Frank Wedekind
Die Zensur
Theodizee in einem Akt

Personen

[60] Personen.

    • Dr. Cajetan Prantl, Sekretär des Beichtvaters Seiner Majestät.

    • Walter Buridan, Literat.

    • Kadidja, seine Geliebte.

    • Eine Zofe.
      Szenerie.
    • Walter Buridans Arbeitszimmer mit
    • Schreibtisch, Büchergestell, Diwan,
    • Klubsessel, hohem, bis auf den
    • Teppich herabreichendem Spiegel,
    • einem Wandschirm, dickem Teppich,
    • Eisbärenfell und Musikinstrumenten
    • Rechts vom Zuschauer eine Seitentür.
    • Im Hintergrund eine sehr breite
    • Balkontür, durch die man auf den
    • Balkon hinaussieht. Es ist Abend.
    • Die Lampen brennen. Draußen
    • klarer Sternenhimmel.

    • [60]

1. Szene

Erste Szene

Kadidja unsichtbar. Walter Buridan sitzt hinter dem Schreibtisch.

BURIDAN.

Was tust du denn so lange da draußen auf dem Balkon? – Nun, Kadidja, warum antwortest du denn nicht? Er erhebt sich. Sie ist doch vorhin auf den Balkon hinausgegangen! Er ruft. Kadidja! Er eilt auf den Balkon hinaus. Gott sei Dank!Kadidja ins Zimmer zurückführend. Kadidja, wie kannst du mich so entsetzlich erschrecken!

KADIDJA.

Ich war darauf gespannt, wie sich die Befürchtung, daß ich nicht mehr dasein könnte, bei dir äußern würde.

BURIDAN.

Ja, ja. – So wenig gelingt es mir, bei all der Liebe, die ich für dich fühle, dich glücklich zu machen!

KADIDJA.
Ja, ja. Ich bin ein unzufriedenes, undankbares Geschöpf. Was läßt sich daran ändern!
BURIDAN.

Ich mache dir einen Vorschlag, Kadidja, und bitte dich, meinen Vorschlag ruhig zu überlegen. Wir sind jetzt achtzehn Monate beisammen, ohne während der ganzen Zeit mehr als fünf Tage voneinander getrennt gewesen zu sein. Ich weiß, daß ich nicht mehr der Mensch bin, der ich früher war. Ich bin häufig verstimmt, weil es mir an der nötigen Spannkraft fehlt. Diese Spannkraft kann ich aber nur in mir selbst wiederfinden ...

KADIDJA.
Das heißt mit anderen Worten, du willst dich von mir trennen?
BURIDAN.
Nur für vierzehn Tage ...
KADIDJA.
Dann können wir uns schon geradesogut vollends Lebewohl sagen.
BURIDAN.
So wenig bin ich dir wert?
KADIDJA.

Was bin denn ich dir noch wert? Ich war von Kindheit auf immer die Freude meiner ganzen Umgebung. Dir bin ich längst keine Freude mehr, obschon ich alles tue, wovon ich denken kann, daß es dir angenehm ist. Aber daran liegt es eben. Ich bin durch meine Nachgiebigkeit und meine Selbstlosigkeit ein ganz anderes Geschöpf geworden, als ich damals war, als du mich zu dir nahmst.

[61]
BURIDAN
im Klubsessel.

Ich glaube nicht, daß du durch dein Zusammensein mit mir irgend etwas von deinem Zauber verloren hast. Aber du läßt mir ja keine Zeit, um meine Genußfähigkeit wiederzufinden.

KADIDJA.

Ich bin das Alleinsein nun einmal nicht gewohnt. Wir waren unsere acht Geschwister in meinem Elternhaus. Als ich dann zum Theater kam, gab es eine Unmenge von Kollegen und Kolleginnen, Regisseure, Theaterarbeiter und Dramaturgen, die in jeder Stadt wieder andere waren. Allerdings hat man mir ja auch schon öfter gesagt, daß ich der Kunst wegen überhaupt nicht zur Bühne gegangen sei, sondern nur um meine Unterhaltung dabei zu finden.

BURIDAN.

Glaubst du denn, ich schreibe meine Theaterstücke aus einem anderen Grunde, als nur um während des Schreibens meine Unterhaltung dabei zu finden? – Ich habe mich sogar auch schon gefragt, ob ich denn wirklich so viel trinke, um Theaterstücke schreiben zu können, oder ob ich nur Theaterstücke schreibe, um während des Schreibens so viel dazu trinken zu können. – Aber das alles macht dich nicht glücklicher.

KADIDJA.

Als du vorgestern abend fortgegangen warst, da ließ ich von den beiden Mädchen die Körbe, in denen meine Kostüme liegen, vom Hängeboden herunterholen. Ich packte die Kostüme hier aus und zeigte sie den Mädchen. Das ganze Zimmer, der Schreibtisch, der Diwan, der Sessel, alles lag voll von Kostümen. Dann zog ich eins nach dem anderen an, ging darin über den Teppich und besah mich im Spiegel. Sie tut es. – Die Mädchen müssen geglaubt haben, ich hätte den Verstand verloren.

BURIDAN
erhebt sich.

Arme Kadidja! Er küßt sie. So tief erniedrigst du dich, um dein Zusammenleben mit mir ertragen zu können!

KADIDJA.

Ich erniedrigte mich ja doch so gerne, wenn ich wenigstens sähe, daß ich dir damit irgend etwas nützen würde! Aber je mehr ich mich in allem nach deinen Wünschen ändere, um so weniger bedeute ich für dich. Manchmal siehst du mich schon gar nicht mehr, wenn ich dicht vor dir stehe.

[62]
BURIDAN
erschrickt.
Kadidja!
KADIDJA.

Von solchen Momenten kannst du natürlich nichts wissen. Als der Winter begann, hast du mir wenigstens noch manchmal deine Lieder einstudiert. Das hast du wohl ganz vergessen? Du hast sie mir mit der Reitpeitsche einstudiert, damit ich, sobald ich auf dem Podium erscheine, das Publikum durch meine Leidenschaftlichkeit überwältige. Dort an dem Büchergestell hängt noch der Zettel angeheftet, auf den du die Lieder, die ich singen konnte, notiert hattest. Du hast den Zettel seit mindestens sechs Monaten nicht mehr angesehen. Der Winter ist zu Ende, und das Singen deiner Lieder ist ein Erlebnis aus meiner Vergangenheit. Die Reitpeitsche gebraucht der Hausknecht, um unten im Hof die Teppiche auszuklopfen.

BURIDAN
nimmt die Laute von der Wand.
Willst du mir nicht eines der Lieder vorsingen?
KADIDJA.
Wenn ich noch eines kann.
BURIDAN
hat den Zettel vom Büchergestell genommen und liest die Titel.

Da steht »Der blinde Knabe«, »Franziskas Abendlied«, »Ilse«, »Die Wetterfahne«, »Galathea«, »Von vorn besehn«, »Konfession«, »Tränenschwer« und »Stille Befürchtung«.


Kadidja nennt einen der erwähnten Titel, z.B. »Die Wetterfahne« und nimmt die zum Singen nötige Haltung an.
BURIDAN
setzt sich auf die Armlehne des Klubsessels und schlägt die Beine übereinander.

Aber die Reitpeitsche habe ich nicht. Könntest du nicht vielleicht auch ohne sie in die nötige Leidenschaftlichkeit geraten?

KADIDJA.
Ich will's versuchen.
BURIDAN
schlägt die Saiten an.
Dies ist die Stimmung. – Hopp!
KADIDJA
singt in diesem Falle folgendes Lied.

Du auf deinem höchsten Dach!
Ich in nächster Nähe!
Doch die wahre Liebe, ach,
Schwankt in solcher Höhe!
Du in deinem Herzen leer,
Ich in blindem Wahne
[63] Dreh dich hin, dreh dich her,
Schöne Wetterfahne!

Unterhaltend pfeift der Wind,
Saust uns um die Ohren;
Von des Himmels Freuden sind
Keine noch verloren!
Meinst du, daß verliebt ich bin,
Weil ich dich ermahne –?
Dreh dich her, dreh dich hin,
Schöne Wetterfahne!

Drehn wir uns auf hohem Turm
Immer froh und munter!
Schon der erste Wintersturm
Schleudert dich hinunter.
Wenn dann auch verflogen wär,
Was ich jetzt noch ahne –
Dreh dich hin, dreh dich her,
Schöne Wetterfahne!
BURIDAN.

Und jetzt gleich noch der Tanz »Junges Blut«. Er singt, sich auf der Laute begleitend, während Kadidja dazu tanzt.


Tanz, mein Liebchen, so wild du
Tanzen kannst, tanzen kannst!
Hurtig tummle dich, wie kein
Satan tanzt, Satan tanzt!
Wirf dir übern Kopf die Schuh,
Wirf dein Röckchen auch dazu!
Schlenkre Fuß und
Waden ohne Ruh!

Bis es knackt, schwing exakt,
Auch im tollsten Takt
Hurtig wie vorher nie
Deine weißen Knie!
Lustbeflügelt derweil
Zuckt dein Hinterteil.
Frisch fang an, heißer dann,
Als dein erster Tanz begann!
[64]
KADIDJA
wirft sich Buridan in die Arme und birgt ihren Kopf an seiner Brust.
Ich habe das alles entsetzlich schlecht gemacht!
BURIDAN
sie küssend.

Du hast wilder getanzt, als ich es je von dir gesehen habe. – Wolltest du mir doch nur das bißchen Zeit lassen, das ich zu meiner geistigen Sammlung brauche, um mich solcher Augenblicke wieder aus vollem Herzen freuen zu können!

KADIDJA
erregt.

Wer bürgt mir denn aber dafür, daß du dich mit deinen geistigen Fragen und Aufgaben beschäftigst, wenn du mich den ganzen Tag und den ganzen Abend allein läßt und dann, wenn du endlich gegen Morgen nach Hause kommst, nur Mißvergnügen und Teilnahmslosigkeit für mich übrig hast! Auf und nieder gehend. Ich glaube jeden Abend zwei volle Stunden daran, daß du dich auswärts mit deinen geistigen Aufgaben beschäftigst. Ich glaube auch noch eine dritte Stunde daran. In der vierten Stunde frage ich mich dann aber endlich, wer ich denn nun eigentlich bin! Dir haben hundert und hundert Frauen nur dadurch die Zeit vertrieben, daß sie dir all ihr Liebesabenteuer erzählten. Bin ich vielleicht so armselig, daß ich nichts zu erzählen fände, wenn ich die Möglichkeit hätte, etwas zu erleben? Ich soll mit gebundenen Gliedern mit allen erdenklichen Frauen um dich kämpfen, die sich vollkommen frei bewegen können?

BURIDAN.

Du bist auf meine Vergangenheit eifersüchtig. Du verzeihst es mir nicht, daß ich, bevor wir uns kennenlernten, mehr erlebt habe als du.

KADIDJA.

Im Gegenteil! In deine Vergangenheit hatte ich mich längst verliebt gehabt, als wir uns zum erstenmal begegneten. Aber dafür müßte mein Wert für dich nun auch meine Gegenwart sein! Danke schon! Zu Hause soll ich mich dadurch verdient machen, daß ich nicht vorhanden bin, und gehen wir zusammen aus, dann bedrückt dich meine Erscheinung. Sieht mich jemand an, weil ich ihm gefalle, dann tönt ein Fluch von deinen Lippen. Das ist dem keine Freude, das ist mir keine Freude, und dir kann es auch keine Freude sein. Bin ich dazu von Gott geschaffen?

[65]
BURIDAN.

Als wir uns kennenlernten, geliebtes Herz, da warst du dir deines Sieges so sicher wie ein Götterkind! Du erblicktest nicht die geringste Schwierigkeit in unserem Zusammensein, während mich die Furcht vor dem Unheil, in das sich auch das größte Glück verwandeln kann, sehr ernst stimmte. Jetzt entmutigt es dich, daß auch bei der größten Liebe das gemeinsame Glück mühevoll erobert werden muß. Und ich sage mir jeden Tag, daß ich mir diese Eroberung tausend und tausendmal schwerer vorgestellt hatte.

KADIDJA.

Dazu hast du auch allen Grund! Jede Widerwärtigkeit räume ich dir ängstlich aus dem Wege. Die Absätze an meinen Schnürstiefeln sind mit Gummi beschlagen, damit du meine Schritte in der Wohnung nicht hörst. Oder koste ich zuviel? – Wenn ich in einem Schaufenster einen Schmuck liegen sehe, den ich gerne haben möchte und für den ich das Geld nicht ausgeben will, dann gehe ich jeden Tag an dem Schaufenster vorüber und sehe mir den Schmuck an und sehe ihn mir täglich so lange an, bis er mir vollständig verleidet ist. Dann habe ich das Geld gespart.

BURIDAN
im Klubsessel.
Ganz genau ebenso ergeht es mir mit meinen schriftstellerischen Entwürfen.
KADIDJA.
Wie meinst du das?
BURIDAN.

Wenn mir ein künstlerischer Entwurf einfällt, den ich liebend gerne ausarbeiten möchte, zu dessen Ausarbeitung ich aber die nötige Zeit nicht finde, dann sehe ich mir den Entwurf jeden Tag von allen Seiten an, und sehe ihn mir täglich so lange an, bis er mir vollständig verleidet ist. Dann habe ich die Zeit, die ich für die Ausarbeitung des Entwurf es nötig gehabt hätte, gespart!

KADIDJA
setzt sich ihm auf die Knie, küßt ihn und sagt scherzend.

Aber könntest du denn deine Schriftstellerei nicht für die nächsten zehn Jahre aufgeben? Du hast ja, bevor wir uns kannten, so unendlich viel geschrieben, daß es für die nächsten zehn Jahre vollauf ausreichen wird. Außerdem hast du doch jetzt deine Schauspielerei. Du hast dein öffentliches Auftreten mit mir zusammen. Und dann hast du deine Musik, deine Lieder, die du mir mit der Reitpeitsche einstudierst! Und schließlich hast du doch auch [66] noch deine Kinderspielzeuge, die du erfunden hast! Die hätte ich beinahe vergessen. Der deutsche Diskus, die Fahrradschaukel, das Kinderdrahtseil, die Lauftrommel. Könntest du denn, wenn du dich nach geistiger Betätigung sehnst, nicht wieder einmal ein Kinderspielzeug erfinden? Das nimmt dir erstens weniger Zeit weg, und zweitens macht es doch uns beiden ganz unvergleichlich mehr Vergnügen als deine Schriftstellerei! – Soll ich nicht wieder einmal auf deiner Lauftrommel durchs Zimmer gehen? Sich erhebend. Wo ist denn die Lauftrommel? Sie holt die Lauftrommel hinter dem Wandschirm vor und schiebt sie in den Stützen ins Zimmer. Da ist sie. Ich kann schon ziemlich gut ohne die Stützen darauf durchs Zimmer gehen. Soll ich es versuchen?


Buridan antwortet nicht.
KADIDJA
schiebt die Lauftrommel an die Wand zurück.
Das scheint dich auch nicht mehr zu unterhalten.
BURIDAN.
Du hast ja kein Publikum!
KADIDJA.

Ich habe kein Publikum. Schlimm genug! – Gelte ich dir denn noch etwas, wenn ich kein Publikum habe, dem ich gefalle? – Bin ich deshalb eine Exhibitionistin?

BURIDAN
erhebt sich.

Liebe Kadidja, wir müssen unser Beieinandersein etwas vornehmer, etwas vertrauensvoller gestalten! Ein Glück ist unmöglich, wenn beide ununterbrochen davor zittern müssen, einander zu verlieren. Wir müssen aneinander glauben können! Wir haben ein geistiges Band zwischen uns nötig, das uns zusammenhält, auch wenn wir einmal vierzehn Tage lang nicht miteinander unter ein und demselben Dache wohnen!

KADIDJA.

Du beschäftigst dich doch wahrhaftig zur Genüge mit geistigen Dingen! Aber soll ich mich nun deshalb auch mit Philosophie und dergleichen abgeben? Ich tue das schon aus dem einfachen Grunde nicht, weil es mich nicht kleidet. Außerdem – wenn ich einmal damit begonnen habe, dir blauen Dunst vorzumachen, was bewahrt mich dann davor, daß ich es nicht auch in wichtigeren Dingen tun werde?

BURIDAN.

Bei jedem Aufschwung, den die Seele nimmt, wird man sofort in die nüchterne Wirklichkeit hinabgezogen!

[67]
KADIDJA
Tränen in den Augen.

Deine Worte sind ungerecht! Auf deinen Kreuz- und Querfahrten durch alle fünf Weltteile hattest du jedes Gefühl für Natürlichkeit verloren. Bin ich deshalb »nüchterne Wirklichkeit«, weil du es bei mir wiederfandest? – Im Gegenteil, wenn ich, ohne die geringste Ahnung davon zu haben, das große Wort über Kunst und Literatur führen wollte, wie das die Frauen zu Hunderten tun, dann wäre ich nüchterne Wirklichkeit für dich! Das erlebst du nicht an mir. Ehe ich die herrlichsten Gaben, die mir der Himmel verliehen hat, so kindisch entwürdige, biete ich mich lieber so, wie ich nun einmal geschaffen bin, auf offnem Markte aus.

BURIDAN.
Kadidja! – Ich glaube, so wahr ich hier stehe, daß du dazu imstande wärst!
KADIDJA.

Fändest du das so ungeheuerlich? – Dann wärst du über meine Bedeutung im klaren. – Sich ihm nähernd. Ich möchte doch nur die echte Perle, die ich hier an dieser Hand Ihre Hand küssend. an dieser entzückenden Hand trage, nicht deshalb, weil uns die Perle langweilig geworden ist, gegen einen falschen Diamanten vertauschen.

BURIDAN
zurücktretend.

Es gelingt mir nicht für eine Minute mehr, mich selber wiederzufinden! Seitdem du mir den Beweis gegeben hast, daß du ein Geschöpf von unbegrenzten Mög lichkeiten bist, fühle ich bei jedem Atemzug den Schreck in den Gliedern, dich zu verlieren!

KADIDJA.
Und dabei beklagst du dich noch, daß es dir an geistiger Anregung fehlt!
BURIDAN.

Ich bedanke mich für derartige Anregung! Ich habe nicht zwanzig Jahre um meine persönliche Freiheit gekämpft, um mein Dasein in Angst und Entsetzen zu verbringen!

KADIDJA.

Wenn dich die natürlichsten Dinge mit Entsetzen erfüllen, dann gehörst du doch selbst zu der furchtsamen Menge, deren blinde Furcht du immer verspottest.

BURIDAN.

Ich kann von diesen Dingen nichts hören, weil ich todmüde bin! Laß mir vierzehn Tage Zeit, dann blicke ich der Wirklichkeit wieder mit der größten Unerschrockenheit in die Augen!

[68]
KADIDJA.

Damals hatte ich dich doch auch nur ganz schlicht und sachlich gebeten, du möchtest es einmal auf eine Probe ankommen lassen, um zu erfahren, wie geartet ich bin.

BURIDAN
auf dem Diwan.
Ich hatte deinen Brief nicht geöffnet. Oder ich hatte ihn nicht zu Ende gelesen.
KADIDJA
ohne sich bei der Erzählung anders als sachlich zu erregen.

Als du aber an jenem Abend deinem Freunde das Spottgedicht von der Wetterfahne vorlasest, da glaubte ich natürlich, das sei nun die Probe, auf die du mich stellen wolltest. Ich fürchtete dabei nur, daß ich durch deine Verspottung nicht Mut genug finden würde, die Probe zu bestehen, weil mir das Gedicht im übrigen ganz gut gefiel. Als du mich dann aber mit mir allein ließest, da erhob sich ein Sturmgeheul in meinem Kopf, das mich hinderte, noch irgend etwas zu sehen oder zu hören. Rings um mich her flammten die Gedanken wie Blitze nach allen Richtungen hin. Sie zuckten so rasch durcheinander, daß ich nicht über einen einzigen Gedanken einen Augenblick nachdenken konnte. Nach einer Stunde kamst du zurück. Ich kannte mich selbst nicht mehr vor Wut darüber, daß du ein so klägliches Jammergeschöpf aus mir gemacht hattest. Ich biß dich in die Wange, daß du aufstöhntest. Aber als du dann plötzlich, ohne ein Wort zu sprechen, nach meinen Bildern langtest, die in deinem Zimmer auf dem Kamin und auf dem Schreibtisch standen, und als du ein Bild um das andere in Stücke zerrissest und die Stücke unter deine Füße tratst, da faßte mich ein Gefühl, wie ich es bis dahin nie gekannt hatte. Von einer Probe, die dir meine Liebe beweisen sollte, wußte ich nichts mehr, als ich die drei Treppen hinunterrannte. Lächelnd. Was mich über das Geländer ins Wasser trieb, war einzig die Empfindung, daß gerade das, was mir von frühester Kindheit auf am liebsten an mir war, daß das in Fetzen zerrissen unter deinen Füßen lag.

BURIDAN
verwundert.
Deshalb also sprangst du hinunter?
KADIDJA.

Ich kann nicht behaupten, daß ich es selber tat. Mich trieb weiter gar nichts als – meine nüchterne Wirklichkeit.

[69]
BURIDAN.

Ich wurde unversehens an dir zum Bilderstürmer, weil ich mich auf deine Angriffe hin nicht an dir selbst vergreifen wollte! Nur um dich in deiner Raserei durch ein völlig unschädliches Mittel zur Besinnung zu bringen, vergriff ich mich an deinen Bildern!

KADIDJA.

Du brauchst mir deine Liebe nicht zu beteuern. Ich weiß ganz bestimmt, daß mich kein Mann in dieser Welt höher schätzen würde, als du mich schätzest. Deshalb gibt es für mich auch keine Wahl zwischen dir und einem anderen Mann. Für mich gibt es nur die Wahl zwischen dir und einem freien, durch nichts beschränkten Freudenleben.

BURIDAN
erhebt sich.

Kadidja, gib mir vierzehn Tage Urlaub! Nur vierzehn Tage gib mir, ohne daß ich derweil um deinen Besitz zu zittern brauche, dann habe ich wieder Genußfähigkeit im Überfluß!

KADIDJA.

Ich glaube dir, daß du dich danach sehnst! Wenn du vierzehn Tage ohne mich gelebt hast, dann habe ich dich verloren. Ich überschätze meine Anziehungskraft nicht.

BURIDAN.

Kadidja! Ich habe große Gedanken in meinem Kopf! Es war sonst nie meine Gewohnheit, mit meinen Plänen und Projekten zu prahlen. Dir gegenüber muß ich es tun, damit du Mitleid mit ihnen fühlst. Ich arbeite schon viel länger, als wir uns kennen, an einem Werk, durch das die Widersprüche, in denen ich mich seit meiner Kindheit befinde, endlich aufgehoben werden sollen. Ich sehe seit Jahren nicht ein, warum die Verehrung, die wir für die ewigen Weltgesetze hegen, und die Verehrung, die wir schönen Farben, schönen Körpern, der ganzen Schöpfungspracht entgegenbringen, warum sich diese Gefühle ewig in den Haaren liegen sollen! Das war früher anders, als sich die Anbetung des Geistes mit der Verehrung menschlicher Schönheit unter demselben Tempeldach zusammenfanden. Warum soll das nicht wieder anders werden! Der Streit kommt nur daher, daß wir die erhabene Schönheit geistiger Gesetzmäßigkeit so wenig würdigen, wie wir die unerbittliche Gesetzmäßigkeit körperlicher Schönheit einsehen. Der Geist ist uns ein strenger Zuchtmeister, die Erscheinungswelt ist uns [70] ein loser Possenreißer. Die Freude am Geist, die Ehrerbietung vor der Erscheinungswelt, das sind die beiden Elemente, die ich, bevor ich sterbe, noch miteinander aussöhnen möchte ... Da es klopft. Herein!


Eine Zofe bringt einen Karton herein, den sie auf den Diwan stellt.
DIE ZOFE.

Eine schöne Empfehlung von Herrn Schneidermeister Muck, und das sei das Phantasiekostüm für die gnädige Frau.

BURIDAN
zu Kadidja.
Was ist das für ein Kostüm?
KADIDJA.
Das ist mein Phantasiekostüm für das Hochzeitsballett im dritten Akt.
BURIDAN.

Ach ja! Wir haben ja morgen abend Vorstellung! Zu der Zofe. Hat Herr Schneidermeister Muck eine Rechnung mitgeschickt?

DIE ZOFE.
Der Herr Schneidermeister Muck läßt sagen, der Herr Buridan werden es dann schon berichtigen.
BURIDAN
gibt ihr Geld.
Geben Sie das dem Boten.
DIE ZOFE.
Sehr schön. Ab.
BURIDAN.
Dann würde ich aber das Kostüm jedenfalls heute noch anprobieren.
KADIDJA.
Wer kann wissen, ob ich jemals darin auftreten werde.
BURIDAN.
Aber du mußt doch wenigstens sicher sein, daß es dir paßt.
KADIDJA.

Gut, dann gehe ich und ziehe es an. Sie nimmt den Karton, legt Buridan die Arme um den Hals und küßt ihn. Sei mir nicht böse, daß ich dich so gequält habe.

BURIDAN.
Ich bin gespannt, wie du darin aussiehst.

Kadidja mit dem Karton ab. – Buridan setzt sich hinter den Schreibtisch, schlägt ein Manuskript auf und schreibt.

2. Szene

[71] Zweite Szene

Die Zofe bringt auf einem silbernen Teller eine Karte herein.

DIE ZOFE.
Der Herr läßt fragen, ob Herr Buridan zu sprechen sind.
BURIDAN
liest die Karte.

Dr. Cajetan Prantl. – Ich lasse bitten. Er geht mit der Zofe hinaus und kommt mit Dr. Prantl zurück. Wie komme ich zu dieser Auszeichnung, daß sich Hochwürden selbst zu mir bemühen?

DR.

PRANTL eine jugendliche Erscheinung von tadellosem Auftreten. Ich bitte um Entschuldigung. Ich bin die drei Treppen augenscheinlich zu rasch heraufgestiegen.

BURIDAN.

Ich wohne allerdings sehr hoch. Am Tage ist dafür die Aussicht um so freier. Darf ich Sie ersuchen, Platz zu nehmen.

DR.

PRANTL sich setzend. Sie haben mir heute nachmittag die Ehre Ihres Besuches erwiesen.Nach Atem ringend. Verzeihen Sie, ich habe etwas mit meinem Herzen zu kämpfen.

BURIDAN
setzt sich auf den Diwan.
Bitte, wir haben Zeit.
DR.

PRANTL. Sie hatten mir auf Ihrer Karte hinterlassen, daß Sie mich in einer sehr ernsten Angelegenheit dringend zu sprechen wünschten. Daher war es meine Pflicht, zu Ihnen zu kommen.

BURIDAN.
Hoch würden wissen, um was es sich handelt.
DR.

PRANTL. Ich kenne zwei Angelegenheiten, in denen Sie sich mir anvertraut haben. Die eine Angelegenheit ist Ihr Wunsch, sich mit der Dame, die Sie zu Ihrer Lebensgefährtin erwählt haben und die meines Wissens auch künstlerisch Ihre Partnerin ist, kirchlich trauen zu lassen. Ich komme selbstverständlich nur in der Voraussetzung zu Ihnen, daß es diese Angelegenheit ist, um derentwillen Sie mich heute aufgesucht haben.

BURIDAN.

Selbstverständlich handelt es sich bei mir in erster Linie um meine kirchliche Trauung. Vielleicht gestatten Sie mir, Ihnen zu bekennen, daß mir, als ich Sie heute nachmittag zu sprechen suchte, die andere Angelegenheit auch ein ganz klein wenig am Herzen lag.

[72]
DR.
PRANTL. In dieser anderen Sache wäre ich natürlich nie in meinem Leben zu Ihnen gekommen.
BURIDAN.
Selbstverständlich!
DR.

PRANTL. Sie fragen in Ihrem Schreiben vom neunundzwanzigsten vorigen Monats bei uns an, welche Gründe Seine Exzellenz von Sporck zur Einsprache gegen die Aufführung Ihres Trauerspiels »Pandora« bewogen haben. Auf Ihre vorige Eingabe hatten wir Ihnen schon erwidert, daß Seine Exzellenz als Beichtvater Seiner Majestät diese Einsprache gegen die Aufführung Ihres Trauerspiels erheben mußten und daß die Einsprache Seiner Exzellenz unmöglich zurückgenommen werden könnte. Die Gründe, die uns zu unserer Einsprache nötigten, schriftlich zu Ihrer Kenntnis gelangen zu lassen, dazu sehen wir uns nicht im geringsten veranlaßt.

BURIDAN.

Es schmerzt mich tief, Herr Doktor, daß der Ton, dessen Sie sich heute bedienen, so grundverschieden von der liebenswürdigen Herzlichkeit ist, mit der Sie mich bei meinem ersten Besuch bei Ihnen empfingen.

DR.

PRANTL. Das erklärt sich einfach daraus, daß ich Ihrem Wunsch, sich kirchlich trauen zu lassen, damals unvergleichlich mehr Teilnahme entgegenbrachte als Ihren schriftstellerischen Mißhelligkeiten. Außerdem kannte ich damals auch den Inhalt Ihrer »Pandora« noch nicht.

BURIDAN.

In allem, was ich bis jetzt geschrieben und veröffentlicht habe, findet sich nicht ein Wort, das Ihnen in Wirklichkeit Grund zu Ärgernis geben könnte.

DR.

PRANTL. Ich habe Ihre sämtlichen Schriften derweil gelesen. Es handelt sich bei uns aber gar nicht darum, welche Wirkung Ihre Ansichten auf uns ausüben. Es handelt sich darum, welche Wirkung Ihre Ansichten auf den arglosen Zuschauer ausüben, der die öffentlichen Darstellungen besucht, um sich zu zerstreuen, und der, ohne etwas davon zu ahnen, mit einer Schädigung seiner sittlichen Empfindungen in sein Heim zurückkehrt.

BURIDAN.

Dann bestehen Sie also darauf, daß der geistige und sittliche Gewinn, den der Zuschauer aus der Darbietung schöpfen soll, ihm in schwerfälligen Lehren auf den Heimweg mitgegeben werden muß?

DR.
PRANTL. In zweifelhaften Fällen bestehen wir darauf!
[73]
BURIDAN.
Das ist eines Künstlers gänzlich unwürdig!
DR.
PRANTL einfach. Die Menschheit ist unserer Obhut anvertraut, nicht der Künstler!
BURIDAN.

Aber kann denn die Kirche, die sämtliche Künste in ihren Dienst stellt – Musik, Malerei, Plastik, Dichtung, Schauspielerei; ich denke an die Mysterien des Mittelalters, an die lateinischen Theateraufführungen der Jesuiten – kann die Kirche die Kunst als ihre Feindin bekämpfen?

DR.
PRANTL. Es ist unsere Pflicht, wenn die Kunst das Glück der Menschheit anfeindet.
BURIDAN
sich erhebend.

In Norddeutschland hat durch die Darstellungen meiner »Pandora« meines Wissens keine Seele Schaden genommen. Sie wissen vermutlich nicht, wie sich seinerzeit ein norddeutscher Zensor zu der Frage der öffentlichen Aufführung stellte? Nach einer kurzen Audienz, die er mir gütigst gewährte, hatte sich der Zensor davon überzeugt, daß in dem Stück nicht ein einziges spöttisches Wort enthalten ist, dessen Spott sich nicht durch die Verhältnisse, in denen es ausgesprochen wird, in tiefempfundenen wahrheitsgetreuen Ernst verwandelt. Darauf nahm er keine Rücksicht mehr auf die Gefahr, daß seine Entscheidung von einem ungebildeten Straßenpöbel falsch beurteilt werden könnte. In sichtlichem Stolz auf seine Machtbefugnis sagte er mir: Begreifen wird man Ihr Stück allerdings nicht ohne weiteres. Aber eben deshalb bin ich dafür, daß es so prompt als möglich zur öffentlichen Beurteilung gelangt. Wir Preußen haben uns nie vor der »Reinen Ver nunft« gefürchtet.

DR.

PRANTL. In Preußen ist man durch unsere weltliche Ordnung in Anspruch genommen. Wir haben es mit dem seelischen Wohl der Menschen zu tun. Wir können uns auf Ihre Zumutungen nicht einlassen, weil Ihrem Wirken die Aufrichtigkeit fehlt Ihnen fehlt die seelische Lauterkeit, die anima candida. Es fehlt Ihnen das Hochzeitsgewand, das auch vom ärmsten Bettler gefordert wird, wenn er nicht in die tiefste Hölle geworfen werden soll.

BURIDAN.

Darin bewährt sich der untilgbare Fluch, den ich in dieses Erdendasein mitbekommen habe! Was ich mit [74] dem tiefsten Ernst meiner Überzeugung ausspreche, halten die Menschen für Lästerungen. Soll ich mich nun deshalb in Widerspruch mit meiner Überzeugung setzen? Soll ich mit klarstem Bewußtsein unecht, unaufrichtig, unwahr werden, damit die Menschen an meine Aufrichtigkeit glauben? Um das tun zu können, müßte ich der Lästerer sein, für den mich die Menschen halten!

DR.

PRANTL erhebt sich, mit fester Stimme. Ich komme nicht hierher, um Ihre bösen, sondern um Ihre guten Geister heraufzubeschwören! Beruhigen Sie sich doch!

BURIDAN.

Was hilft alle Liebe zum Guten, wenn sich das Gute nicht lieben lassen will! Ich jammerte nie über die schimpflichen Lebenslagen, in die mich das allgemeine Mißverständnis geraten ließ; ich nutzte vielmehr die schimpflichen Lebenslagen nur wieder dazu aus, um die ewigen Gesetze klarzulegen, die sich in ihnen offenbarten. Aber auch darin erschien ich wieder als Spötter!

DR.

PRANTL heftiger. Das haben Sie Ihrem doppelzüngigen Beruf zu danken! Wer traut einem Menschen, der aller Welt gegen Eintrittsgeld auftischt, was er zu Hause mit sich selbst auskämpfen sollte. Täglich sehe ich in meiner Eigenschaft als Zensor, wie unheilvoll der Schriftsteller das Wesen seines Berufes verkennt. Warum zerren Sie immer und immer wieder auf die Bühne, was nicht auf die Bühne gehört?! Bleiben Sie doch in Ihrem Bereich! Ihre Arbeit ist Modeware! Ihr Geschäft ist ein Glücksspiel!

BURIDAN
ruhiger.

Aber können Sie mir denn irgend etwas aus meinen Schriften anführen, was nicht zum letzten Zwecke hätte, die ewige Gesetzmäßigkeit, vor der wir alle demütig auf den Knien liegen, künstlerisch zu gestalten und zu verherrlichen?

DR.
PRANTL. Was nennen Sie die ewige Gesetzmäßigkeit?
BURIDAN.

Ich verstehe unter ewiger Gesetzmäßigkeit dasselbe, was der Evangelist Johannes den Logos nennt. Ich verstehe darunter dasselbe, was die gesamte Christenheit als Heiligen Geist anbetet. In keiner meiner Arbeiten habe ich das Gute als schlecht oder das Schlechte als gut hingestellt. Ich habe die Folgen, die dem Menschen aus seinen Handlungen erwachsen, nirgends gefälscht.[75] Ich habe diese Folgen überall immer nur in ihrer unerbittlichen Notwendigkeit zur Anschauung gebracht.

DR.

PRANTL. Lassen Sie mich einen Augenblick über Ihre Arbeiten nachdenken. Jedenfalls war ich mir während des Lesens nicht bewußt, es mit einem Schriftsteller zu tun zu haben, der das Leben so ernst nimmt.

BURIDAN
sehr leicht.

Aber welche Kurzweil bereitet uns denn das Leben, wenn wir es nicht ernst nehmen?! Ein Spieler, der das Spiel nicht ernst nimmt, ist ein Spielverderber! Ich möchte mein Leben so ernst nehmen, wie einer meiner Bekannten das Kegelschieben. Mein Bekannter sowohl wie ich, wir möchten beide um unseren höchsten Genuß nicht betrogen sein. Sobald wir uns über die Gesetze des Spieles hinwegsetzen, ist die Freude am Spiel dahin. Mißverständnisse, Schimpfreden, Schlägereien, wüster Aberglaube und dumpfe Verzweiflung sind die Früchte – alles Ergebnisse, um derentwillen das Leben nicht lebenswert ist.

DR.
PRANTL. Habe ich Sie nicht vielleicht doch schon wieder eine Sekunde lang zu ernst genommen?
BURIDAN.

Lassen Hochwürden unsere heutige Aussprache nicht fruchtlos sein! Legen Sie bei Seiner Exzellenz ein empfehlendes Wort für die Aufführung meiner »Pandora« ein! Keine neue Kunst in dieser Welt hat noch je dem Geist, dessen Gesandter Sie sind, widersprochen. Keine Wahrheit, mag sie noch so unerwartet kommen, noch so verblüffend klingen, wird diesem Geiste je widersprechen. Darin eben besteht doch gerade die Göttlichkeit der Religion, daß sie als ewige Herrscherin in unerreichbarer Höhe über allen Wandlungen des Menschengeistes thront! Nein, darin allein besteht ihre Göttlichkeit natürlich nicht. Darüber brauchen Sie mich nicht aufzuklären. Die Religion ist vor allem die hilfreiche Trösterin im Unglück. Das hat niemand so am eigenen Leibe erfahren wie ich! Die Religion lehrt uns jedes beliebige Unglück, das unsere menschliche Berechnung durchkreuzen möchte, von vornherein berechnen. Die Religion hat den größten und einzigen Feind des Menschen, sie hat den Zufall in Ketten geworfen. Die Religion schlägt einen glänzenden Saltomortale über [76] unsere jämmerliche Ohnmacht, in der wir ohne sie der Willkür des Schicksals überantwortet sind. Wer ihre göttliche Unüberwindlichkeit einmal erkannt hat, der sagt mit nüchternster Geistesruhe: Tod, wo ist dein Stachel! Hölle, wo ist dein Sieg!

DR.

PRANTL. Wie mir scheint, verehren Sie in der Religion nichts Höheres als die Kunstfertigkeit, auf jede Frage eine Antwort zu wissen und aus jeder Klemme einen Ausweg zu finden!

BURIDAN.

Auf jeden Fall kenne ich nichts Bedauernswürdigeres auf dieser Welt als einen Dummkopf, der nicht an Gott glaubt!

DR.

PRANTL. Sie sprechen über Religion wie ein Börsenmakler über den Kurszettel, wie ein Jockei über Pferderennen spricht! Ihnen fehlt jede geringste Spur von christlicher Demut! Die Religion ist nicht Sache der Vernunft! Die Religion ist Sache des Herzens!

BURIDAN.

Aber doch wohl nur für denjenigen, der seine eigenen Gedanken nicht zu Ende denken kann! Dem die Gedankenarbeit, die die menschliche Vernunft seit Jahrtausenden bewältigt hat, ein Buch mit sieben Siegeln ist!

DR.

PRANTL. Ein Mensch von sittlichen Empfindungen kann seine eigenen Gedanken nicht zu Ende denken! Das ist ein Ding der Unmöglichkeit! Wozu bedürften wir denn des Glaubens, wenn wir mit unserer Vernunft auskämen! Sie kranken an einem geistigen Hochmut, wie ich ihn bei den verstocktesten Verbrechernaturen auf dem Schafott nicht verblüffender gefunden habe.

BURIDAN.
Darf ich mir jetzt die Freiheit nehmen, Sie darum zu bitten, sich etwas beruhigen zu wollen?
DR.

PRANTL ruhiger. Ein wahrhaft gläubiger Mensch kann über seinen Glauben ebensowenig sprechen, wie ein wahrhaft keusches Mädchen über seine Keuschheit sprechen kann.

BURIDAN
sehr ruhig.

Ich finde die Art, wie Sie Ihren Beruf auslegen, einfach irrig. Es hat ja allerdings einmal jemand gesagt: Wo die Vernunft aufhört, beginnt der Glaube. Ich erblicke darin eine Herabwürdigung des Glaubens. Ich finde, daß in dem ganzen Riesendom unseres Glaubens [77] die Vernunft nirgends aufhört. Ich finde im Gegenteil, daß die höchste Spitze dieses herrlichen Gebäudes aus der höchsten, auf ewig unübersteigbaren Entfaltung der Vernunft besteht. Ich finde, daß jeder Pfeiler, jedes Gewölbe dieses Gebäudes nur durch die Vernunft im unerschütterlichen Gleichgewicht festgehalten wird, nur durch die Vernunft seit Jahrtausenden gegen jeden Wolkenbruch, gegen jedes Erdbeben gesichert ist.

DR.

PRANTL. Es ist nicht gerade taktvoll von Ihnen, daß Sie mir auf diesem Gebiet das richtige Verständnis absprechen. Die Anschauungen, die Sie äußern, sind schon zu den verschiedensten Zeiten aufgetaucht und wurden jedesmal gründlich widerlegt. Ich rufe Ihnen mit einem Wort den Unterschied zwischen Ihren halsbrecherischen Rechenkünsten und der Allmacht, die Sie damit verwechseln, ins Gedächtnis: Glauben Sie an die Unsterblichkeit der menschlichen Seele?

BURIDAN.

Glauben? – Ich sehe sie bewiesen durch jedes Lied, das gesungen wird. – Aber ich kann Ihnen aus tiefstem Herzen versprechen, daß ich Sie solcher Meinungsverschiedenheiten wegen niemals anfeinden würde.

DR.
PRANTL entrüstet. Sie bilden sich wohl gar ein, daß wir uns vor Ihnen fürchten?!
BURIDAN
ängstlich.

Wie kommen Sie auf den Verdacht! Ich wagte damit anzudeuten, daß Sie nie etwas von mir zu fürchten haben würden. Mir ist meine innerste Überzeugung viel zu heilig, als daß ich sie je einem Menschen enthüllen würde, von dem ich nicht vollkommen sicher bin, daß er genau ebenso denkt wie ich.

DR.

PRANTL. Ich kann Ihnen gar nicht ausdrücken, wie absolut gleichgültig uns Ihre Geheimniskrämerei ist! Sie befinden sich in einer bejammernswerten Verblendung, wenn Sie sich darauf verlassen, daß es in der christlichen Religion eine Geheimlehre gibt!

BURIDAN.

Setzen wir einmal ruhig den Fall, es gäbe eine solche Geheimlehre, woher könnten Sie dann wissen, ob man sie Ihnen bis zum heutigen Tage nicht vorenthalten hat?

DR.

PRANTL. Wenn Sie hoffen, uns mit derartigen zweideutigen Zugeständnissen die Freigabe Ihrer Theatervorstellung [78] abdisputieren zu können, dann täuschen Sie sich gewaltig!

BURIDAN.

Ich kann Ihnen bei allem, was heilig ist, schwören, daß mir die Freigabe meiner Theatervorstellung in diesem Augenblick vollständig gleichgültig ist! Diese Freigabe war mir aber auch schon beinahe ebenso gleichgültig, als ich vor vier Wochen zu Ihnen kam. Und wenn ich Ihnen damals den Wunsch aussprach, mit meiner Lebensgefährtin kirchlich getraut zu werden, so lag mir auch unsere kirchliche Trauung dabei nur sehr gering am Herzen, so war mir unsere kirchliche Trauung nicht weniger als die Freigabe meiner »Pandora« – damals auch in letzter Linie nur ein willkommener Anknüpfungspunkt, nur ein Mittel zum Zweck. Das einzige Ziel, das ich mit allem, was ich mit Ihnen besprach, mit allem, um das ich Sie bat, verfolgt habe, sehnsüchtig verfolgt habe, heißhungrig verfolgt habe, waren Sie!

DR.
PRANTL. Ich?!
BURIDAN.

Sie! Ihr Reich! Der Geist, dessen Verkünder und Kämpfer Sie sind! Der Einklang, den ich seit frühester Kindheit mit diesem Reiche suche! Das Einverständnis, das ich seit frühester Kindheit mit den Wissenden der ewigen Wahrheiten suche! Ihr Beruf als Priester macht es Ihnen zur Pflicht, mich nicht zurückzuweisen! Sie glauben ja nicht, wie heiß, wie inbrünstig meine Seele nach dem Reiche verlangt, in dem zu wirken und zu kämpfen Sie das beneidenswerte Glück haben! Was gäbe ich in diesem Augenblick darum, wenn ich an Ihrer und Sie an meiner Stelle wären! Jedenfalls kann ich ohne Übertreibung behaupten, daß ich, ohne mich in Ihrem Reiche ergehen zu dürfen, einfach nicht leben kann. Ich meine das buchstäblich. Was seit Jahrtausenden als höchster Lebensgenuß geschätzt wird – von sinnlichen Genüssen rede ich natürlich gar nicht, aber Kunst und Literatur –, das alles verliert nicht nur jeden Reiz für mich, sondern erregt mir ausgesprochenen Widerwillen, wenn es mir einige Zeit versagt war, mein Inneres mit den Gesetzen, durch die die Welt regiert wird, in Einklang zu bringen. Und dieser Zustand äußert sich körperlich bei mir. Bei den reichlichsten Mitteln, die der [79] Mensch zur Befriedigung all seiner Begierden nötig hat, würde ich in einem solchen Fall kurzweg Hungers sterben. Ich wüßte auch nichts, was mir in dieser Welt so lieb wäre, daß ich es nicht kalten Blutes opferte, wenn mich das Opfer mit dem, was ich als Höchstes, als Ewiges anbete, aussehnen könnte.

DR.

PRANTL. Ich bin kein blinder Eiferer; von dieser Verirrung fühle ich mich vollkommen frei. Ich kenne die fast unbegrenzte Weitherzigkeit der Religion von Grund aus und verehre in dieser Weitherzigkeit eine ihrer herrlichsten Segnungen. Aber einem verbissenen, fanatischen Menschenverächter, wie Sie es in all Ihren Schriften sind, die Religion der Nächstenliebe als willkommenes Reklamematerial auszuliefern, vor diesem fürchterlichen Frevel möge mich mein guter Engel bewahren!

BURIDAN.

Weil ich die unvermeidlichen Folgen menschlicher Handlungen schildere, deshalb bin ich ein verbissener Menschenverächter!

DR.

PRANTL. Nicht deshalb, weil Sie diese Folgen schildern, sondern wegen der empörenden Freude, die Ihnen die hilflose Verzweiflung Ihrer Mitmenschen bereitet! Wegen Ihrer himmelschreienden Lieblosigkeit! Und dabei wollen Sie uns überreden, mit Ihnen Hand in Hand zu gehen!? Die Kirche hat den göttlichen Beruf, das Leben der Menschen zu schützen und zu behüten! Ihnen ist das Schauspiel menschlicher Vernichtung höchster Lebensgenuß! Sie kommen wie ein Triumph des Bösen, wie eine Lustseuche über unsere Generation! Vernichtete menschliche Existenzen sind die Marksteine an Ihrem Lebensweg! Ist nicht erst neulich wieder ein junges Geschöpf in der schauerlichsten Weise in den Tod gegangen, nachdem es einen Blick in Ihre Bücher geworfen hatte?

BURIDAN
auf dem Diwan.

Sprechen Sie mir nicht davon! Um Gottes Barmherzigkeit, sprechen Sie nicht davon! Das Unglück lag in Familieneigentümlichkeiten begründet. Leichtlebige Menschen gehen leicht in den Tod.

DR.

PRANTL. Mich wundert nur, daß Sie dieses Unglück nicht auch schon in irgendeinem Ihrer Dramen auf die Bühne gezerrt haben!

[80]
BURIDAN
aufspringend.

Wenn mir die Schilderung des Unglücks Genugtuung bereitet, so habe ich dafür auch ebensoviel getan, um die Freuden unseres irdischen Daseins in all ihrer ursprünglichen Pracht und Herrlichkeit wieder aufleben zu lassen! Das ist mein höchster Stolz, daß mich auch die erdenklichsten Widerwärtigkeiten nicht in die Reihen der Verneiner, der Pessimisten zu drängen vermochten! Hören Sie mich noch eine Minute an, Herr Doktor! Ich habe große Pläne in meinem Kopf. Es ist sonst nicht meine Art, mit Projekten zu prahlen. Ihnen muß ich zu meiner Rechtfertigung mein geheimstes Innere aufdecken. Seit frühester Kindheit arbeite ich daran, die Verehrung, die uns die schöne Natur einflößt, mit der Verehrung auszusöhnen, die uns die ewigen Weltgesetze abtrotzen. An der Schönheit der Weltgesetze haben wir keine Freude. Vor den Gesetzen weltlicher Schönheit hegen wir keine Achtung. Die Wiedervereinigung von Heiligkeit und Schönheit als göttliches Idol gläubiger Andacht, das ist das Ziel, dem ich mein Leben opfere, dem ich seit frühster Kindheit zustrebe.

DR.

PRANTL. Sie treten in kein Gotteshaus ein, ohne Heiligkeit und Schönheit aufs innigste miteinander vereinigt zu finden. In Ihrem Münde klingt die Zusammenstellung entsetzenerregend. Was Sie Schönheit nennen, sind Zirkusspiele, Seiltänzerei, niedrige Ausschweifungen! Auf dem Altar der von Ihnen verherrlichten Schönheit schlachten Sie Menschenkinder ab, mit denen Sie vorher Ihr sündiges Spiel getrieben hatten!

BURIDAN.

Ich verwahre mich gegen diesen Vorwurf! Ich kenne keinen heiligeren Besitz in dieser Welt als den Besitz an geliebten Menschen! So wahr wie ich keine höhere Gottheit anerkennen kann als die höchste Entfaltung der uns offenbarten Vernunft – schon aus dem einzigen Grunde, weil das höchste, das edelste Ergebnis der uns offenbarten Vernunft die menschliche Güte ist, während Sie mit aller erdenklichen Herzensgüte nie dazu gelangen, sich Vernunft zu erkämpfen!

DR.

PRANTL lächelnd. Ihre menschliche Gute würde Ihre Vernunft aber nie daran hindern, über das unglückliche [81] Geschöpf, das eben unter Ihren Füßen zugrunde gegangen ist, ein Theaterstück zu schreiben! Das ist ja das Grauenvolle an Ihren Aufführungen, daß alles darin die lebendigste Wirklichkeit ist! Statt eines Spiels führen Sie Unglücksfälle herbei! Stirbt ein Mensch bei Ihnen, dann ist eben ein Menschenleben dahin! Von geistiger Betätigung keine Spur! Und dieser Scheußlichkeiten rühmen Sie sich womöglich noch! Man sitzt vor Ihrer Kunst wie das kaiserliche Rom vor Gladiatorenkämpfen und Christenverfolgungen! Raubtierhetzen sind der Gipfelpunkt dessen, was Sie Kunst nennen! Ihre Kunst ist die fürchterlichste Gotteslästerung, die seit Jahrtausenden von einem Menschengehirn ersonnen wurde!

BURIDAN
im Klubsessel.

Gotteslästerung! – Ich habe mein halbes Leben lang ohne Kunst gelebt. Ohne Religion könnte ich nicht eine Minute leben.

DR.

PRANTL. Stammt denn vielleicht das Wort von der Wiedervereinigung von Kirche und Freudenhaus im sozialistischen Zukunftsstaat nicht von Ihnen?! Ist das etwa keine Gotteslästerung?!

BURIDAN.

Dieses Wort, Herr Doktor, ist nicht von mir! Aufspringend. Dieses Wort habe ich nie geschrieben! Dies Wort habe ich niemals ausgesprochen! Auf welche Weise kann ich Sie so rasch wie möglich von dieser Tatsache überzeugen?! Lassen Sie meine sämtlichen Schriften vom ersten bis zum letzten Buchstaben durchsuchen. Sie stoßen nirgends auf dieses Wort. Ebensowenig finden Sie irgendeinen Zeugen, der das Wort jemals aus meinem Munde gehört hat. Das Wort ist eine der zahllosen Verleumdungen, die die Zeitungsrezensenten erfanden, um mich auf einige Jahre ins Gefängnis zu bringen! – Um wieviel leidenschaftlicher, um wieviel ehrfurchtsvoller ich dem Widerstreit zwischen Geistesgewalt und Weltlust gegenüberstehe, das beweist Ihnen meine »Anleitung zur Überwindung der Todesschauer«. Er nimmt ein Buch vom Büchergestell, schlägt eine Seite auf und überreicht es Dr. Prantl. Ich bitte Hochwürden inständig darum, nur die ersten zehn Seiten dieser Anleitung lesen zu wollen.

[82]
DR.

PRANTL liest laut, langsam und aufmerksam. Die Furcht vor dem Tode ist ein Denkfehler. – Viele Leiden sind schmerzlicher als Sterben. – Alles Leiden ist schmerzlicher als der Tod. – Fürchten wir uns nur, geboren zu werden! – Jeder bringt seinen ärgsten Feind mit zur Welt. – Mit klaffenden Wunden bekämpfen wir ihn unser halbes Leben lang, und hoffen wir endlich, ihn zu Boden geworfen zu haben, – dann ...


Derweil ist Kadidja, in ein beliebiges geschmackvolles Phantasiekostüm gekleidet, durch die Seitentür eingetreten. Sie hat die Lauftrommel hinter dem Wandschirm vorgeholt, ist darauf gestiegen und rollt sie unter ihren Füßen nach vorn. Sie fürchtet zu fallen und stützt sich auf das Wort »dann« einen Augenblick flüchtig auf die Schultern Dr. Prantls.
KADIDJA.
Ach, entschuldigen Sie bitte!

Dr. Prantl wendet sich rasch nach ihr um, hebt im ersten Erstaunen die Hände zum Herzen, faßt sich aber rasch und betrachtet Kadidja mit ruhigem Lächeln.
KADIDJA
rollt die Trommel unter ihren Füßen einige Schritte rückwärts.
Verzeihen Sie, daß ich Sie erschreckt habe.
DR.

PRANTL legt lächelnd das Buch beiseite. Da ist er ja schon – der Feind! der Versucher! – die Schlange des Paradieses! – Zu Buridan. Wollen Sie auch jetzt noch behaupten, daß jenes Wort nicht von Ihnen stammt? – Kadidja betrachtend. Die Erscheinung ist echt! – – Fürchten Sie nichts, mein Kind. Es kommt mir gar nicht in den Sinn, Sie herabwürdigen zu wollen. Ich habe es hier nur mit diesem Herrn zu tun, der es versucht hat, uns ein inniges Verlangen nach den Segnungen der Kirche vorzuspiegeln, in der Hoffnung, wir würden ihm daraufhin die öffentliche Aufführung seiner – fragwürdigen Theaterstücke gestatten. Zu Buridan sehr ruhig. Sie werden sich schlechterdings damit abfinden müssen, daß wir für so – abenteuerliche Tauschgeschäfte nicht zu haben sind. Wir lassen uns nicht verführen. Am allerwenigsten aber sind wir durch zauberhafte Gaukelspielereien zu erschüttern, die Ihre mittelalterliche Menschenkenntnis offenbar ausgebrütet hat, um in den Bekämpfern [83] Ihres verderblichen Treibens die niedrigsten Begierden wachzurufen.

BURIDAN.

Ich muß Ew. Hochwürden aufs demütigste um Nachsicht bitten. Durch zwei Worte, die Sie mir gütigst gestatten wollen, ist die unvorhergesehene Störung unseres Gespräches aufgeklärt.

KADIDJA.
Soll ich die Herren allein lassen?
DR.

PRANTL. Bleiben Sie nur, mein Kind. Zu Buridan. Eine unvorhergesehene Störung nennen Sie das? – Geben Sie Ihre wirkungslosen Verstellungskünste doch endlich auf. Diese zauberhafte Märchenerscheinung legte ihre weißen Hände in demselben Augenblick auf meine Schultern, als ich aus Ihrem Buche die von Ihnen dazu verfaßte Beschwörungsformel abgelesen hatte! Kadidja musternd. Zu dieser Gegenüberstellung also locken Sie mich in Ihr Haus! Den Kopf schüttelnd. Nein! Ich eigne mich zur Verwirklichung Ihrer Pläne ganz und gar nicht.

BURIDAN.
Ich muß Ihren Spott geduldig über mich ergehen lassen.
DR.

PRANTL bis zum Schluß ruhig bleibend. Es fällt mir so wenig ein, Ihrer zu spotten, wie ich mich je dazu verleiten lassen werde, Sie ernst zu nehmen. Sie spotten eines jeden, der Sie ernst nimmt. Und dem ersten, der Ihrer spottet, zerschmettern Sie wenn möglich die Schläfen. Vielleicht ist Ihnen aber doch das Gebot bekannt: »Du sollst Gott nicht versuchen!« Sie werden sich wohl noch einmal davon überzeugen, daß kein Sterblicher, und stehe er noch so selbstherrlich in der Welt, ungestraft die ewige Allmacht versucht. Ab.

3. Szene

Dritte Szene

KADIDJA
immer noch auf der Lauftrommel stehend.
Was wollte der Herr?
BURIDAN
auf dem Diwan.

Der Herr wollte sich auf ewig von mir verabschieden. Er nimmt das Buch vom Boden auf und blättert darin.

KADIDJA.

Die Trennung scheint dir sehr zu Herzen zu gehen. – Mich würdest du leichteren Herzens ziehenlassen. – Erinnerst [84] du dich noch an die endlose Reihe von Särgen, die du in dein Notizbuch gezeichnet hattest?

BURIDAN
ohne sie anzusehen.
Ja, ich erinnere mich an die Särge.
KADIDJA.
Auf jeden einzelnen Sarg hattest du die Worte geschrieben: Endlich allein.
BURIDAN.
Endlich allein.
KADIDJA.
Und wenn ich dich nun wirklich verlassen wollte?
BURIDAN.
Du glaubst ja gar nicht, wie inbrünstig meine Seele nach jenem Reiche verlangt!
KADIDJA.

Ursprünglich beziehen sich die Worte aber doch wohl auf zwei Menschen, die in ihrem Brautgemach endlich miteinander allein waren?

BURIDAN
ohne aufzublicken.
Für die beiden werden die Worte auch noch einmal ihre Bedeutung ändern.
KADIDJA.

Willst du mich denn nicht ansehen? Da Buridan nicht antwortet. Ich stehe auf deiner Lauftrommel hier. Ich stehe in dem Maskenkostüm hier, das ich morgen abend in der Aufführung deines Stückes in dem Hochzeitsballett tragen soll.

BURIDAN.

Ich suche vergeblich nach einem Ausdruck dafür, wie unendlich gleichgültig mir die morgige Aufführung meines Stückes ist.

KADIDJA.

Armer Buridan! – Sie springt von der Lauftrommel herab. Was soll dir noch Freude bereiten, wenn du an deinen eigenen Theaterstücken keine Freude mehr hast! Sie setzt sich ihm auf die Knie. Laß dich das bitte nicht mehr erschrecken. Ich komme nämlich auch nur, um mich von dir zu verabschieden. – Ich werde mich nun also wieder auf das wilde Meer hinausbegeben, auf dem du mich vor achtzehn Monaten eingefangen hattest; auf dem man sich nur durch seine Kräfte, nur durch seine Vorzüge über Wasser halten kann. Bei dir könnte ich mich von jetzt an nur noch durch meine Defekte über Wasser halten – vorausgesetzt natürlich, daß ich welche hätte.

BURIDAN.

Ich trage mich seit geraumer Zeit mit dem Gedanken, ein Freudenhaus als moralische Erziehungsanstalt ins Leben zu rufen. Ein Haus, in dem die Zöglinge Jahre hindurch derart durch Freuden übermüdet werden, daß sie dann fürs ganze Leben ihren höchsten Genuß in dem [85] erblicken, was man sonst Sorgen und Mühseligkeiten nennt.

KADIDJA
erhebt sich und kniet sich neben ihn auf den Diwan.

Du scheinst wahrhaftig vom Himmel dazu beauftragt zu sein, deinen Mitmenschen die schönsten Dinge ihres Daseins zu verleiden.

BURIDAN.

Du begreifst nicht, daß man sich selbst zu einem Gegenstand des Abscheus wird, wenn man nur um seiner selbst willen ißt und trinkt und liebt.

KADIDJA.
Wäre denn die Freude nicht Manns genug, solchen Abscheu zu überwinden?
BURIDAN.

Warum lieben die wilden Tiere im Käfig nicht? – Weil ihnen die Freiheit fehlt, ihre Beute zu erjagen.

KADIDJA.
Mir fehlt die Freiheit erst recht, darum lieb ich doch.
BURIDAN.

Deine Liebe fühlt sich genau so frei, wie meine Tatkraft in Ketten liegt! – Was bin ich! – Was bin ich!

KADIDJA.

Nun? Sie tritt zum Spiegel. – Du suchst doch sonst nicht so lang nach dem treffenden Ausdruck. – Du scheinst wieder einmal der Sie blickt in den Spiegel. nackten Wirklichkeit nicht in die Augen blicken zu können.

BURIDAN.
Ein Tier!
KADIDJA
sich im Spiegel betrachtend.
Und ich soll ein Engel sein!
BURIDAN.
Ein Tier!
KADIDJA
ihr Spiegelbild küssend.
Zu einem Engel bin ich mir doch noch zu jung.
BURIDAN.
Ein Tier!
KADIDJA.
Aber doch wenigstens ein außergewöhnliches Tier! Ein exotisches Tier!
BURIDAN
aufspringend.

Kadidja! Du kannst deinen Körper vor meinen Augen so bezaubernd zur Schau stellen, wie es dir irgendwie möglich ist. Aber der Schaustellung müssen ebenso viele höchste menschliche Werte das Gleichgewicht halten!

KADIDJA.
Trifft das bei mir nicht zu?
BURIDAN
stellt die Lauftrommel auf die Stirnseite.
Stell dich auf dieses Piedestal! Dann werde ich dein Zensor sein!
KADIDJA.
Mein Zensor willst du sein? – Aber ich bin doch kein Trauerspiel!
[86]
BURIDAN.

Ich werde keine strengere Zensur an dir üben, als wie ich sie seit Jahren täglich, stündlich über mich ergehen lassen muß. So Gott will, findest du meine Zensur ebenso unbillig, ebenso willkürlich, wie ich die Zensur meiner Zensoren finde?

KADIDJA
auf die Lauftrommel steigend.
Bitte! Sprich!
BURIDAN.

Kadidja! Wenn du über die Straße gehst, dann besteht der Zensor darauf, daß du ein langes Kleid trägst. Dir droht keine Lebensgefahr; deshalb hindert er dich, das Leben anderer zu gefährden. Wenn du aber im Zirkus als Kunstreiterin reitest und nicht vom Pferde stürzest, ohne deine Glieder zu brechen, dann gestattet dir der Zensor gern, mit allen Reizen deines Körpers zu wirken. Und wenn du auf dem hohen Turmseil von Kirchturmspitze zu Kirchturmspitze hinübertänzelst, dann fragt kein Zensor mehr, wie du dich dazu herausputzt. Du kannst dir eine Spinnwebe über den nackten Leib spannen. Man weiß, daß du keinen Fehltritt tust, ohne unten auf dem Marktplatz als unerkennbares häßliches Etwas ins Rinnsal hinabgefegt zu werden.

KADIDJA
lächelnd.
Sind die anderen Zensoren ebenso eifrige Bilderstürmer wie du?
BURIDAN.

Kadidja! In Palermo sah ich einmal eine Seiltänzerin. Aber die Tänzerin tanzte auf einem elastischen Seil. Mitten unter dem Seil war ein viereckiges Brett mit aufrechtstehenden fußhohen blitzenden Messern aufgestellt. Über diesen Messern tanzend, entkleidete sich das Mädchen, indem es sich dabei nach rechts und links um sich selber drehte. Darauf setzte sie das Seil in schaukelnde Bewegung, kniete auf dem schaukelnden Seil nieder, trieb es rascher und rascher an, daß es unter ihren Knien wie eine Bogensehne schwirrte; und als es wieder in ruhiger Lage war, sprang sie auf die Füße, überschlug ihren Körper dreimal hoch in der Luft und stand dann ebenso harmlos ruhig lächelnd über den blitzenden Messern auf dem elastischen Seil, wie – wie du hier vor mir stehst.

KADIDJA.

Nun? Und? – Du fürchtest wirklich ernstlich, ich könnte des Hochzeitsgewandes, das ich trage, nicht würdig sein?

[87]
BURIDAN
keuchend, mit geschlossenen Augen.

Darauf ließ sie sich einen langen Mantel heraufreichen, in den sie sich bis auf die Fußspitzen einhüllte, ging mit geschlossenen Augen zum Ende des Seiles hin, stieg herab und verschwand hinter dem Vorhang. Die Fassung verlierend. Kadidja, deine Eitelkeit ist mir eine Folterqual. Zieh ein Reformkleid an, Kadidja! Zieh ein Reformkleid an! Ich verdurste nach Geschmacklosigkeit, nach unergründlicher Seelentiefe, in der ich mir vor allem, was Sinnlichkeit ist, verkriechen kann! Hast du denn kein Erbarmen mit dir, wenn all die Herrlichkeit so wenig mehr wirkt wie ein buntes Taschentuch, das an einem Spazierstock flattert?!

KADIDJA
sehr ruhig.
Habe ich mich geschaffen?
BURIDAN.
Ich habe dich nach meinem Belieben geschaffen, ich werde dich nach meinem Belieben umschaffen!
KADIDJA
sehr ruhig.
Rühr mich nicht an!
BURIDAN
droht, handgreiflich zu werden.
Häßlichkeit will ich vor Augen haben! Häßlichkeit! Nichts als Häßlichkeit!
KADIDJA
sich freimachend.

Ich lasse mich nicht entwürdigen! Sie ist rasch auf den Balkon hinaus geeilt und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Brüstung.

BURIDAN
aufschreiend.
Kadidja!
KADIDJA
setzt sich auf die Brüstung und schlägt das eine Bein hinüber.
Wenn du mir einen Schritt nahe kommst, werfe ich mich außen hinab!
BURIDAN
keuchend.

Ich bin zur Besinnung gekommen, Kadidja! Es war ein Tobsuchtsanfall. Ich hatte einen Augenblick vollständig vergessen, wer du bist.

KADIDJA
aufrecht auf der Brüstung stehend.
Nicht einen Schritt – sonst lieg ich unten!
BURIDAN
winselnd.
Komm herein! Kadidja! Komm herein!
KADIDJA.
Du liebst mich ja doch nicht mehr. Und ich kann ohne dich nicht leben.
BURIDAN.

Komm zu mir herein! Wie soll ich dich denn nicht lieben! Ich will ja mein ganzes Leben dein Sklave sein!

KADIDJA
ist außen hinabgestiegen und hält sich am innern Rand der Brüstung mit den Händen fest.

Nicht einen Schritt! – Ich habe dich mit deiner Gedankenwelt verfeindet; ich werde dich deiner Gedankenwelt zurückgeben! Da [88] ihr Buridan entgegen will, hebt sie die rechte Hand empor und lehnt sich weit nach rückwärts. Ein Schritt noch und ich lasse die Brüstung los!

BURIDAN
heulend.

Innigstgeliebtes, teuerstes Geschöpf! Geliebteste Kadidja! – Bleib doch! Bleib! – Alles, alles ist dein Eigen!

KADIDJA
hat sich so weit hinabgelassen, daß nur noch ihr Kopf über der Brüstung zu sehen ist.
Ich gebe dir deine Freiheit zurück! – Komm nicht näher, glücklicher Buridan! Sonst bist du Mörder!

Der Kopf verschwindet. Man sieht noch die Hände, mit denen sie sich festhält.
BURIDAN
ist in die Knie gebrochen, ringt die Hände ineinander und betet, ohne noch einen Blick nach dem Balkon zu werfen.

Herr! Herr! Vater des Himmels und der Erde! Hilf uns! Hilf mir! Hilf! Wenn sie hinabfährt, ist ein Menschenleben hin! Welch ein Menschenleben! Ich habe gespottet! Herr im Himmel, ist das die Rache?! Sei barmherzig, Vater im Himmel! Du allein kannst helfen! Ich will dir dienen und deine Macht verkünden, solange ich lebe! – Hilf meiner armen Kadidja! Sie ist das herrlichste Geschöpf, die größte Seele, die in deiner Schöpfung lebt ...

KADIDJA
hebt noch einmal den Kopf über die Brüstung.

Soll ich Schwester Scharolta von dir grüßen ...? Sie wirft die Hände in die Luft zurück und verschwindet.

BURIDAN
der nicht hingesehn hat.

Oh! Oh! – Das ist ihre Stimme! – Herr Gott im Himmel, ich flehe dich an! Soll ich aufspringen?! Werd ich noch ihre Hand fassen?! – Kadidja! – Geliebte! – – Er horcht nach rückwärts und ruft mit röchelnder Stimme. Kadidja ...! Kadidja ...! Nach einer Pause sich in Krämpfen vornüberwerfend. Er läßt seiner nicht spotten! – Er läßt sich nicht versuchen! – O Gott! – O Gott, wie unergründlich bist du ...

[89]

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Wedekind, Frank. Dramen. Die Zensur. Die Zensur. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-95CC-7