[9] Überflüssiger Gedancken erstes Dutzent

1. Thränen der Jungferschafft

1.
Susser Gifft verliebter Hertzen,
Schwaches Werck-Zeug voller Krafft,
Werthes Ziel der keuschen Schmertzen,
Du berühmte Jungferschafft!
Freylich gehet deine Zier
Allen schönen Sachen für.
2.
Wie die Rosen in dem Meyen
Ihre bleiche Lieblichkeit
Niemals schöner von sich streuen,
Als wenn ihre Sicherheit
Vnberührt und unbefleckt
In dem grünen Stocke steckt.
3.
Also muß man dich erheben,
Weil du keiner fremden Hand
Dich zum Raube wilst ergeben,
Sondern das beliebte Pfand
Aller Ruh und Lebens-Rast
An der süssen Freyheit hast.
4.
Du ergetzst dich an der Jugend,
Bist also an dir vergnügt,
Und gebrauchst dich deiner Tugend,
Welche dir im Hertzen liegt,
Da sie auch die beste Frucht,
An der Zarten Keuschheit sucht.
5.
Doch wie lange kan es wären?
Endlich muß die Jugend sich
Durch den schnellen Lauff verzehren,
Oder es beruffet dich
Liebe, Lust und Eitelkeit
In der Tugend Wettestreit.
6.
Wil man bey den Aepffelbäumen
Zu der lust spatzieren gehn,
Darff man nicht die Zeit versäumen
[10]
Wann sie in der Blüte stehn,
Eh der Gärtner nach der Saat
Auch die Frucht gebrochen hat.
7.
Und soll dann der schönen Wangen
Halbvermischtes Milch und Blut
Gantz und gar vergebens prangen,
Wie ein saurer Apffel thut,
Welcher nicht so wohl den Zahn
Als das Aug ergetzen kan?
8.
Wein und Bier wird ja zum trincken
Nicht zum Ansehn auffgesetzt,
Und was nutzt ein guter Schincken
Wann er nicht den Mund ergetzt?
Solte denn der Jugend Schein
Auch nicht etwas nütze seyn?
9.
Freylich pflantzt die Zeuge-Mutter
Dir was heimlichs in die Brust,
Daß du dich nach frembden Futter
Höchst-begierig sehnen must,
Vnd da fehlt dir manche Krafft
O du arme Jungferschafft!
10.
Wie manch schönes Nest voll Eyer
Unter Frost und Kälte steht,
Biß das angenehme Feuer
Frembder Brüt darüber geht;
Also ist es umb den Stand,
Den du führest, auch bewandt.
11.
Manches Schäfgen trägt die Schwere
Seiner Wollen mit Verdruß,
Weil es auff des Schäfers Schere
Gar zu lange warten muß:
Manche Rose krümmt den Stiel,
Weil sie niemand brechen wil.
12.
Gute Nacht du leere Schüssel,
O du Leuchter ohne Liecht!
Festes Schloß, doch sonder Schlüssel,
Gute Wag und kein Gewicht,
Ach wiewohl ist die daran
Die beyzeiten freyen kan!

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Weise, Christian. Gedichte. Der grünenden Jugend überflüssige Gedanken. Überflüssiger Gedancken erstes Dutzent. 1. Thränen der Jungferschafft. 1. Thränen der Jungferschafft. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-983E-F