich glaube aber seinem Dichterruhme mehr zu nützen, wenn ich der Phantasie des Lesers überlasse, sich diese Verse selbst vorzudichten, als wenn ich sie anführe.

Vor langen Jahren war der Frey als ein rüstiger Bäckergesell in die Welt hinausgewandert, ein rasches, heißes, junges [46] Blut und ein heller Kopf; es ging Wien zu, dem Athen der Bäcker. Wie es ihm in der Fremde ergangen, das kann ich im einzelnen nicht erzählen, aus dem einfachen Grunde jenes Juden: »i weiß aa nit«; er kam in die stürmische Periode der Kriege mit Frankreich, und wenn er sich nicht als Krieger ins Schlachtgetümmel stürzte, so gelangte er doch dazu, sich selbst und dem Vaterlande zu dienen als Proviantkommissär.

Die Sage verlautet nicht, daß er jemals persönlichen Anteil am Kampf genommen; zum Pulverriechen kam er jedenfalls. Der Glanzpunkt seiner Erinnerungen war, wie er einmal ganz in der Nähe des Generals Wurmser eine Talschlucht hinabgeritten, in einen Grund, wo das österreichische Heer sich aufstellen sollte. Mit dem praktischen Scharfblick, der ihm überall eigen war, sah er bald, wie höchst unsicher die Position da unten werden würde; er teilte die Bemerkung leise einem Subalternoffizier mit, der hieß ihn schweigen; er wagte sich an den Adjutanten. »Was Donnerwetter will so ein Mehlwurm wissen!« schnauzte der ihn an; da faßte er sich ein Herz und ritt an den General hinan: »Aber Herr, so gehen wir alle zum Teufel!« Der schaute ihn mit großen Augen an, fluchte aber nicht; nach einer Weile ließ er halten und untersuchte mit dem Fernrohr nochmals das Gelände. »Und Gott straf mich, er hat's geändert!« rief der alte Frey im höchsten Triumph; »weiß Gott, wir wären alle zum Teufel gegangen!«

Mit einem Orden ist trotz dieses Verdienstes der Frey nicht heimgekehrt, wohl aber mit Errungenschaften von greifbarem Werte.

Eine geraume Zeit war verstrichen, seit der muntere junge Bäckerknecht in die Fremde gezogen, als eines Tages in das alte Städtchen ein stattlicher, wohlgekleideter Herr einfuhr, in dem wenige den Frey erkannt hätten. Er zeigte sich bald als der alte aufgeräumte Bursche, freundlich und treuherzig gegen alte Jugendgenossen; aber seine Lebhaftigkeit hatte sich zur Heftigkeit gesteigert, und eine eigentümliche innere Unruhe schien ihn zu rastloser Beweglichkeit zu treiben. Er nahm das Erbe seiner Väter in Besitz, führte einen neuen Bau dazu auf, [47] vergrößerte Garten und Weinberg und begann nun ein Leben herrlich und in Freuden, wie das des reichen Mannes im Evangelium.

Das Gerücht von dem Bäcker, der als Millionär aus der Fremde gekommen, verbreitete sich mit reißender Schnelligkeit in der Gegend, und der Frey durfte nicht verlegen sein, wie er's angreifen wolle, ein Haus zu machen; Gäste und Besuche von nah und fern kamen dieser Absicht freundlichst entgegen. Ob's just eine Million war, die er erworben, wollen wir nicht behaupten; doch wäre ein gewöhnlicher Wohlstand in wenigen Wochen aufgezehrt worden von dem Leben und Treiben, wie er's daheim führte.

Zum alten Handwerk wollte er nicht mehr zurück, obwohl er als Ehrenbezeigung zum Obermeister der Zunft ernannt wurde und das Geschäft, das er so gut verstand, zum Privatvergnügen bis zu seinem Tode mit Lust und Liebe getrieben hat; zu wissenschaftlichen Beschäftigungen befähigte ihn weder seine frühere Laufbahn und Erziehung noch seine stürmische Natur, und so wurde er bald in Kreise getrieben, die seinen Durst nach Lebensgenuß und sein hingebendes, offenes Wesen noch mißbrauchten und steigerten.

Da der Frey seinen Reichtum beim Militär und durch das Militär erworben, so hielten die Krieger der nahen Garnisonsstadt sich verpflichtet, die Nemesis zu spielen und ihm diesen verjubeln zu helfen. Seit Menschengedenken war's in keinem Hause zu Marbach so in Saus und Braus hergegangen wie nun unter dem Dache des Frey. Zu Fuß, zu Roß und zu Wagen besuchten ihn seine kriegerischen Freunde, bald mit einem Pferde, bald mit einem Hunde, die zu verhandeln waren, bald zu einer Spielpartie, bald zu einem Schmaus ohne Titel. In den Zwischenzeiten fuhr oder ritt Frey in die Garnisonsstadt und bewirtete sie dort im Gasthof. Der Dämon der Spielwut faßte ihn mit festen Krallen und hätte wohl seinem Reichtum ein schnelles Ende gemacht, wenn er nicht wirklich mit fabelhaftem Glück gespielt hätte, was ihn, wie schon gesagt, in den Verdacht magischer Spielkünste brachte und bald einmal zu [48] einem tragischen Schluß geführt hätte. Ein reicher Wirt der Gegend hatte bis tief in die Nacht mit ihm gespielt und furchtbar verloren. Wütend über Frey, dem er die Schuld daran beimaß, führte er auf diesen, der arglos neben ihm stand, als er zum Heimritt aufstieg, einen gewaltigen Hieb mit der Reitgerte: »Da, das gehört auch noch dein!« und ritt im Galopp davon. Der Frey aber war nicht der Mann, der sich solches bieten ließ; er riß einem dabeistehenden Offizier den Säbel aus der Scheide und rannte dem Wirt nach, mit so wütender Hast, daß er nur mit äußerster Mühe eingeholt und abgehalten werden konnte, sich tot zu rennen.

In den Augen des Volkes galt er, wie ich schon erwähnte, für eine Art von Doktor Faust und sein Reichtum für eine Gabe finsterer Geister, und gar viele schüttelten bedenklich den [49] Kopf, wenn der Jubel und Trubel aus seinem Hause und Weinberge herüberdrang. Minder übernatürliche Vermutungen schien man in Wien über den Ursprung seines Besitzes zu haben: das Militärgouvernement, das es für ein ausschließlich soldatisches Vorrecht hielt, aus Kriegszeiten Vorteil zu ziehen, beschied ihn nebst einigen andern ehemaligen Proviantkommissären vor eine Untersuchungskommission nach Wien. Sie waren aber alle gar nicht neugierig, zu wissen, was man ihnen dort mitzuteilen habe, und sind samt und sonders ungehorsamlich ausgeblieben.

»Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht;« geht er zu Wein, so mag's wohl noch rascher mit dem Brechen gehen. Ob dem Frey plötzlich oder allmählich die Augen darüber aufgingen, daß er auf dem Wege zu gänzlichem Ruin an Leib und Seele sei, das ist mir unbekannt. Aber aufgegangen sind sie ihm, und mit all der Energie seiner starken Natur entschloß er sich, mit seiner bisherigen Lebensweise ganz und gar zu brechen, und er tat es rasch, entschieden, solange es noch Zeit war, recht anständige Trümmer seines Vermögens zu retten.

Mit den Herbstfesten und Champagnermahlzeiten, mit der gefüllten Spielbörse und den durchjubelten Nächten schwanden auch die Tafelfreunde, schwand sein fröhlicher Mut und sein Glaube an aufrichtige Freundschaft; er zog sich zurück in seine Burg und ward nur noch selten außerhalb seines Gartens erblickt.

Einer sprudelnden, sanguinischen Natur wie der seinen war ein verhältnismäßig doch rascher Glückswechsel nicht gut gewesen; er hatte ein wildes, fast wüstes Leben und Treiben geführt, und sein gutes Weib, die zweite Gattin, die aus der Stelle einer Haushälterin zu dieser Würde aufgestiegen war, hatte oft schwer unter seiner Heftigkeit zu leiden. Aber ein guter Grund seines Wesens: Offenheit, Freigebigkeit, männliche Geradheit und bürgerliche Ehrenhaftigkeit, war ihm auch während des Strudels seiner wilden Zeit eigen geblieben.

In Stille und Zurückgezogenheit, unter dem Einfluß der milden, schönen Natur, die ihn umgab, so oft allein mit den [50] Gedanken, »die sich untereinander verklagen und entschuldigen,« hat sich wohl ein anderer Geist Bahn gebrochen in seinem Herzen. Im Äußern ist er der alte geblieben, lebendig, auch wohl heftig, frisch und kräftig; aber dennoch war's ein anderes geworden mit ihm.

Wenn er die wenigen Freunde, für die seine Burg noch offen war, mit der natürlichen Herzlichkeit seines Wesens und der zeremoniösen Höflichkeit der alten Zeit bewillkommte; wenn er Kinder herbeirief und beschenkte oder wenn er mit seinem noch frischen, ausdrucksvollen Gesicht einsam in seinem Garten saß und hinunterblickte auf den blauen Neckar: da sah er aus wie einer, dem seine Bürde vom Herzen genommen ist.

Allein mit seinem guten Weibe, die er neben seinen ausgelassenen Freunden gar oft mit geringschätzigem Übermut behandelt hatte, wandte sich sein Herz jetzt wieder mehr ihr und der alten Einfachheit der Sitten zu, in der er aufgewachsen war. Ehrbar und demütig, wie in jungen Jahren mit Vater und Mutter, besuchte er Kirche und Abendmahl mit ihr und betete regelmäßig mit lauter Stimme den Morgen- und Abendsegen.

Es war an einem sonnigen Tage des Spätherbstes, als mein Vater einmal wieder seinen alljährlichen Besuch beim alten Frey machte. Das Beste, was sein Haus vermochte, schmackhafte Fische und edler Wein wurden in der Rebenlaube im Garten aufgetragen, und heiter wie immer, wenn auch allmählich gebeugt unter der Last der Jahre, saß der alte Mann neben seinem Gast.

»Jetzt sitzen wir nimmer oft so beisammen,« sagte er mit heiterer Miene. »Ei, Sie sind ja noch rüstig wie ein Fünfziger,« meinte der Vater. »Herr, das ist Ihr Ernst nicht! Aber Sie denken wohl: der alte Frey bleibt schon noch eine Weile sitzen; so ein alter halblahmer, blinder und geistesschwacher Kerl taugt doch nicht ins Himmelreich. Aber ich bin gewiß,« fuhr er mit erhobener Stimme fort, »der allmächtige Gott kann und wird mich einst verjüngen, und dann wird sich's zeigen, daß in dem alten Knorren doch noch ein gesundes Mark war.« Das war der letzte Besuch beim alten Frey gewesen.

[51] In seinen Knabenjahren hatte der Frey einmal mit seinem berühmten Milchbruder in einem Kämmerlein geschlafen. Mit lauter, herzhafter Stimme, wie er's daheim gewöhnt war, verrichtete er seine Abendandacht; in seinen stillen Gedanken gestört, fuhr ihn Schiller an: »Dummer Esel, kannst denn du nicht leis beten?« – »Kann nichts leis tun!« war die lakonische Antwort des Frey, und da hatte er recht; leise ging's nicht her bei ihm, bis in seinen Tod nicht. In einer Nacht, nicht lange nach jenem Besuch des Vaters, weckte er seine Frau: »Alte, ich kann nicht schlafen, ich glaub', es ist Matthäi am letzten mit mir.« »Um Gottes willen! Ich will ein Licht machen, zum Doktor springen!« »Nichts, Alte, gar nichts, da bleibst! Jetzt sitz auf, wir wollen ein Lied singen.« In gewohntem Gehorsam richtete die Frau sich auf, und mit seinem kräftigen Baß stimmte der Alte das Lied an: »O Jerusalem, du schöne usw.« Mit ungebrochener Stimme sang er es durch, begleitet von den etwas zitternden Tönen der Frau; dann legte er sich zurück: »So, jetzt schlaf wieder! Ich will auch schlafen.« Beruhigt durch seinen kräftigen Gesang legte sich die Frau an seiner Seite nieder. Als der helle Morgen anbrach, schlief er noch und ist nicht wieder aufgewacht.

Das war der alte Frey.

Möge der allmächtige Gott, dessen Auge besser als das unsrige das rechte Mark in dem alten Stamm erkannt, die zuversichtliche Hoffnung seiner letzten Tage erfüllt haben!

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TextGrid Repository (2012). Wildermuth, Ottilie. Genrebilder aus einer kleinen Stadt. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A796-E