Frank Wedekind
Der Marquis von Keith
Schauspiel in fünf Aufzügen

[430]

Personen

Personen.

    • Konsul Casimir, Großkaufmann.

    • Hermann Casimir, sein Sohn (15 Jahre alt, von einem Mädchen gespielt).

    • Der Marquis von Keith.

    • Ernst Scholz.

    • Molly Griesinger.

    • Anna, verwitwete Gräfin Werdenfels.

    • Saranieff, Kunstmaler.

    • Zamrjaki, Komponist.

    • Sommersberg, Literat.

    • Raspe, Kriminalkommissar.

    • Ostermeier, Bierbrauereibesitzer.

    • Krenzl, Baumeister.

    • Grandauer, Restaurateur.

    • Frau Ostermeier.

    • Frau Krenzl.

    • Freifrau von Rosenkron,
    • Freifrau von Totleben, geschiedene Frauen.

    • Sascha (von einem Mädchen gespielt).

    • Simba.

    • Ein Metzgerknecht.

    • Ein Bäckerweib.

    • Ein Packträger.

    • Hofbräuhausgäste.

1. Akt

Erster Aufzug

Ein Arbeitszimmer, dessen Wände mit Bildern behängt sind. In der Hinterwand befindet sich rechts rechts und links immer vom Schauspieler aus die Tür zum Vorplatz und links die Tür zu einem Wartezimmer. In der rechten Seitenwand vorn führt eine Tür ins Wohnzimmer. An der linken Seitenwand vorn steht der Schreibtisch, auf dem aufgerollte Pläne liegen; neben dem Schreibtisch an der Wand ein Telefon. Rechts vorn ein Diwan, davor ein kleinerer Tisch; in der Mitte, etwas nach hinten, ein größerer Tisch. Büchergestelle mit Büchern; Musikinstrumente, Aktenbündel und Noten.
Der Marquis von Keith sitzt am Schreibtisch, in einen der Pläne vertieft. Er ist ein Mann von ca. 27 Jahren: mittelgroß, schlank und knochig; er hätte eine musterhafte Figur, wenn er nicht auf dem linken Beine hinkte. Seine markigen Gesichtszüge sind nervös und haben zugleich etwas Hartes, stechende graue Augen, kleiner blonder Schnurrbart, das widerborstige, kurze, strohblonde Haar sorgfältig in der Mitte gescheitelt. Er ist in ausgesuchte gesellschaftliche Eleganz gekleidet, aber nicht geckenhaft. Er hat die groben roten Hände eines Clown.
Molly Griesinger kommt aus dem Wohnzimmer und
setzt eine gedeckte Tablette auf das Tischchen vor dem Diwan. Sie ist ein unscheinbares brünettes Wesen, etwas scheu und verhetzt, in unscheinbarer häuslicher Kleidung, hat aber große, schwarze, seelenvolle Augen.

MOLLY.

So, mein Schatz, hier hast du Tee und Kaviar und kalten Aufschnitt. Du bist ja heute schon um neun Uhr aufgestanden.

VON KEITH
ohne sich zu rühren.
Ich danke dir, mein liebes Kind.
MOLLY.

Du mußt gewaltig hungrig sein. Hast du denn jetzt Nachricht darüber, ob der Feenpalast auch zustande kommt?

VON KEITH.
Du siehst, ich bin mitten in der Arbeit.
[431]
MOLLY.

Das bist du ja immer, wenn ich komme. Dann muß ich alles, was dich und deine Unternehmungen betrifft, von deinen Freundinnen erfahren.

VON KEITH
sich im Sessel umwendend.

Ich kannte eine Frau, die sich beide Ohren zuhielt, wenn ich von Plänen sprach. Sie sagte: Komm und erzähl mir, wenn du etwas getan hast!

MOLLY.

Das ist ja mein Elend, daß du schon alle Arten von Frauen gekannt hast. Da es klingelt. Du barmherziger Gott, wer das wieder sein mag! Sie geht auf den Vorplatz hinaus, um zu öffnen.

VON KEITH
für sich.
Das Unglückswurm!
MOLLY
kommt mit einer Karte zurück.
Ein junger Herr, der dich sprechen möchte. Ich sagte, du seist mitten in der Arbeit.
VON KEITH
nachdem er die Karte gelesen.
Der kommt mir wie gerufen!

Molly läßt Hermann Casimir eintreten und geht ins Wohnzimmer ab.
HERMANN CASIMIR
ein fünfzehnjähriger Gymnasiast in sehr elegantem Radfahrkostüm.
Guten Morgen, Herr Baron.
VON KEITH.
Was bringen Sie mir?
HERMANN.

Es ist wohl am besten, wenn ich mit der Tür ins Haus falle. Ich war gestern abend mit Saranieff und Zamrjaki im Café Luitpold zusammen. Ich erzählte, daß ich durchaus hundert Mark nötig hätte. Darauf meinte Saranieff, ich möchte mich an Sie wenden.

VON KEITH.
Ganz München hält mich für einen amerikanischen Eisenbahnkönig!
HERMANN.
Zamrjaki sagte, Sie hätten immer Geld.
VON KEITH.

Zamrjaki unterstütze ich, weil er das größte musikalische Genie ist, das seit Richard Wagner lebt. Aber diese Straßenräuber sind doch wohl kein schicklicher Umgang für Sie!

HERMANN.

Ich finde diese Straßenräuber interessant. Ich kenne die Herren von einer Versammlung der Anarchisten her.

VON KEITH.

Ihrem Vater muß es eine erfreuliche Überraschung sein, daß Sie Ihren Lebensweg damit beginnen, sich in revolutionären Versammlungen herumzutreiben.

[432]
HERMANN.
Warum läßt mich mein Vater nicht von München fort!
VON KEITH.
Weil Sie für die große Welt noch zu jung sind!
HERMANN.

Ich finde aber, daß man in meinem Alter unendlich mehr lernen kann, wenn man wirklich etwas erlebt, als wenn man bis zur Großjährigkeit auf der Schulbank herumrutscht.

VON KEITH.

Durch das wirkliche Erleben verlieren Sie nur die Fähigkeiten, die Sie in Ihrem Fleisch und Blut mit auf die Welt gebracht haben. Das gilt ganz speziell von Ihnen, dem Sohn und einstigen Erben unseres größten deutschen Finanzgenies. – Was sagt denn Ihr Vater über mich?

HERMANN.
Mein Vater spricht überhaupt nicht mit mir.
VON KEITH.
Aber mit andern spricht er.
HERMANN.
Möglich! Ich bin die wenigste Zeit zu Hause.
VON KEITH.

Daran tun Sie unrecht. Ich habe die finanziellen Operationen Ihres Vaters von Amerika aus verfolgt. Ihr Vater hält es nur für gänzlich ausgeschlossen, daß irgend jemand anders auch noch so klug ist wie er. Deshalb weigert er sich auch bis jetzt noch so starrköpfig, meinem Unternehmen beizutreten.

HERMANN.

Ich kann es mir mit dem besten Willen nicht denken, wie ich einmal an einem Leben, wie es mein Vater führt, Gefallen finden könnte.

VON KEITH.
Ihrem Vater fehlt einfach die Fähigkeit, Sie für seinen Beruf zu interessieren.
HERMANN.

Es handelt sich in dieser Welt aber doch nicht darum, daß man lebt, sondern es handelt sich doch wohl darum, daß man das Leben und die Welt kennenlernt.

VON KEITH.

Der Vorsatz, die Welt kennenzulernen, führt Sie dazu, hinterm Zaun zu verenden. Prägen Sie sich vor allen Dingen die allergrößte Hochschätzung für die Verhältnisse ein, in denen Sie geboren sind! Das schützt Sie davor, sich so leichten Herzens zu erniedrigen.

HERMANN.
Durch meinen Pumpversuch, meinen Sie? Es gibt doch wohl aber höhere Güter als Reichtum!
VON KEITH.

Das ist Schulweisheit. Diese Güter heißen nur deshalb höhere, weil sie aus dem Besitz hervorwachsen und nur durch den Besitz ermöglicht werden. Ihnen steht es ja [433] frei, nachdem Ihr Vater ein Vermögen gemacht hat, sich einer künstlerischen oder wissenschaftlichen Lebensaufgabe zu widmen. Wenn Sie sich dabei aber über das erste Weltprinzip hinwegsetzen, dann jagen Sie Ihr Erbe Hochstaplern in den Rachen.

HERMANN.
Wenn Jesus Christus nach diesem Weltprinzip hätte handeln wollen ...!
VON KEITH.

Vergessen Sie bitte nicht, daß das Christentum zwei Drittel der Menschheit aus der Sklaverei befreit hat! Es gibt keine Ideen, seien sie sozialer, wissenschaftlicher oder künstlerischer Art, die irgend etwas anderes als Hab und Gut zum Gegenstand hätten. Die Anarchisten sind deshalb ihre geschworenen Feinde. Und glauben Sie ja nicht, daß sich die Welt hierin jemals ändert. Der Mensch wird abgerichtet oder er wird hingerichtet. Hat sich an den Schreibtisch gesetzt. Ich will Ihnen die hundert Mark geben. Zeigen Sie sich doch auch mal bei mir, wenn Sie gerade kein Geld nötig haben. Wie lange ist es jetzt her, daß Ihre Mutter starb?

HERMANN.
Drei Jahre werden es im Frühling.
VON KEITH
gibt ihm ein verschlossenes Billett.

Sie müssen damit zur Gräfin Werdenfels gehen, Briennerstraße Nr. 23. Sagen Sie einen schönen Gruß von mir. Ich habe heute zufällig nichts in der Tasche.

HERMANN.
Ich danke Ihnen, Herr Baron.
VON KEITH
geleitet ihn hinaus; indem er die Tür hinter ihm schließt.

Bitte, war mir sehr angenehm. – Darauf kehrt er zum Schreibtisch zurück; in den Plänen kramend. Sein Alter traktiert mich wie einen Hundefänger. – – Ich muß möglichst bald ein Konzert veranstalten. – Dann zwingt ihn die öffentliche Meinung, sich meinem Unternehmen anzuschließen. Im schlimmsten Fall muß es auch ohne ihn gehen. – – Da es klopft. Herein!


Anna, verwitwete Gräfin Werdenfels, tritt ein. Sie ist eine üppige Schönheit von dreißig Jahren. Weiße Haut, Stumpfnase, helle Augen, kastanienbraunes, üppiges Haar.
[434]
VON KEITH
geht ihr entgegen.
Da bist du, meine Königin! – Ich schickte eben den jungen Casimir mit einem kleinen Anliegen zu dir.
ANNA.
Das war der junge Herr Casimir?
VON KEITH
nachdem er ihr flüchtig die dargereichten Lippen geküßt.
Er kommt schon wieder, wenn er dich nicht zu Hause trifft.
ANNA.
Der sieht seinem Vater aber gar nicht ähnlich.
VON KEITH.

Lassen wir den Vater Vater sein. Ich habe mich jetzt an Leute gewandt, von deren gesellschaftlichem Ehrgeiz ich mir eine flammende Begeisterung für mein Unternehmen verspreche.

ANNA.

Aber vom alten Casimir heißt es allgemein, daß er junge Schauspielerinnen und Sängerinnen unterstützt.

VON KEITH
Anna mit den Blicken verschlingend.

Anna, sobald ich dich vor mir sehe, bin ich ein anderer Mensch, als wärst du meines Glückes lebendiges Unterpfand. – Aber willst du nicht frühstücken? Hier ist Tee und Kaviar und kalter Aufschnitt.

ANNA
nimmt auf dem Diwan Platz und frühstückt.

Ich habe um elf Uhr Stunde. Ich komme nur auf einen Moment. – Die Bianchi sagt mir, ich könne in einem Jahr die erste Wagnersängerin Deutschlands sein.

VON KEITH
zündet sich eine Zigarette an.

Vielleicht bist du auch in einem Jahr schon so weit, daß sich die ersten Wagnersängerinnen um deine Protektion bemühen.

ANNA.

Mir soll's recht sein. Mit meinem beschränkten weiblichen Verstande sehe ich allerdings nicht ein, auf welche Weise es mit mir gleich so hoch hinaus soll.

VON KEITH.

Das kann ich dir im voraus auch nicht erklären. Ich lasse mich einfach willenlos treiben, bis ich an ein Gestade gelange, auf dem ich mich heimisch genug fühle, um mir zu sagen: Hier laßt uns Hütten bauen!

ANNA.

Dabei hast du in mir jedenfalls den treusten Spießgesellen. Ich habe seit einiger Zeit vor lauter Lebenslust manchmal Selbstmordgedanken.

VON KEITH.

Der eine raubt es sich und der andere bekommt es geschenkt. Als ich in die Welt hinauskam, war mein kühnstes Hoffen, irgendwo in Oberschlesien als Dorfschulmeister zu sterben.

[435]
ANNA.
Du hättest dir damals wohl schwerlich träumen lassen, daß dir München einmal zu Füßen liegen werde.
VON KEITH.

München war mir aus der Geographiestunde bekannt. Wenn ich mich deshalb heute auch nicht gerade eines makellosen Rufes erfreue, so darf man nicht vergessen, aus welchen Tiefen ich heraufkomme.

ANNA.

Ich bete jeden Abend inbrünstig zu Gott, daß er etwas von deiner bewundernswürdigen Energie auf mich übertragen möge.

VON KEITH.
Unsinn, ich habe gar keine Energie.
ANNA.
Dir ist es aber doch einfach Lebensbedürfnis, mit dem Kopf durch die Wände zu rennen.
VON KEITH.

Meine Begabung beschränkt sich auf die leidige Tatsache, daß ich in bürgerlicher Atmosphäre nicht atmen kann. Mag ich deshalb auch erreichen, was ich will, ich werde mir nie das geringste darauf einbilden. Andere Menschen werden in ein bestimmtes Niveau hineingepflanzt, auf dem sie ihr Leben lang fortvegetieren, ohne mit der Welt in Konflikt zu geraten.

ANNA.
Du bist dagegen als abgeschlossene Persönlichkeit vom Himmel gefallen.
VON KEITH.

Ich bin Bastard. Mein Vater war ein geistig sehr hochstehender Mensch, besonders was Mathematik und so exakte Dinge betrifft, und meine Mutter war Zigeunerin.

ANNA.

Wenn ich nur wenigstens deine Geschicklichkeit hätte, den Menschen ihre Geheimnisse vom Gesicht abzulesen! Dann wollte ich ihnen mit der Fußspitze die Nase in die Erde drücken.

VON KEITH.

Solche Fertigkeiten erwecken mehr Mißtrauen, als sie einem nützen. Deshalb hegt auch die bürgerliche Gesellschaft, seit ich auf dieser Welt bin, ein geheimes Grauen vor mir. Aber diese bürgerliche Gesellschaft macht, ohne es zu wollen, mein Glück durch ihre Zurückhaltung. Je höher ich gelange, desto vertrauensvoller kommt man mir entgegen. Ich warte auch tatsächlich nur noch auf diejenige Region, in der die Kreuzung von Philosoph und Pferdedieb ihrem vollen Wert entsprechend gewürdigt wird.

ANNA.
Man hört wirklich in der ganzen Stadt von nichts mehr sprechen, als von deinem Feenpalast.
[436]
VON KEITH.

Der Feenpalast dient mir nur als Sammelplatz meiner Kräfte. Dazu kenne ich mich viel zu gut, um etwa von mir vorauszusetzen, daß ich nun Zeit meines Lebens Kassenrapporte revidieren werde.

ANNA.

Was soll denn dann aber aus mir werden. Glaubst du vielleicht, ich habe Lust, bis in alle Ewigkeit Gesangsunterricht zu nehmen? Du sagtest gestern noch, daß der Feenpalast speziell für mich gebaut werde.

VON KEITH.

Aber doch gewiß nicht, damit du bis an dein Lebensende auf den Hinterpfoten tanzst und dich von Preßbengeln kuranzen läßt. Du hast nur etwas mehr Lichtpunkte in deiner Vergangenheit nötig.

ANNA.
Einen Stammbaum kann ich allerdings nicht aufweisen, wie die Frauen von Rosenkron und von Totleben.
VON KEITH.
Deshalb brauchst du noch auf keine von beiden eifersüchtig zu sein.
ANNA.

Das hoffe ich sehr! Welcher weiblichen Vorzüge wegen sollte ich denn auch auf irgendeine Frau eifersüchtig sein?

VON KEITH.

Ich mußte die beiden Damen als Vermächtnis meines Vorgängers mit der Konzertagentur übernehmen. Sobald ich meine Stellung befestigt habe, mögen sie mit Rettichen hausieren oder Novellen schreiben, wenn sie leben wollen.

ANNA.

Ich bin um die Schnürstiefel, in denen ich spazierengehe, besorgter, als um deine Liebe zu mir. Weißt du auch, warum? Weil du der rücksichtsloseste Mensch bist und weil du nach nichts anderem in dieser Welt als nur nach deinem sinnlichen Vergnügen fragst! Deshalb würde ich auch, wenn du mich verläßt, wirklich nichts anderes als Mitleid mit dir empfinden können. Aber sieh dich vor, daß du nicht vorher selber verlassen wirst!

VON KEITH
Anna liebkosend.

Ich habe ein wechselvolles Leben hinter mir, aber jetzt denke ich doch ernstlich daran, mir ein Haus zu bauen; ein Haus mit möglichst hohen Gemächern, mit Park und Freitreppe. Die Bettler dürfen auch nicht fehlen, die die Auffahrt garnieren. Mit der Vergangenheit habe ich abgeschlossen und sehne mich nicht zurück. Dazu ging es zu oft um Leben und [437] Tod. Ich möchte keinem Freunde raten, sich meine Laufbahn zum Muster zu nehmen.

ANNA.
Du bist allerdings nicht umzubringen.
VON KEITH.

Dieser Eigenschaft verdanke ich in der Tat auch so ziemlich alles, was ich bis jetzt erreicht habe. – Ich glaube, Anna, wenn wir beide in zwei verschiedenen Welten geboren wären, wir hätten uns dennoch finden müssen.

ANNA.
Ich bin allerdings auch nicht umzubringen.
VON KEITH.

Wenn uns die Vorsehung auch nicht durch unsere märchenhaften Geschmacksverwandtschaften füreinander bestimmt hätte, das eine haben wir doch jedenfalls miteinander gemein ...

ANNA.
Eine unverwüstliche Gesundheit.
VON KEITH
setzt sich neben sie und liebkost sie.

Soweit es Frauen betrifft, sind mir nämlich Klugheit, Gesundheit, Sinnlichkeit und Schönheit unzertrennliche Begriffe, aus deren jedem sich die andern drei von selbst ergeben. Wenn dieses Erbteil sich in unsern Kindern potenziert ...


Sascha, ein dreizehnjähriger Laufbursche in galoniertem Jackett und Kniehosen, tritt vom Vorplatz ein und legt einen Armvoll Zeitungen auf den Mitteltisch.
VON KEITH.
Was sagt der Kommerzienrat Ostermeier?
SASCHA.
Der Herr Kommerzienrat gaben mir einen Brief mit. Er liegt bei den Zeitungen.

Geht in das Wartezimmer ab.
VON KEITH
hat den Brief geöffnet.

Das danke ich dem Zufall, daß du bei mir bist! Liest. »... Ich habe mir von Ihrem Plane schon mehrfach erzählen lassen und bringe ihm ein lebhaftes Interesse entgegen. Sie treffen mich heute mittag gegen zwölf Uhr im Café Maximilian ...« Das gibt mir die Welt in die Hände! Jetzt kann der alte Casimir meine Rückseite besehen, wenn er noch mitkommen will. Mit diesen Biedermännern im Bunde bleibt mir auch meine Alleinherrschaft unangetastet.

ANNA
hat sich erhoben.
Kannst du mir tausend Mark geben?
VON KEITH.
Bist du denn schon wieder auf dem trocknen?
ANNA.
Die Miete ist fällig.
VON KEITH.
Das hat bis morgen Zeit. Mache dir deswegen nicht die geringste Sorge darum.
[438]
ANNA.

Wie du meinst. Graf Werdenfels prophezeite mir auf seinem Sterbebette, ich werde das Leben noch einmal von der allerernstesten Seite kennenlernen.

VON KEITH.
Hätte er dich etwas richtiger eingeschätzt, dann wäre er vielleicht sogar selbst noch am Leben.
ANNA.
Bis jetzt hat sich seine Prophezeiung noch nicht bewahrheitet.
VON KEITH.
Ich schicke dir das Geld morgen mittag.
ANNA
während von Keith sie hinausgeleitet.
Nein, bitte nicht; ich komme selber und hole es.

Die Szene bleibt einen Augenblick leer. Dann kommt Molly Griesinger aus dem Wohnzimmer und räumt das Teegeschirr zusammen. von Keith kommt vom Vorplatz zurück.
VON KEITH
ruft.

Sascha! – Nimmt eines der Bilder von der Wand. Das muß mir über die nächsten vierzehn Tage hinweghelfen!

MOLLY.
Du hoffst also immer noch, daß die Wirtschaft so fortgehen kann?
SASCHA
kommt aus dem Wartezimmer.
Herr Baron?
VON KEITH
gibt ihm das Bild.

Geh hinüber zum Tannhäuser. Er soll den Saranieff ins Fenster stellen. Ich gebe ihn für dreitausend Mark.

SASCHA.
Sehr wohl, Herr Baron.
VON KEITH.

In fünf Minuten komme ich selber. Warte! Er nimmt vom Schreibtisch eine Karte, auf der »3 000 M.« steht, und befestigt sie unter den Rahmen des Bildes. Dreitausend Mark! – Geht zum Schreibtisch. Ich muß nur vorher rasch noch einen Zeitungsartikel darüber schreiben.


Sascha mit dem Bilde ab.
MOLLY.
Wenn sich bei der Großtuerei nur auch einmal eine Spur von reellem Erfolg sehen ließe!
VON KEITH
schreibend.
»Das Schönheitsideal der modernen Landschaft.«
MOLLY.

Wenn dieser Saranieff malen könnte, dann brauchte man nicht erst Zeitungsartikel über ihn zu schreiben.

VON KEITH
sich umwendend.
Wie beliebt?
[439]
MOLLY.
Ich weiß, du bist wieder mitten in der Arbeit.
VON KEITH.
Wovon wolltest du reden?
MOLLY.
Ich habe einen Brief aus Bückeburg.
VON KEITH.
Von deiner Mama?
MOLLY
sucht den Brief aus der Tasche und liest.

»Ihr seid uns jeden Tag willkommen. Ihr könnt die beiden Vorzimmer im dritten Stock beziehen. Ihr könnt dann in Ruhe abwarten, bis eure Verhandlungen in München zum Abschluß gelangen.«

VON KEITH.

Siehst du denn aber nicht ein, mein liebes Kind, daß du durch solche Schreibereien meinen Kredit untergräbst?

MOLLY.
Wir haben morgen kein Brot auf dem Tisch.
VON KEITH.
Dann speisen wir im Hotel Continental.
MOLLY.

Da bringe ich nicht einen Happen hinunter vor Angst, daß uns der Gerichtsvollzieher derweil unsere Betten versiegelt.

VON KEITH.

Der überlegt sich das noch. Warum lebt in deinem Köpfchen kein anderer Gedanke als Essen und Trinken! Du könntest dich deines Daseins so unendlich mehr erfreuen, wenn du etwas mehr Würdigung für seine Lichtseiten hättest. Du hegst eine unbezähmbare Liebhaberei für das Unglück.

MOLLY.

Ich finde, du hegst diese Liebhaberei für das Unglück! Anderen Menschen fällt ihr Lebensberuf zu leicht, sie brauchen mit keinem Gedanken daran zu denken. Dafür existieren sie eins fürs andere in ihrem behaglichen Heim, wo ihrem Glück nichts in die Quere kommt. Und du, bei all deinen Geistesgaben, wirtschaftest wie ein Rasender auf deine Gesundheit ein, und dabei ist tagelang nicht ein Pfennig im Haus.

VON KEITH.

Aber du hast doch noch jeden Tag satt zu essen gehabt! Daß du nichts für Toiletten ausgibst, ist wahrhaftig nicht meine Schuld. Sobald dieser Zeitungsartikel geschrieben ist, habe ich dreitausend Mark in der Hand. Dann nimm eine Droschke und kauf alles zusammen, worauf du dich im Augenblick besinnen kannst.

MOLLY.

Der bezahlt dir für das Bild so gewiß dreitausend Mark, wie ich mir deinetwegen seidene Strümpfe anziehe.

VON KEITH
erhebt sich unwillig.
Du bist ein Juwel!
[440]
MOLLY
fliegt ihm an den Hals.

Habe ich dir weh getan, mein Herz? Verzeih mir, bitte! Was ich dir eben sagte, das ist meine heiligste Überzeugung.

VON KEITH.

Wenn das Geld auch nur bis morgen abend reicht, dann werde ich das Opfer schon nicht zu bedauern haben!

MOLLY
heulend.
Ich wußte, wie häßlich es von mir war. Schlag mich doch nur!
VON KEITH.
Der Feenpalast ist nämlich so gut wie gesichert.
MOLLY.
Dann laß mich wenigstens deine Hand küssen. Ich beschwöre dich, laß mich deine Hand küssen.
VON KEITH.
Wenn ich nur noch einige Tage meine Haltung bewahren kann.
MOLLY.
Auch das nicht! Wie kannst du so unmenschlich sein!
VON KEITH
zieht die Hand aus der Tasche.

Es wäre doch vielleicht nachgerade Zeit, daß du mit dir zu Rate gehst, sonst kommt die Erleuchtung plötzlich von selbst.

MOLLY
seine Hand mit Küssen bedeckend.
Warum willst du mich denn nicht schlagen? Ich habe es mir doch so redlich verdient!
VON KEITH.
Du betrügst dich um dein Lebensglück mit allen Mitteln, die eine Frau zu ihrer Verfügung hat.
MOLLY
springt empört auf.

Bilde dir doch nicht ein, daß ich mich durch deine Courmachereien in Schrecken jagen lasse! Uns beide umschlingt ein zu festes Band. Wenn das einmal reißt, dann halte ich dich nicht mehr; aber solange du im Elend bist, gehörst du mir.

VON KEITH.

Das wird dir zum Verhängnis, Molly, daß du mein Glück mehr fürchtest als den Tod. Wenn ich morgen die Arme frei habe, dann hältst du es nicht eine Minute mehr bei mir aus.

MOLLY.
Dann ist ja alles gut, wenn du das weißt.
VON KEITH.
Ich bin aber in keinem Elend!
MOLLY.
Erlaube mir nur so lange, bis du die Arme frei hast, noch für dich zu arbeiten.
VON KEITH
setzt sich wieder an den Schreibtisch.

Tue, was du nicht lassen kannst! Du weißt, daß mir an einer Frau nichts unsympathischer ist, als wenn sie arbeitet.

MOLLY.

Um deinetwillen mache ich noch keinen Affen und keinen Papagei aus mir. Wenn ich mich an den Waschtrog stelle, statt halbnackt mit dir auf Redouten zu [441] fahren, so werde ich dich damit wohl nicht zugrunde richten.

VON KEITH.
Dein Starrsinn hat etwas Überirdisches.
MOLLY.
Das glaube ich, daß das deine Kapazität übersteigt!
VON KEITH.
Wenn ich dich auch begriffe, damit wäre dir leider noch nicht geholfen.
MOLLY
triumphierend.

Ich brauchte es dir auch nicht auf die Nase zu binden, aber ich gebe es dir schwarz auf weiß, wenn du willst! Ich verdiente ja mein Lebensglück nicht, wenn ich mir dir gegenüber den geringsten Zwang antäte und mich besser geben wollte, als ich von Gott geschaffen worden bin – weil du mich liebst!

VON KEITH.
Das ist doch selbstverständlich.
MOLLY
triumphierend.

Weil du ohne meine Liebe nicht leben kannst! Hab darum auch nur die Arme frei, soviel du willst! Ob ich bei dir bleibe, das hängt davon ab, ob ich dir von deiner Liebe für andere Weiber etwas übriglasse! Die Weiber sollen sich aufdonnern und dich vergöttern, soviel es ihnen Vergnügen macht; das spart mir die Komödien. Du hängtest dich lieber heute als morgen an deine Ideale; das weiß ich recht gut. Käme es je dazu – aber das hat noch gute Wege! –, dann will ich mich lebendig begraben lassen.

VON KEITH.
Wenn du dich nur wenigstens des Glückes erfreuen wolltest, das sich dir bietet!
MOLLY
zärtlich.

Aber was bietet sich mir denn, mein süßer Schatz? Das war doch in Amerika auch immer dieser Schrecken ohne Ende. Alles scheiterte immer an den letzten drei Tagen. In Sankt Jago wurdest du nicht zum Präsidenten gewählt und wärst um ein Haar erschossen worden, weil wir an dem entscheidenden Abend keinen Brandy auf dem Tische hatten. Weißt du noch, wie du riefst: »Einen Dollar, einen Dollar, eine Republik für einen Dollar!«

VON KEITH
springt wütend auf und geht zum Diwan.

Ich bin als Krüppel zur Welt gekommen. So wenig wie ich mich deshalb zum Sklaven verdammt fühle, so wenig wird mich der Zufall, daß ich als Bettler geboren bin, je daran hindern, den allerergiebigsten Lebensgenuß als mein rechtmäßiges Erbe zu betrachten.

[442]
MOLLY.
Betrachten dürfen wirst du den Lebensgenuß, solange du lebst.
VON KEITH.

An dem, was ich dir hier sage, ändert nur mein Tod etwas. Und der Tod traut sich aus Furcht, er könnte sich blamieren, nicht an mich heran. Wenn ich sterbe, ohne gelebt zu haben, dann werde ich als Geist umgehen.

MOLLY.
Du leidest eben einfach an Größenwahn.
VON KEITH.

Ich kenne aber noch meine Verantwortung! Du bist als fünfzehnjähriges unzurechnungsfähiges Kind, von der Schulbank weg, mit mir nach Amerika durchgebrannt. Wenn wir uns heute trennen und du bleibst dir selbst überlassen, dann nimmt es das denkbar schlimmste Ende mit dir.

MOLLY
fällt ihm um den Hals.

Dann komm doch nach Bückeburg! Meine Eltern haben ihre Molly seit drei Jahren nicht gesehen. In ihrer Freude werfen sie dir ihr halbes Vermögen an den Kopf. Und wie könnten wir zwei zusammen leben!

VON KEITH.
In Bückeburg?
MOLLY.
Alle Not hätte ein Ende!
VON KEITH
sich losmachend.
Lieber suche ich Zigarrenstummel in den Cafés zusammen.
SASCHA
kommt mit dem Bild zurück.

Der Herr Tannhäuser sagt, er kann das Bild nicht ins Fenster stellen. Der Herr Tannhäuser haben selbst noch ein Dutzend Bilder von dem Herrn Saranieff.

MOLLY.
Das wußte ich ja im voraus!
VON KEITH.

Dafür bist du ja bei mir! – Geht zum Schreibtisch und zerreißt das Schreibpapier. Dann brauche ich doch wenigstens den Zeitungsartikel nicht mehr darüber zu schreiben!


Sascha geht, nachdem er das Bild auf den Tisch gelegt, ins Wartezimmer.
MOLLY.

Diese Saranieffs, siehst du, und diese Zamrjakis, das sind Menschen von einem ganz anderen Schlag als wir. Die wissen, wie man den Leuten die Taschen umkehrt. Wir beide sind eben nun einmal zu einfältig für die große Welt!

[443]
VON KEITH.
Dein Reich ist noch nicht gekommen. Laß mich allein. – Bückeburg muß sich noch gedulden.
MOLLY
da es auf dem Korridor läutet, klatscht schadenfroh in die Hände.
Der Herr Gerichtsvollzieher! Sie eilt, um zu öffnen.
VON KEITH
sieht nach der Uhr.
– – Was läßt sich dem Glück noch opfern ...?
MOLLY
geleitet Ernst Scholz herein.
Der Herr will mir seinen Namen nicht nennen.

Ernst Scholz ist eine schmächtige, äußerst aristokratische Erscheinung von etwa siebenundzwanzig Jahren; schwarzes Lockenhaar, spitzgeschnittener Vollbart, unter starken langgezogenen Brauen große wasserblaue Augen, in denen der Ausdruck der Hilflosigkeit liegt.
VON KEITH.
Gaston! – Wo kommst du her?
SCHOLZ.

Dein Willkomm ist mir eine gute Vorbedeutung. Ich bin so verändert, daß ich voraussetzte, du werdest mich überhaupt kaum wiedererkennen.


Molly will das Frühstücksgeschirr mit hinausnehmen, fürchtet aber, nach einem Blick auf Scholz, dadurch zu stören und geht ohne das Geschirr ins Wohnzimmer ab.
VON KEITH.
Du siehst etwas verlebt aus; aber das Dasein ist wirklich auch keine Spielerei!
SCHOLZ.

Für mich am allerwenigsten; deshalb bin ich nämlich hier. Und ich komme nur deinetwegen nach München.

VON KEITH.
Dafür danke ich dir; was die Geschäfte von mir übriglassen, gehört dir.
SCHOLZ.

Ich weiß, daß du schwer mit dem Leben zu kämpfen hast. Nun ist es mir aber ganz speziell um deinen persönlichen Verkehr zu tun. Ich möchte mich gern auf einige Zeit deiner geistigen Führung überlassen, aber nur unter der einen Bedingung, daß du mir dafür erlaubst, dir mit meinen Geldmitteln zu Hilfe zu kommen, soweit du es brauchen kannst.

VON KEITH.

Aber wozu denn das. Ich bin eben im Begriff, Direktor eines ungeheuren Aktienunternehmens zu werden. Und dir geht es also auch ganz gut? Wir haben uns, wenn mir recht ist, vor vier Jahren zum letztenmal gesehen.

[444]
SCHOLZ.
Auf dem Juristenkongreß in Brüssel.
VON KEITH.
Du hattest kurz vorher dein Staatsexamen absolviert.
SCHOLZ.

Du schriebst damals schon für alle erdenklichen Tagesblätter. Erinnerst du dich vielleicht zufällig noch der Vorwürfe, die ich dir deines Zynismus wegen auf dem Ball im Justizpalais in Brüssel machte?

VON KEITH.

Du hattest dich in die Tochter des dänischen Gesandten verliebt und gerietst in Wut über meine Behauptung, daß die Frauen von Natur aus viel materieller veranlagt sind, als wir Männer es durch den reichlichsten Genuß jemals werden können.

SCHOLZ.

Du bist mir auch heute noch, wie während unserer ganzen Jugendzeit, geradezu ein Ungeheuer an Gewissenlosigkeit; aber – du hattest vollkommen recht.

VON KEITH.
Ein schmeichelhafteres Kompliment hat man mir in diesem Leben noch nicht gemacht.
SCHOLZ.

Ich bin mürbe. Obschon ich deine ganze Lebensauffassung aus tiefster Seele verabscheue, vertraue ich dir heute das für mich unlösbare Rätsel meines Daseins an.

VON KEITH.
Gott sei gelobt, daß du dich aus deinem Trübsinn endlich der Sonne zuwendest!
SCHOLZ.

Ich schließe damit nicht etwa eine feige Kapitulation. Das letzte Mittel, das einem selbst zur Lösung des Rätsels freisteht, habe ich umsonst versucht.

VON KEITH.

Um so besser für dich, wenn du das hinter dir hast. Ich sollte während der Kubanischen Revolution mit zwölf Verschwörern erschossen werden. Ich falle natürlich auf den ersten Schuß und bleibe tot, bis man mich beerdigen will. Seit jenem Tage fühle ich mich erst wirklich als den Herrn meines Lebens. Aufspringend. Verpflichtungen gehen wir bei unserer Geburt nicht ein, und mehr als dieses Leben wegwerfen, kann man nicht. Wer nach seinem Tode noch weiterlebt, der steht über den Gesetzen. – Du trugst dich damals in Brüssel mit der Absicht, dich dem Staatsdienst zu widmen?

SCHOLZ.
Ich trat bei uns ins Eisenbahnministerium ein.
VON KEITH.

Ich wunderte mich noch, daß du es bei deinem enormen Vermögen nicht vorzogst, als Grandseigneur deinen Neigungen zu leben.

[445]
SCHOLZ.

Ich hatte den Vorsatz gefaßt, vor allem erst ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden. Wäre ich als der Sohn eines Tagelöhners geboren, dann ergäbe sich das ja auch als etwas ganz Selbstverständliches.

VON KEITH.

Man kann seinen Mitmenschen nicht mehr in dieser Welt nützen, als wenn man in der umfassendsten Weise auf seinen eigenen Vorteil ausgeht. Je weiter meine Interessen reichen, einer desto größeren Anzahl von Menschen biete ich den nötigen Lebensunterhalt. Wer sich aber darauf, daß er seinen Posten ausfüllt und seine Kinder ernährt, etwas einbildet, der macht sich blauen Dunst vor. Die Kinder danken ihrem Schöpfer, wenn man sie nicht in die Welt setzt, und nach dem Posten recken hundert arme Teufel die Hälse!

SCHOLZ.

Ich konnte aber in der Tatsache, daß ich ein reicher Mann bin, keinen zwingenden Grund sehen, als Tagedieb in der Welt herumzuschlendern. Künstlerische Veranlagungen besitze ich nicht, und um meine einzige Lebensbestimmung im Heiraten und Kinderzeugen zu erblicken, dazu schien ich mir nicht unbedeutend genug.

VON KEITH.
Du hast aber den Staatsdienst quittiert?
SCHOLZ
läßt den Kopf sinken.
Weil ich in meinem Amt ein entsetzliches Unglück verschuldet habe.
VON KEITH.

Als ich von Amerika zurückkam, erzählte mir jemand, der dich ein Jahr vorher in Konstantinopel getroffen hatte, du habest zwei Jahre auf Reisen zugebracht, lebest jetzt aber wieder zu Haus und stehest eben im Begriff, dich zu verheiraten.

SCHOLZ.

Meine Verlobung habe ich vor drei Tagen aufgelöst. – Ich war bis jetzt nur ein halber Mensch. Seit dem Tage, an dem ich mein eigner Herr wurde, ließ ich mich lediglich von der Überzeugung leiten, ich könne mich meines Daseins nicht eher erfreuen, als bis ich meine Existenz durch ehrliche Arbeit gerechtfertigt hätte. Diese einseitige Anschauung hat mich dahin geführt, daß ich heute aus reinem Pflichtgefühl, nicht anders, als gälte es eine Strafe abzubüßen, den rein materiellen Genuß aufsuche. Sobald ich aber dem Leben die Arme öffnen will, dann lähmt mich die Erinnerung an jene unglücklichen [446] Menschen, die nur durch meine übertriebene Gewissenhaftigkeit in der entsetzlichsten Weise ums Leben gekommen sind.

VON KEITH.
Was war denn das für eine Geschichte?
SCHOLZ.

Ich hatte ein Bahnreglement geändert. Es lag eine beständige Gefahr darin, daß dieses Bahnreglement unmöglich genau respektiert werden konnte. Meine Befürchtungen waren natürlich übertrieben, aber mit jedem Tage sah ich das Unglück näherkommen. Mir fehlt eben das seelische Gleichgewicht, das dem Menschen aus einem menschenwürdigen Familienheim erwächst. – Am ersten Tage nach Einführung meines neuen Reglements erfolgte ein Zusammenstoß von zwei Schnellzügen, der neun Männern, drei Frauen und zwei Kindern das Leben kostete. Ich inspizierte die Unglücksstätte noch. Es ist nicht meine Schuld, daß ich den Anblick überlebte.

VON KEITH.
Dann gingst du auf Reisen?
SCHOLZ.

Ich ging nach England, nach Italien, fühle mich nun aber erst recht von allem lebendigen Treiben ausgeschlossen. In lachender, scherzender Umgebung, bei ohrbetäubender Musik, entringt sich mir plötzlich ein geller Schrei, weil ich mir unversehens wieder jenes Unglücks bewußt worden bin. Ich habe auch im Orient nur wie eine verscheuchte Eule gelebt. Aufrichtig gesagt, bin ich auch seit jenem Unglückstag erst recht davon überzeugt, daß ich mir meine Lebensfreude nur durch Selbstaufopferung zurückkaufen kann. Aber dazu brauche ich Zutritt zum Leben. Diesen Zutritt zum Leben hoffte ich vor einem Jahr dadurch zu finden, daß ich mich mit dem ersten besten Mädchen allerniedrigster Herkunft verlobte, um mit ihr in den Ehestand zu treten.

VON KEITH.
Wolltest du das Geschöpf wirklich zur Gräfin Trautenau machen?
SCHOLZ.

Ich bin kein Graf Trautenau mehr. Das entzieht sich deinem Verständnis. Die Presse hatte meinen Rang und Namen zu dem Unglück, das ich heraufbeschworen, in wirkungsvollen Kontrast gesetzt. Ich hielt mich deshalb meiner Familie gegenüber für verpflichtet, einen anderen Namen anzunehmen. Ich heiße seit zwei Jahren Ernst Scholz. Daher konnte auch meine Verlobung niemanden[447] mehr überraschen; aber es wäre auch daraus nur wieder Unglück erwachsen. In ihrem Herzen keinen Funken Liebe, in meinem nur das Bedürfnis, mich aufzuopfern, der Verkehr eine endlose Kette der trivialsten Mißverständnisse ... Ich habe das Mädchen jetzt derart dotiert, daß sie für jeden ihres Standes eine begehrenswerte Partie ist. Sie konnte sich vor Freude über ihre wiedergewonnene Freiheit gar nicht fassen. Und ich muß nun endlich die schwere Kunst erlernen, mich selbst zu vergessen. Dem Tod sieht man mit klarem Bewußtsein ins Auge; aber niemand lebt, der sich nicht selbst vergessen kann.

VON KEITH
wirft sich in einen Sessel.

– Mein Vater würde sich vor Schreck im Grabe umkehren bei dem Gedanken, daß du – mich um meinen Rat bittest.

SCHOLZ.

So schlägt das Leben die Schulweisheit auf den Mund. Dein Vater hat redlich sein Teil zu meiner einseitigen geistigen Entwicklung beigetragen.

VON KEITH.

Mein Vater war so selbstlos und gewissenhaft, wie es der Hauslehrer und Erzieher eines Grafen Trautenau nun einmal sein muß. Du warst sein Musterknabe, und ich war sein Prügeljunge.

SCHOLZ.

Erinnerst du dich nicht mehr, wie zärtlich du bei uns auf dem Schloß von unseren Kammerjungfern abgeküßt wurdest, und zwar mit Vorliebe dann, wenn ich zufällig gerade daneben stand?! –Sich erhebend. Ich werde die nächsten zwei bis drei Jahre einzig und allein darauf verwendenUnter Tränen. um mich zu einem Genußmenschen auszubilden.

VON KEITH
aufspringend.

Gehen wir heute abend erst einmal nach Nymphenburg auf den Tanzboden! Das ist unser so unwürdig, wie nur irgendwie möglich. Aber bei all dem Regenwetter und Gletscherwasser, das sich über meinen Kopf ergießt, reizt es mich selbst, wieder einmal im Schlamm zu baden.

SCHOLZ.
Mich dürstet nicht nach Marktgeschrei.
VON KEITH.

Du hörst kein lautes Wort, nur das dumpfe Brausen des aus seinen Tiefen aufgewühlten Ozeans. München ist ein Arkadien zugleich und ein Babylon. Der stumme saturnalische Taumel, der sich hier bei jeder Gelegenheit [448] der Seelen bemächtigt, behält auch für den Verwöhntesten seinen Reiz.

SCHOLZ.

Woher sollte ich denn verwöhnt sein! Ich habe von meinem Leben bis heute buchstäblich noch nichts genossen.

VON KEITH.

Der Gesellschaft werden wir uns auf dem Tanzboden erwehren müssen! An solchen Orten wirkt mein Erscheinen wie das Aas auf die Fliegen. Aber dafür, daß du dich selbst vergißt, stehe ich dir gut. Du wirst dich noch in drei Monaten selbst vergessen, wenn du an unseren heutigen Abend zurückdenkst.

SCHOLZ.

Ich habe mich schon allen Ernstes gefragt, ob nicht mein ungeheurer Reichtum vielleicht der einzige Grund meines Unglücks ist.

VON KEITH
empört.
Das ist Gotteslästerung!
SCHOLZ.

Ich habe tatsächlich schon erwogen, ob ich nicht wie auf meinen Adel auch auf mein Vermögen verzichten soll. Solang ich lebe, wäre mir die ser Verzicht aber nur zugunsten meiner Familie möglich. Eine nützliche Verfügung über mein Eigentum kann ich allenfalls, nachdem mein Leben an ihm zuschanden geworden, auf dem Sterbebette treffen. Hätte ich von Jugend auf um meinen Unterhalt kämpfen müssen, dann stände ich bei meinem sittlichen Ernst und meinem Fleiß, statt ein Ausgestoßener zu sein, heute wahrscheinlich mitten in der glänzendsten Karriere.

VON KEITH.

Oder du schwelgtest mit deinem Mädchen aus niedrigstem Stande im allergewöhnlichsten Liebesquark und putztest dabei deiner Mitwelt die Stiefel.

SCHOLZ.
Das nehme ich jeden Augenblick mit Freuden gegen mein Los in Tausch.
VON KEITH.

Bilde dir doch nicht ein, daß dieses Eisenbahnunglück zwischen dir und dem Leben steht. Du sättigst dich nur deshalb an diesen scheußlichen Erinnerungen, weil du zu schwerfällig bist, um dir irgendwelche delikatere Nahrung zu verschaffen.

SCHOLZ.
Darin magst du recht haben. Deswegen möchte ich mich deiner geistigen Führung anvertrauen.
VON KEITH.

Wir finden heute abend schon was zu beißen. – Ich kann dich jetzt leider nicht bitten, mit mir zu frühstücken. Ich habe um zwölf Uhr ein geschäftliches Rendezvous [449] mit einer hiesigen Finanzgröße. Aber ich gebe dir ein paar Zeilen mit an meinen Freund Raspe. Verbring den Nachmittag mit ihm; um sechs Uhr treffen wir uns im Hofgarten-Café.


Er ist an den Schreibtisch gegangen und schreibt ein Billett.
SCHOLZ.
Womit beschäftigst du dich denn?
VON KEITH.

Ich treibe Kunsthandel, ich habe eine Zeitungskorrespondenz, eine Konzertagentur – alles nicht der Rede wert. Du kommst eben recht, um das Entstehen eines großangelegten Konzerthauses zu erleben, das ausschließlich für meine Künstler gebaut wird.

SCHOLZ
nimmt das Bild vom Tisch und betrachtet es.
Du hast eine hübsche Bildergalerie.
VON KEITH
aufspringend.

Das gebe ich nicht um zehntausend Mark. Ein Saranieff. – Dreht es ihm in den Händen um. Du mußt es anders herum nehmen.

SCHOLZ.
Ich verstehe nichts von Kunst. Ich bin auf meinen Reisen nicht in einem einzigen Museum gewesen.
VON KEITH
gibt ihm das Billett.

Der Mann ist internationaler Kriminalbeamter; sei deshalb nicht gleich zu offenherzig. Ein entzückender Mensch. Aber die Leute wissen nie, ob sie mich beobachten sollen, oder ob ich da bin, um sie zu beobachten.

SCHOLZ.
Ich danke dir für dein liebenswürdiges Entgegenkommen. Also heute abend um sechs im Hofgarten-Café.
VON KEITH.

Dann fahren wir nach Nymphenburg. Ich danke dir, daß auch du schließlich Vertrauen zu mir gewonnen hast.


Von Keith geleitet Scholz hinaus. Die Szene bleibt einen Moment leer. Dann kommt Molly Griesinger aus dem Wohnzimmer und nimmt das Teegeschirr vom Tisch. Gleich darauf kommt von Keith zurück.
VON KEITH
ruft.
Sascha! – Geht ans Telefon und läutet. Siebzehn, fünfunddreißig – Kommissär Raspe!
SASCHA
kommt aus dem Wartezimmer.
Herr Baron!
VON KEITH.
Meinen Hut! Meinen Paletot!

Sascha eilt nach dem Vorplatz.
MOLLY.

Ich beschwöre dich, laß dich doch mit diesem Patron nicht ein! Der käme doch nicht zu uns, wenn er uns nicht ausbeuten wollte.

[450]
VON KEITH
spricht ins Telefon.

Gott sei Dank sind Sie da! Warten Sie zehn Minuten. – – Das werden Sie merken. – Zu Molly, während ihm Sascha in den Paletot hilft. Ich fahre rasch auf die Redaktionen.

MOLLY.
Was soll ich Mama antworten?
VON KEITH
zu Sascha.
Einen Wagen!
SASCHA.
Jawohl, Herr Baron.

Ab.
VON KEITH.

Leg ihr meine Ehrerbietung zu Füßen.Geht zum Schreibtisch. Die Pläne – der Brief von Ostermeier – morgen früh muß München wissen, daß der Feenpalast gebaut wird!

MOLLY.
Dann kommst du nicht nach Bückeburg?
VON KEITH
nimmt, die zusammengerollten Pläne unter dem Arm, seinen Hut vom Mitteltisch und stülpt ihn auf.
Nimmt mich wunder, wie sich der zum Genußmenschen ausbildet! Rasch ab.
[451]

2. Akt

Zweiter Aufzug

Im Arbeitszimmer des Marquis von Keith ist der mittlere Tisch zum Frühstück gedeckt: Champagner und eine große Schüssel Austern. – Der Marquis von Keith sitzt auf dem Schreibtisch und hält den linken Fuß auf einen Schemel, während ihm Sascha, der vor ihm kniet, mit einem Knopfhaken die Stiefel zuknöpft. Ernst Scholz steht hinter dem Diwan und versucht sich auf einer Gitarre, die er von der Wand genommen.

VON KEITH.
Wann bist du denn heute morgen in dein Hotel zurückgekommen?
SCHOLZ
mit verklärtem Lächeln.
Um zehn Uhr.
VON KEITH.
Tat ich also nicht recht daran, dich mit diesem entzückenden Geschöpf alleinzulassen?
SCHOLZ
selig lächelnd.

Nach den Gesprächen von gestern abend über Kunst und moderne Literatur frage ich mich, ob ich bei diesem Mädchen nicht in die Schule gehen soll. Um so mehr wunderte es mich, daß sie dich noch darum bat, an dem Gartenfest, mit dem du München in Erstaunen setzen willst, deine Gäste bedienen zu dürfen.

VON KEITH.

Sie rechnet sich das ganz einfach zur Ehre an! Übrigens hat das noch Zeit mit dem Gartenfest. Ich fahre morgen auf einige Tage nach Paris.

SCHOLZ.
Das kommt mir aber höchst ungelegen.
VON KEITH.

Komm doch mit. Ich will eine meiner Künstlerinnen vor der Marquesi singen lassen, bevor sie hier öffentlich auftritt.

SCHOLZ.

Soll ich mir jetzt die Seelenqualen wieder vergegenwärtigen, die ich seinerzeit in Paris durchgekostet habe?!

VON KEITH.

Würde dir denn das Erlebnis dieser Nacht nicht darüber hinweghelfen?! – Dann halte dich während meiner Abwesenheit an den Kunstmaler Saranieff. Er wird ja heute wohl irgendwo vor uns auftauchen.

SCHOLZ.

Von diesem Saranieff erzählte mir das Mädchen, sein Atelier sei eine Schreckenskammer, voll der entsetzlichsten [452] Greuel, die die Menschheit je verübt hat. Und dann plauderte sie im hellsten Entzücken von ihrer Kindheit, wie sie in Tirol den ganzen Sommer durch in den Kirschbäumen gesessen und im Winter abends bis in die Dunkelheit mit den Dorfkindern Schlitten gefahren sei. – Wie kann es sich dieses Mädchen nur so zur Ehre anrechnen, bei dir als Aufwärterin figurieren zu dürfen!

VON KEITH.

Das Geschöpf rechnet sich das zur Ehre an, weil es dabei Gelegenheit findet, die unbegrenzte Verachtung zu bekämpfen, mit der sie von der gesamten bürgerlichen Gesellschaft behandelt wird.

SCHOLZ.

Aber was rechtfertigt denn diese Verachtung! Wieviel hundert weibliche Existenzen gehen in den besten Gesellschaftskreisen daran zugrunde, daß der Strom des Lebens versiegt, wie er hier aus seinen Ufern tritt. – Einer Sünde, wie es die seelenmörderische Zwietracht war, in der meine Eltern zwanzig Jahre beieinander aushielten, macht sich dieses Mädchen doch in seinem seligsten Glück nicht schuldig!

VON KEITH.
Was ist Sünde!!
SCHOLZ.

Darüber war ich mir gestern noch völlig klar. Heute kann ich dafür ohne Beklommenheit aussprechen, was tausend und tausend gutsituierte Menschen wie ich empfunden haben: Das verfehlte Leben blickt mit bitterem Neid auf das verlorene Geschöpf!

VON KEITH.

Das Glück dieser Geschöpfe wäre so verachtet nicht, wenn es nicht das denkbar schlechteste Geschäft wäre. Sünde ist eine mythologische Bezeichnung für schlechte Geschäfte. Gute Geschäfte lassen sich nun einmal nur innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung machen! Das weiß niemand besser als ich. Ich, der Marquis von Keith, von dem ganz München spricht, stehe heute bei meinem europäischen Ruf noch ebenso außerhalb der Gesellschaft wie dieses Geschöpf. Das ist auch der einzige Grund, weshalb ich das Gartenfest gebe. Ich bedaure ungemein, daß ich die Kleine nicht unter meinen Gästen empfangen kann. Um so geschmackvoller wird sie sich dafür unter meiner Bedienung ausnehmen.

[453]
SASCHA
hat sich erhoben.
Befehlen der Herr Baron einen Wagen?
VON KEITH.
Ja.
SASCHA
ab.
VON KEITH
sich in den Stiefeln feststampfend.
Du hast gelesen, daß sich gestern die Feenpalastgesellschaft konstituiert hat?
SCHOLZ.
Ich habe von gestern auf heute natürlich keine Zeitung in die Hand bekommen.

Beide nehmen am Frühstückstisch Platz.
VON KEITH.

Das ganze Unternehmen ruht auf einem Bierbrauer, einem Baumeister und einem Restaurateur. Das sind die Karyatiden, die den Giebel des Tempels tragen.

SCHOLZ.
Ein entzückender Mensch ist übrigens dein Freund, der Kriminalbeamte Raspe.
VON KEITH.
Er ist ein Schurke; ich liebe ihn aber aus einem anderen Grunde.
SCHOLZ.

Er erzählte mir, er sei ursprünglich Theologe gewesen, habe aber durch zu vieles Studieren seinen Glauben verloren und ihn dann auf dem Wege wiederzufinden gesucht, auf dem der verlorene Sohn seinen Glauben wiederfand.

VON KEITH.

Er sank immer tiefer und tiefer, bis ihn schließlich die hohe Staatsanwaltschaft in ihren Armen auffing und ihm seinen verlorenen Glauben durch einen zweijährigen Aufenthalt hinter Schloß und Riegel zurückerstattete.

SCHOLZ.

Das Mädchen konnte es absolut nicht fassen, daß ich bis heute noch nicht Radfahren gelernt habe. Daß ich in Asien und Afrika nicht Rad gefahren sei, meinte sie, sei sehr vernünftig gewesen wegen der wilden Tiere. In Italien hätte ich denn aber doch damit anfangen können!

VON KEITH.

Ich warne dich noch einmal, lieber Freund, sei nicht zu offenherzig! Die Wahrheit ist unser kostbarstes Lebensgut, und man kann nicht sparsam genug damit umgehen.

SCHOLZ.
Deshalb hast du dir wohl auch den Namen Marquis von Keith beigelegt?
[454]
VON KEITH.

Ich heiße mit demselben Recht Marquis von Keith, mit dem du Ernst Scholz heißt. Ich bin der Adoptivsohn des Lord Keith, der im Jahre 1863 ...

SASCHA
tritt vom Vorplatz ein, anmeldend.
Herr Professor Saranieff!
SARANIEFF
tritt ein, in schwarzem Gehrock mit etwas zu langen Ärmeln, hellen, etwas zu kurzen Beinkleidern, grobem Schuhwerk, knallroten Handschuhen; das halblange, straffe, schwarze Haar gerade abgeschnitten; vor den verheißungsvollen Augen trägt er an schwarzem Bande ein Pincenez à la Murillo; ausdrucksvolles Profil, kleiner spanischer Schnurrbart.

Den Zylinder gibt er nach der Begrüßung an Sascha. Ich wünsche Ihnen von Herzen Glück, mein lieber Freund. Endlich sind die Taue gekappt, und der Ballon kann steigen!

VON KEITH.
Meine Kommanditäre erwarten mich; ich kann Sie kaum mehr zum Frühstück einladen.
SARANIEFF
sich an den Tisch setzend.
Ich erlasse Ihnen die Einladung.
VON KEITH.
Noch ein Kuvert, Sascha!

Sascha hat den Hut auf dem Vorplatz aufgehängt und geht ins Wohnzimmer ab.
SARANIEFF.

Mich wundert nur, daß man den Namen des großen Casimir nicht mit unter den Mitgliedern des Feenpalast-Konsortiums liest.

VON KEITH.

Weil ich nicht auf das Verdienst verzichten will, selber der Schöpfer meines Werkes zu sein. Vorstellend. Herr Kunstmaler Saranieff – Graf Trautenau.

SARANIEFF
zieht ein Glas und einen Teller heran und bedient sich, zu Scholz.

Sie, Herr Graf, kenne ich schon in- und auswendig. Zu von Keith. Simba war eben bei mir; sie sitzt mir gegenwärtig zu einem Böcklin.

VON KEITH
zu Scholz.

Der Böcklin war nämlich selbst ein großer Maler. Zu Saranieff. Sie brauchten mit solchen Streichen nicht noch zu prahlen!

SARANIEFF.

Machen Sie mich berühmt, dann habe ich diese Streiche nicht mehr nötig! Ich bezahle Ihnen dreißig Prozent auf Lebenszeit. Zamrjakis Verstand wackelt schon wie [455] ein morscher Zaunpfahl, weil er durchaus auf ehrlichem Wege unsterblich werden will.

VON KEITH.
Mir ist es um seine Musik zu tun. Dem richtigen Komponisten ist sein Verstand nur ein Hindernis.
SCHOLZ.
Um unsterblich werden zu wollen, muß man doch wohl schon ganz außergewöhnlich lebenslustig sein.
SARANIEFF
zu Scholz.
Sie hat mir unsere Simba übrigens als einen hochinteressanten Menschen geschildert.
SCHOLZ.
Das glaube ich, daß ihr solche Sauertöpfe wie ich nicht jeden Tag in den Weg laufen.
SARANIEFF.

Sie hat Sie den Symbolisten zugeteilt.Zu von Keith. Und dann schwärmte sie von einer bevorstehenden Feenpalast-Gründungsfeier mit eminentem Feuerwerk.

VON KEITH.

Mit Feuerwerk blendet man keinen Hund, aber der vernünftigste Mensch fühlt sich beleidigt, wenn man ihm keines vormacht. Ich fahre übrigens vorher noch auf einige Tage nach Paris.

SARANIEFF.
Man will wohl Ihre Ansichten über ein deutsch-französisches Schutz- und Trutzbündnis hören?
VON KEITH.
Aber sprechen Sie nicht davon!
SCHOLZ.
Ich wußte gar nicht, daß du dich auch in der Politik betätigst!
SARANIEFF.
Wissen Sie vielleicht irgend etwas, worin sich der Marquis von Keith nicht betätigt?
VON KEITH.
Ich will mir nicht vorwerfen lassen, daß ich mich um meine Zeit nicht gekümmert habe!
SCHOLZ.
Hat man denn nicht genug mit sich selbst zu tun, wenn man das Leben ernst nimmt?
SARANIEFF.

Sie nehmen es allerdings verteufelt ernst! Am Fuße der Pyramiden, in dem Dorfe Gizeh, soll Ihnen die Wäscherin einen Hemdkragen verwechselt haben?

SCHOLZ.

Sie scheinen wirklich schon ganz gut über mich unterrichtet zu sein. Wollen Sie mir nicht erlauben, daß ich Sie einmal in Ihrem Atelier besuche?

SARANIEFF.

Wenn es Ihnen recht ist, trinken wir jetzt gleich unsern Kaffee bei mir. Sie finden dann auch Ihre Simba noch dort.

SCHOLZ.
Simba? – Simba? – Sie reden immer von Simba. Das Mädchen sagte mir doch, daß sie Kathi hieße!
[456]
SARANIEFF.
Von Natur heißt sie Kathi; aber der Marquis von Keith hat sie Simba getauft.
SCHOLZ
zu von Keith.
Das bezieht sich wohl auf ihre wundervollen roten Haare?
VON KEITH.
Darüber kann ich dir mit dem besten Willen keine Auskunft geben.
SARANIEFF.

Sie hat es sich auf meinem persischen Diwan bequem gemacht und schläft vorläufig noch ihren Katzenjammer von gestern aus.

MOLLY GRIESINGER
kommt aus dem Wohnzimmer und legt Saranieff ein Kuvert vor.
SARANIEFF.

Heißen Dank, gnädige Frau; Sie sehen, ich habe schon alles aufgegessen. Verzeihen Sie, daß ich noch nicht Gelegenheit nahm, Ihnen die Hand zu küssen.

MOLLY.
Sparen Sie Ihre Komplimente doch für würdigere Gelegenheiten!

Es läutet auf dem Korridor; Molly geht, um zu öffnen.
VON KEITH
sieht nach der Uhr und erhebt sich.
Sie müssen mich entschuldigen, meine Herren.Ruft. Sascha!
SARANIEFF
wischt sich den Mund.
Bitte, wir fahren natürlich mit.

Er und Scholz erheben sich. Sascha kommt mit der Garderobe aus dem Wartezimmer und hilft von Keith und Scholz in den Paletot.
SCHOLZ
zu von Keith.
Warum sagst du mir denn gar nicht, daß du verheiratet bist?
VON KEITH.

Laß mich dir deine Krawatte in Ordnung bringen. Er tut es. Du mußt etwas mehr Sorgfalt auf dein Äußeres verwenden.

MOLLY
kommt mit Hermann Casimir vom Vorplatz zurück.
Der junge Herr Casimir bittet um die Ehre.
VON KEITH
zu Hermann.
Haben Sie gestern meine Grüße ausgerichtet?
HERMANN.
Die Frau Gräfin wartete selbst auf Geld von Ihnen!
VON KEITH.

Warten Sie einen Augenblick auf mich. Ich bin gleich zurück. Zu Scholz und Saranieff. Ist es Ihnen recht, meine Herren?

SARANIEFF
Sascha seinen Hut abnehmend.
Mit Ihnen durch dick und dünn!
[457]
SASCHA.
Der Wagen wartet, Herr Baron.
VON KEITH.
Setz dich zum Kutscher!

Scholz, Saranieff, von Keith und Sascha ab.
MOLLY
kramt das Frühstücksgeschirr zusammen.

Nimmt mich nur wunder, was Sie in diesem Narrenturm suchen! Sie blieben doch wirklich vernünftiger bei Ihrer Frau Mama zu Hause!

HERMANN
will sofort das Zimmer verlassen.
Meine Mutter lebt nicht mehr, gnädige Frau; aber ich möchte nicht lästig sein.
MOLLY.

Um Gottes willen, bleiben Sie nur! Sie genieren hier niemanden. – Aber diese unmenschlichen Eltern, die ihr Kind nicht vor dem Verkehr mit solchen Strauchdieben schützen! – Ich hatte mein glückliches Vaterhaus wie Sie und war weder älter noch klüger als Sie, als ich, ohne mir was dabei zu denken, den Sprung ins Bodenlose tat.

HERMANN
sehr erregt.

Der Himmel erbarm sich mein – ich muß notwendig einen Weg wählen! Ich gehe zugrunde, wenn ich noch länger hier in München bleibe! Aber der Herr Marquis wird mir seine Hilfe verweigern, wenn er ahnt, was ich vorhabe. Ich bitte Sie, gnädige Frau, verraten Sie mich nicht!

MOLLY.

Wenn Sie wüßten, wie es mir ums Herz ist, Sie hätten keine Angst, daß ich mich um Ihre Geschichten bekümmere! Wenn es Ihnen nur nicht noch schlimmer geht als mir! Hätte mich meine Mutter arbeiten lassen, wie ich jetzt arbeite, statt mich jeden freien Nachmittag Schlittschuhlaufen zu schicken, ich hätte heute mein Lebensglück noch vor mir!

HERMANN.

Aber – wenn Sie so grenzenlos un glücklich sind und wissen, – daß sie noch glücklich werden können, warum – warum lassen Sie sich denn dann nicht scheiden?

MOLLY.

Reden Sie doch um Gottes willen nicht über Dinge, von denen Sie nichts verstehen! Wenn man hingehen will, um sich scheiden zu lassen, dann muß man erst einmal verheiratet sein.

HERMANN.
Verzeihen Sie, ich – meinte, Sie wären verheiratet.
[458]
MOLLY.

Ich will mich hier weiß Gott über niemanden beklagen! Aber um sich zu verheiraten, hat man nun einmal in der ganzen Welt zuerst Papiere nötig. Und das ist ja unter seiner Würde, Papiere zu haben! Da es auf dem Korridor läutet. Von früh bis spät geht es wie in einem Postbureau! Ab nach dem Vorplatz.

HERMANN
sich sammelnd.
Wie konnte ich mich nur so verplappern!
MOLLY
geleitet die Gräfin Werdenfels herein.

Wenn Sie hier vielleicht auf meinen Mann warten wollen. Er muß ja wohl gleich kommen. Darf ich die Herrschaften bekannt machen?

ANNA.
Danke. Wir kennen uns.
MOLLY.
Natürlich! Dann bin ich ja überflüssig.

Ins Wohnzimmer ab.
ANNA
läßt sich neben Hermann auf den Schreibtischsessel nieder und legt ihre Hand auf die seinige.

Nun erzählen Sie mir einmal offen und ausführlich, mein lieber junger Freund, wozu Sie auf Ihrer Schulbank soviel Geld brauchen.

HERMANN.
Das sage ich Ihnen nicht.
ANNA.
Ich möchte es aber so gerne wissen!
HERMANN.
Das glaube ich Ihnen!
ANNA.
Trotzkopf!
HERMANN
entzieht ihr seine Hand.
Ich lasse mich nicht so behandeln!
ANNA.

Wer behandelt Sie denn? Bilden Sie sich doch nichts ein! – Sehen Sie, ich teile die Menschen in zwei große Klassen. Die einen sind hopp- hopp und die andern sind etepetete.

HERMANN.
Ich bin Ihrer Ansicht nach natürlich etepetete.
ANNA.
Wenn Sie nicht einmal sagen dürfen, wozu Sie all das viele Geld nötig haben ...
HERMANN.
Jedenfalls nicht, weil ich etepetete bin!
ANNA.
Das habe ich Ihnen doch auf den ersten Blick angesehen: Sie sind hopp-hopp!
HERMANN.
Das bin ich auch; sonst bliebe ich gemütlich in München.
ANNA.
Aber Sie wollen hinaus in die Welt!
HERMANN.
Und Sie möchten gerne wissen, wohin. Nach Paris – nach London.
[459]
ANNA.
Paris ist heutzutage doch gar nicht mehr Mode!
HERMANN.
Ich will auch gar nicht nach Paris.
ANNA.
Warum bleiben Sie denn nicht lieber hier in München? – Sie haben einen steinreichen Vater ...
HERMANN.

Weil man hier nichts erlebt! – Ich verkomme hier in München, besonders wenn ich noch länger auf der Schulbank sitzen muß. Ein früherer Klassenkamerad schreibt mir aus Afrika, wenn man sich in Afrika unglücklich fühle, dann fühle man sich noch zehnmal glücklicher, als wenn man sich in München glücklich fühle.

ANNA.

Ich will Ihnen etwas sagen: Ihr Freund ist etepetete. Gehen Sie nicht nach Afrika. Bleiben Sie lieber hier bei uns in München und erleben Sie etwas.

HERMANN.
Aber das ist hier doch gar nicht möglich!
MOLLY
läßt den Kriminalkommissar Raspe eintreten.

Raspe, anfangs der Zwanziger, in heller Sommertoilette und Strohhut, hat die kindlich-harmlosen Züge eines Guido Renischen Engels. Kurzes blondes Haar, keimender Schnurrbart. Wenn er sich beobachtet fühlt, klemmt er einen blauen Kneifer vor die Augen. Mein Mann wird gleich kommen; wenn Sie einen Augenblick warten wollen. Darf ich Sie vorstellen ...

RASPE.

Ich weiß wirklich nicht, gnädige Frau, ob dem Herrn Baron damit gedient wäre, daß Sie mich vorstellen.

MOLLY.
Na, dann nicht! – um Gottes willen!

Ins Wohnzimmer ab.
ANNA.
Ihre Vorsicht ist übrigens vollkommen überflüssig. Wir kennen uns doch.
RASPE
nimmt auf dem Diwan Platz.
Hm – ich muß mich erst in meinen Erinnerungen zurechtfinden ...
ANNA.

Wenn Sie sich zurechtgefunden haben, dann möchte ich Sie übrigens auch darum bitten, mich nicht vorzustellen.

RASPE.
Wie ist es aber möglich, daß ich hier nie ein Wort über Sie gehört habe!
ANNA.

Das sind nur Namensunterschiede. Von Ihnen erzählte man mir, Sie hätten zwei Jahre in absoluter Einsamkeit zugebracht.

RASPE.

Worauf Sie natürlich nicht durchblicken ließen, daß Sie mich in meiner höchsten Glanzzeit gekannt hatten.

[460]
ANNA.
Wen hat man nicht alles in seiner Glanzzeit gekannt!
RASPE.

Sie haben ganz recht. Mitleid ist Gotteslästerung. – Was konnte ich dafür! Ich war das Opfer des wahnsinnigen Vertrauens geworden, das mir jedermann entgegenbrachte.

ANNA.
Jetzt sind Sie aber wieder hopp-hopp?
RASPE.

Jetzt verwerte ich das wahnsinnige Vertrauen, das mir jedermann entgegenbringt, zum Wohle meiner Mitmenschen. – Können Sie mir übrigens etwas Näheres über diesen Genußmenschen sagen?

ANNA.
Ich bedaure sehr; den hat man mir noch nicht vorgeritten.
RASPE.

Das wundert mich außerordentlich. Ein gewisser Herr Scholz, der sich hier in München zum Genußmenschen ausbilden will.

ANNA.
Und dazu macht ihn der Marquis von Keith mit einem Kriminalkommissar bekannt?
RASPE.

Ein ganz harmloser Mensch. Ich wußte gar nicht, was ich mit ihm anfangen sollte. Ich führte ihn zu seiner Ausbildung ins Hofbräuhaus. Das liegt hier ja gleich nebenan.


Molly öffnet die Entreetür und läßt den Konsul Casimir eintreten. Er ist ein Mann in der Mitte der Vierziger, etwas vierschrötig, in opulente Eleganz gekleidet; volles Gesicht mit üppigen schwarzen Favorits, starkem Schnurrbart, buschigen Augenbrauen, das Haar sorgfältig in der Mitte gescheitelt.
MOLLY.
Mein Mann ist nicht zu Hause. –

Ab.
CASIMIR
geht, ohne jemanden zu grüßen, auf Hermann zu.
Da ist die Türe! – – In dieser Räuberhöhle muß ich dich aufstöbern!
HERMANN.
Du würdest mich hier auch nicht suchen, wenn du nicht für deine Geschäfte fürchtetest!
CASIMIR
dringt auf ihn ein.
Willst du still sein! – Ich werde dir Beine machen!
HERMANN
zieht einen Taschenrevolver.
Rühr mich nicht an, Papa! – Rühr mich nicht an! Ich erschieße mich, wenn du mich anrührst!
CASIMIR.
– Das bezahlst du mir, wenn du zu Hause bist!
RASPE.
Wer läßt sich denn auch wie ein Stück Vieh behandeln!
[461]
CASIMIR.
Beschimpfen lassen soll ich mich hier noch ...!
ANNA
tritt ihm entgegen.

Bitte, mein Herr, das gibt ein Unglück. Werden Sie erst selbst ruhig. Zu Hermann. Seien Sie vernünftig; gehen Sie mit Ihrem Vater.

HERMANN.

Ich habe zu Hause nichts zu suchen. Er merkt es nicht einmal, wenn ich mich sinnlos betrinke, weil ich nicht weiß, wozu ich auf der Welt bin!

ANNA.

Dann sagen Sie ruhig, was Sie beabsichtigen; aber drohen Sie Ihrem Vater nicht mit dem Revolver. Geben Sie mir das Ding.

HERMANN.
Das könnte mir einfallen!
ANNA.

Sie werden es nicht bereuen. Ich gebe ihn Ihnen zurück, wenn Sie ruhig sind. – Halten Sie mich für eine Lügnerin?

HERMANN
gibt ihr zögernd den Revolver.
ANNA.

Jetzt bitten Sie Ihren Vater um Verzeihung. Wenn Sie einen Funken Ehre im Leibe haben, können Sie von Ihrem Vater nicht erwarten, daß er den ersten Schritt tut.

HERMANN.
Ich will aber nicht zugrunde gehen!
ANNA.

Erst bitten Sie um Verzeihung. Seien Sie fest überzeugt, daß Ihr Vater dann auch mit sich reden läßt.

HERMANN.
– Ich – ich – bitte dich um ...

Er sinkt in die Knie und schluchzt.
ANNA
sucht ihn aufzurichten.
Schämen Sie sich! Blicken Sie doch Ihrem Vater in die Augen!
CASIMIR.
Die Nerven seiner Mutter!
ANNA.

Beweisen Sie Ihrem Vater, daß er Vertrauen zu Ihnen haben kann. – Jetzt gehen Sie nach Hause, und wenn Sie ruhig geworden sind, dann setzen Sie Ihrem Vater Ihre Pläne und Wünsche auseinander. –


Sie geleitet ihn hinaus.
CASIMIR
zu Raspe.
Wer ist diese Dame?
RASPE.

Ich sehe sie heute seit zwei Jahren zum erstenmal wieder. Damals war sie Verkäuferin in einem Geschäft in der Perusastraße und hieß Huber, wenn ich mich recht erinnere. Aber wenn Sie etwas Näheres wissen wollen ...

CASIMIR.
Ich danke Ihnen. Gehorsamer Diener! Ab.

[462] Molly kommt aus dem Wohnzimmer, um das Frühstücksgeschirr hinauszutragen.
RASPE.

Entschuldigen Sie, gnädige Frau; hatte der Herr Baron wirklich die Absicht, vor Tisch noch zurückzukommen?

MOLLY.
Ich bitte Sie um Gottes willen, fragen Sie mich nicht nach solchen Lächerlichkeiten!
ANNA
kommt vom Vorplatz zurück, zu Molly.
Darf ich Ihnen nicht vielleicht etwas abnehmen?
MOLLY.

Sie fragen mich auch noch, ob Sie mir nicht vielleicht etwas ... Den Präsentierteller wieder auf den Tisch setzend. Räume den Tisch ab, wer will; ich habe nicht daran gesessen! – Ins Wohnzimmer ab.

RASPE.
Das haben Sie einfach tadellos gemacht mit dem Jungen.
ANNA
setzt sich wieder zum Schreibtisch.
Ich beneide ihn um die Equipage, in der ihn sein Alter nach Haus fährt.
RASPE.

Sagen Sie mir, was ist denn eigentlich aus diesem Grafen Werdenfels geworden, der damals vor zwei Jahren ein Champagnergelage nach dem andern gab?

ANNA.
Ich trage seinen Namen.
RASPE.

Das hätte ich mir doch denken können! – Wollen Sie dem Herrn Grafen, bitte, meinen aufrichtigsten Glückwunsch zu seiner Wahl aussprechen?

ANNA.
Das ist mir nicht mehr möglich.
RASPE.
Sie leben selbstverständlich getrennt?
ANNA.

Selbstverständlich, ja. Da Stimmen auf dem Korridor laut werden. Ich erzähle Ihnen das ein anderes Mal.


Von Keith tritt ein mit den Herren Ostermeier, Krenzl und Grandauer, alle drei mehr oder weniger schmerbäuchige triefäugige Münchner Pfahlbürger. Ihnen folgt Sascha.
VON KEITH.

Das trifft sich ausgezeichnet, daß ich Sie gleich mit einer unserer ersten Künstlerinnen bekannt machen kann. – Sascha, trag den Kram hinaus!

SASCHA
mit dem Frühstücksgeschirr ins Wohnzimmer ab.
VON KEITH
vorstellend.

Herr Bierbrauereibesitzer Ostermeier, Herr Baumeister Krenzl, Herr Restaurateur Grandauer, die Karyatiden des Feenpalastes – Frau Gräfin Werdenfels. [463] Aber Ihre Zeit ist gemessen, meine Herren; Sie wollen die Pläne sehen. Nimmt die Pläne vom Schreibtisch und entrollt sie auf dem Mitteltisch.

OSTERMEIER.
Lassen's Ihnen Zeit, verehrter Freund. Auf fünf Minuten kommt es nicht an.
VON KEITH
zu Grandauer.

Wollen Sie bitte halten. – Was Sie hier sehen, ist der große Konzertsaal mit entfernbarem Plafond und Oberlicht, so daß er im Sommer als Ausstellungspalast dienen kann. Daneben ein kleinerer Bühnensaal, den ich durch die allermodernste Kunstgattung populär machen werde, wissen Sie, was so halb Tanzboden und halb Totenkammer ist. Das Allermodernste ist immer die billigste und wirksamste Reklame.

OSTERMEIER.
Hm – haben's auch auf die Toiletten nicht vergessen?
VON KEITH.

Hier sehen Sie die Garderoben- und Toilettenverhältnisse in durchgreifendster Weise gelöst. – Hier, Herr Baumeister, der Frontaufriß: Auffahrt, Giebelfeld und Karyatiden.

KRENZL.
I mecht denn aber fein net mit von dena Karyatiden sein!
VON KEITH.
Das ist doch ein Scherz von mir, mein verehrter Herr!
KRENZL.

Was saget denn mei Alte, wann i mi da heroben wollt als Karyatiden aushauen lassen, nachher noch gar an eim Feenpalast!

GRANDAUER.
Wissens, mir als Restaratär is halt d' Hauptsach bei dera G'schicht, daß i Platz hab.
VON KEITH.
Für die Restaurationslokalitäten, mein lieber Herr Grandauer, ist das ganze Erdgeschoß vorgesehen.
GRANDAUER.
Zum Essen und Trinken megen d' Leit halt net so eingepfercht sein als wie beim Kunstgenuß.
VON KEITH.

Für den Nachmittagskaffee, lieber Herr Grandauer, haben Sie hier eine Terrasse im ersten Stock mit großartiger Aussicht auf die Isaranlagen.

OSTERMEIER.
I mecht Sie halt nur noch bitten, verehrter Freund, daß Sie uns Ihre Eröffnungsbilanz sehen lassen.
VON KEITH
ein Schriftstück produzierend.

Viertausend Anteilscheine à Fünftausend, macht rund zwanzig Millionen Mark. – Ich gehe von der Bedingung aus, meine Herren, [464] daß jeder von uns vierzig Vorzugsaktien zeichnet und schlankweg einzahlt. Die Rentabilitätsberechnung, sehen Sie, ist ganz außergewöhnlich niedrig gestellt.

KRENZL.
Es fragt sich jetzt halt nur noch, ob der Magistrat die Bedürfnisfrag bejaht.
VON KEITH.

Deshalb wollen wir außer den Aktien eine Anzahl Genußscheine ausgeben und der Stadt einen Teil davon zu wohltätigen Zwecken zur Verfügung stellen. – Für die Vorstandsmitglieder sind zehn Prozent Tantiemen vom Reingewinn vor Abzug der Abschreibungen und Reserven vorgesehen.

OSTERMEIER.
Alles was recht ist. Mehr kann man nicht verlangen.
VON KEITH.

Den Börsenmarkt muß man etwas bearbeiten. Ich fahre deshalb morgen nach Paris. Heute in vierzehn Tagen findet unsere Gründungsfeier in meiner Villa an der Briennerstraße statt.


Anna zuckt zusammen.
OSTERMEIER.
Wann's bis zu dera Gründungsfeier halt nur auch den Konsul Casimir dazu brächten, daß er mitmacht!
KRENZL.

Das wär halt g'scheit. Wann mir den Konsul Casimir haben, nachher sagt der Magistrat eh' zu allem ja.

VON KEITH.

Ich hoffe, meine Herren, wir werden schon vor dem Fest eine Generalversammlung einberufen können. Da werden Sie sehen, ob ich Ihre Anregungen in bezug auf den Konsul Casimir zu berücksichtigen weiß.

OSTERMEIER
schüttelt ihm die Hand.

Dann wünsche ich vergnügte Reise, verehrter Freund. Lassen Sie uns aus Paris etwas hören. Sich gegen Anna verbeugend. Habe die Ehre, mich zu empfehlen; mein Kompliment.

GRANDAUER.
Ich empfehle mich; habe die Ehre, guten Nachmittag zu wünschen.
KRENZL.
Meine Hochachtung. Servus!

Von Keith geleitet die Herren hinaus.
ANNA
nachdem er zurückgekommen.
Was in aller Welt fällt dir denn ein, deine Gründungsfeier in meinem Haus zu veranstalten?!
VON KEITH.

Ich werde dir in Paris eine Konzerttoilette anfertigen [465] lassen, in der du zum Singen keine Stimme mehr nötig hast. – Zu Raspe. Von Ihnen, Herr Kriminalkommissar, erwarte ich, daß Sie an unserer Gründungsfeier die Gattinnen der drei Karyatiden mit dem ganzen Liebreiz Ihrer Persönlichkeit bezaubern.

RASPE.
Die Damen werden sich nicht über mich zu beklagen haben.
VON KEITH
ihm Geld gebend.

Hier haben Sie dreihundert Mark. Ein Feuerwerk bringe ich aus Paris mit, wie es die Stadt München noch nicht gesehen hat.

RASPE
das Geld einsteckend.
Das hat er von dem Genußmenschen bekommen.
VON KEITH
zu Anna.

Ich verwerte jeden Sterblichen seinen Talenten entsprechend und muß meinen näheren Bekannten Herrn Kriminalkommissar Raspe gegenüber etwas Vorsicht anempfehlen.

RASPE.

Wenn man, wie Sie, wie vom Galgen geschnitten aussieht, dann ist es keine Kunst, ehrlich durchs Leben zu kommen. Ich wollte sehen, wo Sie mit meinem Engelsgesicht heute steckten!

VON KEITH.
Ich hätte mit Ihrem Gesicht eine Prinzessin geheiratet.
ANNA
zu Raspe.
Wenn mir recht ist, lernte ich Sie doch seinerzeit unter einem französischen Namen kennen.
RASPE.

Französische Namen führe ich nicht mehr, seitdem ich ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft geworden bin. – Erlauben Sie, daß ich mich Ihnen empfehle.


Ab.
ANNA.
Ich bin aber doch mit meiner Bedienung nicht darauf eingerichtet, große Soupers zu geben!
VON KEITH
ruft.
Sascha!
SASCHA
kommt aus dem Wartezimmer.
Herr Baron?
VON KEITH.
Willst du an dem Gartenfest bei meiner Freundin bedienen helfen?
SASCHA.
Dös is mir a Freud, Herr Baron.

Ab.
VON KEITH.
Darf ich dir heute meinen ältesten Jugendfreund, den Grafen Trautenau, vorstellen?
ANNA.
Ich habe mit Grafen kein Glück.
VON KEITH.

Das macht nichts. Ich bitte dich nur darum, meine Familienverhältnisse nicht mit ihm zu erörtern. Er ist nämlich wirklich Moralist, von Natur und aus Überzeugung. [466] Er hat mich meiner Häuslichkeit wegen heute schon ins Gebet genommen.

ANNA.
Allmächtiger Gott, der will sich doch nicht etwa zum Genußmenschen ausbilden?!
VON KEITH.

Das ist Selbstironie! Er lebt, seit ich ihn kenne, in nichts als Aufopferung, ohne zu merken, daß er zwei Seelen in seiner Brust hat.

ANNA.
Auch das noch! Ich finde, man hat an einer schon zuviel. – Aber heißt der nicht Scholz?
VON KEITH.
Seine eine Seele heißt Ernst Scholz und seine andere Graf Trautenau.
ANNA.

Dann bedanke ich mich! Ich will nichts mit Menschen zu tun haben, die mit sich selber nicht im reinen sind.

VON KEITH.

Er ist ein Ausbund von Reinheit. Die Welt hat ihm keinerlei Genuß mehr zu bieten, wenn er nicht wieder von unten anfängt.

ANNA.
Der Mensch soll doch lieber noch eine Treppe höher steigen!
VON KEITH.
Was erregt dich denn so?
ANNA.
Daß du mich mit diesem fürchterlichen Ungeheuer verkuppeln willst!
VON KEITH.
Er ist lammfromm.
ANNA.
Ich danke schön! Ich werde doch das verkörperte Unglück nicht in meinem Boudoir empfangen!
VON KEITH.

Du verstehst mich wohl nicht recht. Ich kann sein Vertrauen augenblicklich nicht entbehren und will mich deshalb seiner Mißbilligung nicht aussetzen. Wenn er dich nicht kennenlernt, um so besser für mich, dann habe ich keine Vorwürfe von ihm zu fürchten.

ANNA.
Wer will bei dir wissen, wo die Berechnung aufhört!
VON KEITH.
Was dachtest du dir denn?
ANNA.
Ich glaubte, du wolltest mich bei deinem Freund als Dirne verwerten.
VON KEITH.
Das traust du mir zu?!
ANNA.

Du sagtest vor einer Minute noch, daß du jeden Sterblichen nach seinen Talenten verwertest. Und daß ich Talent zur Dirne habe, das wird doch wohl niemand in Zweifel ziehen.

VON KEITH
Anna in die Arme schließend.

Anna – ich fahre morgen nach Paris, nicht um den Börsenmarkt zu bearbeiten [467] oder um Feuerwerk einzukaufen, sondern weil ich frische Luft atmen muß, weil ich mir die Arme ausrecken muß, wenn ich meine überlegene Haltung hier in München nicht verlieren will. Würde ich dich, Anna, mit nach Paris nehmen, wenn du mir nicht mein Alles wärst?! – – Weißt du, Anna, daß keine Nacht vergeht, ohne daß ich dich im Traum mit einem Diadem im Haar vor mir sehe? Wenn es darauf ankommt, für dich einen Stern vom Firmament zu holen, ich schrecke nicht davor zurück, ich finde Mittel und Wege.

ANNA.
Verwerte mich doch als Dirne! – Du wirst ja sehen, ob ich dir etwas einbringe!
VON KEITH.

Dabei habe ich in diesem Augenblick keinen anderen Gedanken in meinem Kopf, als die Konzerttoilette, die ich dir bei Saint-Hilaire anfertigen lassen werde ...

SASCHA
kommt vom Vorplatz herein.
Ein Herr Sommersberg möcht' um die Ehr' bitten.
VON KEITH.

Laß ihn eintreten. Zu Anna, die Toilette markierend. Eine Silberflut von hellvioletter Seide und Pailletten von den Schultern bis auf die Knöchel, so eng geschnürt und vorn und hinten so tief ausgeschnitten, daß das Kleid nur wie ein glitzerndes Geschmeide auf deinem schlanken Körper erscheint!


Sommersberg ist eingetreten, Ende der Dreißiger, tiefgefurchtes Antlitz, Haar und Bart graumeliert und ungekämmt. Ein dicker Winterüberrock verdeckt seine ärmliche Kleidung, zerrissene Glacéhandschuhe.
SOMMERSBERG.
Ich bin der Verfasser der »Lieder eines Glücklichen«. Ich sehe nicht danach aus.
VON KEITH.
So habe ich auch schon ausgesehen!
SOMMERSBERG.

Ich hätte auch den Mut nicht gefunden, mich an Sie zu wenden, wenn ich nicht tatsächlich seit zwei Tagen beinah nichts gegessen hätte.

VON KEITH.
Das ist mir hundertmal passiert. Wie kann ich Ihnen helfen?
SOMMERSBERG.
Mit einer Kleinigkeit – für ein Mittagbrot ...
VON KEITH.
Zu etwas Besserem tauge ich Ihnen nicht?
SOMMERSBERG.
Ich bin Invalide.
VON KEITH.
Sie haben aber das halbe Leben noch vor sich!
[468]
SOMMERSBERG.

Ich habe mein Leben daran vergeudet, den hohen Erwartungen, die man in mich setzte, gerecht zu werden.

VON KEITH.

Vielleicht finden Sie doch noch eine Strömung, die Sie aufs offene Meer hinausträgt. – Oder zittern Sie um Ihr Leben?

SOMMERSBERG.
Ich kann nicht schwimmen; und hier in München erträgt sich die Resignation nicht schwer.
VON KEITH.

Kommen Sie doch heute in vierzehn Tagen zu unserer Gründungsfeier in der Briennerstraße. Da können sich Ihnen die nützlichsten Beziehungen erschließen. Gibt ihm Geld. Hier haben Sie hundert Mark. Behalten Sie so viel von dem Geld übrig, daß Sie sich für den Abend einen Gesellschaftsanzug leihen können.

SOMMERSBERG
zögernd das Geld nehmend.
Ich habe das Gefühl, als betrüge ich Sie ...
VON KEITH.

Betrügen Sie sich selbst nicht! Dadurch tun Sie schon ein gutes Werk an dem nächsten armen Teufel, der zu mir kommt.

SOMMERSBERG.
Ich danke Ihnen, Herr Baron.

Ab.
VON KEITH.

Bitte, gar keine Ursache! Nachdem er die Tür hinter ihm geschlossen, Anna in die Arme schließend. Und jetzt, meine Königin, fahren wir nach Paris!

[469]

3. Akt

Dritter Aufzug

Man sieht einen mit elektrischen Lampen erleuchteten Gartensaal, von dem aus eine breite Glastür in der rechten Seitenwand in den Garten hinausführt. Die Mitteltür in der Hinterwand führt ins Speisezimmer, in dem getafelt wird. Beim Öffnen der Tür erblickt man das obere Ende der Tafel. In der linken Seitenwand eine Tür mit Portiere zum Spielzimmer, durch das man ebenfalls in den Speisesaal gelangt. Neben derselben ein Pianino. Rechts vorn ein Damenschreibtisch, links vorn eine Causeuse, Sessel, Tischchen u.a. In der Ecke rechts hinten führt eine Tür zum Vorplatz. Im Speisezimmer wird ein Toast ausgebracht. Während die Gläser erklingen, kommen Sommersberg, in dürftiger Eleganz, und von Keith, im Gesellschaftsanzug, durch die Mitte in den Salon.

VON KEITH
die Tür hinter sich schließend.
Sie haben das Telegramm aufgesetzt?
SOMMERSBERG
ein Papier in der Hand, liest.

»Die Gründung der Münchner Feenpalast-Gesellschaft versammelte gestern die Notabilitäten der fröhlichen Isarstadt zu einer äußerst animierten Gartenfeier in der Villa des Marquis von Keith in der Briennerstraße. Bis nach Mitternacht entzückte ein großartiges Feuerwerk die Bewohner der anliegenden Straßen. Wünschen wir dem unter so günstigen Auspizien begonnenen Unternehmen ...?«

VON KEITH.
Ausgezeichnet! – Wen schicke ich denn damit aufs Telegraphenamt ...?
SOMMERSBERG.
Lassen Sie mich das besorgen. Auf all den Sekt hin tut es mir gut, etwas frische Luft zu schöpfen.

Sommersberg nach dem Vorplatz ab; im gleichen Moment kommt Ernst Scholz herein; er ist in Gesellschaftstoilette und Paletot.
VON KEITH.
Du läßt lange auf dich warten!
[470]
SCHOLZ.
Ich komme auch nur, um dir zu sagen, daß ich nicht hier bleibe.
VON KEITH.

Dann macht man sich über mich lustig! Der alte Casimir läßt mich schon im Stich; aber der schickt doch wenigstens ein Glückwunschtelegramm.

SCHOLZ.

Ich gehöre nicht unter Menschen! Du beklagst dich, du stehest außerhalb der Gesellschaft; ich stehe außerhalb der Menschheit!

VON KEITH.
Genießt du denn jetzt nicht alles, was sich ein Mensch nur erträumen kann?!
SCHOLZ.

Was genieße ich denn! Der Freudentaumel, in dem ich schwelge, läßt mich zwischen mir und einem Barbiergesellen keinen Unterschied mehr erkennen. Allerdings habe ich für Rubens und Richard Wagner schwärmen gelernt. Das Unglück, das früher mein Mitleid erregte, ist mir durch seine Häßlichkeit schon beinahe unausstehlich. Um so andächtiger bewundere ich dafür die Kunstleistungen von Tänzerinnen und Akrobatinnen. – Wäre ich bei alledem aber nur um einen Schritt weiter! Meines Geldes wegen läßt man mich allenfalls für einen Menschen gelten. Sobald ich es sein möchte, stoße ich mit meiner Stirn gegen unsichtbare Mauern an!

VON KEITH.

Wenn du die Glückspilze beneidest, die aufwachsen, wo gerade Platz ist, und weggeblasen werden, sobald sich der Wind dreht, dann suche kein Mitleid bei mir! Die Welt ist eine verdammt schlaue Bestie, und es ist nicht leicht, sie unterzukriegen. Ist dir das aber einmal gelungen, dann bist du gegen jedes Unglück gefeit.

SCHOLZ.

Wenn dir solche Phrasen zur Genugtuung gereichen, dann habe ich auch in der Tat nichts bei dir zu suchen.


Will sich entfernen.
VON KEITH
hält ihn auf.

Das sind keine Phrasen! Mir kann heute kein Unglück mehr etwas anhaben. Dazu kennen wir uns zu gut, ich und das Unglück. Ein Unglück ist für mich eine günstige Gelegenheit wie jede andere. Unglück kann jeder Esel haben; die Kunst besteht darin, daß man es richtig auszubeuten versteht!

SCHOLZ.

Du hängst an der Welt wie eine Dirne an ihrem Zuhälter. [471] Dir ist es unverständlich, daß man sich zum Ekel wird wie ein Aas, wenn man nur um seiner selbst willen existiert.

VON KEITH.

Dann sei doch in des Dreiteufels Namen mit deiner himmlischen Laufbahn zufrieden! Hast du erst einmal dieses Fegefeuer irdischer Laster und Freuden hinter dir, dann blickst du auf mich elenden armseligen Sünder wie ein Kirchenvater herab!

SCHOLZ.

Wäre ich nur erst im Besitz meiner angeborenen Menschenrechte! Lieber mich wie ein wildes Tier in die Einöden verkriechen als Schritt für Schritt meiner Existenz wegen um Verzeihung bitten müssen! – – Ich kann nicht hierbleiben. – Ich begegnete gestern der Gräfin Werdenfels. – Wodurch ich sie gekränkt habe, das ist mir einfach unverständlich. Vermutlich verfiel ich unwillkürlich in einen Ton, wie ich ihn mir im Verkehr mit unserer Simba angewöhnt habe.

VON KEITH.

Ich habe von Frauen schon mehr Ohrfeigen bekommen, als ich Haare auf dem Kopfe habe! Hinter meinem Rücken hat sich aber deswegen noch keine über mich lustig gemacht!

SCHOLZ.

Ich bin ein Mensch ohne Erziehung! – und das gegenüber einer Frau, der ich die allergrößte Ehrerbietung entgegenbringe!

VON KEITH.

Wem wie dir von Jugend auf jeder Schritt zu einem seelischen Konflikt auswächst, der beherrscht seine Zeit und regiert die Welt, wenn wir andern längst von den Würmern gefressen sind!

SCHOLZ.

Und dann die kleine Simba, die heute abend hier bei dir als Aufwärterin figuriert! – Solch einer heikeln Situation wäre der gewandteste Diplomat nicht gewachsen!

VON KEITH.
Simba kennt dich nicht!
SCHOLZ.

Ich fürchte nicht, daß mir Simba zu nahetritt; ich fürchte Simba zu kränken, wenn ich sie hier ohne die geringste Veranlassung übersehe.

VON KEITH.

Wie solltest du denn Simba damit kränken! Simba versteht sich hundertmal besser auf Standesunterschiede als du.

SCHOLZ.

Auf Standesunterschiede habe ich mich gründlich verstehen gelernt! Das sind weiß Gott diejenigen Fesseln, [472] in denen sich der Mensch am allereindringlichsten seiner vollkommenen Ohnmacht bewußt wird!

VON KEITH.

Glaubst du vielleicht, ich habe mit keinerlei Ohnmacht zu kämpfen?! Ob mein Benehmen so korrekt wie der Lauf der Planeten ist, ob ich mich in die ausgesuchteste Eleganz kleide, das ändert diese Plebejerhand so wenig, wie es aus einem Dummkopf je eine Kapazität macht! Bei meinen Geistesgaben hätte ich mich ohne diese Hände auch längst eines besseren Rufes in der Gesellschaft zu erfreuen. – Komm, es ist sicherer, wenn du deinen Paletot im Nebenzimmer ablegst!

SCHOLZ.
Erlaß es mir! Ich kann heute kein ruhiges Wort mit der Gräfin sprechen.
VON KEITH.
Dann halte dich an die beiden geschiedenen Frauen; die laborieren in ähnlichen Konflikten wie du.
SCHOLZ.
Gleich zwei auf einmal?!
VON KEITH.

Keine über fünfundzwanzig, vollendete Schönheiten, uralter nordischer Adel, und so hypermodern in ihren Grundsätzen, daß ich mir wie ein altes Radschloßgewehr erscheine.

SCHOLZ.
Ich glaube, mir fehlt auch nicht mehr viel zu einem modernen Menschen.

Scholz geht ins Spielzimmer ab; von Keith will ihm folgen, doch kommt im selben Moment Saranieff vom Vorplatz herein.
SARANIEFF.
Sagen Sie, kriegt man noch was zu essen?
VON KEITH.
Lassen Sie bitte Ihren Havelock draußen! – Ich habe noch den ganzen Tag nichts gegessen.
SARANIEFF.
Hier nimmt man's doch nicht so genau. Ich muß Sie nur vorher etwas Wichtiges fragen.

Saranieff hängt Hut und Havelock im Vorplatz auf; derweil kommt Sascha in Frack und Atlas-Kniehosen mit einem gefüllten Champagnerkühler aus dem Spielzimmer und will in den Speisesaal.
VON KEITH.

Wenn du nachher das Feuerwerk abbrennst, Sascha, dann nimm dich ja vor dem großen Mörser in acht! Der ist mit der ganzen Hölle geladen!

SASCHA.
I hab koa Angst net, Herr Baron!

In den Speisesaal ab, die Tür hinter sich schließend.
[473]
SARANIEFF
kommt vom Vorplatz zurück.
Haben Sie Geld?
VON KEITH.
Sie haben doch eben erst ein Bild verkauft! Wozu schicke ich Ihnen denn meinen Jugendfreund!
SARANIEFF.

Was soll ich denn mit der ausgepreßten Zitrone. Sie haben ihn ja schon bis aufs Hemd ausgeraubt. Er muß drei Tage warten, bis er mir einen Pfennig bezahlen kann.

VON KEITH
gibt ihm einen Schein.
Da haben Sie tausend Mark.

Simba, ein echtes Münchner Mädel, mit frischen Farben, leichtem Schritt, üppigem roten Haar, in geschmackvollem schwarzen Kleid mit weißer Latzschürze, kommt mit einem Tablett voll halbleerer Weingläser aus dem Speisesaal.
SIMBA.
Der Herr Kommerzienrat möchten noch an Spruch auf den Herrn Baron ausbringen.

Von Keith nimmt ihr eines der Gläser ab und tritt inmitten der offenen Tür an die Tafel. Simba ins Spielzimmer ab.
VON KEITH.

Meine Damen und Herren! Die Feier des heutigen Abends bedeutet für München den Beginn einer alles Vergangene überstrahlenden Ära. Wir schaffen eine Kunststätte, in der alle Kunstgattungen der Welt ihr gastliches Heim finden sollen. Wenn unser Unternehmen allgemeine Überraschung hervorgerufen, so seien Sie der Tatsache eingedenk, daß stets nur das wahrhaft Überraschende von großen Erfolgen gekrönt war. Ich leere mein Glas zu Ehren des Lebenselementes, das München zur Kunststadt weiht, zu Ehren des Münchner Bürgertums und seiner schönen Frauen.


Während noch die Gläser erklingen, kommt Sascha aus dem Speisesaal, schließt die Tür hinter sich und geht ins Spielzimmer ab. – Simba kommt mit einer
Käseglocke aus dem Spielzimmer und will in den Speisesaal.
SARANIEFF
sie aufhaltend.

Simba! Bist du denn mit Blindheit geschlagen?! Bemerkst du denn nicht, Simba, daß dein Genußmensch auf dem besten Wege ist, dir aus dem Garn zu gehen und sich von dieser Gräfin aus der Perusastraße einfangen zu lassen?!

[474]
SIMBA.
Was bleibst denn da heraußen? – Geh her, setz dich mit an den Tisch!
SARANIEFF.

Ich werde mich unter die Karyatiden setzen! – Simba! Willst du denn das ganze schöne Geld, das dein Genußmensch in der Tasche hat, diesem wahnsinnigen Marquis von Keith in den Rachen jagen?!

SIMBA.
Geh, laß mi aus! I muaß servieren!
SARANIEFF.

Die Karyatiden brauchen keinen Käse mehr! Die sollen sich endlich den Mund wischen!Setzt die Käseglocke auf den Tisch und nimmt Simba auf die Knie. Simba! Hast du denn gar kein Herz mehr für mich?! Soll ich mir von dem Marquis die Zwanzigmarkstücke unter Heulen und Zähneklappern erbetteln, während du die Tausendmarkscheine frisch aus der Quelle schöpfen kannst?!

SIMBA.

I dank schön! Es hat mi fein noch koa Mensch auf dera Welt äso sekiert as wie der Genußmensch mit seim Mitg'fühl, seim damische! Mir will der Mensch einreden, daß ich a Märtyrerin der Zivilisation bin! Hast scho so was g'hört?! Ich und a Märtyrerin der Zivilisation! Ich hab ihm g'sagt: Sag du das dena Damen in der G'sellschaft, hab i g'sagt. Die freut's, wann's heißt, sie san Märtyrerinnen der Zivilisation, weil's sunst eh nix san! Wann ich an Schampus trink und mich amüsier, so viel ich Lust hab, nachher bin ich a Märtyrerin der Zivilisation!

SARANIEFF.

Simba! Wenn ich ein Weib von deinen Qualitäten wäre, der Genußmensch müßte mir jeden feuchten Blick mit einer Ahnenburg aufwiegen!

SIMBA.

Akkurat a solche Sprüch macht er a! Warum as er a Mann ist, fragt er mi. Als gäb's net schon G'spenster gnua auf dera Welt! Frag i denn an Menschen, warum daß ich a Madel bin?!

SARANIEFF.

Du fragst auch nichts danach, uns wegen deiner verwünschten Vorurteile fünfzig Millionen aus dem Netz gehen zu lassen!

SIMBA.

Mei, die traurigen Millionen! An oanzigs Mal, seit ich den Genußmenschen kenn, hab ich ihn lachen g'sehn. I hab ihm doch g'sagt, dem Genußmenschen, daß er muaß Radfahren lernen. Nachher hat er's g'lernt. Mir [475] also radeln nach Schleißheim, und wie mir im Wald san, bricht a G'witter los, daß i moan, d' Welt geht unter. Da zum erstenmal, seit ich ihn kenn, fangt er z'lachen an. Mei, wie der g'lacht hat! Na, sag i, jetzt bist der rechte Genußmensch! Bei jedem Blitzschlag hat er g'lacht. Je mehr als blitzt und donnert hat, je narrischer lacht der! – Geh, stell dich doch net unter den Baum, sag i, da derschlagt di ja der Blitz! – Mi derschlagt koa Blitz net, sagt er, und lacht und lacht!

SARANIEFF.
Simba! Simba! Du hättest unmittelbare Reichsgräfin werden können!
SIMBA.

I dank schön! Sozialdemokratin hätt i können werden. Weltverbesserung, Menschheitsbeglückung, das san so dem seine Spezialitäten. Noa, woaßt, ich bin fein net für die Sozialdemokraten. Die san mir z'moralisch! Wann die amal z'regieren anfangen, nachher da is aus mit die Champagnersoupers. – Sag du, hast mei Schatz net g'sehn?

SARANIEFF.
Ob ich deinen Schatz nicht gesehen habe? Dein Schatz bin doch ich!
SIMBA.

Da könnt a jeder kommen! – Woast, i muaß fein Obacht geben, daß er koan Schwips kriagt, sunst engagiert ihm der Marquis net für den neuen Feenpalast.


Sommersberg kommt vom Vorplatz herein.
SIMBA.
Da is er ja! Wo steckst denn du die ganze Ewigkeit?
SOMMERSBERG.
Ich habe ein Telegramm an die Zeitungen abgeschickt.
SARANIEFF.

Die Gräber tun sich auf! Sommersberg! Und Sie schämen sich nicht, von den Toten aufzuerstehen, um Sekretär dieses Feenpalastes zu werden?!

SOMMERSBERG
auf Simba deutend.
Dieser Engel hat mich der Welt zurückgegeben.
SIMBA.

Geh, sei stad, Schatzerl! – Kommt er und fragt mi, wo mer a Geld kriagt. – Geh halt zum Marquis von Keith, sag i; wann der koans hat, nachher findst in der ganzen Münchner Stadt koan Pfenning net.

RASPE
in elegantester Gesellschaftstoilette, eine kleine Kette mit Orden auf der Brust, kommt aus dem Spielzimmer.
[476] Simba, das ist einfach skandalös, daß du die ganze Feenpalastgesellschaft auf Käse warten läßt!
SIMBA
ergreift die Käseglocke.
Jesus Maria – i komm schon!
SARANIEFF.
Bleiben Sie doch bei Ihren alten Schrauben, für die Sie engagiert sind!
SIMBA
Raspes Arm nehmend.

Laß mir du das Buberl in Ruh'! – Ihr beid' wärt's froh: wann's mitsamt aso guat g'stellt wart as wie der!

SARANIEFF.
Simba – du bist eine geborene Dirne!
SIMBA.
Was bin i?
SARANIEFF.
Du bist eine geborene Dirne!
SIMBA.
Sagst das noch amal?
SARANIEFF.
Du bist eine geborene Dirne!!
SIMBA.
Nein, ich bin keine geborene Dirne. Ich bin eine geborene Käsbohrer.

Mit Raspe ins Spielzimmer ab.
SOMMERSBERG.
Ich diktiere ihr ja selbst ihre Liebesbriefe.
SARANIEFF.
Dann habe ich mich also bei Ihnen für meine zertrümmerten Luftschlösser zu bedanken!
SASCHA
kommt mit einer brennenden Laterne aus dem Spielzimmer.
SARANIEFF.
Donnerwetter, bist du geschniegelt! Du willst hier wohl auch eine Gräfin heiraten?
SASCHA.

Jetzt geh i das Feuerwerk im Garten abbrennen. Wann i den großen Mörser anzünd', na werden's aber schaun! Der Herr Marquis sagt, der is mit der ganzen Höll' g'laden. –


Ab in den Garten.
SARANIEFF.

Sein Herr fürchtet, er könnte mit in die Luft fliegen, wenn er seinen Mörser mit dem Feuerwerk drinnen selbst abbrennt! – Das Glück weiß sehr wohl, warum es den nicht aufsitzen läßt! – Sobald er im Sattel sitzt, hetzt er das Tier zuschanden, daß ihm keine Faser mehr auf den Rippen bleibt! – Da sich die Mitteltür öffnet und die Gäste den Speisesaal verlassen. Kommen Sie, Sommersberg! Jetzt lassen wir uns von unserer Simba ein lukullisches Mahl auftischen!


Die Gäste strömen in den Salon; voran Raspe zwischen Frau Kommerzienrat Ostermeier und Frau Krenzl; [477] dann von Keith mit Ostermeier, Krenzl und Grandauer; dann Zamrjaki mit Freifrau von Rosenkron und Freifrau von Totleben, zuletzt Scholz und Anna. – Saranieff und Sommersberg nehmen an der Tafel im Speisesaal Platz.
RASPE.
Darf ich die fürstlichen Hoheiten zu einer Tasse köstlichen Mokkas geleiten?
FRAU OSTERMEIER.
Nein, a so an liebenswürdigen Kavalier wie Ihnen find't man in ganz Süddeutschland net!
FRAU KRENZL.

An Ihnen könnten sich fein unsere hochadeligen Herren von der königlichen Equitation a Muster nehmen!

RASPE.
Ich gebe jeden Augenblick mein Ehrenwort darauf, daß dies der seligste Moment meines Lebens ist. –

Mit den beiden Damen ins Spielzimmer ab.
OSTERMEIER
zu von Keith.

's ist immerhin schön vom alten Casimir, wissen's, daß er a Glückwunschtelegramm g'schickt hat. Aber schaun's, verehrter Freund, der alte Casimir, das is halt an vorsichtiger Mann!

VON KEITH.

Macht nichts! Macht nichts! Bei der ersten Generalversammlung haben wir den alten Casimir in unserer Mitte. – Wollen die Herren eine Tasse Kaffee trinken?


Ostermeier, Krenzl und Grandauer ins Spielzimmer ab.
FREIFRAU VON ROSENKRON
zu von Keith, der den Herren folgen will.
Versprechen Sie mir, Marquis, daß Sie mich für den Feenpalast zur Tänzerin ausbilden lassen.
FREIFRAU VON TOTLEBEN.
Und daß Sie mich zur Kunstreiterin ausbilden lassen!
VON KEITH.

Ich schwöre Ihnen, meine Göttinnen, daß wir ohne Sie den Feenpalast nicht eröffnen werden! – Was ist denn mit Ihnen, Zamrjaki? Sie sind ja totenbleich ...

ZAMRJAKI
ein schmächtiger, kleiner Konservatorist mit gescheitelten, langen, schwarzen Locken; spricht mit polnischem Akzent.

Arbeite ich Tag und Nacht an Symphonie meiniges. – Von Keith beiseite nehmend. Erlauben, Herr Marquis, daß ich bitte, möchten geben Vorschuß zwanzig [478] Mark auf Gage von Kapellmeister von Feenpalastorchester.

VON KEITH.

Mit dem allergrößten Vergnügen. Gibt ihm Geld. Können Sie uns aus Ihrer neuen Symphonie nächstens nicht etwas in einem meiner Feenpalastkonzerte vorspielen?

ZAMRJAKI.
Werde ich spielen Scherzo. Scherzo wird haben großen Erfolg.
FREIFRAU VON ROSENKRON
an der Glastür zum Garten.
Nein, dieses Lichtermeer! Martha, sieh nur! – Kommen Sie, Zamrjaki, begleiten Sie uns in den Garten!
ZAMRJAKI.
Komm ich schon, Damen! Komm ich schon.

Mit Freifrau von Rosenkron und Freifrau von Totleben in den Garten ab.
VON KEITH
ihnen folgend.

Tod und Teufel, Kinder, bleibt von dem großen Mörser weg! Der ist mit meinen prachtvollsten Raketen geladen!


In den Garten ab. Simba schließt vom Speisesaal aus die Mitteltür. – Anna und Scholz bleiben allein im Salon.
ANNA.

Ich wüßte nichts in der Welt, was ich Ihnen jemals hätte übelnehmen können. Sollte Ihnen die Taktlosigkeit, von der Sie sprechen, nicht vielleicht mit irgendeiner anderen Dame begegnet sein?

SCHOLZ.

Das ist völlig ausgeschlossen. Aber sehen Sie, ich bin ja so glücklich wie ein Mensch, der von frühester Kindheit auf im Kerker gelegen hat und der nun zum erstenmal in seinem Leben freie Luft atmet. Deshalb mißtraue ich mir auch noch bei jedem Schritt, den ich wage; so ängstlich zittre ich um mein Glück.

ANNA.

Ich kann es mir sehr verlockend vorstellen, sein Leben im Dunkeln und mit geschlossenen Augen zu genießen!

SCHOLZ.

Sehen Sie, Frau Gräfin, wenn es mir gelingt, mein Dasein für irgendeine gemeinnützige Bestrebung einzusetzen, dann werde ich meinem Schöpfer nicht genug dafür danken können.

ANNA.
Ich glaubte, Sie wollten sich hier in München zum Genußmenschen ausbilden?
[479]
SCHOLZ.

Meine Ausbildung zum Genußmenschen ist für mich nur Mittel zum Zweck. Ich gebe Ihnen meine heiligste Versicherung darauf! Halten Sie mich deswegen nicht etwa für einen Heuchler! – Ach, es gibt ja noch so viel Gutes zu erkämpfen in dieser Welt! Ich finde schon meinen Platz. Je dichter es Schläge regnet, um so teurer wird mir meine Haut sein, die mir bis jetzt so unsagbar lästig war. Und der einen Tatsache bin ich mir vollkommen sicher: Sollte es mir jemals gelingen, mich um meine Mitmenschen verdient zu machen, mir werde ich das nie und nimmer zum Verdienst anrechnen! Führe mein Weg mich aufwärts oder führe er mich abwärts, ich gehorche nur dem grausamen unerbittlichen Selbsterhaltungstrieb!

ANNA.

Vielleicht erging es allen berühmten Menschen so, daß sie nur deshalb berühmte Menschen wurden, weil ihnen der Verkehr mit uns gewöhnlicher Dutzendware auf die Nerven fiel!

SCHOLZ.

Sie mißverstehen mich noch immer, Frau Gräfin. – Sobald ich meinen Wirkungskreis gefunden habe, werde ich der bescheidenste, dankbarste Gesellschafter sein. Ich habe hier in München schon damit angefangen, Rad zu fahren. Mir war dabei zumut, als hätte ich die Welt seit meinen frühesten Kindertagen nicht mehr gesehen. Jeder Baum, jedes Wasser, die Berge, der Himmel, alles wie eine große Offenbarung, die ich in einem andern Leben einmal vorausgeahnt hatte. – Darf ich Sie vielleicht einmal zu einer Radpartie abholen?

ANNA.
Paßt es Ihnen morgen früh um sieben Uhr? Oder sind Sie vielleicht kein Freund vom frühen Aufstehen?
SCHOLZ.

Morgen früh um sieben! Ich sehe mein Leben wie eine endlose Frühlingslandschaft vor mir ausgebreitet!

ANNA.
Daß Sie mich aber nicht umsonst warten lassen!

Zamrjaki, Freifrau von Rosenkron und Freifrau von Totleben kommen aus dem Garten zurück. – Simba kommt aus dem Spielzimmer.
FREIFRAU VON ROSENKRON.

Hu, ist das kalt! – Martha, wir müssen nachher unsere Tücher mitnehmen. Spielen Sie uns einen Cancan, Zamrjaki! – Zu Scholz. Tanzen Sie Cancan?

[480]
SCHOLZ.
Ich bedaure, gnädige Frau.
FREIFRAU VON ROSENKRON
zu Freifrau von Totleben.
Dann tanzen wir zusammen!
ZAMRJAKI
hat sich ans Piano gesetzt und intoniert einen Walzer.
FREIFRAU VON ROSENKRON.
Nennen Sie das Cancan, Herr Kapellmeister?!
ANNA
zu Simba.
Aber Sie tanzen doch Walzer?
SIMBA.
Wann's die gnädige Frau befehlen ...
ANNA.
Kommen Sie!

Freifrau von Rosenkron, Freifrau von Totleben, Anna und Simba tanzen Walzer.
FREIFRAU VON ROSENKRON.
Mehr Tempo, bitte!

Von Keith kommt aus dem Garten zurück und dreht die elektrischen Lampen bis auf einige aus, so daß der Salon nur mäßig erhellt bleibt.
ZAMRJAKI
das Spiel ärgerlich abbrechend.
Komm ich bei jedem Takt in Symphonie meiniges!
FREIFRAU VON TOTLEBEN.
Warum wird es denn auf einmal so dunkel?
VON KEITH.

Damit meine Raketen mehr Eindruck machen! – Öffnet die Tür zum Spielzimmer. Darf ich bitten, meine Damen und Herren ...


Raspe, Herr und Frau Ostermeier und Herr und Frau Krenzl kommen in den Salon. – Simba ab.
VON KEITH.

Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, daß noch im Laufe der nächsten Woche das erste unserer großen Feenpalastkonzerte stattfinden wird, die schon jetzt im Münchner Publikum für unsere Sache Propaganda machen sollen. Frau Gräfin Werdenfels wird uns darin mit einigen Liedern allermodernster Vertonung bekannt machen, während Herr Kapellmeister Zamrjaki einige Bruchstücke aus seiner symphonischen Dichtung »Die Weisheit des Brahmanen« eigenhändig dirigieren wird.


Allgemeine Beifallsäußerungen. Im Garten steigt zischend eine Rakete auf und wirft einen rötlichen[481] Schimmer in den Salon. von Keith dreht das elektrische Licht völlig aus und öffnet die Glastür.
VON KEITH.
In den Garten, meine Damen und Herren! In den Garten, wenn Sie etwas sehen wollen!

Eine zweite Rakete steigt auf, während die Gäste den Salon verlassen. – von Keith, der ihnen folgen will, wird von Anna zurückgehalten. – Die Szene bleibt dunkel.
ANNA.
Wie kommst du denn dazu, meine Mitwirkung bei deinem Feenpalastkonzert anzukündigen?!
VON KEITH.

Wenn du darauf warten willst, daß dich deine Lehrerin für die Öffentlichkeit reif erklärt, dann kannst du, ohne je gesungen zu haben, alt und grau werden. – Wirft sich in einen Sessel. Endlich, endlich hat das halsbrecherische Seiltanzen ein Ende! Zehn Jahre mußte ich meine Kräfte damit vergeuden, um nur das Gleichgewicht nicht zu verlieren. – Von heute ab geht es aufwärts!

ANNA.

Woher soll ich denn die Unverfrorenheit nehmen, mit meiner Singerei vor das Münchner Publikum zu treten?!

VON KEITH.
Wolltest du denn nicht in zwei Jahren die erste Wagnersängerin Deutschlands sein?
ANNA.
Das sagte ich doch im Scherz.
VON KEITH.
Das kann ich doch nicht wissen!
ANNA.
Andere Konzerte werden Monate vorher vorbereitet!
VON KEITH.

Ich habe in meinem Leben nicht tausend Entbehrungen auf mich genommen, um mich nach andern Menschen zu richten. Wem deine Singerei nicht gefällt, der berauscht sich an deiner brillanten Pariser Konzerttoilette.

ANNA.
Wenn mich die andern Menschen nur auch mit deinen Augen betrachten wollten!
VON KEITH.
Ich werde dem Publikum schon die richtige Brille aufsetzen!
ANNA.

Du siehst und hörst Phantasiegebilde, sobald du mich vor Augen hast. Du überschätzest meine Erscheinung geradeso, wie du meine Kunst überschätzest.

VON KEITH
aufspringend.

Ich stand noch kaum je im Verdacht, Frauen zu überschätzen, aber dich erkannte ich allerdings [482] auf den ersten Blick! Was Wunder, da ich zehn Jahre lang in zwei verschiedenen Weltteilen nach dir gesucht hatte! Du warst mir auch schon mehrere Male begegnet, aber dann befandest du dich entweder im Besitz eines Banditen, wie ich es bin, oder ich war so reduziert, daß es keinen praktischen Zweck gehabt hätte, in deinen Lichtkreis zu treten.

ANNA.

Wenn du aus Liebe zu mir den Verstand verlierst, ist das für mich ein Grund, den Spott von ganz München auf mich zu laden?

VON KEITH.
Andere Frauen haben um meinetwillen noch ganz andere Dinge auf sich geladen!
ANNA.
Ich bin aber nicht in dich vernarrt!
VON KEITH.

Das sagt jede! Ergib dich in dein unabwendbares Glück. Die nötige Unbefangenheit für dein erstes Auftreten werde ich dir schon einflößen – und wenn ich dich mit dem geladenen Revolver vor mir hertreiben muß!

ANNA.
Wenn du mich wie ein Stück Vieh behandelst, dann ist es bald zwischen uns zu Ende!
VON KEITH.

Setz dein Vertrauen getrost in die Tatsache, daß ich ein Mensch bin, der das Leben verteufelt ernst nimmt! Wenn ich mich gern in Champagner bade, so kann ich dafür auch wie kein anderer Mensch auf jeden Lebensgenuß verzichten. Keine drei Tage ist mir aber mein Dasein erträglich, ohne daß ich derweil meinen Zielen um einen Schritt näher komme!

ANNA.
Es ist wohl auch die höchste Zeit, daß du endlich deine Ziele erreichst!
VON KEITH.

Glaubst du denn, Anna, ich veranstaltete das Feenpalastkonzert, wenn ich nicht die unverbrüchliche Gewißheit hätte, daß es dir den glänzendsten Triumph einträgt?! – Laß dir eines sagen: Ich bin ein gläubiger Mensch ...


Im Garten steigt zischend eine Rakete empor.
VON KEITH.

... Ich glaube an nichts so zuversichtlich, wie daran, daß sich unsere Mühen und Aufopferungen in dieser Welt belohnen!

ANNA.
Das muß man wohl, um sich so abzuhetzen, wie du das tust!
[483]
VON KEITH.
Wenn nicht an uns, dann an unsern Kindern!
ANNA.
Du hast ja noch gar keine!
VON KEITH.

Die schenkst du mir, Anna – Kinder mit meinem Verstand, mit strotzend gesundem Körper und aristokratischen Händen. Dafür baue ich dir ein königliches Heim, wie es einer Frau deines Schlages zukommt! Und ich gebe dir einen Gatten zur Seite, der die Allmacht hat, dir jeden Wunsch, der aus deinen großen schwarzen Augen spricht, zu erfüllen! Er küßt sie inbrünstig.


Im Garten wird ein Feuerwerk abgebrannt, das das Paar für einen Moment mit dunkelroter Glut übergießt.
VON KEITH.

– – Geh in den Garten. Die Karyatiden lechzen jetzt danach, vor unserem Götterbilde die Knie beugen zu dürfen!

ANNA.
Kommst du nicht auch?
VON KEITH
dreht zwei der elektrischen Lampen auf, so daß der Salon matt erhellt ist.

Ich schreibe nur rasch noch eine Zeitungsnotiz über unser Konzert. Die Notiz muß morgen früh in den Zeitungen stehen. Ich gratuliere dir darin schon im voraus zu deinem eminenten Triumph.


Anna in den Garten ab. von Keith setzt sich an den Tisch und notiert einige Worte. – Molly Griesinger, einen bunten Schal um den Kopf, eilt aufgeregt und verhetzt vom Vorplatz herein.
MOLLY.
Ich muß dich nur eine Minute sprechen.
VON KEITH.

Solang du willst, mein Kind; du störst mich durchaus nicht. Ich sagte dir doch, du werdest es allein zu Hause nicht aushalten.

MOLLY.

Ich flehe zum Himmel, daß ein furchtbares Unglück über uns hereinbricht! Das ist das einzige, was uns noch retten kann!

VON KEITH.
Aber warum begleitest du mich denn nicht, wenn ich dich darum bitte!?
MOLLY
zusammenschaudernd.
In deine Gesellschaft?!
VON KEITH.

Die Gesellschaft in diesen Räumen ist das Geschäft, von dem wir beide leben! Aber das ist dir unerträglich, daß ich mit meinen Gedanken hier bin und nicht bei dir.

[484]
MOLLY.

Kann dich das wundern?! – Sieh, wenn du unter diesen Leuten bist, dann bist du ein ganz anderer Mensch; dann bist du jemand, den ich nie gekannt habe, den ich nie geliebt habe, dem ich nie in meinem Leben einen Schritt nachgegangen wäre, geschweige denn, daß ich ihm Heim, Familie, Glück und alles geopfert hätte. – Du bist so gut, so groß, so lieb! – Aber unter diesen Menschen – da bist du für mich – schlimmer als tot!

VON KEITH.

Geh nach Haus und mach ein wenig Toilette; Sascha begleitet dich. Du darfst heute abend nicht allein sein.

MOLLY.

Mir ist es gerade danach zumut, mich aufzudonnern. Dein Treiben ängstigt mich ja, als müßte morgen die Welt untergehen. Ich habe das Gefühl, als müßte ich irgend etwas tun, sei es was es sei, um das Entsetzliche von uns abzuwenden.

VON KEITH.

Ich beziehe seit gestern ein Jahresgehalt von hunderttausend Mark. Du brauchst nicht mehr zu fürchten, daß wir Hungers sterben müssen.

MOLLY.

Spotte nicht so! Du versündigst dich an mir! Ich bringe es ja gar nicht über die Lippen, was ich fürchte!

VON KEITH.
Dann sag mir doch nur, was ich tun kann, um dich zu beruhigen. Es geschieht augenblicklich.
MOLLY.

Komm mit mir! Komm mit aus dieser Mördergrube, wo es alle nur darauf abgesehen haben, dich zugrunde zu richten. Ich habe den Leuten gegenüber auf dich geschimpft, das ist wahr; aber ich tat es, weil ich deine kindische Verblendung nicht mehr mit ansehen konnte. Du bist ja so dumm. Du bist so dumm wie die Nacht! Ja, das bist du! Von den gemeinsten niedrigsten Gaunern läßt du dich übertölpeln und dir geduldig den Hals abschneiden!

VON KEITH.
Es ist besser, mein Kind, Unrecht leiden als Unrecht tun.
MOLLY.

Ja, wenn du es wenigstens wüßtest! – Aber die hüten sich wohl, dir die Augen zu öffnen. Diese Menschen schmeicheln dir, du seist weiß Gott welch ein Wunder an Pfiffigkeit und an Diplomatie! Weil deine Eitelkeit auf nichts Höheres ausgeht, als das zu sein! Und dabei legen sie dir gemächlich kaltblütig den Strick um den Hals!

[485]
VON KEITH.
Was fürchtest du denn so Schreckliches?
MOLLY
wimmernd.
Ich kann es nicht sagen! Ich kann es nicht aussprechen!
VON KEITH.
Sprich es doch bitte aus; dann lachst du darüber.
MOLLY.
Ich fürchte ... ich fürchte ...

Ein dumpfer Knall tönt vom Garten herein; Molly schreit auf und bricht in die Knie.
VON KEITH
sie aufrichtend.

Das war der große Mörser. – – Du mußt dich beruhigen! – Komm, trink ein paar Gläser Champagner; dann sehen wir uns zusammen das Feuerwerk an ...

MOLLY.

Mich brennt das Feuerwerk seit vierzehn Tagen in meinen Eingeweiden! – Du warst in Paris! – Mit wem warst du in Paris! – Ich schwöre dir hoch und heilig, ich will nie um dich gezittert haben, ich will nie etwas gelitten haben, wenn du jetzt mit mir kommst!

VON KEITH
küßt sie.
Armes Geschöpf!
MOLLY.
– Ein Almosen. – Jaja, ich gehe ja schon ...
VON KEITH.

Du bleibst hier; was fällt dir ein! – Trockne deine Tränen! Es kommt jemand aus dem Garten herauf ...

MOLLY
fällt ihm leidenschaftlich um den Hals und küßt ihn ab.

– Du Lieber! – Du Großer! – Du Guter! – Sie macht sich los, lächelnd. Ich wollte dich nur gerade heute einmal in der Gesellschaft sehen. Du weißt ja, ich bin zuweilen so ein wenig ...


Sie dreht die Faust vor der Stirn.
VON KEITH
will sie zurückhalten.
Du bleibst hier, Mädchen ...!

Molly stürzt durch die Vorplatztür hinaus. Scholz kommt hinkend, sich das Knie haltend, durch die Glastür aus dem Garten herein.
SCHOLZ
sehr vergnügt.

Erschrick bitte nicht! – Lösch das Licht aus, damit man mich von draußen nicht sieht. Es hat niemand aus deiner Gesellschaft etwas davon gemerkt. Er schleppt sie zu einem Sessel, in den er sich niederläßt.

VON KEITH.
Was ist denn mit dir?
SCHOLZ.

Lösch nur erst das Licht aus. – Es hat gar nichts auf sich. Der große Mörser ist explodiert! Ein Stück davon hat mich an die Kniescheibe getroffen!

[486]
VON KEITH
hat die Lampen ausgedreht; die Szene ist dunkel.
Das kann nur dir passieren!
SCHOLZ
in beseligtem Ton.

Die Schmerzen beginnen ja schon nachzulassen. – Glaub mir, ich bin ja das glücklichste Geschöpf unter Gottes Sonne! Zu der Radpartie mit der Gräfin Werdenfels werde ich mich morgen früh allerdings nicht einfinden können. Aber was macht das! Jubelnd. Ich habe die bösen Geister niedergekämpft; das Glück liegt vor mir; ich gehöre dem Leben! Von heute an bin ich ein anderer Mensch ...


Eine Rakete steigt im Garten empor und übergießt Scholzens Gesichtszüge mit düsterroter Glut.
VON KEITH.
Weiß der Henker – ich hätte dich eben tatsächlich kaum wiedererkannt!
SCHOLZ
springt vom Sessel auf und hüpft auf einem Fuße, indem er das andere Knie mit den Händen festhält, jauchzend im Zimmer umher.

Zehn Jahre lang hielt ich mich für einen Geächteten! Für einen Ausgestoßenen! Wenn ich jetzt denke, daß das alles nur Einbildung war! Alles nur Einbildung! Nichts als Einbildung!

[487]

4. Akt

Vierter Aufzug

Im Gartensaal der Gräfin Werdenfels liegen mehrere riesige Lorbeerkränze auf den Lehnsesseln; ein pompöser Blumenstrauß steht in einer Vase auf dem Tisch. Anna Gräfin Werdenfels in schmucker Morgentoilette befindet sich im Gespräch mit Polizeikommissär Raspe und Hermann Casimir. Es ist Vormittag.

ANNA
ein Blatt farbiges Briefpapier in der Hand, zu Hermann.

Ihnen, mein junger Freund, danke ich für die schönen Verse, die Sie gestern abend nach unserem ersten Feenpalastkonzert noch auf mich gedichtet haben. Ich danke Ihnen auch für Ihre herrlichen Blumen. – Zu Raspe. Von Ihnen, mein Herr, finde ich es aber höchst sonderbar, daß Sie mir gerade am heutigen Morgen diese bedenklichen Gerüchte über Ihren Freund und Wohltäter hinterbringen.

RASPE.

Der Marquis von Keith ist weder mein Freund noch mein Wohltäter. Vor zwei Jahren bat ich ihn, in meinem Prozeß als psychiatrischer Experte über mich auszusagen. Er hätte mir anderthalb Jahre Gefängnis ersparen können. Statt dessen brennt der Windhund mit einem fünfzehnjährigen Backfisch nach Amerika durch!


Simba in einem geschmackvollen Dienstbotenkleid kommt vom Vorplatz herein und überreicht Anna eine Karte.
SIMBA.
Der Herr möchten um die Ehr' bitten.
ANNA
zu Hermann.
Um Gottes willen, Ihr Vater!
HERMANN
erschrocken, auf Raspe blickend.
Wie kann denn mein Vater ahnen, daß ich hier bei Ihnen bin!
RASPE.
Durch mich hat er nichts erfahren.
ANNA
hebt die Portiere zum Spielzimmer.
Gehen Sie da hinein. Ich werde ihn schon weiterschicken.

Hermann ins Spielzimmer ab.
RASPE.
Dann ist es wohl am besten, wenn ich mich gleichfalls empfehle.
[488]
ANNA.
Ja, ich bitte Sie darum.
RASPE
sich verbeugend.
Meine Gnädigste! Ab.
ANNA
zu Simba.
Bitten Sie den Herrn, einzutreten.

Simba geleitet den Konsul Casimir herein, der einem ihm folgenden Lakaien einen Blumenstrauß abgenommen hat; Simba ab.
KONSUL CASIMIR
seine Blumen überreichend.

Gestatten Sie mir, meine Gnädigste, Ihnen zu Ihrem gestrigen Triumph aufrichtig zu gratulieren. Ihr erstmaliges Auftreten hat Ihnen ganz München im Sturm erobert; Sie können aber auf keinen Ihrer Zuhörer einen nachhaltigeren Eindruck gemacht haben als wie auf mich.

ANNA.

Wäre das auch der Fall, so müßte es mich doch ungemein überraschen, daß Sie mir das persönlich mitteilen.

CASIMIR.
Haben Sie eine Sekunde Zeit? – Es handelt sich um eine rein praktische Frage.
ANNA
lädt ihn zum Sitzen ein.
Sie befinden sich doch wohl auf falscher Fährte.
CASIMIR
nachdem beide Platz genommen.
Das werden wir gleich sehen. – Ich wollte Sie fragen, ob Sie meine Frau werden wollen.
ANNA.
– Wie soll ich das verstehen?
CASIMIR.

Deswegen bin ich hier, damit wir uns darüber verständigen können. Erlauben Sie mir, Ihnen von vornherein zu erklären, daß Sie auf die verlockende künstlerische Zukunft, die sich Ihnen gestern abend erschlossen, natürlich verzichten müßten.

ANNA.
Sie haben sich Ihren Schritt doch wohl nicht reiflich überlegt.
CASIMIR.

In meinen Jahren, meine Gnädigste, tut man keinen unüberlegten Schritt. Später ja – oder früher. Wollen Sie mich wissen lassen, was sich bei Ihnen sonst noch für Bedenken geltend machen.

ANNA.
Sie wissen doch wohl, daß ich Ihnen auf solche Äußerungen gar nicht antworten kann?
CASIMIR.

Gewiß weiß ich das. Ich spreche aber für den naheliegenden Fall, daß Sie in vollkommenster Freiheit über sich und Ihre Zukunft entscheiden dürfen.

[489]
ANNA.

Ich kann mir in diesem Augenblick die Möglichkeit gar nicht vorstellen, daß ein solcher Fall eintritt.

CASIMIR.

Ich bin heute der angesehenste Mann Münchens, sehen Sie, und kann morgen hinter Schloß und Riegel sitzen. Ich verdenke es meinem besten Freunde nicht, wenn er sich gelegentlich fragt, wie er sich bei einem solchen Schicksalsschlag mit mir stellen soll.

ANNA.
Würden Sie es auch Ihrer Gattin nicht verdenken, wenn sie sich mit der Frage beschäftigt?
CASIMIR.

Meiner Gattin gewiß; meiner Geliebten niemals. Ich möchte jetzt auch gar keine Antwort von Ihnen hören. Ich spreche nur für den Fall, daß Sie im Stich gelassen werden oder daß sich Tatsachen ergeben, die jede Verbindlichkeit lösen; kurz und gut, daß Sie nicht wissen, wo aus noch ein.

ANNA.
Dann wollten Sie mich zu Ihrer Frau machen?
CASIMIR.

Das muß Ihnen allerdings beinahe verrückt erscheinen; das gereicht Ihrer Bescheidenheit zur Ehre. Aber darüber ist man nur sich selbst Rechenschaft schuldig. Ich habe, wie Sie vielleicht wissen, noch zwei kleine Kinder zu Hause, Mädchen im Alter von drei und sechs Jahren. Dann kommen, wie Sie sich wohl denken können, noch andere Gründe hinzu ... Was Sie betrifft, daß Sie mich in meinen Erwartungen nicht enttäuschen werden, dafür übernehme ich jede Verantwortung – auch Ihnen gegenüber.

ANNA.
Ich bewundere Ihr Selbstvertrauen.
CASIMIR.
Sie können sich vollkommen auf mich verlassen.
ANNA.

Aber nach einem Erfolg wie gestern abend! – Es schien, als wäre ein ganz neuer Geist über das Münchner Publikum gekommen.

CASIMIR.

Glauben Sie mir, daß ich den Begründer des Feenpalastes aufrichtig um seinen feinen Spürsinn beneide. Übrigens muß ich Ihnen mein Kompliment noch ganz speziell zur Wahl Ihrer gestrigen Konzerttoilette aussprechen. Sie entfalten eine so vornehme Sicherheit darin, Ihre Figur wirkungsvoll zur Geltung zu bringen, daß es mir – ich gesteh es – kaum möglich wurde, Ihrem Gesangsvortrag mit der ihm gebührenden Aufmerksamkeit zu folgen.

[490]
ANNA.

Glauben Sie bitte nicht, daß ich den Applaus, den meine künstlerischen Leistungen ernteten, irgendwie überschätze.

CASIMIR.

Das würde ich Ihnen durchaus nicht verdenken; aber Ihre Lehrerin sagt mir, daß ein Erfolg wie der Ihrige von gestern abend schon viele Menschen ins Unglück gestürzt hat. Dann vergessen Sie bitte eines nicht: Was wäre die gefeiertste Sängerin auf der Bühne, wenn es der reiche Mann nicht für seine moralische Pflicht hielte, sie sich à fond perdu anzuhören. Mag die Gage in einzelnen Fällen noch so glänzend sein, in Wirklichkeit bleiben es doch immer nur Almosen, von denen diese Leute leben.

ANNA.
Ich war ganz starr über die günstige Aufnahme, die jede Nummer beim Publikum fand.
CASIMIR
sich erhebend.

Bis auf die unglückliche Symphonie dieses Herrn Zamrjaki. Übrigens zweifle ich gar nicht daran, daß wir mit der Zeit auch dazu kommen werden, den Lärm, den dieser Herr Zamrjaki verursacht, als eine göttliche Kunstoffenbarung zu verehren. Lassen wir also der Welt ihren Lauf, hoffen wir das Beste und seien wir auf das Schlimmste gefaßt. – Gestatten, gnädige Frau, daß ich mich empfehle. Ab.


Anna faßt sich mit beiden Händen an die Schläfen, geht zum Stielzimmer, lüftet die Portiere und tritt zurück.
ANNA.
Nicht einmal die Tür geschlossen!

Hermann Casimir tritt aus dem Spielzimmer.
HERMANN.
Hätte ich mir jemals träumen lassen, daß man ein solches Erlebnis erleben kann!
ANNA.
Gehen Sie jetzt, damit Ihr Vater Sie zu Hause findet.
HERMANN
bemerkt das zweite Bukett.

Die Blumen sind von ihm? – Ich scheine das also geerbt zu haben. – Nur läßt er es sich nicht so viel kosten wie ich.

ANNA.
Woher nehmen Sie denn auch das Geld zu so wahnsinnigen Ausgaben!
HERMANN
bedeutungsvoll.
Vom Marquis von Keith.
ANNA.
Ich bitte Sie, gehen Sie jetzt! Sie sind übernächtig. Sie haben gestern wohl noch lange gekneipt?
[491]
HERMANN.
Ich habe geholfen, dem Komponisten Zamrjaki das Leben zu retten.
ANNA.
Halten Sie das für eine Ihrer würdige Beschäftigung?
HERMANN.
Was habe ich Besseres zu tun!
ANNA.

Es ist gewiß schön von Ihnen, wenn Sie ein Herz für unglückliche Menschen haben; aber Sie dürfen sich nicht mit ihnen an den gleichen Tisch setzen. Das Unglück steckt an.

HERMANN
bedeutungsvoll.
Dasselbe sagt mir der Marquis von Keith.
ANNA.
Gehen Sie jetzt! Ich bitte Sie darum.

Simba kommt vom Vorplatz herein und überbringt eine Karte.
SIMBA.
Der Herr möcht' um die Ehre bitten.
ANNA
die Karte lesend.
»Vertreter der süddeutschen Konzertagentur« – Er soll in vierzehn Tagen wiederkommen.

Simba ab.
HERMANN.
Was werden Sie meinem Vater antworten?
ANNA.
Jetzt ist es aber die höchste Zeit! Sie werden ungezogen!
HERMANN.

Ich gehe nach London – und wenn ich mir das Geld dazu stehlen muß. Mein Vater soll sich nicht mehr über mich zu beklagen haben.

ANNA.
Das wird Ihnen selbst am meisten nützen.
HERMANN
beklommen.
Das bin ich meinen beiden kleinen Geschwistern schuldig. Ab.
ANNA
besinnt sich einen Moment, dann ruft sie.
Kathi!

Simba kommt aus dem Speisesaal.
SIMBA.
Gnädige Frau?
ANNA.
Ich will mich anziehen.

Es läutet auf dem Korridor.
SIMBA.
Sofort, gnädige Frau. Geht, um zu öffnen.

Anna geht ins Spielzimmer ab. – Gleich darauf läßt Simba Ernst Scholz eintreten; er geht auf einen eleganten Krückstock gestützt, auf steifem Knie hinkend, und trägt einen großen Blumenstrauß.
[492]
ERNST SCHOLZ.

Ich fand noch gar keine Gelegenheit, mein liebes Kind, dir für dein taktvolles, feinfühliges Benehmen neulich Abend an dem Gartenfest zu danken.

SIMBA
formell.
Wünschen der Herr Baron, daß ich Sie der gnädigen Frau melde?

Von Keith kommt in hellem Paletot, einen Pack Zeitungen in der Hand, vom Vorplatz herein.
VON KEITH
seinen Paletot ablegend.
Das ist eine Fügung des Himmels, daß ich dich hier treffe! Zu Simba. Was tun Sie denn noch hier?
SIMBA.
Die gnädige Frau haben mich als Hausmädchen in Dienst genommen.
VON KEITH.
Sehen Sie, ich habe Ihr Glück gemacht. – Melden Sie uns!
SIMBA.
Sehr wohl, Herr Baron.

Ins Spielzimmer ab.
VON KEITH.
Die Morgenblätter bringen schon die begeistertsten Besprechungen über unser gestriges Konzert!

Er setzt sich an das Tischchen links vorn und durchblättert die Zeitungen.
SCHOLZ.
Hast du denn jetzt endlich Nachricht, wo sich deine Frau aufhält?
VON KEITH.

Sie ist bei ihren Eltern in Bückeburg. Du warst während des Banketts gestern abend ja plötzlich verschwunden?

SCHOLZ.
Ich hatte das lebhafteste Bedürfnis, allein zu sein. Wie geht es denn deiner Frau?
VON KEITH.
Danke; ihr Vater steht vor dem Bankrott.
SCHOLZ.
So viel wirst du doch noch übrig haben, um ihre Familie vor dem Äußersten zu schützen!
VON KEITH.
Weißt du, was mich das Konzert gestern gekostet hat?
SCHOLZ.
Ich finde, du nimmst diese Dinge zu leicht!
VON KEITH.
Du wünschtest wohl, daß ich dir dabei helfe, die Eier der Ewigkeit auszubrüten?
SCHOLZ.

Ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich dir von meinem Überschuß an Pflichtgefühl etwas abtreten könnte.

VON KEITH.

Gott bewahre mich davor! Ich habe jetzt die erdenklichste Elastizität nötig, um die Er folge in ihrer ganzen Tragweite auszubeuten.

SCHOLZ
selbstbewußt.

Ich danke es dir, daß ich dem Leben [493] heute mit ruhigem, sicherem Blick gegenüberstehe. Ich halte es daher für meine Pflicht, ebenso offen zu dir zu sprechen, wie du vor vierzehn Tagen zu mir gesprochen hast.

VON KEITH.
Der Unterschied ist nur der, daß ich dich nicht um deinen Rat gebeten habe.
SCHOLZ.

Das ist für mich nur ein Grund mehr zu rückhaltloser Aufrichtigkeit. Ich habe durch meinen übertriebenen Pflichteifer den Tod von zwanzig Menschen verschuldet; aber du benimmst dich, als habe man seinen Mitmenschen gegenüber über haupt keine Pflichten. Du gefällst dir geradezu darin, mit dem Leben anderer zu spielen!

VON KEITH.
Bei mir ist noch jeder mit einem blauen Auge davongekommen.
SCHOLZ
mit wachsendem Selbstbewußtsein.

Das ist dein persönliches Glück! Dir fehlt aber das Bewußtsein, daß andere ganz die nämlichen Ansprüche auf den Genuß ihres Lebens haben wie du. Das, worin die Menschheit ihre höchsten Errungenschaften erblickt, was man mit Fug und Recht als Sittlichkeit bezeichnet, dafür hast du nicht das geringste Verständnis.

VON KEITH.

Du bleibst dir treu. – Du kommst nach München mit dem ausgesprochenen Vorsatz, dich zum Genußmenschen auszubilden, und bildest dich aus Versehen zum Sittenprediger aus.

SCHOLZ.

Ich bin durch das buntscheckige Treiben Münchens zu einer bescheidenen, aber jedenfalls um so zuverlässigeren Selbstabschätzung gelangt. Ich habe in diesen vierzehn Tagen so gewaltige innere Wandlungen durchgemacht, daß ich, wenn du mich anhören willst, allerdings auch als Sittenprediger reden kann.

VON KEITH
gereizt.
Dir treibt mein Glück die Galle ins Blut!
SCHOLZ.

Ich glaube nicht an dein Glück! Ich bin so namenlos glücklich, daß ich die ganze Welt umarmen möchte, und wünsche dir aufrichtig und ehrlich dasselbe. Dazu gelangst du aber nie, solang du noch über die höchsten Werte des Lebens in deiner knabenhaften Weise spottest. Ich wußte, bis ich nach München kam, die Beziehungen zwischen Mann und Weib allerdings nur ihrer [494] seeli schen Bedeutung nach zu würdigen, während mir der Sinnengenuß noch als etwas Gemeines erschien. Das war verkehrt. Aber du hast in deinem ganzen Leben an einem Weibe nie etwas Höheres als den Sinnengenuß geschätzt. Solange du nicht von deinem Standpunkt aus der sittlichen Weltordnung deine Zugeständnisse machst, wie ich es von meinem Standpunkt aus getan habe, solang wird all dein Glück ewig auf tönernen Füßen stehen!

VON KEITH
sachlich.

Die Dinge liegen ganz anders. Ich verdanke den letzten vierzehn Tagen meine materielle Freiheit und gelange infolgedessen endlich zum Genuß meines Lebens. Und du verdankst den letzten vierzehn Tagen deine gei stige Freiheit und bist infolgedessen endlich zum Genuß deines Lebens gelangt.

SCHOLZ.

Nur mit dem Unterschied, daß es mir bei all den Genüssen darum zu tun ist, ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden.

VON KEITH
aufspringend.
Warum soll man denn durchaus ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft werden?!
SCHOLZ.
Weil man als etwas anderes keine Existenzberechtigung hat!
VON KEITH.

Ich brauche keine Existenzberechtigung! Ich habe niemanden um meine Existenz gebeten und entnehme daraus die Berechtigung, meine Existenz nach meinem Kopfe zu existieren.

SCHOLZ.

Dabei gibst du deine Frau, die drei Jahre alle Gefahren und Entbehrungen mit dir getragen hat, mit der größten Seelenruhe dem Elend preis!

VON KEITH.

Was soll ich denn tun! Meine Ausgaben sind so horrend, daß ich für meinen eigenen Gebrauch nicht einen Pfennig übrig habe. Mit der ersten Rate meines Gehaltes habe ich meinen Anteil am Gründungskapital eingezahlt. Ich dachte einen Augenblick daran, das Geld anzugreifen, das mir zur Bestreitung der Vorarbeiten zur Verfügung steht. Aber das kann ich nicht. – Oder wolltest du mir dazu raten?

SCHOLZ.

Ich kann dir eventuell schon noch zehn- oder zwanzigtausend Mark überlassen, wenn du dir nicht anders [495] helfen kannst. Ich bekam gerade heute zufällig einen Wechsel von meinem Verwalter über zehntausend Mark.


Entnimmt seinem Portefeuille einen Wechsel und reicht ihn von Keith hin.
VON KEITH
reißt ihm das Papier aus der Hand.
Komm mir dann aber bitte nicht gleich morgen wieder damit, du wollest das Geld zurückhaben!
SCHOLZ.

Ich brauche es jetzt nicht. Die übrigen zehntausend Mark muß ich mir aber erst durch meinen Bankier aus Breslau schicken lassen.


Anna kommt in eleganter Straßentoilette aus dem Spielzimmer.
ANNA.
Entschuldigen Sie, meine Herren, daß ich warten ließ.
SCHOLZ
überreicht seine Blumen.

Ich konnte mir die Freude nicht versagen, gnädige Frau, Sie am ersten Morgen Ihrer vielversprechenden künstlerischen Laufbahn von ganzem Herzen zu beglückwünschen.

ANNA
stellt die Blumen in eine Vase.

Ich danke Ihnen. Gestern abend vergaß ich in meiner Aufregung vollkommen, Sie danach zu fragen, wie es Ihnen denn eigentlich mit Ihren Verletzungen ergangen ist.

SCHOLZ.

Die sind weiß Gott nicht der Rede wert. Mein Arzt sagt, ich könne in acht Tagen, wenn ich Lust dazu habe, auf die Zugspitze klettern. Ein Schmerz war mir gestern abend allerdings das schallende Hohngelächter, das der Herr Kapellmeister Zamrjaki mit seiner Symphonie hervorrief.

VON KEITH
hat sich an den Schreibtisch gesetzt.

Ich kann nicht mehr tun, als den Menschen Gelegenheit geben, ihr Können zu zeigen. Wer seinen Mann nicht stellt, der bleibt am Wege. Ich finde in München Kapellmeister genug.

SCHOLZ.

Sagtest du denn nicht selbst von ihm, er sei das größte musikalische Genie, das seit Richard Wagner lebt?

VON KEITH.

Ich werde doch meinen eigenen Gaul nicht Schindmähre nennen! Ich muß in jeder Sekunde für die Richtigkeit meiner Berechnungen einstehen. Sich erhebend. Ich war eben mit den Karyatiden auf dem Magistrat. Es handelte sich um die Frage, ob der Bau des Feenpalastes [496] für München ein Bedürfnis ist. Die Frage wurde einstimmig bejaht. Eine Stadt wie München läßt es sich ja gar nicht träumen, was sie für Bedürfnisse hat!

SCHOLZ
zu Anna.

Gnädige Frau haben jetzt vermutlich mit Ihrem glücklichen Impresario weltumfassende geschäftliche Pläne zu erörtern.

ANNA.
Nein, bitte, wir haben nichts miteinander zu besprechen. Wollen Sie uns schon verlassen?
SCHOLZ.
Sie erlauben mir vielleicht, daß ich mir in den nächsten Tagen wieder einmal die Ehre nehme?
ANNA.
Ich bitte Sie darum; Sie sind jederzeit willkommen.

Scholz hat von Keith die Hand gedrückt. Ab.
VON KEITH.
Die Morgenblätter bringen schon die begeistertsten Kritiken über dein gestriges Auftreten.
ANNA.
Hast du denn jetzt endlich eine Nachricht, wo sich Molly befindet?
VON KEITH.

Sie ist bei ihren Eltern in Bückeburg. Sie schwelgt in einem Ozean kleinbürgerlicher Sentimentalität.

ANNA.

Zum zweitenmal werden wir uns nicht wieder so von ihr in Schrecken jagen lassen! Übrigens hatte sie wirklich nötig, dir zu beweisen, wie völlig entbehrlich sie dir ist!

VON KEITH.

Dir ist die gewaltige Liebesleidenschaft Gott sei Dank ein Buch mit sieben Siegeln. Ist das nicht befähigt, einen zu beglücken, dann will es einem wenigstens das Haus über dem Kopf in Brand stecken!

ANNA.

Du dürftest einem trotzdem etwas mehr Vertrauen zu deinen geschäftlichen Unternehmungen einflößen! Ein Vergnügen ist es gerade nicht, Tag und Nacht wie auf einem Vulkan zu sitzen!

VON KEITH.

Wie komme ich denn gerade heute dazu, mir von allen Seiten moralische Vorlesungen halten lassen zu müssen?!

ANNA.

Weil dein Treiben den Anschein hat, als müßtest du dich ununterbrochen betäuben! Du kennst keine Ruhe. Ich finde, sobald man im Zweifel ist, ob man dieses oder jenes tun soll, dann tut man am besten gar nichts. Dadurch allein, daß man etwas tut, setzt man sich immer schon allen erdenklichen Unannehmlichkeiten aus. Ich tue so wenig als irgendwie möglich und hatte meiner [497] Lebtag Glück damit. Du kannst es niemandem verdenken, daß er dir mißtraut, wenn du Tag und Nacht wie ein ausgehungerter Wolf hinter deinem Glücke herjagst.

VON KEITH.
Ich kann nicht für meine Unersättlichkeit.
ANNA.
Es sitzen aber manchmal Leute mit geladenen Flinten im Schlitten, dann geht es piff-paff.
VON KEITH.

Ich bin kugelfest. Ich habe noch zwei spanische Kugeln von Kuba her in den Gliedern. Außerdem besitze ich die unverbrüchlichste Garantie für mein Glück.

ANNA.
Das ist schon die richtige Höhe!
VON KEITH.

Allerdings zu hoch für den menschlichen Herdenverstand! – Zwanzig Jahre mögen es sein, da standen der junge Trautenau und ich in kurzen Schoßröckchen in der getünchten Dorfkirche am Altar. Mein Vater spielte die Orgel dazu. Da drückte der Dorfpfarrer jedem von uns einen Bilderbogen mit einem Bibelspruch darauf in die Hände. Ich habe seitdem kaum jemals eine Kirche mehr von innen gesehen, aber mein Konfirmationsspruch hat sich an mir bewahrheitet, daß ich oftmals des Staunens keine Grenzen fand. Und stellt sich mir heute je eine Widerwärtigkeit in den Weg, dann kommt mich immer gleich ein verächtliches Lächeln an im Hinblick auf den Spruch: – »Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten dienen.«

ANNA.
Denen, die Gott lieben?! – Dieser Liebe willst du auch noch fähig sein?!
VON KEITH.

Auf die Frage hin, ob ich Gott liebe, habe ich alle bestehenden Religionen geprüft und fand bei keiner Religion einen Unterschied zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zum eigenen Wohlergehen. Die Liebe zu Gott ist überall immer nur eine summarische symbolische Ausdrucksweise für die Liebe zur eigenen Person.


Simba tritt vom Vorplatz ein.
SIMBA.
Der Herr Marquis möchten einen Moment herauskommen. Der Sascha ist da.
VON KEITH.
Warum kommt der Junge denn nicht herein?

Sascha kommt mit einem Telegramm.
[498]
SASCHA.

I hab' net g'wußt, darf i oder darf i net, weil der Herr Baron g'sagt haben, i soll in G'sellschaft koan Telegramm nicht überbringen.

VON KEITH
erbricht das Telegramm, ballt es zusammen und wirft es weg.
Verdammt noch mal! – Meinen Paletot!
ANNA.
Von Molly?
VON KEITH.
Nein! – Wenn nur um Gottes willen keine Seele davon erfährt!
ANNA.
Ist sie denn nicht bei ihren Eltern in Bückeburg?
VON KEITH
während ihm Sascha in den Paletot hilft.
Nein!
ANNA.
Du sagtest doch eben noch ...
VON KEITH.

Ist denn das meine Schuld, daß sie nicht in Bückeburg ist?! – Eben setzt man den Fuß auf den grünen Zweig, da hat man den Hals in der Schlinge! –


Von Keith und Sascha ab.
SIMBA
hebt das Telegramm auf und gibt es Anna.
Der Herr Marquis haben das Telegramm vergessen.
ANNA.
Wissen Sie, woher der Sascha stammt?
SIMBA.
Der Sascha stammt aus der Au. Sei' Mutter ist Hausmeisterin.
ANNA.
Dann kann er aber doch nicht Sascha heißen?
SIMBA.
Ursprünglich heißt er Sepperl, aber der Herr Marquis haben ihn Sascha 'tauft.
ANNA.
Bringen Sie mir meinen Hut.

Es läutet auf dem Korridor.
SIMBA.
Sofort, gnädige Frau.

Geht, um zu öffnen.
ANNA
liest das Telegramm.

»... Molly nicht bei uns. Bitte umgehend Drahtnachricht, ob Sie Lebenszeichen von Molly haben. In entsetzlicher Angst ...«


Simba kommt zurück.
SIMBA.
Der Herr Baron haben seine Handschuh vergessen.
ANNA.
Welcher Baron denn?
SIMBA.
Ich moan halt den Genußmenschen.
ANNA
hastig suchend.
Maria und Joseph, wo sind denn die Handschuhe ...!

Ernst Scholz tritt ein.
[499]
SCHOLZ.
Erlauben Sie mir noch zwei Worte, gnädige Frau.
ANNA.
Ich bin eben im Begriff, auszugehen. Zu Simba. Meinen Hut, aber rasch! Simba ab.
SCHOLZ.
Die Gegenwart meines Freundes hinderte mich daran, mich rückhaltlos auszusprechen ...
ANNA.
Vielleicht warten Sie damit doch auch lieber auf eine passendere Gelegenheit.
SCHOLZ.

Ich hoffte noch einige Tage auf Ihren Bescheid warten zu können. Meine Empfindungen, Frau Gräfin, tun mir einfach Gewalt an! Damit Sie nicht im Zweifel darüber sind, daß ich mit meinen Anerbietungen nur Ihr Glück erstrebe, erlauben Sie mir, Ihnen zu gestehen, daß ich Sie in – in ganz unsagbarer Weise liebe.

ANNA.
Nun? Und was wären Ihre Anerbietungen?
SCHOLZ.

Bis Sie als Künstlerin die Früchte einer unbestrittenen Anerkennung ernten, wird sich Ihnen noch manches Hindernis in den Weg stellen ...

ANNA.
Das weiß ich, aber ich singe voraussichtlich nicht mehr.
SCHOLZ.

Sie wollen nicht mehr singen? Wie mancher unglückliche Künstler gäbe sein halbes Leben darum, wenn er Ihre Begabung damit erkaufen könnte!

ANNA.
Sonst haben Sie mir nichts mitzuteilen?
SCHOLZ.

Ich habe Sie wieder, ohne zu ahnen, gekränkt. Sie hatten natürlich erwartet, ich werde Ihnen meine Hand antragen ...

ANNA.
Wollten Sie denn das nicht?
SCHOLZ.

Ich wollte Sie fragen, ob Sie meine Ge liebte werden wollen. – Ich kann Sie als Gattin nicht höher verehren, als ich meine Geliebte in Ihnen ehren würde. Von jetzt an spricht er mit den rücksichtslosen, ausfallenden Gebärden eines Verrückten. Sei es der Gattin, sei es der Geliebten, ich biete Ihnen mein Leben, ich biete Ihnen alles, was ich besitze. Sie wissen, daß ich mich nur mit der größten Selbstüberwindung in die sittlichen Anschauungen fand, die hier in München maßgebend sind. Wenn mein Lebensglück an dem Siege zerschellen sollte, den ich nur über mich errungen habe, um an dem Lebensglück meiner Mitmenschen teilnehmen zu können, das wäre ein him melschreiendes Narrenspiel!

[500]
ANNA.

Ich glaubte, Ihnen wäre es nur darum zu tun, ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden!

SCHOLZ.

Ich träumte von Weltbeglückung wie der Gefangene hinter Kerkergittern von Gletscherfirnen träumt! Jetzt erhoffe ich nur eines noch, daß ich die Frau, die ich in so ganz unsagbarer Weise liebe, so glücklich machen kann, daß sie ihre Wahl nie bereut.

ANNA.
Ich bedaure, Ihnen sagen zu müssen, daß Sie mir gleichgültig sind.
SCHOLZ.
Ich Ihnen gleichgültig?! Ich erhielt noch von keiner Frau mehr Beweise von Zuneigung als von Ihnen!
ANNA.

Das ist nicht meine Schuld. Ihr Freund hatte Sie mir als einen Philosophen geschildert, der sich um die Wirklichkeit überhaupt nicht kümmert.

SCHOLZ.

Mir hat nur die Wirklichkeit meine Philosophie abgerungen! Ich bin keiner von denen, die ihr Leben lang über irdische Nichtigkeit schwadronieren und die der Tod, wenn sie taub und lahm sind, noch mit Fußtritten vor sich her jagen muß!

ANNA.

Dem Marquis von Keith hilft sein Konfirmationsspruch über jedes Mißgeschick hinweg! Er hält seinen Konfirmationsspruch für eine unfehlbare Zauberformel, vor der Polizei und Gerichtsvollzieher Reißaus nehmen!

SCHOLZ.

Ich erniedrige mich nicht so tief, um an Vorbedeutungen zu glauben! Hätte dieser Glücksritter recht, dann erhielt ich bei meiner Konfirmation eine ebenso unverbrüchliche Zauberformel für mein Unglück. Mir gab unser Pastor damals den Spruch: »Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.« – Aber das kümmert mich nicht! Hätte ich auch die untrüglichsten Beweise dafür, daß ich selber nicht zu den Auserwählten gehöre, das könnte mich immer nur in meinem unerschrockenen Kampf gegen mein Geschick bestärken!

ANNA.
Verschonen Sie nur bitte mich mit Ihrem unerschrockenen Kampf!
SCHOLZ.

Ich schwöre Ihnen, daß ich lieber auf meine gesunde Vernunft verzichte, als daß ich mich durch diese Vernunft davon überzeugen lasse, daß gewisse Menschen ohne jedes Verschulden von Anfang an von allem Lebensglück ausgeschlossen sind!

[501]
ANNA.
Beklagen Sie sich darüber doch beim Marquis von Keith!
SCHOLZ.

Ich beklage mich gar nicht! Je länger die harte Schule des Unglückes währt, desto gestählter wird die geistige Widerstandsfähigkeit. Es ist ein beneidenswerter Tausch, den Menschen wie ich eingehen. Meine Seele ist unverwüst lich!

ANNA.
Dazu gratuliere ich Ihnen!
SCHOLZ.

Darin liegt meine Unwiderstehlichkeit! Je weniger Sie für mich empfinden, desto größer und mächtiger wird in mir meine Liebe zu Ihnen, desto näher sehe ich den Augenblick, wo Sie sagen: Ich kämpfte gegen dich mit allem, was mir zu Gebote stand, aber ich liebe dich!

ANNA.
Bewahre mich der Himmel davor!!
SCHOLZ.

Davor bewahrt Sie der Himmel nicht! Wenn ein Mensch von meiner Willenskraft, die sich durch kein Mißgeschick hat brechen lassen, sein ganzes Sinnen und Trachten auf einen Vorsatz konzentriert, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Er erreicht sein Ziel, oder er verliert den Verstand.

ANNA.
Darin scheinen Sie wirklich recht zu haben.
SCHOLZ.

Darauf lasse ich es auch ankommen! Alles hängt davon ab, was widerstandsfähiger ist, Ihre Gefühllosigkeit oder mein Verstand. Ich rechne mit dem schlimmsten Ausgang und wende, ehe ich am Ziel bin, keinen Blick zurück; denn kann ich mir aus der Seligkeit, die mich in diesem Augenblick erfüllt, kein glückliches Leben gestalten, dann ist keine Hoffnung mehr für mich. Die Gelegenheit bietet sich nicht wieder!

ANNA.
Ich danke Ihnen von Herzen dafür, daß Sie mich daran erinnern!

Sie setzt sich an den Schreibtisch.
SCHOLZ.
Es ist das letztemal, daß die Welt in all ihrer Herrlichkeit vor mir liegt!
ANNA
ein Billett schreibend.

Das trifft auch für mich zu! – Ruft. Kathi! – Für sich. Mir bietet sich die Gelegenheit auch nicht wieder.

SCHOLZ
plötzlich zu sich kommend.

Was argwöhnen Sie, gnädige Frau?! – Was argwöhnen Sie?? Sie täuschen sich, Frau Gräfin! – Sie hegen einen entsetzlichen Verdacht ...

ANNA.
Merken Sie denn noch immer nicht, daß Sie mich aufhalten? Ruft. Kathi!
[502]
SCHOLZ.

Ich kann Sie so unmöglich verlassen! Geben Sie mir die Versicherung, daß Sie nicht an meiner geistigen Klarheit zweifeln!


Simba tritt mit Annas Hut ein.
ANNA.
Wo bleiben Sie denn so lange?
SIMBA.
I hab mi net hereingetraut.
SCHOLZ.
Simba, du weißt am besten, daß ich meiner fünf Sinne mächtig bin ...
SIMBA
ihn zurückstoßend.
Gehens, redens net so dumm!
ANNA.
Lassen Sie doch mein Mädchen in Ruhe. Zu Simba. Wissen Sie die Adresse des Herrn Konsul Casimir?
SCHOLZ
in plötzlicher Versteinerung.
– – Ich trage das Kainszeichen auf der Stirn ...
[503]

5. Akt

Fünfter Aufzug

Im Arbeitszimmer des Marquis von Keith stehen sämtliche Türen angelweit offen. Während sich Hermann Casimir auf den Mitteltisch setzt, ruft von Keith ins Wohnzimmer hinein.

VON KEITH.

Sascha! Da er keine Antwort erhält, geht er nach dem Wartezimmer; zu Hermann. Entschuldigen Sie. Ruft ins Wartezimmer. Sascha! – Kommt nach vorn; zu Hermann. Also, Sie gehen mit Einwilligung Ihres Vaters nach London. Ich kann Ihnen nach London die besten Empfehlungen mitgeben. Wirft sich auf den Diwan. In erster Linie empfehle ich Ihnen, Ihre deutsche Sentimentalität zu Hause zu lassen. Mit Sozialdemokratie und Anarchismus macht man in London keinen Effekt mehr. Lassen Sie sich noch eines sagen: Das einzig richtige Mittel, seine Mitmenschen auszunützen, besteht darin, daß man sie bei ihren guten Seiten nimmt. Darin liegt die Kunst, geliebt zu werden, die Kunst, recht zu behalten. Je ergiebiger Sie Ihre Mitmenschen übervorteilen, um so gewissenhafter müssen Sie darauf achten, daß Sie das Recht auf Ihrer Seite haben. Suchen Sie Ihren Nutzen niemals im Nachteil eines tüchti gen Menschen, sondern immer nur im Nachteil von Schurken und Dummköpfen. Und nun übermittle ich Ihnen den Stein der Weisen; das glänzendste Geschäft in dieser Welt ist die Moral. Ich bin noch nicht so weit, das Geschäft zu machen, aber ich müßte nicht der Marquis von Keith sein, wenn ich es mir entgehen ließe.


Es läutet auf dem Korridor.
VON KEITH
ruft.
Sascha! – Sich erhebend. Der Bengel kriegt Ohrfeigen.

Er geht auf den Vorplatz und kommt mit dem Kommerzienrat Ostermeier zurück.
VON KEITH.
Sie könnten unmöglich gelegener kommen, mein bester Herr Ostermeier ...
[504]
OSTERMEIER.
Meine Kollegen im Aufsichtsrat, verehrter Freund, beauftragen mich ...
VON KEITH.
Ich habe einen Plan mit Ihnen zu besprechen, der unsere Einnahmen verhundertfacht.
OSTERMEIER.

Wünschen Sie eine von mir in der Generalversammlung abgegebene Erklärung, daß es mir heute wieder nicht gelungen ist, Ihre Geschäftsbücher zur Einsichtnahme zu erhalten?

VON KEITH.

Sie phantasieren, lieber Herr Ostermeier! – Wollen Sie mir nicht ruhig und sachlich auseinandersetzen, um was es sich handelt?

OSTERMEIER.
Um Ihre Geschäftsbücher, verehrter Freund.
VON KEITH
aufbrausend.
Ich rackre mich für diese triefäugigen Dickschädel ab ...
OSTERMEIER.
Hat er also doch recht! Sich zum Gehen wendend. Gehorsamer Diener!
VON KEITH
reißt die Schreibtisch-Schublade auf.

Hier, bitte, schwelgen Sie in Geschäftsbüchern!Sich nach Ostermeier umwendend. Wer hat also doch recht?

OSTERMEIER.

Ein gewisser Herr Raspe, Kriminalkommissär, der gestern abend in der »Americain Bar« fünf Flaschen Pommery darauf gewettet hat, daß Sie keine Geschäftsbücher führen.

VON KEITH
sich in die Brust werfend.
Ich führe auch keine Geschäftsbücher.
OSTERMEIER.
Dann zeigen Sie Ihr Kopierbuch.
VON KEITH.

Wo hätte ich seit der Gründung der Gesellschaft die nötige Zeit hernehmen sollen, um ein Büro einzurichten!

OSTERMEIER.
Dann zeigen Sie mir Ihr Kopierbuch.
VON KEITH
sich in die Brust werfend.
Ich habe kein Kopierbuch.
OSTERMEIER.
Dann zeigen Sie den Depositenschein, den Ihnen die Bank ausgestellt hat.
VON KEITH.
Habe ich Ihre Einzahlungen erhalten, um sie auf Zinsen zu legen?!
OSTERMEIER.

Regen Sie sich nicht auf, verehrter Freund. Wenn Sie keine Bücher besitzen, dann notieren Sie sich Ihre Ausgaben doch irgendwo. Das tut doch jeder Laufbursche.

VON KEITH
wirft sein Notizbach auf den Tisch.
Da haben Sie mein Notizbuch.
[505]
OSTERMEIER
schlägt es auf und liest.

»Eine Silberflut von hellvioletter Seide und Pailletten von den Schultern bis auf die Knöchel –« Das ist der ganze Mensch!

VON KEITH.

Wenn Sie mir jetzt, nachdem ich Erfolg auf Erfolg erzielt habe, Knüppel in den Weg werfen, dann können Sie mit aller Bestimmtheit darauf rechnen, daß Sie von Ihrem Gelde weder in dieser noch in jener Welt etwas wiedersehen!

OSTERMEIER.

So schlecht stehen die Feenpalastaktien nicht, verehrter Freund. Wir sehen unser Geld schon wieder. – Gehorsamer Diener!


Will gehen.
VON KEITH
ihn aufhaltend.

Sie untergraben das Unternehmen durch Ihre Wühlereien! Verzeihen Sie, verehrter Herr; ich rege mich auf, weil ich mit dem Feenpalast empfinde wie ein Vater mit seinem Kind.

OSTERMEIER.

Dann machen Sie sich Ihres Kindes wegen nur gar keine Sorgen mehr. Der Feenpalast ist gesichert und wird gebaut.

VON KEITH.
Ohne mich?
OSTERMEIER.
Wann's sein muß, ohne Sie, verehrter Freund!
VON KEITH.
Das können Sie nicht!
OSTERMEIER.
Sie sind jedenfalls der letzte, der uns daran hindern wird!
VON KEITH.
Das wäre ein infamer Schurkenstreich!
OSTERMEIER.

Das wär noch schöner! Weil wir uns von Ihnen nicht länger betrügen lassen wollen, schimpfen Sie uns Betrüger!

VON KEITH.
Wenn Sie sich betrogen glauben, dann verklagen Sie mich doch auf Auszahlung Ihres Geldes!
OSTERMEIER.
Sehr schön, verehrter Freund, wenn wir nicht dem Aufsichtsrat angehörten!
VON KEITH.
Was Sie sich einbilden! Sie sitzen im Aufsichtsrat, um mich bei meiner Arbeit zu unterstützen.
OSTERMEIER.
Dafür komme ich auch zu Ihnen; aber bei Ihnen gibt's eben nichts zu arbeiten.
VON KEITH.

Mein lieber Herr Ostermeier, Sie können mir als Mann von Ehre nicht zumuten, eine solche Niederträchtigkeit über mich ergehen zu lassen. Übernehmen Sie doch den geschäftlichen Teil; lassen Sie mich artistischer Leiter des Unternehmens sein. Ich gebe Inkorrektheiten in meiner [506] Geschäftsführung zu, die ich mir aber nur in dem Be wußtsein verzieh, daß es zum allerletztenmal geschieht und daß ich mir nach Konsolidierung meiner Verhältnisse nicht das geringste mehr zuschulden kommen lassen würde.

OSTERMEIER.

Darüber hätten wir gestern, als ich mit den anderen Herren hier war, ein Wort reden können; aber da haben Sie uns ein Loch in den Bauch geschwatzt. Ich würde Ihnen auch heut noch sagen: Versuchen wir's noch einmal – wenn Sie sich uns wenigstens als einen aufrichtigen Menschen gezeigt hätten. Hört man aber immer und immer wieder nur Unwahrheiten, dann ...

VON KEITH
sich in die Brust werfend.

Dann sagen Sie den Herren: Ich baue den Feenpalast, so gewiß wie die Idee dazu aus meinem Hirn entsprungen ist. Bauen Sie ihn aber – sagen Sie das Ihren Herren! – dann sprenge ich den Feenpalast samt Aufsichtsrat und Aktionärversammlung – in die Luft!

OSTERMEIER.

Werde ich pünktlich ausrichten, Herr Nachbar! Wissen Sie, ich möcht' beileibe niemanden vor den Kopf stoßen, geschweige denn vor den ... Gehorsamer Diener!


Ab.
VON KEITH
ihm nachstarrend.

... Hintern! Ich spüre so was. – – Zu Hermann. Lassen Sie mich jetzt nicht allein, sonst schrumpfe ich so zusammen, daß mich die Angst anpackt, es könnte nichts mehr von mir übrigbleiben. – – – Sollte das möglich sein? – – Mit Tränen in den Augen. Nach so viel Feuerwerk! – – Ich soll wieder wie ein Geächteter von Land zu Land gepeitscht werden?! – – Nein! Nein! – Ich darf mich nicht an die Wand drücken lassen!! – Es ist das letztemal in diesem Leben, daß die Welt mit all ihrer Herrlichkeit vor mir liegt! Sich hoch aufrichtend. Nein! – Ich wackle nicht nur noch nicht, ich werde ganz München durch meinen Sprung in Erstaunen setzen: Er schüttelt noch, da fall ich schon, unter Pauken und Trompeten, ihm direkt auf den Kopf, daß alles rings auseinanderstiebt, und schlage alles kurz und klein. Dann wird sich's zeigen, wer zuerst wieder auf die Beine kommt!


Die Gräfin Werdenfels tritt ein.
[507]
VON KEITH
ihr entgegeneilend.
Meine Königin ...
ANNA
zu Hermann.
Würden Sie uns einen Moment allein lassen.

Von Keith läßt Hermann ins Wohnzimmer eintreten.
VON KEITH
die Tür hinter ihm schließend.
Du siehst so unternehmend aus?
ANNA.

Das ist schon möglich. Ich erhalte seit unserem Feenpalastkonzert Tag für Tag ein halbes Dutzend Heiratsanträge.

VON KEITH.
Das ist mir verdammt gleichgültig!
ANNA.
Aber mir nicht.
VON KEITH
höhnisch.
Hast du dich denn in ihn verliebt?
ANNA.
Von wem sprichst du denn?
VON KEITH.
Von dem Genußmenschen!
ANNA.
Du machst dich über mich lustig!
VON KEITH.
Von wem sprichst du denn?!
ANNA
nach dem Wohnzimmer deutend.
Von seinem Vater.
VON KEITH.
Und darüber willst du dich mit mir unterhalten?
ANNA.
Nein, ich wollte dich nur fragen, ob du jetzt endlich ein Lebenszeichen von Molly hast.
VON KEITH.
Nein, aber was ist mit Casimir?
ANNA.
Was ist mit Molly?? – – Du hältst ihr Verschwinden geheim?
VON KEITH
beklommen.

Ich fürchte, offen gesagt, weniger, daß ihr ein Unglück zugestoßen ist, als daß mir ihr Verschwinden den Boden unter den Füßen wegzieht. Wenn das nicht von Menschlichkeit zeugt, dann sitze ich dafür seit drei Tagen Nacht für Nacht auf dem Telegrafenamt. – Mein Verbrechen an ihr besteht darin, daß sie, seit wir uns kennen, nie ein böses Wort von mir gehört hat. Sie verzehrt sich vor Sehnsucht nach ihrer kleinbürgerlichen Welt, in der man, Stirn gegen Stirn geschmiedet, sich duckt und schuftet und sich liebt! Kein freier Blick, kein freier Atemzug! Nichts als Liebe! Möglichst viel und von der gewöhnlichsten Sorte!

ANNA.
Wenn man Molly nun nicht findet, was dann?
VON KEITH.

Ich kann getrost darauf bauen, daß sie, wenn mir das Haus über dem Kopf zusammengekracht ist, reumütig lächelnd zurückkommt und sagt: »Ich will es nicht wieder tun.« – Ihr Zweck ist erreicht; ich kann mein Bündel schnüren.

[508]
ANNA.
Und was wird dann aus mir?
VON KEITH.

Du hast bei unserem Unternehmen bis jetzt am meisten gewonnen und wirst, so hoffe ich, noch mehr bei unserem Unternehmen gewinnen. Verlieren kannst du nichts, weil du mit keinem Einsatz dabei beteiligt bist.

ANNA.
Wenn das sicher ist?!
VON KEITH.
– – Ach so ...?!
ANNA.
Ja, ja!
VON KEITH.
– Was hast du ihm denn geantwortet?
ANNA.
Ich schrieb ihm, ich könne ihm noch keine Antwort geben.
VON KEITH.
Das hast du ihm geschrieben?!
ANNA.
Ich wollte erst mit dir darüber sprechen.
VON KEITH
packt sie am Handgelenk und schleudert sie von sich.
Wenn es nicht anders bei dir steht, als daß du mit mir darüber sprechen mußt, dann – heirate ihn!!
ANNA.

Wer von Gefühlen so verächtlich denkt wie du, müßte doch über rein praktische Fragen ruhig mit sich reden lassen!

VON KEITH.

Laß meine Gefühle hier aus dem Spiel! Mich empört, daß du nicht mehr Rassestolz in dir hast, um deine Erstgeburt für ein Linsengericht zu verkaufen!

ANNA.
Was nicht du bist, das ist dir Linsengericht!
VON KEITH.

Ich kenne meine Schwächen; aber das sind Haustiere! Dem einen fehlt es im Hirn und dem andern im Rückenmark! Willst du Wechselbälge zur Welt bringen, die vor dem achten Tage nicht sehen können?! – Ich gebe dir mit Freuden, wenn es mit mir vorbei sein soll, was ich von meiner Seelenglut in dich hineingelebt, auf deine Karriere mit. Aber wenn du dich vor deinem Künstlerlos hinter einen Geldsack verschanzest, dann bist du heute schon nicht mehr wert, als das Gras, das dereinst aus dem Grabe wächst!

ANNA.
– Hättest du wenigstens den geringsten Anhaltspunkt darüber, was aus Molly geworden ist!
VON KEITH.
Beschimpf mich nicht noch! – Ruft. Sascha!
ANNA.
Wenn du denn durchaus darauf bestehst, daß wir uns trennen sollen ...
VON KEITH.
Gewiß, ich bestehe darauf.
ANNA.
Dann gib mir meine Briefe zurück!
VON KEITH
höhnisch.
Willst du deine Memoiren schreiben?
[509]
ANNA.
Nein, aber sie könnten in falsche Hände geraten.
VON KEITH
aufspringend.
Sascha!!
ANNA.
Was willst du von Sascha? – Ich habe Sascha einen Auftrag gegeben.
VON KEITH.
Wie kommst du dazu?!
ANNA.

Weil er zu mir kam. Ich habe das doch schon öfter getan. Im schlimmsten Fall weiß der Junge, wo er etwas zu verdienen findet.

VON KEITH
sinkt in den Sessel am Schreibtisch.

Mein Sascha! Wischt sich eine Träne aus dem Auge. Daß du auch ihn nicht vergessen hast! – – Wenn du jetzt das Zimmer verläßt, Anna, dann breche ich zusammen wie ein Ochse im Schlachthaus. – Gib mir noch eine Galgenfrist!

ANNA.
Ich habe keine Zeit zu verlieren.
VON KEITH.

Nur so lange, bis ich mich deiner entwöhnt habe, Anna! – Ich bedarf meiner geistigen Klarheit jetzt mehr denn je ...

ANNA.
Gibst du mir dann meine Briefe zurück?
VON KEITH.

Du bist grauenhaft! – Aber das ist ja das helle Mitleid von dir! Ich soll dich wenigstens verfluchen dürfen, wenn du nicht mehr meine Geliebte bist.

ANNA.
Du lernst deiner Lebtag keine Frau richtig beurteilen!
VON KEITH
sich stolz emporreckend.

Ich widerrufe meinen Glauben nicht auf der Folter! Du gehst mit dem Glück; das ist menschlich. Was du mir warst, bleibst du darum doch.

ANNA.
Dann gib mir meine Briefe zurück.
VON KEITH.

Nein, mein Kind! Deine Briefe behalte ich für mich. Sonst zweifle ich dereinst auf meinem Sterbebett, ob du nicht vielleicht nur ein Hirngespinst von mir gewesen bist. Ihr die Hand küssend. Viel Glück!

ANNA.
Auch ohne dich!

Ab.
VON KEITH
allein, sich unter Herzkrämpfen windend.

– Ah! – Ah! – Das ist der Tod! – Er stürzt zum Schreibtisch, entnimmt einem Schubfach eine Handvoll Briefe und eilt zur Tür. Anna! Anna!


In der offnen Tür tritt ihm Ernst Scholz entgegen. Scholz geht unbehindert, ohne daß man ihm noch eine Spur von seiner Verletzung anmerkt.
[510]
VON KEITH
zurückprallend.
... Ich wollte eben zu dir ins Hotel fahren.
SCHOLZ.
Das hat keinen Zweck mehr. Ich reise ab.
VON KEITH.
Dann gib mir aber noch die zwanzigtausend Mark, die du mir gestern versprochen hast!
SCHOLZ.
Ich gebe dir kein Geld mehr.
VON KEITH.
Die Karyatiden zerschmettern mich! Man will mir meinen Direktionsposten nehmen!
SCHOLZ.
Das bestärkt mich in meinem Entschluß.
VON KEITH.
Es handelt sich nur darum, eine momentane Krisis zu überwinden!
SCHOLZ.

Mein Vermögen ist mehr wert als du! Mein Vermögen sichert den Angehörigen meiner Familie noch auf unendliche Zeiten eine hohe, freie Machtstellung! Währenddem du nie dahin gelangst, einem Menschen irgend etwas zu nützen!

VON KEITH.
Wo nimmst du Schmarotzer die Stirne her, mir Nutzlosigkeit vorzuwerfen?!
SCHOLZ.

Lassen wir den Wettstreit! – Ich leiste endlich den großen Verzicht, zu dem sich so mancher einmal in diesem Leben verstehen muß.

VON KEITH.
Was heißt das?
SCHOLZ.
Ich habe mich von meinen Illusionen losgerissen.
VON KEITH
höhnisch.
Schwelgst du wieder mal in der Liebe eines Mädchens aus niedrigstem Stande?
SCHOLZ.
Ich habe mich von allem losgerissen. – Ich gehe in eine Privatheilanstalt.
VON KEITH
aufschreiend.
Du kannst keine nichtswürdigere Schandtat begehen als den Verrat an deiner eignen Person!
SCHOLZ.

Deine Entrüstung ist mir sehr begreiflich. – Ich habe in den letzten drei Tagen den grauenvollsten Kampf durchgekämpft, der einem Erdenwurm beschieden sein kann.

VON KEITH.
Um dich feige zu verkriechen?! – Um als Sieger auf deine Menschenwürde zu verzichten?!
SCHOLZ
aufbrausend.

Ich verzichte nicht auf meine Menschenwürde! Du hast weder Ursache, mich zu beschimpfen noch meiner zu spotten! – Wenn jemand die Beschränkung, in die ich mich finde, gegen seinen Willen über sich verhängen lassen muß, dann mag er seiner Menschenwürde [511] verlustig gehen. Dafür bleibt er relativ glücklich; er wahrt sich seine Illusionen. – Wer kalten Blickes wie ich mit der Wirklichkeit abrechnet, der kann sich dadurch weder die Achtung noch die Teilnahme seiner Mitmenschen verscherzen.

VON KEITH
zuckt die Achseln.
Ich würde mir diesen Schritt doch noch ein wenig überlegen.
SCHOLZ.

Ich habe ihn reiflich überlegt. Es ist die letzte Pflicht, die mein Geschick mir zu erfüllen übrigläßt.

VON KEITH.
Wer einmal drin ist, kommt so leicht nicht wieder heraus.
SCHOLZ.

Hätte ich noch die geringste Hoffnung, jemals herauszukommen, dann ginge ich nicht hinein. Was ich mir an Entsagung aufbürden, was ich meiner Seele an Selbstüberwindung und Hoffnungsfreudigkeit entringen konnte, habe ich aufgewandt, um mein Los zu ändern. Mir bleibt, Gott sei's geklagt, keinerlei Zweifel mehr darüber, daß ich anders geartet als andere Menschen bin.

VON KEITH
im höchsten Stolz.
Gott sei Dank habe ich nie daran gezweifelt, daß ich anders geartet als andere Menschen bin!
SCHOLZ
sehr ruhig.

Sei es nun Gott geklagt oder Gott gedankt – dich hielt ich bis jetzt für den abgefeimtesten Spitzbuben! – Ich habe auch diese Illusion aufgegeben. Ein Spitzbube hat Glück, so wahr wie dem ehrlichen Menschen auch im unabänderlichen Mißgeschick noch sein gutes Gewissen bleibt. Du hast nicht mehr Glück als ich, und du weißt es nicht. Darin liegt die entsetzliche Gefahr, die über dir schwebt!

VON KEITH.
Über mir schwebt keine andere Gefahr, als daß ich morgen kein Geld habe!
SCHOLZ.

Du wirst zeit deines Lebens morgen kein Geld haben! – Ich wüßte dich vor den heillosen Folgen deiner Verblendung gerne in Sicherheit. Deswegen komme ich noch einmal zu dir. Ich habe die heilige Überzeugung, daß es für dich das beste ist, wenn du mich begleitest.

VON KEITH
lauernd.
Wohin?
SCHOLZ.
In die Anstalt.
VON KEITH.
Gib mir die dreißigtausend Mark, dann komme ich mit!
[512]
SCHOLZ.

Wenn du mich begleitest, brauchst du kein Geld mehr. Du findest ein behaglicheres Heim, als du es vielleicht jemals gekannt hast. Wir halten uns Wagen und Pferde, wir spielen Billard ...

VON KEITH
ihn umklammernd.

Gib mir die dreißigtausend Mark!! Willst du, daß ich hier vor dir einen Fußfall tue? Ich kann hier vom Platz weg verhaftet werden!

SCHOLZ.
Dann bist du schon so weit?! – Ihn zurückstoßend. Ich gebe solche Summen keinem Wahnsinnigen!
VON KEITH
schreit.
Du bist der Wahnsinnige!
SCHOLZ
ruhig.
Ich bin zu Verstand gekommen.
VON KEITH
höhnisch.

– Wenn du dich in die Irrenanstalt aufnehmen lassen willst, weil du zu Verstand gekommen bist, dann – geh hinein!

SCHOLZ.
Du gehörst zu denen, die man mit Gewalt hineinbringen muß!
VON KEITH.
– Dann wirst du in der Irrenanstalt wohl auch deinen Adelstitel wieder aufnehmen?
SCHOLZ.

Hast du nicht in zwei Weltteilen jeden erdenklichen Bankrott gemacht, der im bürgerli chen Leben überhaupt möglich ist?!

VON KEITH
giftig.

Wenn du es für deine moralische Pflicht hältst, die Welt von deiner überflüssigen Existenz zu befreien, dann findest du radikalere Mittel als Spazierenfahren und Billardspielen!

SCHOLZ.
Das habe ich längst versucht.
VON KEITH
schreit ihn an.
Was tust du denn dann noch hier?!
SCHOLZ
finster.
Es ist mir mißlungen wie alles andere.
VON KEITH.
Du hast natürlich aus Versehen jemand anders erschossen!
SCHOLZ.

Man hat mir damals die Kugeln zwischen den Schultern, dicht neben dem Rückgrat, wieder herausgeschnitten. – Es ist heute wohl das letztemal in deinem Leben, daß sich dir eine rettende Hand bietet. Welch eine Art von Erlebnissen noch vor dir liegt, das weißt du jetzt.

VON KEITH
wirft sich vor ihm auf die Knie und umklammert seine Hände.
Gib mir die vierzigtausend Mark, dann bin ich gerettet!
SCHOLZ.
Die retten dich nicht vor dem Zuchthaus!
VON KEITH
entsetzt emporfahrend.
Schweig!!
[513]
SCHOLZ
bittend.

Komm mit mir, dann bist du geborgen. Wir sind zusammen aufgewachsen; ich sehe nicht ein, warum wir nicht auch das Ende gemeinsam erwarten sollen. Die bürgerliche Gesellschaft urteilt dich als Verbrecher ab und unterwirft dich allen unmenschlichen mittelalterlichen Martern ...

VON KEITH
jammernd.
Wenn du mir nicht helfen willst, dann geh, ich bitte dich darum!
SCHOLZ
Tränen in den Augen.

Wende deiner einzigen Zuflucht nicht den Rücken! Ich weiß doch, daß du dir dein jammervolles Los ebensowenig selber gewählt hast, wie ich mir das meinige.

VON KEITH.
Geh! Geh!
SCHOLZ.

Komm, komm. – Du hast einen lammfrommen Gesellschafter an mir. Es wäre ein matter Lichtschimmer in meiner Lebensnacht, wenn ich meinen Jugendgespielen seinem grauenvollen Verhängnis entrissen wüßte.

VON KEITH.
Geh! Ich bitte dich!
SCHOLZ.
– – Vertrau dich von heute ab meiner Führung an, wie ich mich dir anvertrauen wollte ...
VON KEITH
schreit verzweifelt.
Sascha! Sascha!
SCHOLZ.
– – – Dann vergiß nicht, wo du einen Freund hast, dem du jederzeit willkommen bist.

Ab.
VON KEITH
kriecht suchend umher.

– – Molly! – – Molly! – – Es ist das erstemal in meinem Leben, daß ich vor einem Weib auf den Knien wimmere! – – Plötzlich nach dem Wohnzimmer aufhorchend. Da ...! Da ...! Nachdem er die Wohnzimmertür geöffnet. ... Ach, das sind Sie?


Hermann Casimir tritt aus dem Wohnzimmer.
VON KEITH.

Ich kann Sie nicht bitten, länger hierzubleiben. Mir ist – nicht ganz wohl. Ich muß erst – eine Nacht – darüber schlafen, um der Situation wieder Herr zu sein. – Reisen Sie mit ... mit ...


Schwere Schritte und viele Stimmen tönen vom Treppenhaus herauf.
VON KEITH.
Hören Sie ... Der Lärm! Das Getöse! – Das bedeutet nichts Gutes ...
[514]
HERMANN.
Verschließen Sie doch die Tür.
VON KEITH.
Ich kann es nicht! – Ich kann es nicht! – Das ist sie ...!

Eine Anzahl Hofbräuhausgäste schleppen Mollys entseelten Körper herein. Sie trieft von Wasser, die Kleider hängen in Fetzen. Das aufgelöste Haar bedeckt ihr Gesicht.
EIN METZGERKNECHT.

Da hammer den Stritzi! – Zurücksprechend. Hammer's? – Eini! Zu von Keith. Schau her, was mer g'fischt hamm! Schau her, was mer der bringen! Schau her, wann'd a Schneid hast!

EIN PACKTRÄGER.

Aus'm Stadtbach hammer's zogen! Unter die eisernen Gitterstangen vor! An die acht Täg' mag's drin g'legen sein im Wasser!

EIN BÄCKERWEIB.

Und da derweil treibt sich der Lump, der dreckichte, mit seine ausg'schamte Menscher umanand! Sechs Wuchen lang hat er's Brot net zahlt! Das arme Weib laßt er bei alle Krämersleut' betteln gehn, as was z'essen kriagt! A Stoan hat's derbarmt, as wia die auf d'Letzt ausg'schaut hat!

VON KEITH
retiriert sich, während ihn die Menge mit der Leiche umdrängt, nach seinem Schreibtisch.
Ich bitte Sie, beruhigen Sie sich doch nur!
DER METZGERKNECHT.

Halt dei Fressen, du Hochstapler, du! Sunst kriagst vo mir a Watschen ins G'sicht, as nimma stehn kannst! – Schau da her! – Is sie's oder is sie's net?! – Schau her, sag i!

VON KEITH
hat hinter sich auf dem Schreibtisch Hermanns Revolver erfaßt, den die Gräfin Werdenfels früher dort hatte liegenlassen.
Rühren Sie mich nicht an, wenn Sie nicht wollen, daß ich von der Waffe Gebrauch mache!
DER METZGERKNECHT.

Was sagt der Knickebein?! – Was sagt er?! – Gibst den Revolver her?! – Hast net gnua an dera da, du Hund?! – Gibst ihn her, sag' i ...!


Der Metzgerknecht ringt mit von Keith, dem es gelingt, sich dem Ausgang zu nähern, durch den eben der Konsul Casimir eintritt. Hermann Casimir
hat sich derweil an die Leiche gedrängt; er und das Bäckerweib tragen die Leiche auf den Diwan.
[515]
VON KEITH
sich wie ein Verzweifelter wehrend, ruft.

Polizei! – Polizei! Bemerkt Casimir und klammert sich an ihn an. Retten Sie mich, um Gottes willen! Ich werde gelyncht!

DER KONSUL CASIMIR
zu den Leuten.

Jetzt schaut's aber, as weiter kummt, sunst lernt's mi anders kenna! – Laßt's die Frau auf dem Diwan! – Marsch, sag' i! – da hat der Zimmermann 's Loch g'macht! Seinen Sohn, der sich mit der Menge entfernen will, am Arm nach vorn ziehend. Halt, Freundrl! Du nimmst auf deine Londoner Reise noch eine schöne Lehre mit!


Die Hofbräuhausleute haben das Zimmer verlassen.
CASIMIR
zu von Keith.

Ich wollte Sie auffordern, München binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen; jetzt glaube ich aber, es ist wirklich am besten für Sie, wenn Sie mit dem nächsten Zug reisen.

VON KEITH
immer noch den Revolver in der Linken haltend.
Ich – ich habe dieses Unglück – nicht zu verantworten ...
CASIMIR.

Das machen Sie mit sich selbst ab! Aber Sie haben die Fälschung meiner Namensunterschrift zu verantworten, die Sie an Ihrem Gründungsfest in der Briennerstraße in einem Glückwunschtelegramm vorgenommen haben.

VON KEITH.
Ich kann nicht reisen ...
CASIMIR
gibt ihm ein Papier.

Wollen Sie diese Quittung unterzeichnen. Sie bescheinigen darin, eine Summe von zehntausend Mark, die Ihnen die Frau Gräfin Werdenfels schuldete, durch mich zurückerhalten zu haben.


Von Keith geht zum Schreibtisch und unterzeichnet.
CASIMIR
das Geld aus seiner Brieftasche abzählend.

Als Ihr Nachfolger in der Direktion der Feenpalastgesellschaft möchte ich Sie im Interesse einer gedeihlichen Entwicklung unseres Unternehmens darum ersuchen, sich so bald nicht wieder in München blicken zu lassen!


Von Keith am Schreibtisch stehend, gibt Casimir den Schein und nimmt mechanisch das Geld in Empfang.
CASIMIR
den Schein einsteckend.
Vergnügte Reise! – Zu Hermann. Marsch mit dir!

[516] Hermann drückt sich scheu hinaus. Casimir folgt ihm.
VON KEITH
in der Linken den Revolver, in der Rechten das Geld, tut einige Schritte nach dem Diwan, bebt aber entsetzt zurück.

Darauf betrachtet er unschlüssig abwechselnd den Revolver und das Geld. – Indem er den Revolver grinsend hinter sich auf den Mitteltisch legt. Das Leben ist eine Rutschbahn ...

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TextGrid Repository (2012). Wedekind, Frank. Dramen. Der Marquis von Keith. Der Marquis von Keith. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-95D3-6