[129] Aus »Calamus«

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Von der furchtbaren Ungewißheit der Erscheinungen

Der schreckliche Zweifel an den Erscheinungen!

Die Ungewißheit, ob wir, trotz allem, vielleicht doch getäuscht werden,

Ob Zuversicht und Hoffnung schließlich nichts als Vermutungen sind,

Daß die persönliche Fortdauer jenseits des Grabes vielleicht nur ein schönes Märchen,

Die Dinge, die ich wahrnehme, Tiere, Pflanzen, Menschen, Berge, flimmernde und fließende Gewässer,

Der Himmel am Tage und in der Nacht, Farben, Festigkeit, Formen, vielleicht nur Erscheinungen sind (was zweifelsohne der Fall), daß das wirkliche Etwas noch zu entdecken ist? ...


(Wie oft springen die Dinge aus sich heraus, wie um mich zu verwirren und zu verhöhnen,

Wie oft meine ich, daß weder ich noch ein anderer etwas von ihnen weiß),

Möglicherweise scheinen sie mir, was sie sind (wie sie zweifellos nur scheinen), von meinem gegenwärtigen Gesichtspunkt aus, und erwiesen sich (was selbstverständlich ist) als etwas ganz anderes als sie scheinen, oder überhaupt als nichts, von gänzlich veränderten Gesichtspunkten aus gesehen –


Solches und ähnliches wird mir seltsam beantwortet durch meine Geliebten, meine teuren Freunde,

[131] Wenn derjenige, den ich liebe, mich auf der Reise begleitet, oder eine Weile neben mir sitzt und meine Hand hält,

Wenn die feine Luft, das Ungreifbare, ein Gefühl, das Worte und Verstand nicht umspannen können, uns umgibt und durchdringt,

Dann bin ich voll unausgesprochener und unaussprechlicher Weisheit, ich bin ruhig, ich verlange nichts weiter,

Ich kann das Ungewisse der Erscheinungen oder des bewußten Fortlebens nach dem Grabe nicht beantworten,

Doch ich gehe oder sitze da, gleichmütig, bin zufrieden,

Der, der meine Hand hält, hat mich vollkommen zufrieden gemacht.

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TextGrid Repository (2012). Whitman, Walt. Lyrik. Grashalme (Auswahl). Aus »Calamus«. Von der furchtbaren Ungewißheit der Erscheinungen. Von der furchtbaren Ungewißheit der Erscheinungen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A5F1-0