[26] Ode

Die du, als mein Geschick mich zu der Erde rief,
Mich mit segnendem Mund küßtest und weihetest,
Hier dein Sänger zu sein, Weisheit, begeistre mich,
Daß ich von deiner Schönheit sing.
Ach wie wenige sind's, Göttin, wie wenige,
Denen Du dich vertraut? welche den Sonnenglanz
Deiner Schönheit gesehn und den entzückenden
Süß harmonischen Mund gehört!
Und wie sollten sie dich finden? wo sucht man dich?
Ist der Zugang zu dir mit unersteiglichen
Furchtbarn Alpen verwehrt? oder verbirgst du dich
In cimmerische Finsternis?
Ist's ein blumenlos Land öd und von Raben nur
Und von Eulen bewohnt? Sind es cecropische
Labyrinthe, wodurch man zu den Höhen irrt,
Die dein ewiger Tempel krönt?
Ist's der runzlichte Duns oder Caritides,
Der den dornichten Weg, Göttin, uns führen soll?
Ist dein Heiligtum denn staubichten Träumern nur,
Aquinaten nur aufgetan?
Ach! so suchen sie dich! Dich, die mein Sokrates
Bei der holden Natur unter den Grazien,
(Ein entzückend Gesicht!) schwesterlich sitzen find,
Wie Diana bei Nymphen sitzt.
Wenn der stolze Sophist über die Sterne bald
Deine Larve verfolgt, bald dich im Abgrund späht,
Wenn ein schwärmender Kopf, fiebrischer Flammen voll,
Dich in Wolken zu küssen wähnt,
So begegnetest du, schön wie Unsterbliche,
Und mit offenem Arm suchenden Tullien,
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Epikur sah dich so, unter hymettischen
Rosen küßte dich Platon oft.
Mit wohlredendem Mund, wie ihn Diotima
Und mich Doris gelehrt, hast du den Weisesten,
Was kein Zänker gewußt, die vergeßne Kunst!
Leben gelehrt und ein Mensch zu sein.
Höre, Weisheit, auch mich, wenn je mein junger Fuß
Deine Pfade gesucht, und mich Aurora oft
Wundernd ansah und dann einen zufriednen Glanz
Um mein forschendes Auge goß,
O so zeige dich mir, wie du dich Bodmern zeigst,
Dich zu sehen gewohnt, voll des olympischen
Sanften Lichts, das dein Aug unerschöpft um sich gießt,
Mißt Er leicht deine Gegenwart,
Lehr auch mich, wie du Ihn gelehrtest, die edle Kunst,
Dich in Menschen Gestalt (denn deinen Götterglanz
Trägt kein Sterblicher nicht;) reizend, daß jedes Herz
Dein eroberndes Lächeln fühlt,
Vorzumalen; nicht so, wie dich Anakreon
Unterm taumelnden Chor, wild wie Eurypyle,
Oder jener gleich zeigt, die mit dem jauchzenden
Sich in junge Gesträuch verlor,
In erhabner Gestalt, doch daß die Majestät
Deines göttlichen Blicks milder durch Anmut sei,
Ungekünstelt, das Haar oder den Busen nur
Mit dem Schmuck der Natur bekränzt.
Von dir, Weisheit, gelehrt, von dir behaucht will ich
Deiner heiligeren Zahl, edleren Jünglingen,
Oder Mädchen, wie die, welche mich itzt umarmt,
Singen, wie du so selig machst,
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Wie nur der, nur der lebt, welchem du Heiterkeit
Und harmonisches Licht in seine Seele gabst,
Der gelehret von dir gegen die arme Ruh
Goldne Sorgen nicht tauschen mag,
Der die Gottheit da sieht, wo Sie sich offenbart,
Der in jedem Geschöpf nicht ihren Strahl verkennt,
Und mit ordnendem Blick jeglichem Liebe schenkt,
Das mit Schönheit und Güte reizt,
Daß der weise nur sei, der es gewaget hat,
In sein Herze zu sehn, ob sein geblendter Geist
Gleich zurücke gebebt, wie wenn ein kühner Blick
Sich ins Antlitz der Sonne wagt.
Der da unterm Geweb zahlloser Neigungen,
Die ins innerste sich, schamhaft gesehn zu sein,
Oft verstecken, der da seiner Unsterblichkeit
Samen, der Gottes Nachahmung, fand
Und der großen Idee voll vor sein Herze wacht,
Keinen kleinern Zweck vor seine Augen steckt,
Als, den göttlichen Teil, der seinen Leib beherrscht,
Seinem ewigen Quell zu nahn.
Vor dir, Weisheit, gestärkt, will ich der Laster Brut
Und den Götzen des Wahns und dem vielköpfigen
Irrtum Widerstand tun, stets ein erklärter Feind
Allem, was dich, o Menschheit schändt.
In bezauberndem Reiz, jugendlich schön und frei
Will ich die Wahrheit alsdann zeigen, in nackender
Liebenswerter Gestalt, so trat Elise dort,
Ein lebendiger Marmor, her.
Freunde, höret mir zu, und euer edles Herz
Schlage stärker in euch, wenn ihr mich singen hört,
Dann erinnert mich oft: Freund, laß dein Leben stets
Lehrend wie deine Lieder sein.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Wieland, Christoph Martin. Gedichte. Gedichte. Jugendgedichte. Ode [2]. Ode [2]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A67C-3