Maria Luise Weissmann
Skizzen

[111] Kleines impromptu im Herbst

Ich glaubte damals, daß es das Unglück war, das mich belauerte. Ich glaubte es für einen Augenblick; für den entscheidenden. So blieb es ungeschehen, denn es will nicht erkannt sein, ehe es getroffen hat. Es stahl sich leise fort aus seiner wundersamen Verwandlung, aus diesem großen roten Heidekrautbusch zu meinen Füßen. Oder sollte es doch nicht das Unglück gewesen sein? Ich weiß es nicht. So jedenfalls ging es zu:

Ich fuhr im Herbst – aber ich muß erst von mir und dem Herbste berichten. Ich muß erst sagen, daß der Herbst die größere Seligkeit ist. Die ewige steht arm neben ihr. Wie kann man ein Glück auskosten, von dem man weiß, daß es morgen und alle Tage sein wird? Die Seligkeit des Herbstes ist so: Du gehst durch eine Luft, die unendlich ist, du atmest sie ein und sie verbindet dich noch mit den fernen und violetten Gipfeln. Sie trägt die Atome deines Leibes in sich, sie hat sich in dich ergossen und schwellt dich mit sich ins Unermeßliche. Du reichst bis an die gläserne Bläue des Himmels, Kaskaden des Lichtes durchströmen dich, die unerhörte Farbe des Laubes rinnt durch dein Blut, du schmeckst die weite Leere des Feldes und den fern aufsteigenden Rauch der Kartoffelfeuer, hörst noch den Laut der Okarina, die ein Hirt auf einsamer Weide seinen Kühen vorklagt, du preist das Leben, das Leben, du bist erschüttert von Leben, oh, und du atmest doch rings schon die ungeheure Wollust der Verwesung [111] in dir, um dich: den Tod; aber du lebst, aber du lebst, nur jetzt, nur diesen Augenblick gewiß...

Aber ich wollte vom Unglück erzählen, wie es mich belauerte in einem Erikabusch, er war rot und betörend. Ich bin ein einsamer Mensch und ein Heide: ich konnte niemals niederknien und anbeten, wunschlos verehrend. Was mich berauscht, das will ich mir gesellen, daß meine Einsamkeit sich in der Liebe betäube. Ich wünsche zu sein, was mich entflammt: dieser Herbst, zum Beispiel, als Kind spürte ich ihn wie heut. Ich wäre gern ein Blatt gewesen, ein rot und gelbes Blatt. Ich wäre ebenso sanft geschaukelt in Kreisen zur Erde geglitten; wie schwer mein Körper, da er nur fallen konnte. Und weil er traurig war und seiner schwerfälligen Nüchternheit sich schämte, webte ich ihm aus Ahornblättern, aneinandergeheftet mit den Nadeln der Kiefer, ein buntes Gewand, ein schleppendes Gewand aus hundert bunten Blättern: so ward ich, kindlich, der Herbst. So ging ich als Kind über die leere Wiese, eingehüllt in Herbst, überschüttet von Herbst, sollte ich heute nicht die Hand ausstrecken dürfen nach diesem kleinen Blütenbusch zu meinen Füßen?

Aber ich sagte schon, daß ich fuhr. Ich stand auf der Plattform des Zuges, weil diese Luft, die unendlich ist und dich noch mit den fernen und violetten Gipfeln verbindet, weil du sie hast, nur jetzt, nur diesen Augenblick gewiß...

Ich weiß nicht, warum der Zug gerade an dieser Stelle hielt. Es mochte die Gewalt des Unglücks sein, das mich zu treffen suchte und das ihn zwang, hier plötzlich stehen zu bleiben, wo der Erikastrauch zwischen den Steinen [112] wuchs. Ich konnte keinen andern Grund für diesen Aufenthalt entdecken. Die Gegend war einsam und unbewohnt; es zog sich ein Nadelwald die eine Seite des Bahndamms entlang; er stand ernst und unbewegt wie im Sommer, er wußte gar nichts vom Herbst. Dicht aber zu meinen Füßen – ich brauchte mich nur zu bücken – blühte die Erika, blühte sie brennend rot und betörend. Es war nur ein einzelner Busch, der, wohl als Same hierher verweht, zwischen den spitzen Steinen die Wurzeln zur Erde senkte, doch er verströmte die Röte einer unendlichen Heide. Er war vollendet; ich glaubte, niemals schönere Blüten gesehen zu haben, der betäubende Duft des Honigs schwebte zu mir empor.

Meine Seele erzitterte. Treulos verstieß sie die zahllosen Wünsche ihrer Sehnsucht und klammerte sich an einen einzigen: an die Begierde nach dieser Blüte. Was blieb meinem Leib, meinen bestürzten Gliedern übrig, als der Versuch, ihre Lust zu stillen?

Der Zug stand. Ich schlug das eiserne Schutzgitter hoch; ich begann die Treppe hinabzusteigen. Auf der untersten Stufe beugte ich mich hinaus und streckte die Hände aus. Da war es, daß ich das Unglück sah. Mitten in dem traumhaft schönen Strauß dieser Blüten öffnete es ein wenig sein weißliches Lid. Mag sein, daß es ein Stein war, der, geformt wie ein gestorbenes Auge, mich schreckte: ich sah meine Hände zermalmt, meine Füße verblutend, meinen Atem in seufzendem Kreis entschweben – ich griff nach der Stange, zitternd, zog mich empor, stand oben, gerettet, wie vorher: der Zug hielt, die Erika blühte zu meinen Füßen.

[113] Und so stehe ich nun in dieser Luft, die unendlich ist, ich atme sie ein und sie verbindet mich noch mit den fernen und violetten Gipfeln. Sie trägt die Atome meines Leibes in sich, sie hat sich in mich ergossen, sie schwellt mich mit sich ins Unermeßliche. Ich reiche bis an die gläserne Bläue des Himmels, Kaskaden des Lichts durchströmen mich, ach, und ich begehre nichts, als was meine Hände beinah erreichen könnten: diese Handvoll Blüten zu meinen Füßen.

Aber ich beuge mich nicht mehr, seht, und der Zug hält noch immer. Ich stehe und sehe auf diese Blumen, die zu besitzen Seligkeit wäre oder der Tod – da plötzlich nun das Rad, rasch rollend, mich vorüberträgt, weiter in Herbst und fernen Laut der Okarina: wer mag entscheiden, wem ich vorüberging?

[114]

Das Gottesauge

Der Polizeibericht nannte ihn einen Gewerbetreibenden. Aber er hatte die Schlüssel seines kleinen und armseligen Lädchens in der Vorstadt schon vor zwei Jahren einem Nachfolger übergeben und der sie wieder dem seinen; denn es war kein Geschäft zu machen in dieser Gegend zwischen den Filialen der großen und angesehenen Firmen, die so billig waren. So daß, wenn der Sechsundsechzigjährige von der Schlafstelle, die er bei entfernten Verwandten innehatte, die Straße entlang kam, den einen Fuß nicht vom Pflaster erhebend, sondern in einem leise schlurrenden Geräusch vor sich hinschiebend, denn die Kniekehle schmerzte unter einer ständigen Entzündung: daß er da also nicht einmal wußte, wer hinter der Tür mit den von ihm dort einmal angenagelten, nun abgestoßenen Emailschildern, wer hinter dem Ladentisch das Mehl auswog und die Bonbons für zwei oder drei Pfennig in die schmierigen Hände der Kinder schob.

Nicht, daß es ihn allzusehr geschmerzt hätte. Vielleicht, wenn er bei den Verwandten noch etwas mehr zu Hause hätte sein dürfen, wenn nicht das Sofa nur für die Nacht ihm zugestanden wäre, vielleicht hätte er dann noch Zeit gehabt, Kummer darüber zu empfinden, daß ihm der Laden so ganz fremd geworden war. Aber nun gingen seine Sorgen in einer anderen Richtung. War es Winter, so trottete er den öffentlichen Wärmestuben zu und hoffte schon den ganzen Weg auf einen Platz so an der Ecke der [115] Bank, daß er schlafen konnte und niemand es merkte. War es indessen Sommer und es regnete, so ging sein Weg nach einer Bank in der nächsten städtischen Anlage; rund umlief sie den Stamm einer riesigen Buche, die wie ein Dach dem Regen widerstand.

Heute aber entfielen diese Sorgen. Es war Sommer und es regnete nicht: ein Sommermorgen voller Frische. Obwohl es jene Frische war, die trächtig mit der Glut des Mittags ging, empfand er doch sie etwas peinigend und beinahe zudringlich: das Knie schmerzte mehr als gewöhnlich. Er mußte sich auf einer Bank ausruhen, die an der Haltestelle der Straßenbahn errichtet war. Und vielleicht hatte es nun diese Frische doch gut mit ihm gemeint, denn als er ächzend sich wieder erhob, mit einer halbkreisförmigen Bewegung der Hand durch die Luft, da hatte ein junges Mädchen, in dessen blanken Augen der Morgen sich spiegelte, ein Fünfzigpfennigstück in diese Hand gelegt, das allerdings zuerst noch auf den Boden rollte, denn das Knie hatte die Augen genötigt, sich zu schließen. Das junge Mädchen bückte sich; der Alte dankte mit dem gewohnten Wunsche der Vergeltung Gottes.

Als er dann weiterging und ferne die Emailschilder der Ladentür erblickte, verspürte er plötzlich Lust, zu öffnen und einzutreten. Gleichzeitig erschrak er, und der Wunsch erschien ihm als eine große Vermessenheit. Aber – und er vermeinte, nähergekommen, sie über die Straße zu schmecken – unwiderstehlich durchdrangen schon in seiner Vorstellung sich die verschiedenartigsten Gerüche, und er nannte sie alle: Seife, den Leim der Fliegenfänger, Petroleum, Kerzen, Heringe schließlich, und süß dazwischen, [116] wie der ferne Duft einer Blume, der Tee. Das Fünfzigpfennigstück krampfhaft umklammernd trat er ein.

Es roch wie damals und doch waren fremde Gerüche dabei. Die Glocke schrillte im selben Ton. Eine dicke und mürrische Frau erschien; sie fragte nach seinen Wünschen. Er legte das Geldstück auf den Tisch und machte eine unsichere Bewegung. Die Frau legte eine Tafel Schokolade vor ihn hin und strich das Geld in die Kasse.

Da sah er, während sein Blick mechanisch diesen Händen folgte, seine Frau vor sich. Sie war gestorben, kurz ehe er den Laden aufgegeben hatte. Sie war nicht böse zu ihm gewesen; er konnte sich auch nicht erinnern, daß sie gut gewesen war. Er hatte fast nie mehr an sie gedacht, nachdem sie doch einmal begraben war. Aber nun rief diese eine Bewegung sie vor ihn hin, er sah sie ganz deutlich, obwohl er sie so wenig hätte beschreiben können wie damals, als sie lebte; nicht einmal die Farbe ihrer Haare hätte er zu nennen gewußt. Immerhin sah er sie also: er sah sie vor den Kästen und Schiebladen, deren Aufschriften er noch in der richtigen Reihenfolge aufzählen konnte, und all dies, auch der blecherne Ton der Glocke, als es den Laden verließ, all das stimmte ihn nachdenklich und fast ein wenig so wie ein Gespräch mit einem guten alten Bekannten, wenn es einen für ihn gegeben hätte. Und vielleicht um dieses Gespräches willen schlug er den langen Weg zum Friedhof ein.

Er kam an in der großen Hitze des Mittags, betäubt vom Lärm und der Gefahr der Straßenübergänge. Der Schatten, der von den großen Steinen über die Wege fiel, [117] erquickte ihn. Trotzdem war er wohl, als er zuletzt das Grab gefunden hatte, ein grasüberwuchertes Reihengrab weit draußen zwischen Kreuzen, die keinen Schatten gaben, -war er wohl noch verstört und abgewandt, vielleicht auch durch die Vorstellung jenes Gesprächs mit dem Bekannten zärtlicher bewegt, – mag es gewesen sein, wie es nun will: die Witwe Müller, die von dem Grabe ihres Mannes kam, erblickte ihn, wie, über einen Nachbarhügel frevlerisch gebeugt, er dort eines jener zarten und himmelblauen Pflänzchen ausriß, die unterm Namen des Auges Gottes die Armengräber schmücken.

Die Witwe Müller hatte sich an diesem Vormittag ihr Aufgebot bestellt. Das Kind war unterwegs, es mußte alles seine Ordnung haben. Da sie am Friedhof ohnehin vorüberkam, war sie für einen Augenblick auch eingetreten: sie hatte einen Besuch gemacht, eilig und mit schlechtem Gewissen. Sie sah den Diebstahl, und sie winkte aufgeregt dem Wärter, der fern um eine Ecke bog. »Er reißt die Pflanzen aus,« und sie wies auf den Alten. Der stand ein wenig blöd und zitternd mit vorgeschobnem Unterkiefer. Das Gottesauge war ihm aus der Hand gefallen; es leuchtete von dem Grün des Rasenhügels in einem unwahrscheinlich tiefen Blau.

Der Wärter brummte etwas vor sich hin. Er hatte, von der Hitze schlaff, nicht rechte Lust, hier einzugreifen. Aber die Witwe Müller fragte, ob man die Blumen auf die Gräber pflanze, daß sie gestohlen würden. Und obendrein ein Gottesauge.

Der Wärter zog ein Notizbuch und schrieb verdrossen und unleserlich den Namen Friedrich Baumann auf. Der [118] Alte wunderte sich, daß er so hieß, es kam ihm neu vor und beinahe spannend. Die Witwe Müller ging befriedigt fort, er fühlte kurz den Blick ihrer braunen und blanken Augen; er fand, sie hätten Ähnlichkeit mit denen des jungen Mädchens vom Vormittag.

Er fühlte plötzlich in seiner Tasche die Tafel Schokolade und schenkte sie einem Kind, das vor dem Friedhofstor so heftig an ihn rannte, daß er beinahe hingefallen wäre. Er ging und eigentlich dachte er überhaupt nichts mehr: er wußte nicht, was er noch weiter denken sollte, da alles nun verändert war und sich nicht überblicken ließ. So war er schließlich zum Kanal gekommen, der draußen vor der Stadt, den Himmel spiegelnd, blau im tiefen Grün der Wiese lag. Der Anblick war ihm merkwürdig bekannt: er suchte, aber fand, da er sich fallen ließ, nichts mehr als dann im Kniegelenk noch einmal heftig und vertraut den alten Schmerz als eine gute aber doch verspätete Erinnerung.

[119][121]

4. III. 29

Wenn ich Florian etwa zufällig am Vormittag getroffen, ihm die Hand geschüttelt und von der Bedeutung dieses Tages, der Bedeutung des vierten März des Jahres 1929 für ihn gesprochen hätte, ja, aber das war eben im Grund das Unmögliche bei der Geschichte. Denn Florian wußte nichts von dieser Bedeutung, er hatte keine Ahnung davon, ich übrigens ebensowenig, gewiß nicht, wie sollte ich auch. Aber es fiel mir so ein: »Florian,« hätte ich etwa sagen können, »es ist für diese frühe Jahreszeit ein selten schöner und warmer Tag. – Ein seltener Tag, Florian.« – »Selten?« hätte Florian dann gefragt, etwas erstaunt. »Ich kann es durchaus nicht finden. Es ist einer dieser vielen Tage, im Gegenteil, wissen Sie,« aber er lächelt dabei und darum weiß ich, daß es einer der vielen schöneren Tage ist, den er meint. »Sehen Sie,« fährt er fort, »da steht man auf,« und er reckt ein wenig die Arme. Er lächelt wieder mit seinem etwas jungenhaften Lächeln, das ihm gut steht; zwei kleine Mädchen, die vorübergehen, schenken ihm einen zärtlichen Blick. »Man steht auf, man wäscht sich, zieht sich an – es gehört viel Geduld dazu, wenn man weiß, daß man es immer wieder von Neuem tun wird, morgen, übermorgen, immerzu... Man frühstückt, liest die Zeitung, – wer übrigens, glauben Sie, hat Daisy umgebracht?« Und er entwickelt mir eine spitzfindige Vermutung in Zusammenhang mit einem Kriminalroman, der eben im Feuilleton der Zeitung läuft, [121] und den die ganze Stadt mit Hingabe verfolgt. »Ich weiß es nicht, Florian,« sage ich, etwas zu gleichgültig vielleicht, denn er schweigt einen Augenblick enttäuscht. Ich möchte ihm gerne etwas anderes sagen, etwas, das mit dem Datum dieses Tages zusammenhängt. Aber ich fange es denkbar ungeschickt an. Er sieht mir einen Augenblick nachdenklich ins Gesicht. Er denkt, ich sei ein wenig sonderbar, gleichviel; man soll nicht allzu kritisch sein, Mitmenschen gegenüber.

Er schiebt versöhnlich seinen Arm in meinen, er nimmt mich mit, ein Stück seines Weges, denn er ist unterwegs. Er hat noch Zeit, gewiß. Sein Posten auf der Bank ist ihm sicher, Florian füllt ihn aus, er ist wie geschaffen für ihn. Er kann sich auf Grund seiner Tüchtigkeit schon manche kleine Freiheit leisten; es kommt auf eine Stunde nicht an, wenn am Samstag der Zug in die Berge ein wenig vor Büroschluß abgeht.

Er hat mit seinen dreißig Jahren schon allerlei erlebt, Dinge, die man seinem jungenhaften Lächeln nicht zutraut und von denen er umso lieber spricht. Das mangelnde Interesse für Daisy hat er mir schon verziehen. »Meine Frau, sehen Sie,« erklärt er nun, »ich bin furchtbar hereingefallen damals. Sie war vor der Verlobung schon leidend; sie machte sich noch kränker, weil sie gesund erscheinen wollte.« Nun stehen sie in Scheidung, er wird ihr eine kleine Rente zahlen müssen; es wird sich nicht umgehen lassen, so ärgerlich es ist. Denn er will wieder heiraten, natürlich; ich muß sie übrigens damals gesehen haben, blond, in einem blauen Strickkostüm, jawohl. Sie passen glänzend zusammen, gute Familie, frisch und unternehmend[122] – er seufzt, da er sich an die andere erinnert. Aber dann lächelt er schon wieder. Es wird noch eine Weile dauern. Eben der Rente wegen, die das knappe Gehalt noch um ein Drittel kürzt. In drei Jahren hat er die nächste Gehaltsklasse erreicht. Dann wird es möglich sein. Bis dahin eben – und er hebt wieder lächelnd seine Schultern.

»Florian,« sage ich. Ich habe ein Bedürfnis seinen Namen zu nennen, ich finde, während ich ihn ausspreche, daß es ein hübscher Name ist. Er wird sich gut ausnehmen, mit dem Datum zusammen, dem vierten März des Jahres 1929 darunter.... »Florian,« sage ich eindringlich, »wissen Sie, welcher Tag heute ist?«

Nun findet er mich allmählich albern. Er zieht seine Uhr aus der Tasche, eine hübsche goldene Uhr mit einem Sprungdeckel, den er genießerisch aufklappen läßt. »Nun wird es langsam Zeit.« Mit dieser Bemerkung verabschiedet er mich. Er geht seines Weges weiter, um eine Ecke, drei, vier Ecken, ich weiß es nicht, und dann, irgendwo, faßt ihn das Auto und er ist tot.

Er ist tot. Ganz einfach, ganz unwiderruflich tot, Ich habe es in der Zeitung gelesen: »Der Unglückliche war augenblicklich tot.« Und dabei fiel mir dieses Gespräch ein, das ich mit Florian hätte führen können, wenn ich ihm begegnet wäre. Aber vielleicht ist es Florian gar nicht gewesen. Oder, da ich ihn nur sehr oberflächlich kannte, sind seine Umstände, von denen er mir erzählte, andere gewesen? Er war vielleicht verheiratet, glücklich, hatte Kinder? Sparte er auf ein Wochenendhaus und stellte schon eine kleine optimistische Berechnung an? Oder [123] war er schon älter über die Wünsche hinaus, ein wenig griesgrämig und mit Sorgen um sein Alter belastet? Er konnte Ingenieur gewesen sein, Lehrer auch, ein Student vielleicht, den der Gedanke an das Examen erfüllte. Irgend etwas war er gewesen, wenngleich nicht das, was die Zeitung von ihm behauptete: ein Unglücklicher. Wann, in aller Welt, hätte er Zeit dazu gehabt, da er doch augenblicklich tot war?!

Das ist es, Freunde, was mich noch immer Florian nicht vergessen läßt, obwohl wir uns nur oberflächlich kannten: ich spüre dem Begriff des »augenblicklich« nach und fürchte fast, daß auch der Bruchteil eines Augenblickes Länge haben kann. Vielleicht hat er genügt, daß Florian über die Bedeutung dieses Tages sich doch noch hat klar werden können. »Zu spät,« dachte es dann in ihm, »zu spät.« Und vielleicht hat dieser Bruchteil eines Augenblickes ihm noch genügt, sich zu erinnern, daß er mit jemand gesprochen hat, vorhin gesprochen hat, vor einem Augenblick gesprochen hat – er wird mit keinem guten Gedanken an diesen Menschen denken, wenn schon er nicht mehr finden kann, warum.

Ich bin es nicht gewesen, Florian, der dir auf deinem Weg begegnete. Und wenn ich dich getroffen hätte, konnte ich eine Ahnung von deinem Schicksal haben, dem Schicksal, dem du so ahnungslos entgegengingst, daß du um Daisys willen dich noch in eine spitzfindige Betrachtung eingelassen hast? Ach, es lag kein Betrug in meinen Augen, Florian, als sie dein sorgloses Gesicht ansahen. Ich bin kein Hellseher, Florian.

Und wenn, und wenn, – was hätte ich dir sagen sollen?...

[124]

Der Dichter
Eine Legende

Es war einmal ein junger Mann, der fühlte in sich die Kraft, ein großer und göttlicher Dichter zu werden. Er war sehr glücklich über dieses Bewußtsein und pflegte und hütete es wie einen Schatz. Wie hat mich Gott gesegnet, dachte er; meine Eltern haben in Armut und Sorge für das Tägliche um meinetwillen ihr Leben verbracht. Wie will ich ihren Abend verschönern mit dem Glanz meiner Lieder und der tieferen Weisheit dessen, was Gott mir zu sagen gebieten wird, wenn es Zeit ist. – Aber die Zeit verging und Gott gebot nicht. Die Eltern starben in Armut und Dunkel, wie sie gelebt hatten.

Der junge Mann, der Dichter, – aber eigentlich war er nun nicht mehr ganz jung und eigentlich noch kein Dichter – begegnete einem Mädchen, in das er sich verliebte. Er fand es schöner als alle andern Geschöpfe dieser Welt. Er liebte noch den Schatten, den ihre langen Wimpern über die Blässe ihrer Wange warfen, und küßte den Abdruck ihrer Zehen im Sande. Wie hat mich Gott gesegnet, dachte er, daß ich dem Mädchen sagen darf, was für ein Wunder an Schönheit die kleine Muschel seines Ohres ist. Ich werde reicher sein als alle Liebenden, wenn Gott mir nur erlauben wird, meine ganze Liebe zu sagen. – Aber Gott erlaubte es nicht. Das schöne Mädchen wurde seiner überdrüssig und nahm einen andern Freund, der viele Frauen hatte.

[125] Der Mann, der nicht mehr jung und auch kein Dichter war, geriet im Kampfe in Gefangenschaft und ihn erwartete ein qualenvoller Tod. Ein Mitgefangener, ein Spielgefährte seiner frühsten Jugend, war entronnen. Er kehrte nachts zurück, ermordete die Wächter und floh mit ihm. Der Mann war seines Lebens müde und vor den Anstrengungen des Weges graute ihn. Aber der Freund nahm ihn auf seine Schultern und schleppte ihn. Er pflegte ihn, als er erkrankte, und schließlich, als kurz vor der Heimkehr ein Überfall auf sie geschah, starb er für ihn. Der Mann verfiel in lange Schwermut und tiefe Trauer; als er sie überwunden hatte, dachte er: wie glücklich bin ich doch trotz alledem, daß ich das Opfer, das mein Freund mit seinem Leben für mich brachte, unvergänglich machen darf. Ich werde ihm einen Bruchteil seiner Güte vergelten können, wenn Gott es mir gestatten wird, den Edelmut und die Treue seines Lebens zu besingen. – Aber Gott gestattete es nicht und die Menschen vergaßen die Tat des Freundes.

Der Mann besaß auch einen Sohn, den er liebte. Bei seiner Rückkehr fand er von ihm sein Gut verschleudert und seinen Namen entehrt. Ihn selbst traf er im Kreise von Verbrechern und Dirnen, als er gegangen war, um ihn zur Rede zu stellen. Der Sohn verhöhnte ihn vor den Augen seiner Kumpane und als der Vater ihm fluchte, schlug er mit einem Schemel ihn zu Boden. Der Mann, der nun ein Krüppel war, denn der Schlag hatte ihn eines Armes beraubt, dachte, als er vom langen Lager mühsam sich erhob: wie glücklich bin ich doch trotz alledem, daß mir gegeben sein wird, diese ruchlose Tat vor aller Menschen [126] Angesicht zu stellen. Ich werde sie zum ewigen Abscheu erhöhen, daß sie ein Gleichnis werde für alle Sünden und allen Undank, die an Vätern geschehen; wenn Gott mir nur die Stimme geben will, die Stimme um diese Tat zu sagen. – Aber Gott gab sie ihm nicht. Der Sohn hatte Glück im Spiel, gewann eine reiche Frau; er kaufte sich ein Haus, trieb Handel; er wurde reich und geehrt und man vergaß seine Verbrechen.

Der Mann geriet in die Gefahr, seiner unsterblichen Seele verlustig zu gehen. Er stand im Begriff, sich von dem Pfade der Wanderung in den ewigen Abgrund des Ungestalteten zu stürzen, da ließ Gott ein Wunder geschehen um ihn zu retten. Er stand und sprach ein Dankgebet: wie glücklich bin ich, daß ich Gott werde danken können für dieses Wunder, das er an mir getan hat. Ich werde seine unendliche Güte preisen mit Worten, daß die Menschen voll Reue zu ihm zurückkehren. Mit der Dankbarkeit meiner geretteten Seele will ich, solang ich lebe, sein Verkünder sein, wenn Gott mir nur zu sagen erlaubt, welch großes Wunder er an mir getan hat. – Aber Gott erlaubte es nicht.

Der Mann war ein alter Mann geworden, der keinen mehr und den keiner mehr kannte; stumm wohnte ihm der Mund hinter dem weißen Bart. Er dachte nicht mehr an die Hoffnung seiner frühern Jahre; er wußte nicht, warum er noch ein Lied hätte dichten sollen, da niemand mehr war, dem zu Lust oder Leid es hätte geschehen können. An einem Abend aber überkam ihn die Erinnerung: er dachte an seine Eltern, das harte Leben, von dem sie ausruhten in ihrem Grab. Er dachte an das Mädchen, wie [127] zart das Blut die kleine Muschel seines Ohrs durchschimmert hatte. Er dachte auch an seinen Freund, wie er in einem Kampf voll Heldentum für ihn gefallen war. Er dachte noch an seinen Sohn, der lebte, irgendwo, reich war und Handel trieb; er dachte auch an Gott, der seine Seele gerettet hatte. Doch es erschien ihm alles seltsam fremd, nicht wie sein eignes Leben, wie vieler Fern-Gekannter Leben erschien es ihm. Wie vieler Fern-Gekannter stummes Leben, das nach ihm griff, das ihn erfüllte, dunkel aus ihm brach:

Er sang. Sang sinnlos namenloses Schicksal, seines einst, doch nun verloren, abgelegt wie ein vertragnes Kleid. Menschen hörten ihn singen, blieben stehn, erschracken: »Unser Schicksal,« flüsterten sie; »unser Schicksal, von dem er singt...«

Er sang. Und die ihn hörten, bewahrten sein Lied, trugen hin in die Weite sein Lied, sein unsterbliches Lied. Er wußte es nicht. Er kannte es nicht einmal mehr, als es ihm wiederkehrte, gesungen irgendwo. Er saß, den Kopf in seine Hand gestützt, erschüttert, der Wünsche seiner Jugend einmal noch demütig und entsagend eingedenk.


Notes
Entstehungszeit unbekannt (nach 1920). Erstdruck in: Gesammelte Dichtungen. Pasing bei München (Heinrich F. S. Bachmair) 1932.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Weissmann, Maria Luise. Skizzen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-9B22-4