Frank Wedekind
Franziska
Ein modernes Mysterium in fünf Akten

[Motto]

Motto:


»Wende die Füßchen zum Himmel nur ohne Sorge!

Wir strecken

Arme betend empor; aber nicht schuldlos, wie du.«

[Widmung]

Artur Kutscher


gewidmet

Personen

[7] Personen.

    • Der Herzog von Rotenburg.

    • Die Herzogin.

    • Freiherr von Hohenkemnath.

    • Gislind von Glonnthal.

    • Pater Emmeran.

    • Der Rotenburger Polizeipräsident.

    • Frau Eberhardt.

    • Franziska, ihre Tochter.

    • Dr. Hofmiller, Chemiker.

    • Veit Kunz.

    • Dr. Malkolm

    • Kiesgräber,
    • Kullmann,
    • Laurus Bein,
    • Hagelmeier,
    • Gespensterschreck,
    • Rohrdommel,
    • Schlammgrundel,
    • Spreizfüßchen,
    • Karaminka,
    • Mausi, Weinstubengäste.

    • [7] Oberleutnant Dirckens.

    • Sophie, seine Schwester.

    • Lydia Höpfl, Tänzerin.

    • Ein Kind.

    • Ein Drache.

    • Ralf Breitenbach, Schauspieler.

    • William Fahrstuhl, Zeitungskorrespondent.

    • Ein Regisseur.

    • Ein Livreebedienter.

    • Dr. Hornstein, Arzt.

    • Karl Almer, Maler.

    • Der kleine Veitralf.

    • Lakaien, Reitknechte, Chorsängerinnen.
    • [8]

1. Akt

1. Bild
1. Szene
Erste Szene
Dämmerung im Zimmer, zur Seite weit offenes Fenster. Seller Abendhimmel.

MUTTER.

Sonderbar! Das Städtchen liegt schon im tiefsten Dunkel, und bei uns hier im Zimmer ist noch jeder Winkel hell.

FRANZISKA.

Das kommt vom Abendhimmel. Das hellgrüne Licht über den Bergen reicht nicht viel höher hinauf, als wir beide hier stehen. Bei uns oben auf dem Schloß müssen die Zimmer am Abend doch noch heller gewesen sein.

MUTTER.

Das ist wahr. Erinnerst du dich noch, wie wundervoll es aussah, wenn nachts ein Gewitter losbrach? Dann schienen die Bilder, die am höchsten [9] hingen, plötzlich die farbigsten zu sein. Aber du hörst gar nicht, was ich sage.

FRANZISKA.
Doch, doch, ich höre. Die Blitze leuchteten vom Sorizont aus in die Zimmer hinein.
MUTTER.
Du denkst natürlich an deinen Geliebten. Er kommt heute wohl noch?
FRANZISKA.
Möglich. Ich habe ihn nicht dazu aufgefordert.
MUTTER.
Mir ist es nicht klar, wie dein Schicksal werden soll. Aber du gehst ja deine eigenen Wege.
FRANZISKA.

Ich denke im Gegenteil an euch. Mir ist es immer noch unbegreiflich, wie euer Zusammensein überhaupt möglich war.

MUTTER.

Mir scheint es jetzt manchmal, als hätte ich drei ganz verschiedene Leben hinter mir. Als wäre ich dreimal immer wieder ganz jemand anders gewesen.

FRANZISKA.

Aber daß ihr euch nicht ein einziges Mal gesagt habt, daß ihr eure Lebenskraft zu etwas Schönerem verwenden könnt, als einander jeden dritten Tag wie Mordbrüder an die Gurgel zu fahren.

[10]
MUTTER.
So schlimm war es doch eigentlich gar nicht.
FRANZISKA.
Eure Schimpfreden möchte ich niemals aussprechen und von niemandem hören.
MUTTER.

Daran ist deine Verweichlichung schuld. Wenn man den Tag verschläft und die Nacht zum Tag macht, dann kennt man die Welt nicht. Wären wir so empfindlich gewesen wie du, dann hätten wir uns schon in Brasilien getrennt. Dann hätte ich dich gar nicht geboren und brauchte mich jetzt von dir nicht zur Rechenschaft ziehen zu lassen.

FRANZISKA.
Dann hätte ich aber doch vielleicht einen anderen Vater oder eine andere Mutter bekommen.
MUTTER.
Das würdest du natürlich als einen großen Vorzug betrachten.
FRANZISKA.
Wie soll ich das wissen?
MUTTER.

Unser Papa war ein bedeutender Mensch. Du kannst das gar nicht beurteilen. Aber für ein Gespräch über Herzenssachen war er nie zu haben. Er wurde sofort mißtrauisch, als wollte man ihm den Boden unter den Füßen wegziehen. Er hatte seine [11] Grundsätze, an denen niemand auf Gottes Welt etwas bemängeln konnte. Sättest du nur wenigstens seine Grundsätze geerbt. Dann ständest du jetzt anders vor mir. Dein Gemütsleben ist ja leider genau so arm, wie es bei deinem Vater war.

FRANZISKA.

Wenn ihr euch nie über Herzenssachen ausgesprochen habt, dann ist es schließlich auch kein Wunder, daß wir Kinder nicht das geringste davon wissen.

MUTTER.
Du bist unter deinen Geschwistern in dieser Sinsicht jedenfalls am schlimmsten weggekommen.
FRANZISKA.

Das weiß ich. Es würde mich auch gar nicht überraschen, wenn ich eines Tages verrückt würde oder irgendein Verbrechen beginge.

MUTTER.

Da hat man wieder deine heillose Selbstüberhebung! Das ist alles nichts anderes als Großtuerei. Wenn du dich etwas mehr für das Wohl deiner Mitmenschen opfern wolltest, dann bättest du einfach keine Zeit, dich immer nur mit dir selbst zu beschäftigen. Dann fände sich sicher auch ein ehrlicher, anständiger Mensch, der dich heiraten würde, trotz allem, was geschehen ist. Und du brauchtest dich nicht an einen gewissenlosen Lebemann zu[12] hängen, der sich deine Jugend schmecken läßt, um dich nachher im Schmutze verkommen zu lassen. Aber welcher rechtschaffene Kerl heiratet denn ein Mädchen, das des Nachts Spaziergänge unternimmt und sich tagsüber nicht von seinem Spiegel losreißen kann. Ich mag dir gar nicht aussprechen, wie widerwärtig du mir bist, wenn ich dich stundenlang vor deinem Spiegel Gesichter schneiden sehe.

FRANZISKA.

Vater und du, ihr seid in meinen Augen heute noch die beiden besten, klügsten, edelsten Menschen, die auf dieser Welt je gelebt haben. Wenn es euch beiden nicht möglich war, eine glückliche Ehe zu führen, dann gibt es überhaupt kein eheliches Glück. In die Sölle einzutreten, in der ihr, solange ich denken kann, gestöhnt und geschrien habt, dafür bedanke ich mich. Einfältige, beschränkte, dumme Menschen fühlen sich offenbar in der Ehe glücklich. Ich bin auf meine Serkunft zu stolz, als daß ich zu ihnen hinabsteigen möchte.

MUTTER.

Du könntest diese unseligen Geschichten endlich einmal vergessen. Du bewahrst dir diese Erinnerungen nur, um deine Geilheit und Liederlichkeit damit zu entschuldigen. In Wirklichkeit war das alles gar nicht so fürchterlich, wie du es jetzt darstellst.

[13]
FRANZISKA.
Weißt du noch, Mutter, wie oft ich vom Tische weglief, weil ich das Lachen nicht verbeißen konnte?
MUTTER.

Wie sollte ich das nicht mehr wissen! Wenn dein Vater Sorgen hatte und ein ernstes Geschäft besprach, dann fandest du das lächerlich. Und wenn man dich bei irgendeinem Geschäft einmal dringend nötig gehabt hätte, dann warst du nirgends zu finden.

FRANZISKA.

Selbstverständlich! Schöne Erinnerungen hab' ich nur an die Bergabhänge rings ums Schloß herum. Das Innere des Schlosses mitsamt dem Sof und seinen schattigen Plätzen war mir immer ein Grauen. Im Innern war der Krieg und draußen der Friede. Wie oft stand ich am Tor, den Klopfer in der Sand, und fragte mich, welche Entsetzlichkeit, eingeschlagene Türen oder zerkratzte Gesichter, mich drinnen überraschen würde. Dann stellte ich mir in Gedanken alle Scheußlichkeiten vor. Ich hatte den verrückten Aberglauben, daß von dem, was man sich vorgestellt hat, nichts eintreffen könnte, weil dann die Überraschung wegfiel. – Aber das Lachen, das mich bei Tisch überkam, war doch nur der Ausdruck meiner hilflosen Traurigkeit über eure unsinnigen Zänkereien. Seitdem lache ich, wenn [14] ich etwas Entsetzliches höre. Das ist herzlos. Das ist unmenschlich. Aber daran bin doch ich nicht schuld.

MUTTER.

Das ist alles noch kein Grund, dich bei deinem ersten Ausflug in die Welt vom ersten besten Menschen, der dir in den Weg kommt, verführen zu lassen.

FRANZISKA.
Es ist ihm gar nicht eingefallen, mich zu verführen.
MUTTER.
Ich lasse mich doch von meinem eigenen Kind nicht zum Narren halten! Was tat er denn sonst?
FRANZISKA.
Ich habe ihn verführt. Es war gar nicht so leicht.
MUTTER.
Immer nur deine freche, kaltherzige Prahlerei!
FRANZISKA.
Ich wollte meine Unschuld endlich loswerden.
MUTTER.
Der Mann scheint dir ja gehörige Grillen in den Kopf gesetzt zu haben, um zu seinem Ziele zu kommen.
FRANZISKA.

Wenn er das geringste von meinem Entschluß geahnt hätte, dann hätte er mir mit dem tiefsten Abscheu den Rücken gekehrt.

MUTTER.
Daran hätte er weiß Gott im Simmel recht getan.
[15]
FRANZISKA.

Hast du mich denn zur Welt gebracht, Mutter, damit ich mich als alte Jungfer zur Schöpfung hinausschleiche? Ich wollte mich nicht mit einem ungebildeten Menschen einlassen. Was soll man tun, wenn einem die Ehe von den eigenen Eltern als die scheußlichste Menschenquälerei vorgeführt wurde!

MUTTER.

Aber um Gottes willen, mein Kind, bedenkst du denn in deiner Sirnlosigkeit nicht, daß du dir auf einmal die erdrückendsten Entbehrungen und Opfer aufgeladen haben kannst? – Denn das schwöre ich dir, an mich denk' nur ja nicht, wenn du ein Dach für deinen Bastard suchst! Höhnisch. Oder hast du dir auch das Wasser schon ausgewählt, in dem du dich ertränken willst?

FRANZISKA.
Ich bin in einer Geburtsversicherung.
MUTTER.

So, so. – In einer ... Mädchen, willst du, daß ich am Schlag sterbe?! – Allmächtiger, die Albernheit! – Dann freilich hast du von dem Menschen nichts Anständiges zu erwarten, wenn du dich von ihm hast bezahlen lassen.

FRANZISKA.
Er hat nicht die leiseste Ahnung davon.
[16]
MUTTER.

Wieso hat er keine Ahnung davon? Wie soll ich mir das deuten? – Gestohlen wirst du das Geld doch nicht haben?

FRANZISKA.

Der alte Baron Hohenkemnath hat mich eingekauft. Wenn mir ein Mißgeschick begegnen sollte, was doch schließlich gar nicht einzutreffen braucht, dann erhalte ich bis zum fünfzehnten Jahre des Kindes jährlich fünfhundert Mark ausgezahlt.

MUTTER.

Wirklich fünfhundert Mark? – Ein rühmlicher Tausch! – Und auf diese wahnsinnige Entwürdigung bildest du dir natürlich noch weiß Gott was ein! – Statt einer geachteten Lebensstellung, einer sorgenfreien Zukunft, eines ruhigen Familienglückes und was du sonst noch alles für deine erste Liebesnacht hättest haben können, eine – Geburtsversicherung! – Wenn dir deine Verschrobenheit so weiter hilft, dann – Glück auf den Weg!

FRANZISKA.
Hast du vielleicht alles das dafür gehabt?
MUTTER.

Eben weil ich es nicht gehabt habe! Soll denn all das Elend umsonst von mir erlitten worden sein? Tausendmal sagte ich mir: Vor dem, was du erträgst, sind deine Kinder einmal bewahrt. [17] Die beugen sich keiner Unvernunft mehr, weil sie die Unvernunft schon in ihrer Kindheit durchschaut haben ...

FRANZISKA.
Du siehst ja, daß du damit vollkommen recht behalten hast!
MUTTER.

Gott sei Dank, was deine Brüder betrifft. Im Traum kann ich mir nicht vorstellen, wie die je mit ihren Frauen in Streit geraten sollten.

FRANZISKA.

Und meinetwegen brauchst du dir doch auch keine Sorgen zu machen. Ich werde sicherlich nie mit einem Mann streiten.

MUTTER.
Du hast mich schon in mehr schlaflosen Nächten beschäftigt, als deine drei Brüder zusammengenommen.
FRANZISKA.
Ich biete auch mehr Unterhaltungsstoff als sie.
MUTTER.
Das ist wieder echt! – Was hat denn der alte Herr für deine Versicherung bezahlt?
FRANZISKA.
Dreitausend Mark, glaube ich. Ich weiß es nicht genau auswendig.
[18]
MUTTER.

Wenn er es dazu hat, ich kann ihn nicht hindern. – Da sieht man wieder einmal, wie das Geld doch schließlich alles beherrscht.

FRANZISKA.
Wollen wir nicht Licht machen, Mutter? Sie dreht die elektrische Beleuchtung auf.
MUTTER.

Eines wollte ich dir allerdings ohnehin sagen. Da er jeden Moment läuten kann, sag' ich es möglich kurz.

FRANZISKA.
Nun, Mutter?
MUTTER.

Wenn du dir noch das Geringste von dem Mann erwartest – ich glaube seine Art zu kennen – dann mußt du dich vollkommen anders benehmen.

FRANZISKA.
Wieso denn, Mutter?
MUTTER.

Ich kann mir nun einmal nicht helfen, aber ich finde, daß du ihn so unrichtig wie nur irgend möglich behandelst.

FRANZISKA.
Er ist mir zu oberflächlich.
MUTTER.
Aber du bist doch seine Geliebte.
[19]
FRANZISKA.
Gewiß. Aber er ist mir zu langweilig.
MUTTER.
Und trotzdem?
FRANZISKA.
Kannte ich ihn denn?
MUTTER.

Ich halte ihn weder für oberflächlich, noch für langweilig, aber er hat alleridngs nicht die geringste Spur von Empfinden für dich. Deinetwegen läßt er sich kein Vergnügen entgehen, das ist sicher. Und daran ist einzig und allein deine Hochnäsigkeit schuld ... Man hört eine alte Torglocke läuten. In Gottes Namen! Ich werde mich dann so bald als möglich zurückziehen.

2. Szene
Zweite Szene
Dr. Hofmiller. Die Vorigen.

DR.

HOFMILLER. Guten Abend, Frau Eberhardt. Ich habe den ganzen Nachmittag auf dem Schlosse verbracht. Es war herrlich.

MUTTER.
Ich bin seit zehn Jahren nicht mehr oben gewesen. Hat sich der neue Schloßherr sehen lassen?.
[20]
DR.

HOFMILLER. Er ließ mich den Rittersaal sehen. Ein liebenswürdiger Herr. Ihr Herr Gemahl kam ja wohl auch aus Amerika hierher?

MUTTER.
Allerdings.
FRANZISKA.
Gute Nacht, Mutter.
MUTTER.
Lassen Sie sich bald wieder sehen, Herr – Ihr Name ist mir entfallen. Ab.
DR.
HOFMILLER. Franziska – was antwortest du mir?
FRANZISKA.
Ich fand keine andere Antwort.
DR.
HOFMILLER. Du hast mir deinen Körper gegeben. Bleib mein Weib. Sei fürs Leben mein Weib!
FRANZISKA.
Ich lasse mich nicht mit achtzehn Jahren gleich wieder einzwängen.
DR.

HOFMILLER. Einzwängen? Gerade das Gegenteil mute ich dir zu. Du bist so überreich an Anlagen. Du sollst dich entwickeln, du sollst glücklich werden.

[21]
FRANZISKA.
Kann dann nicht alles bleiben, wie es ist?
DR.

HOFMILLER. Unmöglich, Franziska! Ich habe meinen Beruf, der meine ganze geistige Arbeit in Anspruch nimmt. Mir bleibt für meinen Beruf nichts übrig, wenn ich Tag und Nacht nur an dich denken muß. Ich brauche gesicherte Zustände. Du bindest dich dadurch nicht im geringsten mehr, als ich mich dir gegenüber binde. Ich bin der Mensch, der seinen Vorsätzen treu bleibt.

FRANZISKA.

Es gibt doch aber wirklich genug achtzehnjährige hübsche Mädchen, die nichts Besseres mit sich anzufangen wissen, als sich zu verheiraten. Ich werde mich ja sicherlich auch einmal verheiraten. – Aber jetzt möchte ich doch erst meines eigenen Daseins ein wenig froh werden. Begreifst du das denn nicht?

DR.

HOFMILLER. Nein, Franziska. Gerade an dir ist mir das unverständlich. Ich glaube auch nicht, daß du dich bei diesen Äußerungen selber richtig beurteilst.

FRANZISKA.

Was weiß ich auch über mich! Vielleicht hast du recht. Aber ich möchte doch gerne erfahren, wer ich denn eigentlich bin. Wenn wir uns heute heiraten, [22] dann erfahre ich in den nächsten zehn Jahren nur, wer du bist.

DR.
HOFMILLER. Und wer unsere Kinder sind.
FRANZISKA.
Und ich selber bleibe mir ewig fremd.
DR.

HOFMILLER. Wenn du wirklich nicht mehr für mich empfindest, dann war es einfach unsittlich von dir, dich mir hinzugeben.

FRANZISKA.
Du scheinst dich ja recht gut bei mir unterhalten zu haben.
DR.

HOFMILLER verblüfft. Franziska! – Ruhiger. Halte mich deshalb meinetwegen für anmaßend, für selbstgefällig, aber ich bildete mir ein, dir nicht gleichgültig zu sein. Vom ersten Tage unserer Bekanntschaft an hatte ich das Gefühl, ein ernstes, wichtiges Erlebnis für dich zu bedeuten. Mißverstehe mich nicht. Ich habe mir nicht einen Augenblick eingebildet, dir überlegen zu sein. Immer aber hatte ich den bestimmten Eindruck, daß du an meine Überlegenheit glaubst.

FRANZISKA.
Bist du mir denn nicht auch überlegen?
[23]
DR.
HOFMILLER. Aber wieso denn, Franziska?
FRANZISKA.
Dadurch, daß du das Leben besser kennst als ich.
DR.

HOFMILLER. Allerdings ein Vorzug, auf den ich unmöglich stolz sein kann. – Nein, Franziska, wenn ich nicht die unerschütterliche Überzeugung gehabt hätte, daß du mich vor allen anderen Menschen hochschätzest, dann hätte ich es nie so weit zwischen uns kommen lassen.

FRANZISKA.

Warum denn nicht? – Hast du die Mädchen so außerordentlich hochgeschätzt, bei denen du zu Gast warst?

DR.

HOFMILLER empört. Franziska! – Wenn ich hätte ahnen können, daß du mich in dieser Weise beschimpfen werdest.

FRANZISKA.
Dein Zorn macht dich so begehrenswert. Wenn ich jetzt nur wüßte, was dich zu Tätlichkeiten bringt.
DR.

HOFMILLER sich beherrschend. Dabei habe ich nie ein Mädchen gekannt, daß sich, wenn es ihm nötig erscheint, so ahnungslos unschuldig stellen kann wie du.

[24]
FRANZISKA.
Mich juckt mein Fell.
DR.
HOFMILLER. Wäre es dir wirklich eine Freude, wenn ich dich mißhandelte?
FRANZISKA.
Du hättest jedenfalls nicht den leisesten Schrei zu fürchten.
DR.
HOFMILLER. Das ist widernatürlich.
FRANZISKA.
Dann sind Pferde auch widernatürlich.
DR.

HOFMILLER. Pferde sind widernatürlich, wenn sie Gedichte schreiben. Menschen sind widernatürlich, wenn sie sich erst beißen müssen, um sich liebhaben zu können.

FRANZISKA.
Ich wußte bis jetzt nicht, daß du Gedichte schreibst.
DR.
HOFMILLER. Ich schreibe auch keine.
FRANZISKA.
Ich dafür um so mehr. Aber das hat uns ja miteinander bekannt gemacht.
DR.
HOFMILLER. Deine Gedichte? Wieso?
FRANZISKA.
Meine Angst, widernatürlich zu sein.
[25]
DR.
HOFMILLER. Ich verstehe nicht, wie du das meinst.
FRANZISKA.

Als Kind litt ich Jahre hindurch an Angstzuständen. Ich fürchtete immer wieder, meine Mutter könnte sich das Leben nehmen. Im strahlenden Sonnenschein verfiel ich plötzlich in Weinkrämpfe. Auf der großen Treppe, die durch die Matte zum Schlosse hinaufführt, habe ich einmal so geschrien, daß mich die Mäher mit Wasser begossen.

DR.

HOFMILLER. Das ist ein unbezahlbarer Witz! Ich kann mir gar kein Weib denken, das im Verkehr mit dem Manne natürlicher und gewaltiger empfindet als du.

FRANZISKA.
Das konnte ich doch aber nicht im voraus wissen.
DR.
HOFMILLER nachdenklich. Deshalb also?
FRANZISKA.
Ja, deshalb.
DR.

HOFMILLER. Jetzt kennst du dich aber. Siehst du denn nun nicht ein, Franziska, daß du dadurch in meine Gewalt geraten bist?

FRANZISKA.
Das sehe ich durchaus nicht ein.
[26]
DR.

HOFMILLER. Der Mann, der dich nach mir bekommt, kann dich unmöglich so hochschätzen, wie ich dich schätze. Ich heirate auch keine Frau, die schon ein anderer gehabt hat.

FRANZISKA.

Ich stelle aber jetzt, wo ich mich kennen gelernt habe, ganz andere Ansprüche an einen Mann als vorher.

DR.

HOFMILLER. Und ich Esel machte mir meiner leichfertigen Handlungsweise wegen die furchtbarsten Gewissensbisse!

FRANZISKA.
Du darfst mich deshalb nicht etwa für ein undankbares Geschöpf halten.
DR.
HOFMILLER. Ich ertrage deinen Anblick nicht länger. Wendet sich zur Tür.
FRANZISKA.
Was hast du vor?
DR.

HOFMILLER. Du hast ruchlos mit mir gespielt. Hätte ich mir doch nur diese unsinnige Reise erspart! Mit dem ersten Zuge fahre ich morgen nach München zurück. Ab.

[27]
3. Szene
Dritte Szene
Franziska, später Veit Kunz.

FRANZISKA
allein.

Gewissensbisse?! – Er fühlt sie wegen seiner Handlungen, ich meiner Natur wegen. Sie setzt sich in einen Lehnstuhl und nimmt den Kopf zwischen beide Hände. Diese Überrumplung! Wie konnte ich mir einen Augenblick einbilden, darüber hinaus zu sein! Die Gedanken wallen empor, die Fluten steigen, branden. Mir selber erscheinen die Hirngespinste lächerlich. Aber was hilft das! Ich finde nirgends einen Anhaltspunkt. Gestern abend! Meine Erregung nahm so überhand, daß ich mir Nadeln in die Arme bohrte. Wenn du das wüßtest, Hermann! Deine Umarmung, dachte ich, verscheucht die Gespenster. Unsinn! Sie gab ihnen Greifbarkeit. Jetzt sind's erst Menschen. – – Ich werde aufschreiben, was sie tun. Aber erst, wenn mein Blut ruhiger fließt. – Wie wohl ich mich unter dem Gelichter fühle! Ich lebe in einer anderen Welt. Die Einrichtungen sind andere. Die Freuden sind andere. Das Unheil ist ein anderes. – Ich verschließe es nicht mehr in mir. Ich brauche mir den Hexentanz nur diktieren zu lassen. Vielleicht bringt das Erleichterung. Sie nimmt am Schreibtisch Platz und setzt die Feder an. Aufhorchend. Da klopft jemand an den Fensterladen. [28] Sich erhebend. Gott sei Dank, endlich Wirklichkeit! Sie öffnet im Hintergrund des Zimmers ein Fenster und spricht gedämpft an den geschlossenen Laden hin. Wer klopft da draußen?

EINE TIEFE MÄNNERSTIMME.
Ich bin's! Mach' auf!
FRANZISKA.
So, du bist's. Das klingt gewöhnlich. Wer bist du denn? Ich halte eine geladene Pistole in der Hand.
DIE MÄNNERSTIMME.
Sie trifft nichts. Ich bin dein Freund. Mach' auf!
FRANZISKA.
Sprich nicht so laut, die Mutter schläft nebenan.
DIE MÄNNERSTIMME.
Dann schließ doch endlich auf!
FRANZISKA.

Gleich, gleich! Sie stößt den Laden nach außen auf und beugt sich hinaus. Nun? – Ist denn niemand hier? – Wo bist du denn?

VEIT KUNZ
über die Brüstung ins Zimmer steigend.
Hier bin ich schon.
FRANZISKA.
Wo kommen Sie denn her?
VEIT KUNZ.
Von Berlin. Ich möchte Sie gerne für ein künstlerisches Unternehmen gewinnen.
[29]
FRANZISKA.

Für ein künstlerisches Unternehmen? Dann sind Sie zu bedauern. Ich besitze nicht die allergeringste künstlerische Veranlagung.

VEIT KUNZ.
Darauf verstehe ich mich besser als Sie. Ich werde Sie zur Sängerin ausbilden.
FRANZISKA.
Ich habe gar kein Musikgehör.
VEIT KUNZ.

Sie haben unendlich mehr. Sie sind so ebenmäßig gewachsen, wie sich das unter tausend Sängerinnen nicht zweimal findet.

FRANZISKA.
Woher wissen Sie denn das so genau!
VEIT KUNZ.

Ich sah Sie flüchtig in München in einer Versicherungskanzlei. Ich studierte aus Ihren Bewegungen die Linien Ihres Körpers.

FRANZISKA.
Das war lieb von Ihnen. Waren Sie mir bis in die Kanzlei hinauf nachgelaufen?
VEIT KUNZ.

Gott bewahre! Ich war wegen meiner Haftpflichtversicherung dort. Bei meinem Beruf weiß man nie, wofür man schließlich von seinen eigenen Geschöpfen verantwortlich gemacht wird.

[30]
FRANZISKA.
Was sind Sie denn eigentlich?
VEIT KUNZ.
Ich bin Sternenlenker.
FRANZISKA.
Sternenlenker? Was bedeutet das?
VEIT KUNZ.

Ich mache aus einem ganz beliebigen Menschenkind, in diesem Falle aus Ihnen, einen Stern allererster Größe und lenke ihn dann durch die fünf Weltteile, wo er mit seinem Glanz alle übrigen Sterne überstrahlt. Nennen Sie Ihre Forderungen!

FRANZISKA.
Kann ich fordern?
VEIT KUNZ.

Was Sie wollen. Ich muß es nur vorher wissen, damit wir durch keine Mißverständnisse entzweit werden.

FRANZISKA.
Dann fordere ich – Freiheit – Lebensgenuß –
VEIT KUNZ.
Beides verschaffe ich Ihnen, soweit ein Weib jemals daran Gefallen fand.
FRANZISKA.
Das haben Millionen Weiber. Ich werde vor Langweile dabei verrückt.
[31]
VEIT KUNZ.
Sie fordern mehr, als was ein Weib an Freuden erleben kann.
FRANZISKA.
Ich bin von unbekannten Gewalten dazu gezwungen.
VEIT KUNZ.
Sind Sie denn etwa so unvernünftig, ein Mann sein zu wollen?
FRANZISKA.

Wenn es mir dabei möglich wäre, nichts zu verlieren, sondern nur zu gewinnen ... Genußfähigkeit, Bewegungsfreiheit ...

VEIT KUNZ.
Sie verlieren Ihre Gewalt über Männer.
FRANZISKA.
Dafür gewinne ich den Wettkampf mit Männern.
VEIT KUNZ.
Dann erlauben Sie, daß ich Ihnen die Hand auf den Bauch lege. Er tut es.
FRANZISKA
ohne sich zu wehren.
Wozu das?
VEIT KUNZ.

Um Ihre Atmung zu prüfen. Gerade für Ihre Ziele finden Sie keinen glatteren Weg als eine künstlerische Laufbahn. Die Kunst, wissen Sie, überspringt jeden Abgrund. Dazu ist sie Kunst. Sonst [32] wäre sie Blödsinn. Was die Beine betrifft, so können Sie es ohnehin mit dem schlanksten Jüngling aufnehmen. Deshalb bin ich Ihnen nämlich nachgereist.

FRANZISKA.
Meiner Beine wegen?
VEIT KUNZ.

Im vorigen Jahrhundert schätzte man am Weib einen schönen Hals, schöne Schultern, schöne Arme. Ich habe die untrüglichsten Anzeichen, daß der Geschmack ins Gegenteil umschlägt. Unsereiner muß den Wechsel der Mode immer vorauswittern.

FRANZISKA.
Antworten Sie mir, ob Sie meine Bedingungen annehmen.
VEIT KUNZ.
Vier Bedingungen sind es, die der Kunstgesang erfordert.
FRANZISKA.
Sie treiben Schindluder mit mir.
VEIT KUNZ.
Erstens gähnende Rachenstellung.
FRANZISKA.
Ich schlafe mit Begeisterung und langweile mich nach Noten.
VEIT KUNZ.
Zweitens bewegliche Ohren.
[33]
FRANZISKA.
Meine Zunge falte ich zu einem dreiblättrigen Kleeblatt zusammen.
VEIT KUNZ.

Dann sind auch die Ohren beweglich. Drittens im Kopf ein gleichschenkliges Dreieck, bestehend aus Mundöffnung, Nasenwurzel und weichem Gaumen.

FRANZISKA.
Das verstehe ich nicht.
VEIT KUNZ.

Danken Sie ihrem Schöpfer. Viertens aber dürfen Sie beileibe nicht glauben, Sie hätten die Nase mitten im Gesicht. Sie müssen felsenfest davon überzeugt sein, daß sich Ihr Mund oberhalb der Nase befindet. Singen Sie!

FRANZISKA
stößt einen krächzenden Ton aus.
VEIT KUNZ.
In drei Monaten machen Sie eine Tournée durch Amerika.
FRANZISKA.
Nehmen Sie nicht endlich die Hand weg?
VEIT KUNZ.

Ausgeschlossen! Solange ich Ihre Stimme ausbilde, liegt meine Hand hier. Sie spüren das gar nicht mehr, wenn Sie meine Geliebte sind.

[34]
FRANZISKA.
Ihre Geliebte? – Ich denke, Sie machen einen Mann aus mir?
VEIT KUNZ.

Sobald Sie singen können. Der Gesangsunterricht notzüchtigt Lehrer und Schülerin. Wir sind Märtyrer. Sie fühlen sich mißhandelt und lechzen nach Ihrem Peiniger. Mich peitscht die Nervenanspannung auf, die ich in Ihnen hervorrufen muß. Jede Übungsstunde endet mit einem Liebesfest.

FRANZISKA.

Ließe sich das nicht umgehen? – Wenn Sie mich unmusikalisches Ding zur Sängerin ausbilden wollen, dann können Sie mich sicherlich ebenso rasch gleich zum Sänger ausbilden.

VEIT KUNZ.
Ihr Wunsch ist mir Befehl. Aber es kommt Sie heillos teuer zu stehen.
FRANZISKA.
Mehr als ich jetzt bin, kann mich die Verwandlung unmöglich kosten.
VEIT KUNZ.

Überlegen Sie sich's, mein Kind. Ich lasse Sie zwei Jahre hindurch das Leben eines Mannes führen, mit aller Genußfähigkeit, aller Bewegungsfreiheit des Mannes ...

[35]
FRANZISKA.
Gott sei Dank!
VEIT KUNZ.

Dafür sind Sie nach Ablauf der zwei Jahre bis an Ihr seliges Ende mein Weib, meine Leibeigene, meine Sklavin.

FRANZISKA.
Wenn ich will!
VEIT KUNZ.
So befiehlt das Naturgesetz. Ich kann's nicht ändern. Sie brauchen das Abenteuer nicht zu wagen.
FRANZISKA.
Ich kann Sie töten, bevor meine Männlichkeit endet.
VEIT KUNZ.
Mich. Aber nicht das Gesetz.
FRANZISKA.
Gesetze sind Männerwerk.
VEIT KUNZ.

Nicht alle. Der Herzog von Rotenburg traf ein ähnliches Abkommen mit mir. Ich habe ihm unseren Vertrag nicht aufgenötigt.

FRANZISKA.
Dann werde ich also ein wirklicher Mann? Genau so, als hätte mich Gott als Mann geschaffen?
VEIT KUNZ.
Genau so. Auf zwei Jahre. Nicht eine Sekunde länger.
[36]
FRANZISKA.
Und Ihre Geliebte brauche ich nicht zu sein?
VEIT KUNZ.

Wozu die Frage? Wir sind beschränkte Menschen. Vorderhand begnüge ich mich vollkommen mit Ihrem Tribut.

FRANZISKA.
Tribut? Tribut? Das scheint mir eine Falle zu sein. Was bedeutet Tribut?
VEIT KUNZ.

Ihren Tribut, mein Kind, entrichten mir sämtliche Künstler, denen ich zu Weltruhm, zu Unsterblichkeit verhelfe. Auch ein Sternenlenker hat schließlich Einkünfte nötig. Davon merken Sie nichts. Meine Prozente erhalte ich von den Direktoren, die das Heiligste meiner Kreaturen dem Raubtier Publikum zum Fraße vorwerfen.

FRANZISKA.
Ob sich dabei mein Trübsinn in Lustigkeit verwandelt?
VEIT KUNZ.

Familienelend! Nichts weiter! Wir platzen vor Lachen. Sagen Sie mir jetzt, was es außer Ihnen in diesem entsetzlichen Nest sonst noch an Sehenswürdigkeiten gibt.

FRANZISKA.

Machen wir vielleicht zusammen einen Mondscheinspaziergang um die verfallene Ringmauer des Städtchens?

[37]
2. Bild
Zweites Bild
Berlin. Meinstube Clara. Drei Tische stehen im Vordergrund. Hinter ihnen promenieren Herren und Damen, in Frack, Smoking und großer Toilette aus einer der anstoßenden Räumlichkeiten in die andere. Am mittleren Tisch sitzt Gespensterschreck zwischen zwei Herren. Am rechten Tisch sitzt Rohrdommel zwischen Kiesgräber und Kullmann. Am linken Tisch sitzen Dr. Malkolm und Schlammgrundel. Aus den zurückliegenden Räumen erklingt leise Operettenmusik.

GESPENSTERSCHRECK
erzählend.
Morgen kommt er auf seiner Rundfahrt zu mir,
Der verrückte Lump. Er hat drei Wochen
Bei meiner Schwester schon vorgesprochen.
Vier Wochen bleibt er auch jedenfalls hier.
Dann will er mit seinem unflätigen Betragen
Meine andere Schwester in Schrecken jagen.
Uns drei erzog er, ich sage euch,
Tagtäglich schlug er uns windelweich.
Aber meine Mutter – ich kannte sie nie.
Er heulte, so oft er ihrer gedachte –
Mir scheint, daß ihr Schicksal, sie starb sehr früh,
Ihn auf all seine gräßlichen Einfälle brachte.
[38] Schwester Zenobia wird das niemals begreifen.
Zwei Kinder hat sie, wie junge Birken.
Wenn die im Zirkus abends mitwirken,
Springt Zenobia nur noch durch brennende Reifen.
Aber meine Schwester, die Tänzerin, wer hält es für möglich,
Zwanzig Millionen, und lebt so kläglich!

Sie erzählt leise weiter.
ROHRDOMMEL
zu Kiesgräber und Kullmann, die sich über Kunst unterhalten.
Die gleiche Begeisterung empfand ich genau
Vor dem Heiland von Klinger. ...
KIESGRÄBER.
Halt's Maul, alte Sau!

Er unterhält sich mit Kullmann weiter über Kunst.
DR.
MALKOLM sich erhebend.
Herr Oberkellner, ich möchte zahlen.

Während er zahlt, zu Schlammgrundel.

Du findest in mir einen ehernen Recken,
Dessen Küsse wie schlesisches Himmelreich schmecken.
Ich fiel nur deshalb durch bei den Wahlen,
Weil der Schriftsteller, was er politisch auch schreibt,
In Deutschland ein Schuft unter Schurken bleibt.

Er verläßt mit Schlammgrundel das Lokal.
GESPENSTERSCHRECK
erzählend.
Und trotzdem, glaubt mir, ich kann ihn gut leiden.
[39] Wenn er mit uns hier zusammensäße,
Welch' eine Lust hätte er an euch beiden,
Was erzählte euch der für teuflische Späße!
Im russischen Krieg hat er trotz seiner Wunden
Ein neues Schnellfeuergeschütz erfunden.
Die Regierung hat es ihm abgekauft,
Man hat's auch auf seinen Namen getauft.
Mit dem Geld muß er nun vor allen Dingen
Das Rittergut wieder in Blüte bringen.
Das war so verlottert! Zu unserer Zeit
Hat's uns oft durchs Dach in die Betten geschneit.

Sie erzählt leise weiter.
Veit Kunz in hellem Sommeranzug, Franziska als Jüngling in Stiefeln und Reithose und Mausi treten ein und nehmen am linken Tische Platz.
VEIT KUNZ.
Schriftsteller und Dirnen! Prolet und Baron!
Hier wird der Verzweifeltste munter.
Uns alle verschwägert ein kindlicher Ton.
Mild lächelt die fleischliche Prostitution
Auf die des Geistes hinunter!
SPREIZFÜSSCHEN
begrüßt Veit Kunz und setzt sich zu ihm.
Ist das ein Vergnügen! Auch wieder im Land,
Stiernackiger Gänsekneifer!

Zu Franziska.

Der tut schon, als hätt' er mich nie gekannt.

[40] Zu Veit Kunz.

Dein Heiratsversprechen hab' ich als Pfand.

Zu Franziska.

Zwei Winter lang fraß er mir aus der Hand.
Er war so verhungert, so abgebrannt,
Doch als Bräutigam von einem Eifer –
Schlotjunker, Wollonkel, Staatssekretär,
Sie pflegten in tiefstem Respekt den Verkehr

Sich zu Veit Kunz wendend.

Mit dem ungarischen Scherenschleifer.
FRANZISKA
zu Mausi.
Du hast ein paar Augen, draus strahlt der Entschluß,
Dich vom Festmahl nicht früher zu trennen,
Als bis sich die Sonn' einen Arzt halten muß,
Bis vor Weltschmerz die Maikäfer flennen!
MAUSI
zu Franziska.
Du hast ein paar Hände, die zucken so wild:
Mir rieselt's vom Hirn in die Nerven.
Nicht Eine lebt hier, der die Wollust so schwillt,
Den Genuß deiner Glut zu verschärfen!
ROHRDOMMEL.
Aber gestern früh hing der prachtvollste Tau
An Bäumen und Blüten ...
KULLMANN.
Halt's Maul, alte Sau!

Er unterhält sich mit Kiesgräber weiter über Kunst.
[41]
GESPENSTERSCHRECK
erzählend.
Solche Anwandlungen überkommen ihn,
So oft ihm unsre Mutter im Traum erschien.
Plötzlich sieht er überall schlimme Vorzeichen,
Bosheit, Rache, Verrat und dergleichen.
Denn daß ihn irgendein Geschöpf könnte lieben,
Das ist ihm bis heute unfaßbar geblieben.
Und tut man auch etwas mit heiligstem Willen,
Es kann ihn mit Zorn und Ingrimm erfüllen.
Erschien ihm aber meine Mutter im Traum,
Dann kennt er vor Wildheit sich selber kaum.
Sie erscheint ihm nämlich in Lustgestalten,
Die würdet ihr gar nicht für möglich halten.
Und alles, was sie ihm offenbarte,
Das setzt' er bei meinen Schwestern und mir
In Wirklichkeit um und er ersparte
Uns keine einzige Offenbarung von ihr.

Sie erzählt leise weiter.
MAUSI
zu Franziska.
Sich vor deinem Zorn zu ducken,
Denk' ich mir berauschend schön:
Deine Lippen möcht ich zucken,
Deine Augen blitzen sehn!
FRANZISKA
zu Mausi.
Heut kannst du's sehn, wenn du noch keinen Schatz hast.
[42]
SPREIZFÜSSCHEN
zu Veit Kunz.
Wo wohnt man jetzt?
VEIT KUNZ.
Bei dir, wenn du noch Platz hast!
SPREIZFÜSSCHEN.
Im Parterre, wer kann's verbieten,
Ist ein Zimmer zu vermieten.
Ein alleinstehender Herr
Wohnt oft gerne im Parterre.
VEIT KUNZ.
Gerne möcht' ich bei dir wohnen,
Will auch deine Möbel schonen.
Leider aber, wie mich deucht,
Ist dein Zimmer etwas feucht.
Glaub mir, Kind, ich habe die Empfindung,
Daß des Lebens Rosenzeit verrann.
Heiratsschwindel und Revolvermündung
Reißen wechselnd mich in ihren Bann.
Wie du weißt, bin ich seit zwanzig Jahren
Tätig in der großen Glücksfabrik,
Hab' auch wahrlich manchen wunderbaren
Apparat erfunden mit Musik.
Aber schießlich scheppern die Gebeine,
Ob mich noch so zäh der Herrgott schuf,
Und dies kahle Haupt dank ich alleine
Meinem täglich wechselnden Beruf.
[43]
CHORUS
aus den nach rückwärts gelegenen Räumen leise anhebend, wird rasch von sämtlichen Anwesenden mitgesungen.
Bein ist erschienen!
Stolz in den Mienen,
Trat er ein.
Huldvollen Grußes,
Hinkenden Fußes,
Laurus Bein!

Bein haut in wütiger
Rache den Kritiker
Kurz und klein.
Blutrot von Haaren,
Kühn im Gebaren,
Laurus Bein!

Bein stampft in Pfützen,
Schlamm zu verspritzen,
Wild hinein.
Wenn ihm das Herz auch bricht,
Pfennige nimmt er nicht,
Laurus Bein!

Laurus Bein ist während des Gesanges eingetreten und geht auf den linken Tisch zu, wobei ihm die promenierenden Gäste respektvoll ausweichen. Er drückt Mausi die Hand, setzt sich neben sie und wendet sich sofort an Franziska und Veit Kunz.
[44]
LAURUS BEIN.
Hörten Sie schon, warum die Polizei
Die Hunde ohne Maulkorb laufen läßt?
VEIT KUNZ.
Mir ist das unaussprechlich einerlei!
FRANZISKA.
Ich leer' auf deine Keckheit meinen Rest!
SPREIZFÜSSCHEN
sich erhebend.
Der jagt mich in die Flucht.

Zu Veit Kunz.

Nimm's mir nicht übel.
Er tritt in deine Spur mit breiterem Stiebel.

Sie geht ins Nebenzimmer.
LAURUS BEIN.
Ich weiß es, denn ich bin mit Hunden tätig.
Da hört man bei der Arbeit mancherlei,
Was einen gar nicht schiert. Die Polizei
Hat für die Schriftsteller den Maulkorb nötig!
ROHRDOMMEL
zu Kiesgräber.
Wenn ich heut noch auf Gottes Gnade vertrau',
Verdank' ich's nur Ihnen ...
KIESGRÄBER.
Halt's Maul, alte Sau!

Er unterhält sich mit Kullmann weiter über Kunst.
[45]
LAURUS BEIN
zu Mausi.
Wie weit ist's mit der Hurenrepublik,
Dem Hierodulenstaat? – Ich hörte sagen,
Ein Generalstreik wurde vorgeschlagen.
Glaub' mir, im Sozialismus wohnt kein Glück.
Mit Altersrenten, Invalidenkassen
Seid ihr noch mehr denn je von Gott verlassen.
Weil ihr wie wir das gute Teil erwählt
Ward euch das Recht auf Speis und Trank genommen.
Und doch ist unsre Schöpfung erst vollkommen,
Wenn Ihr mit zu den Kindern Gottes zählt.
Der Sozialismus wird das nie erreichen,
Die Frauenfrage siegt in diesem Zeichen.
MAUSI
zu Bein.
So besoffen warst du schon seit Wochen nicht mehr!
HAGELMEIER
kommt zwischen Mittel- und linkem Tisch nach vorn und ruft.
Platz, Platz, Herrschaften! Karaminka, hierher!
Der prächtigste Tanzplatz im ganzen Lokal!
KARAMINKA
ihm folgend.
Ich kann nach der Katzenmusik nicht tanzen.
Dies Sterbegewimmer ist mir eine Qual!
VEIT KUNZ.
Unter feurigsten Tänzen hast du die Wahl!
[46] Dir sing' ich die brünstigste meiner Romanzen!

Sich erhebend.

Jetzt wird es erst zünftig! Wo habt ihr die Klampfen?
Nach der wirst du springen und schleifen und stampfen.

Zu Hagelmeier, der ihm die Laute reicht.

Ich danke, Herr Bruder!

Stimmend.

Das tollste der Lieder!
FRANZISKA.
Jetzt bist du gänzlich mein Maestro wieder!
VEIT KUNZ
singt zur Laute, während Karaminka dazu tanzt.
In der Jugend frühster Pracht tritt
sie einher, Donnerwetter!
Nur von Eitelkeit erfüllt, das
Herz noch leer, Donnerwetter!
Ganz mit frühlingsfrischen Reizen
angetan, Donnerwetter!
Und erblickt in allen Männern
nur den Mann, Donnerwetter!

Donnerwetter, zeigt der Gang,
Donnerwetter, Überschwang!
Donnerwetter, diese Glieder!
Donnerwetter, welch ein Fang!

Donnerwetter, erst im Traum,
Donnerwetter, gibt sie kaum
Ihrer Neigung hin und wieder
Etwas Raum, Donnerwetter!

[47] Donnerwetter, aber plötzlich
Drängt die Leidenschaft zum Ziel.
Donnerwetter, hoch ergötzlich
Donnerwetter, wird das Spiel.

Donnerwetter, sinkt zurück,
Donnerwetter, voller Glück,
Sie zum ersten Male nieder,
Welch ein Blick, Donnerwetter!

Juchhei! Halloh!
Wie fühlt die Maid sich froh!
Halloh! Juchhei!
In ihres Lebens Mai!

Wenn auch der Mai mit Sturm begann,
Lustig geht's fortan,
Heute mit den Fürstenkindern,
Morgen mit den Bürstenbindern!

Wild saust sie durchs Leben dann,
Donnerwetter, unter Jubel und Geschrei,
Juchhei!
Wie klug sie's ersann,
Wie kühn sie's gewann,
Voll Grauen erzählt's so mancher Mann –
Donnerwetter!
[48]
HAGLMEIER
Karaminka in die Arme schließend.
Jetzt bist du eingeheizt. Dich jetzt zu küssen,
Wie wenige sind's, die das zu schätzen wissen!

Er verläßt mit ihr das Lokal.
LAURUS BEIN
zu Franziska und Veit Kunz.
Einst beugt' ich ehrfurchtsvoll mein Haupt
Vor einem Schriftsteller. Ich hatte geglaubt,
Unter deutschen Schriftstellern sei das erlaubt.
Gleich bückt sich ein anderer Schriftsteller zur Erde
Greift nach den goldenen Äpfeln der Pferde
Und schleudert sie mir, dem von mir Geehrten
Und einem dritten, friedlich abgekehrten
Schriftsteller mit wuchtiger Hand ins Gesicht.
Drauf schrieb ich das deutsche Schriftstellergedicht.

Er stimmt die Schriftstellerhymne an, die gleich nach den ersten Worten von sämtlichen Gästen mitgesungen wird.

Der Schriftsteller geht dem Broterwerb nach
Mit ausgefransten Hosen.
Er schläft sieben Treppen hoch unterm Dach
Mit ausgefransten Hosen.

Schöner, grüner,
Schöner, grüner Lorbeerkranz, der dich neckt
Und die Stirn bedeckt, wenn der Lump verreckt,
Mit ausgefransten Hosen.

[49] Ist irgendwer gegen sein Schicksal erbost
Mit ausgefransten Hosen,
Der Schriftsteller bringt auch dem Ärmsten noch Trost
Mit ausgefransten Hosen.
Schöner, grüner, usw. usw.

Der König spricht nach, was ein Schriftsteller schrieb
Mit ausgefransten Hosen.
Dem Volk ist er fast wie sein König so lieb
Mit ausgefransten Hosen.
Schöner, grüner usw. usw.

Der Schriftsteller ragt zu den Sternen empor
Mit ausgefransten Hosen.
Er raunt seiner Zeit ihre Wonnen ins Ohr
Mit ausgefransten Hosen.
Schöner, grüner, usw. usw.

Der Schriftsteller schafft am Webstuhl der Zeit
Mit ausgefransten Hosen.
So wirkt er der Menschheit lebendiges Kleid
Mit ausgefransten Hosen.
Schöner, grüner usw. usw.

Und trägt er die Schriftstellerei zu Grab
Mit ausgefransten Hosen,
Gleich lösen ihn hundert Schriftsteller ab
Mit ausgefransten Hosen.
Schöner, grüner usw. usw.
[50]
FRANZISKA
zu Mausi.
Du wirkst bezaubernd auf Millionen Männer,
Weil du in schlichter Herzlichkeit dich gibst.
Drum rühmt sich jeder, der kein Weiberkenner,
Daß du von allen ihn am treusten liebst.
MAUSI
zu Franziska.
Du hast für deine Jahre
Schon soviel beglückt,
Wenn ich das nicht erfahre,
Dann werd ich verrückt.
LAURUS BEIN
zu Mausi.
Sprichst du heut noch ein Wort mit diesem Fant,
Geschieht etwas!
VEIT KUNZ.
Jetzt ist der Streit entbrannt!
Gestatten Sie, daß ich ihn mitgenieße
Und rasch noch etwas Öl ins Feuer gieße.

Er füllt die Gläser.
LAURUS BEIN
zu Franziska.
Schulbube, sprich, aus welcherlei Verdienst
Du dir dies Weib zu kaufen dich erkühnst!
FRANZISKA.
Ich hab' mein Geld von meinem hohen Gönner,
Freiherrn von Hohenkemnath!
[51]
VEIT KUNZ
zu Franziska.
Seid ihr Männer,
Dann bist du ihm eins in die Zähne schuldig!
FRANZISKA.
Mich stimmt nur Mausis Liebe so geduldig.
Geh, Mausi, lassen wir den Tropf allein.
LAURUS BEIN
zu Mausi.
Rühr' ihn nicht an! Es wird dein Ende sein!
VEIT KUNZ
zu Mausi.
Läßt du von diesem Strolch dir was befehlen?
MAUSI
will sich mit Franziska entfernen.
Komm, Schatz, wir wollen ihn nicht ärger quälen.
LAURUS BEIN.
Dann nimm den Abschiedskuß von Laurus Bein!

Er zieht einen Revolver aus der Gesäßtasche und schießt Mausi nieder. Franziska fängt sie auf und kniet neben ihr. Die Gäste umdrängen die Sterbende.
ROHRDOMMEL
ist auf einen Stuhl gestiegen.
Mit all unseren Kunden hat's keine so schlau
Wie Mausi getrieben!
KULLMANN.
Halt's Maul, alte Sau!

Er unterhält sich mit Kiesgräber weiter über Kunst.
[52]

2. Akt

3. Bild
1. Szene
Erste Szene
SOPHIE.
Nun, lieber Franz, was hast du für heute nachmittag vor?
FRANZISKA.

Um vier Uhr erwarte ich einen Versicherungsagenten. Ich bin etwas heiser und wenn ich das Gastspiel in London nicht absolviere, verfalle ich in eine Konventionalstrafe von zwanzigtausend Mark. Ich schrieb deshalb an einen Versicherungsagenten. Ich will mich in eine Haftpflichtversicherung einkaufen.

SOPHIE.
Vor unserer Verheiratung kanntest du solche Sorgen nicht.
[53]
FRANZISKA.

Dafür ging es mir ja manchmal auch schlecht genug. Im äußersten Notfalle konnte ich immer auf den alten Hohenkemnath rechnen. Aber für solche Summen, wie sie jetzt auf dem Spiel stehen, käme seine rührende Opferfreudigkeit natürlich kaum mehr in Frage.

SOPHIE.
Als Mädchen ließ ich es mir nicht träumen, wieviel Geld der einfachste Haushalt verschlingt!
FRANZISKA.

Eigentlich tut dein Vater ganz recht daran, daß er von deiner Verheiratung mit einem Kehlkopfakrobaten nichts wissen will. In dem Augenblick, wo ich heiser werde, ist die ganze Herrlichkeit futsch.

SOPHIE.

Und du hattest bei unserer Verheiratung doch sicherlich auch ein wenig darauf gerechnet, eine Millionärstochter zur Frau zu bekommen.

FRANZISKA.

Aber Sophie, ich liebe deinen Vater! Außerdem ist er der Eisen- und Kohlenkönig von Magdeburg-Buckau. Einmal kommt uns der Ertrag seiner Arbeit ja doch zugut.

SOPHIE.
Ich hätte nie geglaubt, daß man sich auch gegen Konventionalstrafen versichern kann.
[54]
FRANZISKA.
Versichern kann man sich gegen jedes Unheil.
SOPHIE
schüchtern.
Auch gegen Untreue?
FRANZISKA.

Liebe Sophie! Zwischen Untreue und Untreue ist ein großer Unterschied. Wir Männer tragen unsere Natur nicht zu Markte, wir sind Käufer. Das Bezahlen allein macht uns schon Vergnügen. Für uns ist die Natur ein Genuß, für euch ist sie das Geschäft. Bei uns ist Untreue Luxus, bei euch ist sie Betrug. Der Markt, auf dem wir Männer unsere Person versteigern, ist der Weltmarkt. Je höhere Preise die Welt für uns bezahlt, desto mehr können wir verschwenden, um uns einen möglichst reichen Naturgenuß dafür zu kaufen.

SOPHIE.

Lieber Franz! Wenn ich mir einen Hausfreund halte und du findest uns in Zärtlichkeiten beisammen, dann schießt du den Menschen über den Haufen. Ich sehe nicht ein, warum ich mit deiner Geliebten nicht das gleiche tun soll. Die Pistole habe ich bereit.

FRANZISKA.

Liebe Sophie! Hättest du mir gesagt, du wolltest dir einen Hausfreund nehmen, dann wären wir nicht verheiratet. Ich wollte dich nur zur Geliebten haben.

[55]
SOPHIE.
Ich hegte überhaupt keine besonderen Wünsche.
FRANZISKA.
Nur mich wolltest du?!
SOPHIE.
Jedes junge Mädchen will sich verheiraten.
FRANZISKA.

Ich dachte aber im Traum nicht ans Heiraten. Du hast mich aufs höchste überrascht. Mich beschäftigen wichtigere Dinge. Ich frage mich, ob auf meinen Kopf nicht vielleicht eine Krone gehört.

SOPHIE.
Für solchen Mumpitz hat ein Mädchen keine Zeit. Wir sind mit dreiundzwanzig verblüht.
FRANZISKA.

Ein Schulfreund von mir hatte sich in deiner Art verliebt. Er wollte sich eine Kugel vor den Kopf schießen, wenn ihn irgendein Mädchen nicht nahm. Jetzt sind sie glücklich verheiratet. Ich glaube aber nicht, daß je noch etwas Welterschütterndes aus ihm wird.

SOPHIE.
Als wir uns heirateten, rechnete ich allerdings damit, Kinder zu bekommen.
FRANZISKA.
Damit willst du wohl andeuten, daß ich dir nicht genüge?
[56]
SOPHIE.

Aber Franz! Deine Bemerkung ist mir unfaßbar. Innerlich bin ich dir gänzlich fremd. Ich entwürdige doch nur mich selber, wenn ich mich über Mangel an Zärtlichkeit beklage. Du bist doch wirklich nicht schuld, daß ich dich nicht stärker reize.

FRANZISKA.
Es wäre ebenso töricht von dir, als wollte ich mich über deine Ansprüche beklagen.
SOPHIE.
Du, Franz, der du dir eine Geliebte hältst?!
FRANZISKA.

Es wäre einfach eine Entwürdigung meiner geistigen Fähigkeiten. Ich brauchte dich ja nur geistig mehr in Anspruch zu nehmen, damit du dich nicht über Mangel an Zärtlichkeit beklagst.

SOPHIE.
Hätten wir ein Kind, dann wäre alles in bester Ordnung.
FRANZISKA.

Gewiß, dann hättest du deinen Zeitvertreib, wie ich ihn in meinen Gastspielen habe. Aber bin ich daran schuld, daß es nicht so ist?

SOPHIE.

Ich habe mich nicht geschaffen. Kinderlose Ehen gibt es zu Tausenden. Aber die Angst, daß meine Absonderlichkeit uns beide entzweien könnte! Bring' [57] mir ein Kind von einer Geliebten, ich erziehe es als unseres. – Franz, ich tue Abbitte. Laß mich meine Aufrichtigkeit nicht entgelten.

FRANZISKA.
Bitte, nur zu!
SOPHIE.

Als du vor einem Jahr in Magdeburg im Konzert sangst, da hielt ich dich für einen ganz mittelmäßigen Menschen. Du glaubst nicht, wie dumm ich das heute finde. Aber es schien mir ganz ausgeschlossen, daß sich ein anderes Mädchen in dich verlieben könnte.

FRANZISKA.
Die Weiber haben mich nie verwöhnt. Das ist wahr.
SOPHIE.

Jetzt tun sie's aber! Ich sah in dir damals meine Seligkeit ganz für mich allein. Aber seitdem bist du mir so himmelhoch über den Kopf gewachsen! Kein Tag vergeht, ohne daß du mir etwas Neues zu denken gibst, an das ich nie gedacht habe. Jetzt weiß ich erst, wie abgrundtief ich unter dir stehe. Nein, unterbrich mich nicht! Das wunderbarste ist nämlich: Ich selber erscheine mir auch jeden Tag bedeutender, wertvoller. Allerdings bin ich mir auch jetzt über meine Engherzigkeiten und Albernheiten völlig klar. Du tatest immer, als merktest du gar nichts davon. Dadurch hieltst du[58] mich so unentrinnbar fest in deiner Gewalt. Aber um keinen Preis der Welt, das kann ich schwören, möchte ich heute auch nur für eine Stunde wieder die herzlose, selbstgefällige Egoistin sein, die ich vor unserer Verheiratung war.

FRANZISKA.

Das Weib kann nun einmal über die Grenzen seiner Natur nicht hinaus. Sein Glück bleibt immer auf seine Naturbestimmung beschränkt.

SOPHIE.

Franz, ich komme auf den Vorschlag zurück, den ich dir vor acht Tagen machte. Hättest du etwas dagegen, wenn wir ein Kind adoptieren?

FRANZISKA.

Nicht das geringste. – Ich muß dir etwas erzählen, Sophie. Als Gymnasiast litt ich infolge der Streitigkeiten meiner Eltern viel an Schlaflosigkeit. Mein Vater sprach ein ganzes Jahr lang kein Wort mit mir. Auf der großen Treppe, die durch die Matte zum Schloß hinaufführte, flehte ich in meiner Einfalt dann eines Abends auf den Knien zum Himmel, er möge dem Streit ein Ende machen. Voll Zuversicht ging ich nach Hause und warf mich meinem Vater zu Füßen. Natürlich hatte es nicht das geringste genützt. Ich erzähle das nur, damit du manchmal Nachsicht mit mir hast. Ich glaube, daß ich von jener Zeit her immer noch etwas mit dem Leben zerfallen bin.

[59]
SOPHIE.

Ich sehe darin nichts anderes als die ersten Äußerungen deiner herzberückenden Künstlernatur. Deshalb wird es dir jetzt so leicht, jede menschenmögliche Leidenschaft vorzuspiegeln, als wärest du ihr mit Leib und Seele ausgeliefert.

FRANZISKA.

Mir ist der Gesichtspunkt neu. – Um ein absolut sicheres, unumstößliches Verständnis für die Welt zu finden, trat ich vor einem Jahr zum Katholizismus über. Seitdem fühle ich mich glücklicher.

SOPHIE.

Das ist das einzige, Franz, worin ich dir nicht zustimmen kann. Ich bin protestantisch erzogen. Ich glaube überhaupt nichts, aber ich hasse Spitzfindigkeiten. Es läutet im Flur.

FRANZISKA.
Das ist mein Versicherungsagent!
SOPHIE
will gehen.
Ich lasse dich mit dem Herrn allein.
FRANZISKA.
Bleib doch! Du bekommst Einblick in eine staunenerregende Art von Weltbeherrschung.
[60]
2. Szene
Zweite Szene
Die Tür wird von außen geöffnet und Lydia Höpfl tritt ein.

LYDIA.

Wollen Sie mir sagen, verehrter Meister, in welchem Kostüm ich in London die Aretikoru-Tulorimena tanzen soll?

SOPHIE.
Franz, ich gehe!
FRANZISKA
vorstellend.
Fräulein Lydia Höpfl – meine Frau.
LYDIA
zu Sophie.
Wie beneide ich Sie darum, diesen Halbgott zum Mann zu haben!
SOPHIE.

Wenn ich mein Mann wäre, fände ich an Ihnen sicherlich auch mehr Gefallen, als er an mir findet. Ich verachte die Frau, die ihrem Mann eine Freude mißgönnt. Aber dann will ich auch den Dank, den ich für meine Großmut verdiene. Seelengröße muß Seelengröße bleiben! Bevor ich mir meine eigene Erniedrigung als unerläßliche Pflicht vorschreiben lasse, greife ich zur Waffe und räume die Gefahr, die meinem Glücke droht, aus dem Wege.

[61]
FRANZISKA.
Aber Sophie, du hast den unvorteilhaften Ausfall gar nicht nötig.
LYDIA.

Der Meister unterwies mich bis jetzt nur in den fünf Positionen Sie führt sie aus. erste Position – zweite Position – dritte Position – vierte Position – fünfte Position. Es läutet im Flur.

FRANZISKA.
Endlich mein Versicherungsagent! Sie verläßt das Zimmer.
SOPHIE
in Lydias Anblick versunken.
So also muß man sein!
LYDIA.
Ich wäre lieber wie Sie, gnädige Frau.
SOPHIE.

Welchen Genuß finden Sie nun darin, einer Frau, die nichts Besseres kennt, ihren Mann wegzuschnappen? Gibt es für Sie nicht unverheiratete Männer genug?

LYDIA.
Gnädige Frau dürfen sich vor mir nicht so klein hinstellen.
SOPHIE.

Mich vor Ihnen klein hinzustellen, fällt mir gar nicht ein! Sie können tanzen, das kann ich nicht. Aber bringen Sie erst einmal zu irgend etwas all [62] die Liebe auf, die mich für diesen Mann erfüllt und die ich jeden Augenblick zu beweisen bereit bin.

LYDIA.
Da hätte ich viel zu tun. Ich werde mich hüten. Mir wär' das viel zu umständlich.
SOPHIE.

Das glaube ich. Wenn man soviel Männer kennt, kann es einem ganz gleichgültig sein, ob einer darunter etwas mehr oder weniger auf die Selbstlosigkeit unserer Liebe angewiesen ist.

LYDIA.
Alle großen Künstler, die ich getroffen habe, hatten irgend etwas Absonderliches an sich.
SOPHIE.

Ich kenne nicht soviel. Aber glauben Sie, wir, die wir das bißchen Zuneigung täglich mit einem übermenschlichen Aufwand von Liebe neu erkämpfen, wir wollen uns dann noch ruhigen Herzens hinterlistig darum bestehlen lassen?!

LYDIA.

Verzeihen, gnädige Frau, ich denke Tag und Nacht an nichts anderes, als daß ich in meiner Kunst weiterkomme.

SOPHIE.
Wollen Sie denn etwa leugnen, daß Sie mit meinem Mann in Beziehungen stehen?!
[63]
LYDIA.

Künstlerisch gibt es für uns in der ganzen Welt nirgends ein Weiterkommen, wenn wir keine Lebensart haben.

SOPHIE.
Also doch! Also doch! Oh, es ist nicht zu ertragen! – Und das nennen Sie Lebensart?
LYDIA.

Selbstverständlich müssen wir Lebensart haben. Darauf bilden wir uns sicherlich nichts ein. Unser einziges Ziel ist die Kunst. Wenn eine das nicht hat, dann geht sie ja so wie so zugrunde.

SOPHIE.

Ich möchte Sie etwas fragen, mein Fräulein. Tritt ihr näher. Fürchten Sie nicht, ein Kind zu bekommen?

LYDIA.
Möglich ist freilich alles, aber ...
SOPHIE.
Reden Sie bitte!
LYDIA.
Dazu wären es viel zu viel Väter.
SOPHIE.
Deshalb also. Viel zu viel! – Ich muß Ihnen noch etwas sagen ...
LYDIA.

Aber Sie, gnädige Frau, Sie sind verheiratet. Sie haben von einem Manne doch zehntausendmal mehr [64] Liebes und Gutes, als unsereins von einem ganzen Dutzend Männer hat.

SOPHIE.
Das hatte ich vergessen. Darin haben Sie vollkommen recht.
LYDIA.
Wenn ich mir hätte träumen lassen, wie man durch die unwichtigsten Dinge anderen weh tut!
SOPHIE.
Sie sind ein gutes Geschöpf. – Aber wissen Sie auch, daß Sie in Lebensgefahr schweben?
LYDIA.
Das ist doch Scherz, gnädige Frau!
SOPHIE.

Nein, nein, seien Sie auf das Allerschlimmste gefaßt. Ich scherze durchaus nicht. Sie schweben in der furchtbarsten Lebensgefahr!

3. Szene
Dritte Szene
Franziska tritt mit Veit Kunz ein.

FRANZISKA.
Sophie, denk dir meine Überraschung: Der Versicherungsbeamte ist Veit Kunz!
[65]
SOPHIE.

Das trifft sich ja wieder einmal wundervoll für dich! Wenn dir dein Freund als Versicherungsagent ebensoviel Glück bringt, wie als Gesangslehrer, dann werden wir uns vor lauter Glück bald nicht mehr zu retten wissen.

VEIT KUNZ.
Das klingt etwas höhnisch. Die Damen scheinen sich über irgend etwas erregt zu haben?
SOPHIE.
Ganz recht! Ich fragte meinen Mann eben erst, ob man sich nicht auch gegen Untreue versichern kann.
VEIT KUNZ.

Selbstverständlich können Sie das. Bestimmen Sie nur, welche Summe Sie im Falle Ihrer Untreue von uns zu bekommen wünschen.

SOPHIE.
Sie quälen mich aufs Blut! Von meiner Untreue ist hier gar nicht die Rede.
VEIT KUNZ.

Das dürften gnädige Frau nicht so leichtherzig aussprechen! Aber für uns bleibt das gleichgültig. Wir versichern Sie auch gegen die Untreue Ihres Gatten.

LYDIA.
Erlauben Sie, gnädige Frau, daß ich mich empfehle.
[66]
SOPHIE.

Sie sind ein liebes Geschöpf. Mein Mann erscheint mir immer begreiflicher. Ich begleite Sie hinaus. Lydia grüßt die Herren durch Kopfnicken und wird von Sophie hinausbegleitet.

FRANZISKA.
Du bist jetzt also tatsächlich auch noch Versicherungsbeamter?
VEIT KUNZ.

Der war ich immer. Soviel ich weiß, haben wir hier in München schon einmal einen Versicherungsvertrag miteinander geschlossen.

FRANZISKA.
Von dir habe ich damals nichts gesehen.
VEIT KUNZ.

Ich war durch deinen schlanken Wuchs gefesselt. Um dich ungestört beobachten zu können, ließ ich mich bei den Vorbesprechungen durch einen Unteragenten vertreten.

FRANZISKA.
Jetzt versicherst du mich also gegen jede Konventionalstrafe, in die ich verfallen kann?
VEIT KUNZ.

Die Prämie, die du zu zahlen hast, muß erst berechnet werden. Morgen werden dir unsere Vertragsvorschläge zugestellt.

[67]
SOPHIE
zurückkommend zu Franziska.

Ich habe ihr noch einmal geschworen, daß ich ihr eine Kugel ins Herz jage, wenn sie mich mein eheliches Glück nicht ungetrübt genießen läßt.

FRANZISKA.
Nun, Sophie? was hat sie dir geantwortet?
SOPHIE.
Franz! Franz! Ist dir meine hilflose Verzweiflung eine Freude?
FRANZISKA.

Daran ist nur meine aufreizende Kindheit schuld. Ich verliere jeden Halt, sobald ich keine Tragik vor Augen habe. Der Anblick des Schmerzes macht erst einen tatkräftigen, überlegenen Menschen aus mir.

VEIT KUNZ.
Soweit es deine Kunst betrifft, kann ich das vollauf bestätigen.
SOPHIE.
Ich merke nichts davon.
VEIT KUNZ.

Im Dienste einer großen Kunst haben heldenmütige Frauen wie Sie zu Hunderten gelitten. Eigentlich kann sich eine Frau gar nicht nutzbringender an einem Kunstwerk betätigen.

[68]
FRANZISKA.

Außerdem flößt die Frau dem Manne viel mehr Bewunderung ein, wenn sie etwas mit Anstrengung all ihrer Seelenkraft zu überwinden hat.

VEIT KUNZ.

Die Frau wirkt dadurch als eine Art belebender Arznei, als ein Reizmittel, das alle Nerven und Muskeln anspannt.

SOPHIE.
Ich merke nichts davon.
VEIT KUNZ.
Ich desto mehr.
SOPHIE.

Schließlich bin ich dann also im Grunde nichts anderes als ein unseliges Werkzeug in der Hand eines geldgierigen Sklavenhalters.

VEIT KUNZ.
In erster Linie bin ich allerdings Lebensversicherungsagent.
SOPHIE
lacht hell auf.
Davon scheinen Sie wirklich den ausgiebigsten Gebrauch zu machen.
VEIT KUNZ.
Jedenfalls ausgiebiger, als gnädige Frau sich's träumen lassen.
[69]
SOPHIE.

Wenn Sie wirklich Versicherungsagent sind, dann lassen Sie mich bitte das Leben dieser Tänzerin, die eben fortging, zu einer so ungeheuren Summe versichern, daß das Mädchen unmöglich umkommen kann, ohne daß Ihre Gesellschaft dabei den kläglichsten Bankerott macht. Das Geld dazu gibt mir mein Vater. Statt meiner hat dann Ihre Gesellschaft die Aufgabe, meinem Jammer abzuhelfen. Und ich bin diesen seelenmörderischen Kampf um mein rechtmäßiges Lebensglück los!

VEIT KUNZ.

Gegen derartige Unglücksfälle sind wir natürlich bei anderen Gesellschaften rückversichert. Da die anderen Gesellschaften das auch bei uns sind, erzielen wir dabei zu guterletzt noch Prämiendividende.

SOPHIE.
Dann haben Sie mich also belogen! Dann gibt es einfach keine Versicherung gegen Untreue!
VEIT KUNZ.

Die einzige wirksame Versicherung gegen Untreue ließen sich gnädige Frau bereits entgehen. Sie hätten Ihrem Gatten einfach zuvorkommen müssen.

SOPHIE.

Das kann ich nicht! Dazu liebe ich ihn zu leidenschaftlich! Ich habe ihn nicht umsonst gegen den Willen meiner ganzen Familie geheiratet. Er ist [70] mein eins und alles. Er ist mein Glück. Soll ich denn meinem eigenen Glück untreu werden?!

VEIT KUNZ.
Wenn gnädige Frau so wenig Achtung vor sich selber haben, dann würde ich Ihnen empfehlen ...
FRANZISKA.
Deine Ausdrücke, lieber Freund, sind im höchsten Grade unpassend!
VEIT KUNZ.
Du hast zu schweigen, wenn dein Maestro spricht!
SOPHIE.

Wenig Achtung vor mir selber! Was fällt Ihnen denn ein! Liebe und Treue sind seit Erschaffung der Welt die heiligsten weiblichen Tugenden. Ich achte mich nicht geringer, ich achte mich höher als jede andere Frau!

VEIT KUNZ.

Wenn das Ihr Ernst ist, dann rate ich Ihnen, nicht Fräulein Lydia Höpfl, sondern sich selber in eine Lebensversicherung einzukaufen.

SOPHIE.
Was kann mir das nützen? Zu wessen Gunsten soll ich mein Leben versichern?
VEIT KUNZ.
Meinetwegen zugunsten des Mannes, den Sie so leidenschaftlich lieben!
[71]
SOPHIE.
Sie machen sich über mich lustig.
VEIT KUNZ.

Das kann mir nicht einfallen! – Dann versichern Sie Ihr Leben zugunsten eines Wöchnerinnenheims, eines Waisenhauses! Von dem Augenblicke an hat Ihr Leben einige Bedeutung für Sie. Das erfüllt Sie mit Stolz. Das schmeichelt Ihrer Eitelkeit. Sie freuen sich Ihres Edelmutes und ehe Sie sich's versehen, haben Sie hundertmal mehr Genuß von Ihrem Leben, als wenn Sie Ihr Glück in der Liebe suchen.

FRANZISKA.
Nun Sophie? Hatte ich recht oder nicht? Eine bewundernswürdige Art von Weltbeherrschung!
SOPHIE.

Franz! Wenn du deine Tänzerin gern hast, dann bewahr' sie vor dem Schrecklichsten! Wo mein Glück auf dem Spiele steht, kenne ich kein Erbarmen. Tritt sie mir noch einmal als deine Geliebte in den Weg, dann ist sie verloren! – Vielleicht sagt dir dein Freund und Lehrmeister, wie du dich mit meinem Entschluß am besten abfindest. Viel Vergnügen, meine Herren! – Ab.

[72]
4. Szene
Vierte Szene
FRANZISKA.
Jetzt ist es aber allerhöchste Zeit, daß ich dir etwas gestehe. Ich bin in anderen Umständen.
VEIT KUNZ.

In anderen Umständen? Du Prachtkind! Das legt uns beiden ganz neue Unmöglichkeiten in den Weg, die wir siegreich zu überwinden haben. Nur kein Stillstand! Nur keine Stagnation! Was wird uns das wieder an Geisteselastizität einbringen!

FRANZISKA.

Du machst es dir leicht. Du versprichst mir hoch und teuer, ich solle ein Mann werden. Statt dessen bin ich nun seit einem vollen Jahr nichts anderes als deine Geliebte.

VEIT KUNZ.

Hältst du es wirklich für möglich, Franziska, daß irgendein Mann in dieser Welt mehr Freude von seinem Leben hat als du?

FRANZISKA.
Jedenfalls gibt es Mädchen genug, die mehr Männer kennen lernen als ich.
VEIT KUNZ.
Bitte, mein Kind, die Welt steht dir offen.
[73]
FRANZISKA.

Vorderhand verzichte ich noch darauf. Aber Sophie muß jetzt endlich von ihrem Jammer erlöst werden. Es ist die allerhöchste Zeit, daß sie zur Ruhe kommt. Ich spiele sonst einfach nicht mehr mit!

VEIT KUNZ.

Aber Franziska! So rasch ist deine Spielwut befriedigt! – Oder bildest du dir vielleicht ein, du habest schon alles gelernt, was es aus diesem Spiel für dich zu lernen gibt?

FRANZISKA.

Ich sehne mich nach lustigeren Spielen. Ich will und kann sie nicht länger quälen. Sie hat ihr Geschick so tapfer getragen, wie ich das früher bei einem Weibe nie für möglich gehalten hätte.

VEIT KUNZ.

Dann laß dich meinetwegen scheiden. – Sie ist einfach stolz auf ihr Unglück. Sie wird einzig und allein von ihrer unerschöpflichen Seelengröße zum Narren gehalten. Irgendein dümmeres Weib läßt sich keine Viertelstunde lang so lächerlich hinters Licht führen.

FRANZISKA.

Du beurteilst sie viel zu hoch. Die Augen wären ihr in den ersten drei Wochen schon aufgegangen, wenn ich durch Lydia Höpfl nicht ununterbrochen ihre Eifersucht schürte. Wenn ich ihr auch nichts [74] bin, lieber will sie nichts haben, als daß ein anderes Weib nichts bekommt.

VEIT KUNZ.
Mit deinem Witz, mein liebes Kind, erniedrigst du nur dein eigenes Geschlecht.
FRANZISKA.
Und sie erhöht unser Geschlecht durch ihre Dummheit!
VEIT KUNZ.

Darin feiert die Liebe des Weibes doch gerade ihre herrlichsten Triumphe, daß sie durch jeden Fehler des Mannes nur immer wieder zu größerer Selbstverleugnung aufgestachelt wird.

FRANZISKA.
Ich möchte dir nicht raten, dich mir gegenüber auf diese schöne Überzeugung zu verlassen.
VEIT KUNZ.
Habe ich bei dir jemals auf Großherzigkeit gerechnet?!
FRANZISKA.

Durch jeden Fehler! Das ist das völlig Unbegreifliche an ihrer Liebe. Das ist das Übernatürliche an ihr.

VEIT KUNZ.

Aber wieso denn?! Es gibt gar nichts Natürlicheres. Von einem wirklichen Manne ließe sich dieses prachtvolle Geschöpf einfach keine Untreue bieten. Dazu ist [75] sie viel zu stolz. Du bist aber kein Mann. Deshalb muß sie diesen ganz außerordentlichen Aufwand von Liebe für dich aufbringen. Und durch diese Liebe läßt sie sich dummerweise dazu hinreißen, deine Untreue zu bekämpfen. Deiner vermeintlichen Untreue wegen hält sie dich dann für einen wirklichen Mann, während sie sich selber unzulänglich, reizlos erscheint. Und dadurch wächst dann ihre Liebe wieder ins Uferlose.

FRANZISKA.

Jetzt reißt mir aber die Geduld! Du bist bis zum Wahnsinn in dieses Weib verliebt! Sie heiratete mich aus keinem anderen Grunde vom Konzertpodium herunter, als weil sie mich für einen unreifen Schulbuben, für einen ganz minderwertigen Gecken, für einen unverbesserlichen Affen, für einen vollendeten Dummkopf hielt!

VEIT KUNZ.

Das beweist noch nicht das geringste gegen ihre Seelengröße. Edle Weiber sind es nie, die sich bedeutenden Männern an die Rockärmel hängen.

FRANZISKA.
Dann nimm doch Sophie zur Geliebten! Ich sehe mich derweil nach einem anderen Paar Ärmel um.
VEIT KUNZ.
Dazu habe ich nicht den berühmtesten Künstler des Erdballs aus dir gemacht.
[76]
FRANZISKA.

Den machst du aus Sophie ebenso rasch wie aus mir. Talentloser als ich war, bevor du mich entdecktest, kann sie unmöglich sein.

VEIT KUNZ.

Ich glaube aber nicht, daß sie deine Beine hat. – Wir werden übrigens anfangs September zu einem dreitägigen Gastspiel in Rotenburg erwartet. Der Herzog schreibt mir eigenhändig ...Er nimmt einen Brief aus der Tasche und liest.


Liebster Veit Kunz!

Die Gärung im Volke droht mich zu beseitigen. Nur du kannst helfen. Bring' deinen Franz Eberhardt. Dein Franz lullt die Bestien ein. Anfang September habe ich drei Tage frei. Wir wollen mein Festspiel, das ich dir sandte, öffentlich aufführen. Die Hoftheaterintendanz ist angewiesen ... usw.

Dein Leopold.

FRANZISKA.
Zu dumm, daß ich gerade jetzt in anderen Umständen bin!
[77]
5. Szene
Fünfte Szene
SOPHIE
hereinstürmend.
Franz! Geliebter! Ich bin außer mir vor Freude! Mein Bruder ist eben gekommen!

Oberleutnant Dirckens und Dr. Hofmiller treten ein.
DRICKENS
zu Sophie.
Darf ich bitten, mich vorzustellen.
SOPHIE.
Mein Bruder, Oberleutnant Dirckens – mein Mann.
DIRCKENS
ohne Franziska zu grüßen, zu Veit Kunz.
Hatte schon einmal die Ehre.
VEIT KUNZ
sehr höflich.
Lohnt sich nicht der Erwähnung.
DIRCKENS.
Ich muß dich bitten, liebe Sophie, uns einen Augenblick allein zu lassen.
SOPHIE.
So? – Liebe Sophie? – Was ist denn los?
VEIT KUNZ.
Gnädige Frau gestatten mir, Sie zu begleiten. Er geleitet Sophie hinaus.
[78]
DIRCKENS
zu Dr.
Hofmiller. Sie kennen die Person von früher her?
FRANZISKA
zu Dr.
Hofmiller. Jetzt sehe ich allerdings ein, daß ich mich weggeworfen habe!
DR.

HOFMILLER. Deine Mutter, Franziska, verfiel in unheilbare Schwermut, als sie die Nachricht von deiner Verheiratung erhielt.

FRANZISKA.

Meine Mutter?! Sie ruft. Veit! Wir müssen sofort verreisen! Sie rennt hinaus. In der Tür begegnet ihr Sophie.

SOPHIE.

Aber Franz! Franz! Hast du den Verstand verloren?! Näherkommend, zu Dirckens. Was geht denn hier eigentlich vor? – Was bringst du für ein Entsetzen in unser Haus?

DIRCKENS.

Liebe Sophie! Ich habe von diesem Augenblick an keine ruhige Minute mehr vor mir. Jeden Schurken, der mir sagt: Deine Schwester hat ein Weib zum Manne genommen, muß ich auf Pistolen fordern. Und weiß dabei jetzt auch noch aus eigenem Augenschein am besten, daß er recht hat.

[79]
SOPHIE.
Ich verstehe kein Wort. Wer hat ein Weib geheiratet? Wer denn? – doch nicht etwa ich?!
DIRCKENS.
Beruhige dich, Sophie!
SOPHIE
schreit.
Franz! Mein Franz!

Sie eilt hinaus. Auf dem Vorplatz fällt ein Schuß. Dirckens und Tr. Hofmiller eilen ihr nach, bringen die Sterbende herein und betten sie auf den Diwan.
DR.

HOFMILLER da Sophie kein Lebenszeichen mehr gibt, zu Dirckens. Lassen Sie mich rasch die Waffe sehen.

DIRCKENS.
Unsinn!
DR.
HOFMILLER. Gut. Ich weiß, was ich zu tun habe.
DIRCKENS.
Sie haben gar nichts zu tun. – Gehe die Sache, wie sie gehen will, ich muß meinen Abschied nehmen.
[80]

3. Akt

4. Bild
Viertes Bild
Herzogliches Residenzschloß Rotenburg. Vorzimmer vor den herzoglichen Gemächern. Zu beiden Seiten Flügeltüren. Pater Emmeran in einfacher, mattfarbiger Soutane aus Wollstoff und schwarzen wollenen Handschuhen. Veit Kunz, halb geistlich gekleidet. Später Herzogin. Herzog.

PATER.

Die politische Lage an unserem Hofe ist höchst bedenklich. Seit hundert Jahren wartet die kaiserliche Diplomatie auf einen Anlaß, unser Herzogtum zu verschlucken. Gelingt ihr das, dann ist uns Rotenburg verloren.

VEIT KUNZ.

Diesen Anlaß könnte die kaiserliche Regierung in der Gärung finden, die augenblicklich im Herzogtum herrscht.

PATER.

In der Unbeliebtheit unseres hohen Herrn. Diese Unbeliebtheit wird wachsen, wenn es dem Herzog gelingt, seine Scheidung durchzusetzen.

[81]
VEIT KUNZ.
Wie läßt sich die Scheidung am besten hintertreiben?
PATER.
Wenn es möglich wäre, den Herzog aufs tiefste von seinem Unrecht zu überzeugen.
VEIT KUNZ.
Sollte dazu nicht die bevorstehende Aufführung seines Festspieles die günstigste Gelegenheit bieten?
PATER.
Aber es müßte eine eindringliche Ermahnung werden!
VEIT KUNZ.
Ich würde mich über die Lage vorher gerne noch ausführlicher belehren lassen.
PATER.

Das kaiserliche Kabinett hat für die herzogliche Hofhaltung längst ein Schloß in England in Aussicht genommen.

VEIT KUNZ.
Dazu darf es nicht kommen. Hier spricht sichs nicht gut darüber. Ich höre Stimmen von allen Seiten.
PATER
eine Tür im Hintergrunde öffnend.

Dieser Weg führt durch die Schloßkirche ins Freie. Jedes Wort, das hier im Saal gesprochen wird, ist durch diese Tür verständlich.


[82] Veit Kunz ab. Von außen treten die Herzogin und zwei Reitknechte ein. Lakaien folgen und reißen die gegenüberliegende Tür auf. Der Pater räuspert sich.
HERZOGIN.
Ach – Hochwürden!
PATER.
Drei Jahre ließen uns Königliche Hoheit warten.
HERZOGIN.

Ich komme geraden Wegs aus Japan. Morgen früh geht die Reise weiter. Ich wohne selbstverständlich im Hotel.

PATER.
Hoheit kommen doch wohl nicht, um einzuwilligen?
HERZOGIN.

In meine Scheidung? Was denken Sie von mir! Ich brauche Reisegeld, weiter nichts. Meine Juwelen wurden gepfändet.

PATER.
Hoheit stürzen das Land ins Verderben, wenn Sie in die Scheidung willigen.
HERZOGIN.

Ich lasse es getrost auf einen europäischen Krieg ankommen. Ich habe einen Eid geleistet, und meinen Schwüren bleibe ich treu.

PATER.
Wenn Hoheit etwas über unsere politische Lage zu hören wünschen?
HERZOGIN.

Dafür habe ich gar kein Interesse. Kommt es zum [83] Klappen, dann kommandiere ich ein Panzerschiff. Artemisia bei Halikarnaß!


Herzogin mit Reitknechten und Lakaien ins Innere des Schlosses ab.
PATER
aufhorchend.
Da ist er selbst!

Die Eingangstür wird aufgerissen. Der Herzog tritt rasch ein. Zwei Lakaien stellen sich mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür.
HERZOG.
Hörten Sie etwas, lieber Freund? Die Herzogin ist hier!
PATER
nach innen deutend.
Königliche Hoheit traten eben ein.
HERZOG
stellt sich mit ausgebreiteten Armen mit dem Rücken gegen die Tür, durch die die Herzogin abging.
Was ist da zu tun?!
PATER.

Wenn es Hoheit aufrichtig meinten, wovon ich nicht ganz überzeugt bin, dann wurde die Bereitwilligkeit ausgesprochen, sich nach glatter Erledigung der materiellen Hindernisse scheiden zu lassen.

HERZOG.

Emmeran! Freund Gottes! Das sagte sie?! – Das gibt neuen Mut. Gott sei gepriesen! Nach innen deutend. Dahinein bringt mich keine Macht der Erde. Ich ziehe natürlich ins Hotel. Aber jetzt[84] kann ich doch endlich in Ruhe wieder an meine Angelegenheiten denken. Ich muß dir beichten, daß ich ein Festspiel zur Wiedereröffnung des Hoftheaters geschrieben habe. Ein harmloser Scherz, weiter nichts. Wir wollen das Festspiel unter Wahrung des allerstrengsten Inkognitos öffentlich aufführen. Und nun kommt die Spielverderberin, die Stimmungsmörderin! So ging es mir aber von jeher mit meinen Bühnenstücken. Im allerletzten Augenblick stellt sich regelmäßig ein störendes Verhängnis ein. Hat sie nicht gesagt, wann sie weiterreist?

PATER.
Morgen früh, wenn Hoheit die gestellten Forderungen akzeptieren.
HERZOG.

Bedingungslos angenommen! Selbstverständlich! – Ich bin nämlich seit zwei Stunden auf der Suche nach einem Genie, wenn Sie die Bezeichnung erlauben.

PATER.
Jeder von uns ist ein Ingenium.
HERZOG.

Mit dem Dreiuhrzug ist der Mann angekommen. Aber niemand weiß, wo er wohnt. Ich setzte mich der Volkswut aus, indem ich bei einem Absteigequartier vorfuhr. Aber auch dort wußte man nichts von ihm.

PATER.

Wenn das Ingenium des allerhöchsten Vertrauens [85] nicht unwürdig ist, könnte es vielleicht auch zuerst in eine Kirche eingetreten sein.

HERZOG.
Halten Sie das im Ernst für möglich? Die Kirchen habe ich nicht abgesucht.
PATER
nach rückwärts deutend.

Diese Tür führt in die Kirche. – Sind Hoheit ungehalten, wenn ich der Herzogin mit meinem Rat beizustehen suche?

HERZOG.
Bitte, bitte.

Der Pater geht nach dem Innern des Schlosses ab.
HERZOG.

Was meinte der Fuchs mit der Kirche? –Er öffnet die Tür, Veit Kunz tritt heraus. Veit Kunz! Herzensjunge! Da bist du! Wie habe ich mich nach dir gesehnt!

VEIT KUNZ.

Da unten sitzt in einer Seitenkapelle ein holzgeschnitzter Engel auf der Kanzelbrüstung. Der Engel sieht einer Tänzerin so ähnlich, wie ein Kanonier dem andern.

HERZOG.

Ich frage mich seit meiner Kindheit, warum bei unserer Andacht der Tanz keine Verwendung findet. Musik, Plastik, Malerei sind als Ausdrucksmittel der Verehrung allgemein im Gebrauch. Nur der Tanz nicht.

[86]
VEIT KUNZ.
Dazu erscheint uns die Allmacht nicht mehr persönlich genug.
HERZOG.

Das kann nicht der einzige Grund sein. Er erteilt den Lakaien einen Wink, die darauf abtreten. Ich kann dich nicht einmal in meine Zimmer bitten. Meine Frau hat uns überrumpelt.

VEIT KUNZ.

Unsere Reformation gewinnt täglich mehr Boden. Durch unsern Kampf ist unser Volk allen Völkern der Welt voraus.

HERZOG.

Mein Festspiel ist mein rückhaltloses Bekenntnis. Hätte die Kirche vor tausend Jahren unsere Stellung zum Weibe so klar durchschaut, wie sie unsere Stellung zu Gott und zum Nebenmenschen erkannte, dann wäre ihre Lehre darüber heute ihr siegreichstes Dogma.

VEIT KUNZ.

Die Sprachgewandtheit seines Dichters sichert unserm Festspiel das klarste Verständnis. Unsere Moraltheologie schrak schon vor Jahrhunderten vor nichts von dem zurück, was sich heute als modernes Problem großtut. Sie wurde durch das Wiedererwachen des plumpen Aberglaubens schmachvoll unter die Füße gestampft.

[87]
HERZOG.

Seit die Welt steht, sind die unmenschlichsten Greuel, die furchtbarsten Verbrechen, Völkermord und Martertod geschätzte poetische Stoffe. Das Mittelalter, aufgestaute zersetzte Sinnenlust, die sich mit Vorliebe an der Erfindung von Grausamkeiten berauschte, ist das gelobte Land aller Dichtung. Und nur gerade das Versteckenspiel zwischen Mann und Weib, das die größten Weltweisen, die größten Künstler ergötzte, soll der Dichtkunst verboten sein!

VEIT KUNZ.

Frauengestalten von männlicher Strenge, Männergestalten von weiblicher Zartheit und Milde sind seit Anbeginn bis heute die vollkommenste Verkörperung des Weltfriedens.

HERZOG.

Überdies doch die nächstliegende Neckerei, das Labyrinth der Empfindung, der Zaubergarten, die Maskerade des Lebens! Als wäre es etwa normal, selbstverständlich, folgerichtig, daß ebenmäßig geschaffene Frauen ihren Wuchs nicht zeigen dürfen!

VEIT KUNZ.
Eine Unnatur, an der unsere Kultur schon seit ihren Anfängen krankt!
HERZOG.

Mein Austauschprofessor sagt mir, es handle sich darum, den schrankenlosen Wettbewerb junger Frauen [88] durch die Verschämtheit der reifer gewordenen etwas zu bändigen. Ich sehe die Notwendigkeit nicht ein. Die reifer gewordenen können sich ja kleiden, wie sie wollen. Warum soll der Wettbewerb der jungen gebändigt werden!

VEIT KUNZ.

Der strenge Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Kleidung ist in der ganzen Welt im Schwinden begriffen.

HERZOG.

Es kommt doch auch nicht auf den Unterschied zwischen Kleidern, sondern auf den Unterschied zwischen Menschen an! Solange das junge Weib noch geduldig seinen Sklavenrock trägt, hat es gar kein Recht, sich über irgendwelche Zurücksetzung zu beklagen.

VEIT KUNZ.

Ich habe kürzlich eine neue sittliche Weltordnung erfunden. Die Resultate meiner Erfindung habe ich in einem Buch niedergelegt. Wäre es nicht möglich, meine neue sittliche Weltordnung in der Residenz oder sonst irgendwo im Herzogtum praktisch auszuprobieren?

HERZOG.
Wenn ich in meinem Lande etwas zu sagen hätte, mit Vergnügen! Aber:
Wie gern wär' ich des Staates erster Diener,
Wär' ich das fünfte Rad am Wagen nicht!
[89]

Ich verstehe nicht, wie es andere Hoheiten mit den einfachsten Forderungen von Menschenwürde vereinigen, auf den Passivitätsetat gesetzt zu sein. Ich kann es nicht so selbstverständlich finden, daß ich Herzog bin und andere Menschen schlechtweg Staatsangehörige sind, zumal ich, nach dem Wortlaute der Verfassung, der überflüssigste Mensch in meinem Herzogtum bin.

VEIT KUNZ.
Die tatsächliche Macht könnte trotzdem besser genützt werden!
HERZOG.

Das Land ist evangelisch. Deshalb fehlt jedes tragfähige Vertrauen zwischen ihm und mir. Außerdem ist mein Volk Ethos Potetos, zu deutsch: Kartoffelseele.

VEIT KUNZ.

Ernstlich gewagt wurde meines Wissens noch nichts. Die Zaghaftigkeit, die der Tat im Wege steht, hoffte ich vor Jahren schon mit Glück bekämpft zu haben.

HERZOG.

Damals, als ich mich in die Wahnsinnsversicherung einkaufte? – Du müßtest nur wissen, lieber Freund, was sich ohne mein Zutun in meiner Residenz schon alles abspielt. Junge Mädchen schließen sich zu einer Vereinigung zusammen und proklamieren [90] das uneingeschränkte Eigentumsrecht an den eigenen Körper. Die Tochter meines Justizministers ist in die Sache verwickelt. Das »Sonntagsblatt« gibt höhnisch seiner Verwunderung darüber Ausdruck, daß ich mich nicht an die Spitze der Bewegung stelle.

VEIT KUNZ.
Sollte da nicht wieder einmal der Genius Rat wissen?
HERZOG.

Der Genius! Der Dämon! Im Herzogtum ist nämlich allen Ernstes eine reaktionäre Revolution gegen mich im Gang. Findet sich denn der Dämon zu einer Aussprache bereit?

VEIT KUNZ.
Ungerufen natürlich nicht.
HERZOG.
Dann rufe ihn. Aufschreckend. Allmächtiger Himmel!
VEIT KUNZ.
Was geht vor? Ich sehe und höre nichts.
HERZOG.
Angstneurose ist unsere Berufskrankheit.

Die Herzogin mit dem Pater, ihren Reitknechten und zwei Lakaien, die die Türe aufreißen, kommt aus dem Innern des Schlosses zurück.
HERZOGIN
stutzt.
Da ist er ja! Da steht er wieder!
[91]
HERZOG.
Angenehmer wäre es natürlich, wenn wir uns aufhängten.
HERZOGIN
für sich.
Brutalität!
HERZOG
zu Veit Kunz.
Was sagst du dazu?
VEIT KUNZ.
Königliche Hoheit wollen meine Anwesenheit verzeihen.
HERZOG
für sich.
Gemeinheit!
HERZOGIN
zum Pater.
Was sagen Sie dazu?
PATER.
Jedes Wort aus so hohem Munde gereicht der Menschheit zum Segen.
VEIT KUNZ.
Im Streit zwischen Mann und Frau erscheint der Mann immer roh, erscheint die Frau immer gemein.
HERZOGIN.
Das finde ich einfach überspannt.
HERZOG.
Ich finde es einfach kindisch.
[92]
VEIT KUNZ.

Selbstverständlichkeiten, deren höchst eigene Erfahrung ohne jeden Nachteil vermieden würde. Der Kampf der Geschlechter führt auf dem direktesten Wege ins Irrenhaus.

HERZOGIN.

Höflich ist der Herr gerade nicht. – Ich bin nun einmal so! Mit dem Pater, den Reitknechten und Lakaien durch die Ausgangstür ab.

HERZOG.

Jetzt sage ich dir aber etwas, was uns Männern ein Anderer gesagt hat: Du gehst zum Weibe, vergiß die Peitsche nicht.

VEIT KUNZ.

Darauf sage ich zum Weibe: Du gehst zum Manne, vergiß deine Selbstachtung nicht! Dann kann der Mann so viel Peitschen zur Hand haben, wie er will. Er findet gar keine Gelegenheit, davon Gebrauch zu machen.

[93]
5. Bild
1. Szene
Erste Szene
Der Herzog. Gislind von Glonnthal.

HERZOG.
Nun, Gislind?
GISLIND.
Würdest du mich meine Rolle nicht noch einmal überhören?
HERZOG.

Die kannst du doch am Schnürchen. Ich gäbe etwas darum, wenn ich meine eigene Rolle schon gelernt hätte.

GISLIND.
Darf ich denn nicht endlich wissen, in welchem Kostüm ich spielen soll?
HERZOG.
Das erfährst du bei der Aufführung früh genug.
[94]
GISLIND.
Wenn mich nun aber das Kostüm nicht kleidet?
HERZOG.
Sei unbesorgt, das Kostüm kleidet dich.
GISLIND.
Das kann man doch im voraus nie wissen.
HERZOG.
Das Kostüm kleidet sich vorteilhafter als jedes andere.
GISLIND.
Wirklich? Das ahnte mir doch gleich.
HERZOG.
Nun, Gislind?
GISLIND.
Daß ich mich wieder einmal ohne Kostüm zeigen soll.
HERZOG.
Bist du nicht stolz darauf?
GISLIND.
Was bleibt mir andres übrig. Etwas künstlerisch Wertvolleres habe ich ja doch nicht zu bieten.
HERZOG.
Schön' Gislind, du verschmachtest wieder einmal nach Lobsprüchen.
GISLIND.
Weil ich mich meiner geistigen Armut schäme?
HERZOG.
Deine unübertreffliche Meisterschaft kennst du doch selbst am besten.
[95]
GISLIND.
Und die wäre?
HERZOG.
Liebe.
GISLIND.
So? – Ja, darin stelle ich meinen Mann.
HERZOG.
Dann sei doch zufrieden.
GISLIND.
Es gibt ein Sprichwort – ich kann es nicht aussprechen.
HERZOG.

Das ist die verlogenste Pöbelweisheit, die je in einer Kartoffelseele entstand; dumm versteht sich gut auf Liebe.

GISLIND.
Ist das nicht mein Fall?
HERZOG.
Kennst du die amerikanischen Mädchenköpfe, die jetzt in allen Schaufenstern zu sehen sind?
GISLIND.
Findest du die hübsch?
HERZOG.
So hübsch wie dich. Aber hältst du diese jungen Amerikanerinnen für dumm?
GISLIND.
Was fällt dir ein! Hätte ich nur einen Funken von ihrem Verstand.
[96]
HERZOG.
Aber du glaubst, daß sie sich schlecht auf Liebe verstehen?
GISLIND.
Woran erkennt man das?
HERZOG.

Glaub' mir, sie verstehen sich meisterlich darauf. Darin ist uns Amerika überlegen, daß seine Frauen nicht auf den Kopf gefallen sind und sich außerdem auch gut auf Liebe verstehen.

GISLIND.
Aber von meinen Geistesgaben hältst doch auch du nicht viel?
HERZOG.
Habe ich mich je mit einer Silbe beklagt?
GISLIND.

Deshalb frage ich. Du bist der einzige Mensch auf Gottes Welt, der sich nie über meine Beschränktheit lustig gemacht hat. Und eigentlich bist du doch gar nicht um so viel dümmer als all die andern.

HERZOG.

O doch. Für die andern bin ich noch viel dümmer als du. Nur sagen sie es mir nicht, aus Furcht, in Ungnade zu fallen.

GISLIND.

Mir sagen sie es am liebsten dann, wenn ich mich nicht verteidigen kann. Deshalb habe ich Angst vor [97] dem Festspiel. Wenn ich mich vor hundert Menschen ohne Kostüm zeige, und dann fällt ein plumper Witz über meine Geisteslosigkeit ...

HERZOG.
Das wagt niemand.
GISLIND.

Ich habe auch meinen Stolz. Ich weiß nicht, was ich dann täte. Ich glaube, ich stürbe auf der Stelle vor Scham.

HERZOG.
Heute abend um zehn also. Ich muß mir jetzt Vortrag halten lassen.
GISLIND.
Darf ich nicht zuhören?
HERZOG.
Heute nicht.
GISLIND.
Wen erwartest du?
HERZOG.
Einen Geist.
GISLIND.
Gibt es denn das? Dann laß mich bleiben. Ich habe noch nie einen gesehen.
HERZOG.
Ich habe kein Geheimnis vor dir, mein Kind. Aber der Geist redet in deiner Gegenwart nicht.
[98]
GISLIND.

Geliebter! Deinetwegen haben sich meine Geschwister von mir losgesagt. Deinetwegen sehe ich fast seit einem Jahre keine menschliche Seele mehr. Du nennst mich »Gislind Glonnthal, schöne Sache«. Mehr bin ich dir nicht.

HERZOG.

Für mich ist es das Höchste. – Denk' dir doch nur meine mimosenhafte Empfindlichkeit in fünfjähriger Ehe mit einer Stimmungsmörderin, in deren Vaterhaus der Familienzank als unerläßlichste Gemütsgymnastik gepflegt wurde. – Es gibt eben Menschen, denen der Appetit leichter verdorben wird als anderen. Bin ich deshalb ein entarteter Schwächling?

GISLIND.

Du und entartet?! – Wenn nur ich nicht entartet bin. Ich frage mich oft, ob ich meinen Schwachsinn nicht als Kind schon selber verschuldet habe.

HERZOG.
Dir tut es not, wieder einmal unter vergnügte Menschen zu kommen.
GISLIND.

Ich freue mich auch darauf. Aber ohne Kostüm! Man ist so entsetzlich hilflos! Deshalb ... Hast du noch einen Augenblick Zeit?

HERZOG.
Noch zwei, wenn du befiehlst?
[99]
GISLIND.

Nein, es muß nicht sein. – Ich habe nur dich, alles bist du mir: Elternhaus! Glück! Stolz! Wenn ich denke, wie – wie nichtig wenig ich dir bedeute. – Rann's gar nicht denken. Bin zu dumm.


Der Herzog leitet Gislind hinaus.
2. Szene
Zweite Szene
Der Herzog, dann Franziska.

HERZOG
kommt zurück und sieht nach der Uhr.

Halb zehn. Der Dämon muß da sein. Er nimmt Platz und dreht die Lampe aus. Meiner Seele Sehnsucht! – Komm! –


Im Hintergrund steht Franziska hell erleuchtet auf einem Säulenstumpf. Sie trägt eine hochgeschlossene, einreihig zugeknöpfte, bis zur Mitte der Hüfte reichende Jacke und Kniehosen, beides aus leichtem weinroten Stoff Dazu gepudertes Haar mit Dreispitz, breite weiße Halskrause, weiße Rüschen an den Handgelenken, außen an den Knien silberne Kokarden, hellgraue Strümpfe und schwarze Schuhe mit roten Absätzen und sehr breiten hellblauen Schleifen. Das Kabinett liegt vollständig im Dunkeln, so daß der Herzog kaum zu sehen ist.
HERZOG.
Was bist du?
[100]
FRANZISKA
bescheiden.
Ich bin deiner Seele Sehnsucht.
HERZOG.
Du bist kein Mann?
FRANZISKA.
Nein.
HERZOG.
Bist du ein Weib?
FRANZISKA.
Nein.
HERZOG.
Ich lasse mir keine Märchen erzählen.
FRANZISKA.
Wer es zu fassen vermag, fass' es.
HERZOG.
Als was bist du geboren?
FRANZISKA.
Als Knabe.
HERZOG.
Und bist kein Knabe?
FRANZISKA.
Nein.
HERZOG.
Warum nicht?
FRANZISKA.
Um des Reiches der Himmel willen.
[101]
HERZOG.
Was heißt das?
FRANZISKA.
Um unserer Wunschlosigkeit willen.
HERZOG.
Wer tat das?
FRANZISKA.
Heiß mich nicht reden!
HERZOG.
Kennst du die Verse?
FRANZISKA.
Ein Schwur drückt mir die Lippen zu.
HERZOG.
Wo kommst du her?
FRANZISKA.
Von den Gottmenschen. Aus dem Reiche Seliwanows.
HERZOG.
Ich frage dich, wo du geboren bist?
FRANZISKA.
In Bukarest in Rumänien.
HERZOG.
Ich glaube dir kein Wort.
FRANZISKA.
Du wirst mir glauben.
HERZOG.
Aber ich will dich auch nicht entlarven.
[102]
FRANZISKA.
Ich bringe dir unsere Geheime Heilige Schrift.
HERZOG
für sich.

Wunschlosigkeit! Friedliches Ausruhen zwischen männlicher Rauflust und weiblicher Glückswut! Anmutige Augenweide, die zu keinerlei Wahnsinn aufreizt! Zu Franziska. Was lehrt eure Geheime Heilige Schrift über den Unterschied zwischen Eigennutz und Nächstenliebe?

FRANZISKA.
Für die Wunschlosen gibt es keinen Unterschied zwischen Eigennutz und Nächstenliebe.
HERZOG.

Leider bin ich nicht wunschlos. Aber den Unterschied gibt es für mich auch nicht. Ich kann unmöglich eigennützig sein, ohne daß andere die glänzendsten Geschäfte dabei machen. Ich kann unmöglich selbstlos sein, ohne selber den größten Gewinn davon zu haben. Wie erklärt das eure Geheime Heilige Schrift?

FRANZISKA.
Weiter Blick und gutes Gedächtnis ist alles.
HERZOG.
Das ist sehr wenig.
FRANZISKA.
Das wenige gibt Friede, gibt Beständigkeit.
[103]
HERZOG.
Beides fehlt mir. Wie kommt das? Mein Leben ist Streit, Wankelmut ...
FRANZISKA.
Enger Blick. Kurzes Gedächtnis.
HERZOG.
Du nimmst kein Blatt vor den Mund.
FRANZISKA.
Du auch nicht.
HERZOG.
Was preist eure Geheime Heilige Schrift als gut?
FRANZISKA.
Klug, stark, fein.
HERZOG.
Was schilt sie schlecht?
FRANZISKA.
Dumm, schwach, roh.
HERZOG
unruhig.
Ich höre nicht gut. Willst du dich nicht zu mir setzen?
FRANZISKA.
Ehe du dich erhebst, bin ich verschwunden.
HERZOG.
Kannst du tanzen?
FRANZISKA.

Seliwanow gibt den Gottmenschen alle Gewalt [104] der Erde. Wir tanzen, wir geißeln uns, um ihn zur Rückkehr in sein Reich zu ermuntern.

HERZOG.
Kannst du mir sagen, warum die Gotteslehre die menschliche Nacktheit verabscheut?
FRANZISKA.

Weil die Kirche die Betätigung der Gottheit in der Zeugung lehrt. Deshalb bekämpft die Kirche jede Entweihung der Nacktheit. Der allergeringste Mißbrauch der Nacktheit ist Teufelsdienst.

HERZOG.
Noch eines aus eurer Geheimen Heiligen Schrift: Menschenliebe oder Wahrheitsliebe, was steht höher?
FRANZISKA.
Wahrheitsliebe ist das Höchste.
HERZOG.
Warum steht Wahrheitsliebe höher als Menschenliebe?
FRANZISKA.
Weil die Liebe zur Wahrheit die Liebe zur Menschheit in sich schließt.
HERZOG.
Ich liebe die Menschen mehr als die Wahrheit.
FRANZISKA.

Wer die Menschen mehr liebt als die Wahrheit, muß die Wahrheit hassen. Sich und seinen Brüdern [105] zum Trost ersinnt er zum alten Aberglauben neue verderbliche Lügen.

HERZOG.
Wem bringt die Wahrheit Glück?
FRANZISKA.

Lange bevor du zur Lösung der göttlichen Fragen gelangst, erkennst du die Liebe zu den Menschen als unentbehrlichsten Grundstein.

HERZOG.
Nenn' mir deinen Namen.
FRANZISKA.
Ich bin ohne Namen.
HERZOG.
Wann sehe ich dich wieder?
FRANZISKA.
Nie.
HERZOG
nach ihrer Hand greifend.
Dann behalte ich dich hier.
FRANZISKA
verschwindet.
HERZOG.
Ob ich diesen Zwittergeist nicht doch noch als Fleisch und Blut kennen lerne! – Ab.
[106]
3. Szene
Dritte Szene
Veit Kunz. Franziska.
Veit Kunz ganz in schwarzem Trikot, den Kopf in einer schwarzen Kapuze mit Augenlöchern, huscht im Hintergrund aus den schwarzen Vorhängen und dreht die Schreibtischlampe auf.

VEIT KUNZ.
Wir sind allein, min Jung!
FRANZISKA
aus der Seitenwand tretend.

Bedenkst du denn gar nicht, daß wir für den ungeheuerlichen Unfug, den wir hier treiben, auf zehn Jahre ins Gefängnis kommen können?

VEIT KUNZ
zieht die Kapuze vom Kopf und wirft sich in einen Sessel.
Fürs Gefängnis sind wir beide doch längst reif.
FRANZISKA.
Du sicherlich! Ich doch nicht!
VEIT KUNZ.

Hast du dich etwa nicht gegen das Gesetz vergangen, um deine Mitwirkung bei diesem Gastspiel zu ermöglichen?

[107]
FRANZISKA.

Ich habe geturnt, ich habe geschwommen, ich bin geritten, ich habe Tararabumdieh getanzt. Einem jungen Mädchen wird das doch wohl erlaubt sein! Aber hast du gehört, daß meine Brüder zu Hause ein Entmündigungsverfahren gegen mich eingeleitet haben? Sie wollen mich für unzurechnungsfähig erklären und mich unter Vormundschaft stellen lassen.

VEIT KUNZ.

Was kümmert uns das! Deine Kapitalien sind vor allen Gerichten der Welt in Sicherheit. Aber hast du gehört, daß dein früherer Geliebter, der Dr. Hofmiller, am Matterhorn tödlich verunglückt ist?

FRANZISKA.
Warum erzählst du mir das?
VEIT KUNZ.

Warum erzählst du mir die Eseleien deiner Brüder? – Wir stehen hier im Mittelpunkt einer europäischen Staatsaktion und du versinkst in gefühlvolle Träumereien!

FRANZISKA.
Ist das ein Wunder, wenn ich längst nicht mehr weiß, worauf du mit mir ausgehst?
VEIT KUNZ.

Nach unserer Vereinbarung bist du heute übers Jahr meine Leibeigene. Dazu hätten wir gar keinen Vertrag zu schließen brauchen, da dir das Naturgesetz [108] ohnehin keine andere Wahl frei läßt. Heute bin ich aber noch dein Knecht, der dir jeden Wunsch erfüllt. Diese Stellung benutze ich, um dir die besten Gelegenheiten zur möglichst ausgiebigen, möglichst vollkommenen, möglichst vielseitigen Entwicklung all deiner Veranlagungen, all deiner Begabungen zu verschaffen. Ich wünsche in dir eine Leibeigene zu bekommen, der nichts Menschenmögliches unbekannt geblieben ist.

FRANZISKA.
Worin erblickst du denn meine Begabungen?
VEIT KUNZ.

In deiner Wollust, in deiner Herrschsucht, in deiner Leichtlebigkeit, in deiner Spielwut, in deiner Vergnügungssucht und, um das Herrlichste nicht zu vergessen, in deiner maßlosen Eitelkeit.

FRANZISKA.
Auf meine Treulosigkeit scheinst du keinen besonderen Wert zu legen?
VEIT KUNZ.

Genau so wenig wie auf deine Dankbarkeit. Deine Treue laß getrost meine Sache sein. Was haben Liebe und Treue mit Veranlagung zu tun? Sie sind euer Geschäft. Ich vertraue einfach darauf, daß du zu klug bist, um schlechte Geschäfte zu machen.

FRANZISKA.
Sehr einfach! Und worauf soll ich vertrauen?
[109]
VEIT KUNZ.

Auf meine ungeheure Erfahrung! Darauf, daß es ein Prachtgeschöpf wie du und einen so wählerischen Menschenkenner wie ich nicht noch einmal auf dieser Welt gibt! – Offenbar fürchtest du wieder einmal, ich könnte Schindluder mit dir treiben?

FRANZISKA.

Ich und fürchten? Sie lacht. In dem Augenblick, wo du Schindluder mit mir treibst, spiele ich dir einen Schabernack!

VEIT KUNZ.
Tu das!
FRANZISKA.
Fürchtest du denn aber gar nicht, daß sich dein Herzog in mich verliebt?
VEIT KUNZ.

Ich und fürchten? Diesen Herzog? Er lacht. Beiderseitige Enttäuschung und ich bin eine alberne Gans los, die meiner nicht würdig war! – Für den Herzog kommst du als Weib gar nicht in Frage. Der Herzog liebt Weiber, die geistig mit seinen Pferden und Hunden auf gleicher Stufe stehen!

FRANZISKA.
Wenn er mich aber für ein überirdisches Wesen hält?
VEIT KUNZ.

Das tut er und davon ist er nicht abzubringen! [110] Dem Herzog fehlt jede Entwicklungsmöglichkeit. Genau so, wie es auch den armseligen Straßenmädchen an nichts anderem fehlt. Hundert Männer lernen sie kennen, ohne mit einem die Verkettung der Lebensbedürfnisse zu finden, die das Weib ganz von selbst zur Treue zwingt.

FRANZISKA.
Ich glaube, daß es meinem Vater im Grunde auch nur an Entwicklungsmöglichkeit fehlte.
VEIT KUNZ.
Läßt dir dein Vater immer noch keine Ruhe?
FRANZISKA.

Weil ich ihm unrecht getan habe! – Als ich das letztemal zu Hause war, bedrückten mich die Gewissensbisse so entsetzlich, daß ich eines Nachts die Stirn auf die Stufen der Schloßtreppe schlug und schrie, als lebte ich meine ganze Kindheit noch einmal durch.

VEIT KUNZ.

Habe ich darüber nicht einmal ein Gedicht von dir gehört, das dir noch zu Lebzeiten deines Vaters einfiel?

FRANZISKA.
Das Gebet eines Kindes?
VEIT KUNZ.
Wie ging das Gedicht?
[111]
FRANZISKA
hinter dem Schreibtisch sitzend, die Arme auf den Tisch gestützt.
O heilige Nacht! Aus Kampfgebraus
Fleh' ich mit gläubiger Gebärde
Zu dir, daß uns geholfen werde.

Gieß deinen milden Segen aus,
Und sieh, es würde dieses Haus,
Zum schönsten Paradies der Erde!
VEIT KUNZ.
Das Gedicht versetze ich dem Herzog!
6. Bild
Sechstes Bild
Hügelige Waldlandschaft auf der Insel Rhodus. Im Hintergrund rechts ein Kirchturm, links auf einer Anhöhe ein Schloß, vor dem zwei Kaninchen grasen. In der Mitte der Bühne befindet sich ein breites, marmornes Brunnenbecken, dessen Außenseite mit Skulpturen geschmückt ist. Die Skulpturen zeigen spielende Kinder, die einen Triumphzug und eine Stäupung vor dem Schandpfahl darstellen.
Veit Kunz tritt in reicher mittelalterlicher Tracht aus dem Wald. Er trägt langen, wallenden Bart und dünne, graue Perücke.

VEIT KUNZ.
Pietro Aretino war ein Spötter,
Und trotzdem hat ihn Tizian gemalt.
[112] Auch ich bin meinem Vaterland kein Retter.
Ich kämpfe nur, solang man mich bezahlt.
Wenn die vorhandnen Gelder nicht genügen,
Dann such' ich einfach mein Privatvergnügen.
In diesem Fall dreht sich's für mich darum,
Des Herzogs Festspiel auf den Kopf zu stellen,
Dem Dichter seine Freude zu vergällen.
Deshalb verkünd' ich dir, o Publikum:
Der Inhalt unsres Stücks voll Spott und Hohn
Ward unsern Gegnern früh genug verraten.
Noch weiß ich nicht, was sie zur Abwehr taten.
Uns auf der Fährte sind sie sicher schon.
So spiel' ich, um das Spiel zu hintertreiben,
Den eitlen Festrausch gründlich zu vereiteln.
Schon grollt das Wetter über unsern Scheiteln,
Und wird nicht lang mehr unentladen bleiben.
In der Theatersprache würd' es heißen:
Ich wirke mit, um den Erfolg zu schmeißen.
Hat der Skandal den Gipfelpunkt erreicht,
Dann werd' ich wiederum vor euch erscheinen,
Um einige dicke Tränen mitzuweinen,
Derweil ihr tief beschämt nach Hause schleicht.

Ab.
Franziska in mittelalterlichem Frauenkleid, mit breitem Halsausschnitt, einen Blumenkranz im Haar, die Hände in Handschuhen, eine halb gefüllte geschlossene Glasschale tragend, tritt [113] aus dem Wald. Ihr zur Seite geht ein Kind mit nackten Armen und Beinen.
DAS KIND.
Warum bist du so traurig?
FRANZISKA.
Weil ich schwer
An dieser kleinen Last zu tragen habe.
Wie oft schon wünscht' ich mir die Schale leer.
Statt dessen birgt sie von der seltnen Labe
Tagtäglich einen winz'gen Tropfen mehr. –
Auf dieses Brunnens Rand will ich mich setzen,
Mich etwas auszuruhn. Du kannst derweil
Im Gras mit Blumenpflücken dich ergötzen.
Nie ward als Kind mir solch ein Glück zuteil.
DAS KIND.
Von wem hast du den Kranz in deinem Haar?
FRANZISKA
danach tastend.
Den Blumenkranz? – Den hatt' ich fast vergessen.
Ich weiß nicht, wer ihn mir ins Haar gedrückt.
Nie sah ich mich bekränzt. Ob er mich schmückt,
Läßt sich wohl aus dem Spiegel nur ermessen
DAS KIND
taucht die Hand in den Brunnen.
Das Wasser ist so still, so rein, so klar,
Daß man den blauen Himmel drin erblickt.
[114]
FRANZISKA
beugt sich über den Brunnen.
Ich seh' mein Bild und bin von ihm entzückt.
Wie kommt es, daß ich in den schönsten Jahren
An Leid soviel, an Freude nichts erfahren?
Das Wasser wallt empor. Ein heller Schein
Taucht nah und näher aus der tiefsten Tiefe.
Kein Wunder, wenn der Brunnen überliefe.
Was mag das für ein Zauberwesen sein?

Gislind, nur mit einem weißen Schleier um die Hüften bekleidet, taucht aus dem Brunnen.
GISLIND.
Was führt, geliebte Schwester, dich zu mir?
Aus luft'gen Höhen hört' ich deine Stimme
Und eilte, daß ich dir entgegenschwimme.
Wem bringst du die kristallne Schale hier?
FRANZISKA.
Den Menschen bring' ich diesen heiligen Trank.
An seiner Glut erquicken sich Millionen,
Die meine Mühe nur mit Undank lohnen.
GISLIND
sich auf den Brunnenrand setzend.
Mir ward für meine Fröhlichkeit ihr Dank
In reichstem Maß zuteil. Auch eine Schale
Mit schimmernd bunten Farben wunderbar
Geziert wie deine, brachten sie mir dar.
Wir tranken draus bei manchem lust'gen Mahle.
[115] Stets schwimmt sie obenauf. Sie wiegt so leicht!
Wer weiß, ob sie nicht gleich mein Arm erreicht.

Sie taucht den Arm in den Brunnen und hebt eine flache Kristallschale heraus.
FRANZISKA.
Du Glückliche, zeig' mir die Schale her!
Beneidenswerte Schwester! Sie ist leer!

Sie stellt die Schale neben Gislind auf den Brunnenrand.
GISLIND.
Dafür lang' ich mir aus der Flut ein Feuer,
Das nie in deiner vollen Schale glüht!

Sie nimmt eine rauchende Kapsel aus dem Brunnen und hält sie in ihrer Rechten hoch.
DAS KIND
kniet vor Gislind anbetend nieder.
Dich hab' ich lieb!
GISLIND.
Wer ist der kleine Schreier,
Der unerwartet mir zu Füßen kniet?
FRANZISKA.
Ich glaube gar, mir will er untreu werden.
DAS KIND
zu Gislind.
So schön wie du ist niemand sonst auf Erden!

Ein zweiköpfiger, vierfüßiger Drache stürmt bellend und grunzend aus dem Wald und stellt sich mitten vor den Brunnen. Er hat [116] einen Hundekopf und einen Schweinekopf. Die Tiermasken lassen die Gesichter völlig frei, so daß die Deutlichkeit der Sprache durch nichts beeinträchtigt ist. Franziska flieht nach rechts. Gislind flieht mit dem Kinde nach links.
GISLIND.
Wie kommt der Drache in den heiligen Hain?
FRANZISKA.
Den Drachen halt' ich für ein Löwenschwein.
Mich zu verschlingen, gähnt sein schwarzer Schlund.
GISLIND.
Der Drache, scheint mir, ist ein Schlangenhund.
Mit gift'gem Geifer dringt er auf mich ein!
DAS KIND.
Ist nicht der Drache nur ein Hundeschwein?
DER HUNDEKOPF
bellt, darauf zu Franziska.
Unzucht, Laster, Ketzerei
Schleppst du im Gefäß herbei,
Um die Tugend zu vergiften,
Zu Verbrechen anzustiften,
Sie um Scham und Ehr' zu bringen –
Wart'! Nun werd' ich dich verschlingen!
FRANZISKA.
Was karg sich in die Schale mir ergossen,
Ist heilige Wahrheit, ewig dir verschlossen!
[117]
DER SCHWEINEKOPF
grunzt, darauf zu Gislind.
Unzucht, Laster, Völlerei
Führst du schamentblößt herbei!
Um die Jugend zu vergiften,
Zu Verbrechen anzustiften,
Zwingst du sie, dich anzubeten.
Wart'! Jetzt werd' ich dich zertreten!
GISLIND.
Du drohst mit Taten, die du nie vollendest.
Die heilige Nacktheit stirbt, eh' du sie schändest.
DER HUNDEKOPF
bellt, darauf zu Franziska.
Ich verlier' ob der Gewinnung
Deiner Wahrheit die Besinnung!
Durch den Trug der teufelsklugen
Wahrheit geh' ich aus den Fugen!
Wahrheit raubt mir den Verstand,
Bringt mich außer Rand und Band!
Wenn du auch die Schuld bekennst,
Bist du doch dem Heil verloren,
Hast den Herrgott abgeschworen,
Weil du Wahrheit – heilig nennst!
FRANZISKA.
Verkünd' uns nur, eh' du dich heiser bellst,
Die Lügen erst, die du für Wahrheit hältst!
[118]
DER SCHWEINEKOPF
grunzt, darauf zu Gislind.
Mir verekelt die Beschauung
Deiner Nacktheit die Verdauung!
Schmutz hält warm, ist treu und ehrlich.
Nacktheit macht gemeingefährlich.
Nacktheit lockt die Pest herbei,
Nacktheit treibt zur Raserei.
Wenn du nackt zur Schau dich stellst,
Lästerst du die Schöpfung Gottes
Durch die Krönung deines Spottes,
Daß du nackt für heilig hältst!
GISLIND
zu Franziska hinüberrufend.
Hilf, Schwester, mir, dem Drachen zu entfliehn.
Ich stehe ungeschützt, drum fürcht' ich ihn.
DAS KIND
vor Gislind kniend.
Ich kann dem bösen Hundeschwein nicht glauben.
Dich, Schöne, Reine, soll mir niemand rauben!

Der Herzog tritt in Ritterrüstung mit blankem Schwert aus dem Wald.
HERZOG
zum Publikum.
Der heilige Georg bin ich, entflammt,
Die Welt von Ungeheuern zu befreien,
Dem Schwachen meines Schwertes Schutz zu leihen.
[119] Die hohe Obrigkeit jedoch verdammt
Den Kampf. Aus Angst, daß Aberwitz und Zoten
Aussterben könnten, hat sie ihn verboten.
Wer eines Drachens Sieger worden,
Den straft der Ordensgeneral
Dafür, daß er des Volkes Qual
Gemildert, mit Ausstoßung aus dem Orden.
Doch da ich Sankt Georg, der Ritter bin,
Kämpf' ich nach Gottes und nach meinem Sinn!
DER HUNDEKOPF
nach wildem Gebell.
Du führst deinen Adelstitel auf Borg.
Nicht du, sondern ich bin der heilige Georg!
DER SCHWEINEKOPF
nach wütendem Grunzen.
Du Teufel kommst her, dich hier zu beweiben,
Mit deinen zwei Hexen Unzucht zu treiben!
HERZOG
reicht Franziska die Hand und geleitet sie zu Gislind hinüber.
Du Holde, nimm dich treu der Schwester an.
In jenes Land führ' sie mit kundigen Schritten,
In dem ihr hochgeehrt und gern gelitten.
Von diesem Gauch wird euch kein Leid getan.

Franziska, Gislind und das Kind treten in den Wald zurück.
HERZOG
zum Drachen.
Du Schweinehund! – Wie einst im Paradiese
[120] Nacktheit geehrt war, ehrt sie hier das Kind.
Und Menschen, die von Gott begnadet sind
Mit Gaben, die ich dir vergeblich priese,
Mit Einklang, Bildung, Friede, Seelengröße,
Verehren Gott in seiner Schöpfung Blöße.
Nur du, dir selbst der widerlichste Spott,
Durch Ungehorsam gegen dich und Gott
In gift'ge Zwietracht mit dir selbst geraten,
Du Hundsfott, Schweinehund und Teufelsbraten,
Willst uns das Heiligenbild, zu dem wir beten,
Aus Dummheit, Roheit, Neid zu Schmutz zertreten!
DER HUNDEKOPF
stößt ein wütendes Gebell aus und sprich.
Die Hexen mit ihrem Höllengebräu
Werd' ich hindern, ihr Gift zu verspritzen!
Zu mir fleht die Menschheit mit Jammergeschrei,
Sie vor Tod und Verderben zu schützen.
HERZOG.
Den Mut vor Hunden muß die Wahrheit dämpfen.
Denn wer kein süßres Labsal kennt
Als seines Herren Exkrement,
Mit dem läßt sich nicht um die Wahrheit kämpfen.
Der Nacktheit denk' ich strengstens einzuschärfen:
Du sollst deine Nacktheit nicht vor die Säue werfen!
[121]
DER SCHWEINEKOPF
stößt ein wüstes Gegrunze aus und spricht.
O Scheußlichkeit, von keinem Hirn zu fassen,
Daß ich mich soll als Schwein beschimpfen lassen!
HERZOG.
Bei Gott, mir steht es nicht ritterlich an,
Mit Worten Euch zu bekehren,
Denn wer die Nacktheit nicht sehen kann,
Der kann auch die Wahrheit nicht hören.
Dem Kinde mag die Nacktheit heiliger sein.
Für Wahrheit setzt der Mann sein Leben ein!
Dem Schwert gereicht es nicht zur Freude.
Zu plump ist's gegen den dickhäutigen Molch.
Doch diesen spitzgeschliffenen starren Dolch,
Den bohr' ich tödlich dir ins Eingeweide!

Der Herzog dringt mit dem Dolch auf den Drachen ein. Es folgt ein längerer Kampf. – Der Rotenburger
Polizeipräsident, in schwarzem Gehrock, ein Kettchen mit Orden auf der Brust, tritt rasch aus dem Wald.
POLIZEIPRÄSIDENT
zum Herzog.
Lassen Sie augenblicklich den Vorhang fallen! Ich verbiete Ihnen, weiterzuspielen!
HERZOG.

Mensch, wo haben Sie Ihr Kostüm? Als Ordensmeister des Johanniterordens auf Rhodus treten [122] Sie auf! Da kommen Sie mit den paar lumpigen Orden! Krämpfe kriegt man!

POLIZEIPRÄSIDENT
rot vor Zorn.
Ich verbitte mir den Ton! Ein Wort noch und ich verhafte Sie!
HERZOG.

Aber in Versen, mein Lieber! In Versen! Sie sollen mich in Versen verhaften! Mein Stück ist in Versen geschrieben. Haben Sie das vollständig vergessen?! Zum Drachen. Sein Ausdruck ist bewundernswürdig! Da arbeite ich mich auf den Proben tagelang vergeblich mit dem Künstler ab, und bei der Vorstellung trifft er plötzlich den einzig richtigen Ton und tritt dafür in einem ganz unglaublichen Kostüm auf! Das ist die moderne Schauspielkunst!


Der Drache bellt und grunzt beifällig.
POLIZEIPRÄSIDENT.

Unverschämtes Benehmen! In diesem Drachen, den Sie eben töten wollten, verspotten Sie das Publikum, das da unten sitzt. Des halb zum letztenmal: Vorhang herunter!

HERZOG.
Das Publikum da unten ist mir größtenteils unbekannt. Wen's juckt, der kratze sich!
[123]
POLIZEIPRÄSIDENT.

Besteht das Publikum da unten vielleicht aus Paradieseskindern? Nein! Besteht das Publikum aus lauter Geistesgrößen? Nein! Der normale Staatsbürger kann nun einmal die Wahrheit nicht hören und die Nacktheit nicht sehen, ohne außer Rand und Band zu geraten, ohne gemeingefährlich zu werden. Solange ich Herzoglicher Polizeipräsident in Rotenburg bin, lasse ich solch eine rohe Verhöhnung nicht zu. Meine Aufgabe ist es, die öffentliche Meinung zu schützen. Auch in einem monarchischen Staate kann sich eine Regierung nicht gegen die öffentliche Meinung behaupten. Und glauben Sie vielleicht, ich gestatte Anspielungen wie: Wer kein süßeres Labsal kennt, als seines Herren Exkrement? Wenn jetzt der Vorhang nicht fällt, sind Sie verhaftet!

HERZOG.
Eine Sekunde noch. Rennen Sie denn Ihren Herren überhaupt?
POLIZEIPRÄSIDENT.

Das geht Sie gar nichts an! Meinen hohen Herren kenne ich bei stockfinsterer Nacht durch ein sieben Zoll dickes Brett hindurch. So blödsinnig wie Sie sieht er jedenfalls nicht aus!

HERZOG.
Vielleicht ist es aber doch nur meine Maske, die Ihnen so blödsinnig erscheint?
[124]
POLIZEIPRÄSIDENT.

Maske hin, Maske her! Machen Sie keine Fisematenten! Ich bin Herzoglich Rotenburgischer Polizeipräsident. Sie werden gleich merken, was das heißt!

HERZOG.

Verzeihung! Dem Gesetze habe ich mich natürlich zu fügen. Für sich. Das störende Verhängnis, das über meinen Theaterstücken schwebt!Er ruft in die Kulisse. Vorhang!


Die Herzogin, im Gesellschaftskleid, Franziska an der Hand führend, kommt aus dem Wald.
HERZOGIN.

Diese Dame ist der Geist, mit dem mein Gemahl abends den Philosophenweg entlang zum heiligen Hain lustwandelt!


Gislind tritt, in einen Mantel gehüllt, aus dem Wald.
GISLIND
entsetzt.
Mit dem Weib? Im heiligen Hain?
HERZOG.
Das ist kein Weib.
HERZOGIN
lachend.
Natürlich ist's keins! Zu Franziska. Sind Sie vielleicht ein Engel?
[125]
HERZOG.
Für mich bist du ein Genius.
GISLIND
in Verzweiflung.
Weib? Engel? Genius? – Dazu reicht mein Verstand nicht aus! Dazu bin ich zu dumm!
HERZOG
springt ihr bei.
Gislind!
GISLIND.

Ich bin zu armselig für dich! Gib mir den blitzenden Schmuck! Der Schmuck gehört mir! Ich will ihn tragen!


Sie reißt dem Herzog den Dolch aus der Hand, stößt ihn sich in die Brust und sinkt zusammengekauert zu Boden.
HERZOGIN.
Seine erste Regierungstat!
HERZOG.
Niemand berühre die Waffe! – Man muß sie so ins Schloß tragen.
POLIZEIPRÄSIDENT
zum Herzog.

Hoheit! Nur die härteste Bestrafung gibt mir meine Menschenwürde zurück. Hoheit sehen mich in Verzweiflung darüber ersterben, daß es vor tiefster Zerknirschung nicht gelang, das Unglück rechtzeitig zu verhindern.

[126]
GISLIND
den blutigen Dolch in der Hand, hebt langsam den Oberkörper.

Wer bedauert mich? Gibt es ein höheres Glück – als auf offener Bühne – vor Zuschauern – nackt zu sterben? Sie fällt tot auf den Rücken.

HERZOG
vernichtet.
Jetzt zeigt sich's, daß ich gegen Wahnsinn versichert bin.

Veit Kunz, ohne Bart und Perücke, geleitet zwei Reitknechte herein, die eine Bahre neben der Leiche niedersetzen.
VEIT KUNZ.

Legt sie auf die Bahre und tragt sie ins Schloß. – Sie starb als Blutzeugin. Sie starb im Kampf um Seelenadel.


Die Reitknechte tragen Gislind hinaus. Alle folgen der Bahre bis auf Veit Kunz und den Polizeipräsidenten.
POLIZEIPRÄSIDENT.
Das eine Blutzeugin?
VEIT KUNZ.
Andere werden ihr folgen.
POLIZEIPRÄSIDENT.
Auch die höchste Kunst kann die Nacktheit nicht rechtfertigen.
VEIT KUNZ.

Die Kunst nicht, aber die Religion. Es handelt sich nur darum, daß Nacktheit sittlich ist und nicht unsittlich.

[127]
POLIZEIPRÄSIDENT.
Von Kunst halten Sie also auch nicht viel?
VEIT KUNZ.

Sie ist unsere treueste Dienerin. Wann wird die Kirche endlich wieder so klug sein, die Nacktheit heilig zu sprechen?

POLIZEIPRÄSIDENT.

Ihnen rate ich auf jeden Fall, mit ihrem Schützling möglichst rasch aus den Grenzen unseres Herzogtums zu verschwinden.

VEIT KUNZ.

Wie konnten Sie denn aber nicht wissen, daß Königliche Hoheit das Stück selber geschrieben haben und selber als Darsteller darin auftreten?

POLIZEIPRÄSIDENT.

Ein Herzoglich Rotenburgischer Polizeipräsident, mein lieber Herr, hat nicht die Verpflichtung, allwissend zu sein!

[128]

4. Akt

7. Bild
Siebentes Bild
Nacht. Sternenhimmel. Eine schmale Steintreppe ohne Geländer zieht sich unter Kastanienbäumen schräg an einem Wiesenabhang hinauf. In der Mitte ein breiter Treppenabsatz. – Veit Kunz und Franziska, beide in hellen Sommerkleidern, Franziska in fußfreiem Rock, sitzen auf den Stufen.

FRANZISKA.
Das weiße Kätzchen, das uns gestern abend aus der Stadt heraufbegleitete ...
VEIT KUNZ.
Ist es wieder da?
FRANZISKA.
Nein. So etwas Liebes wiederholt sich doch nicht.
VEIT KUNZ.
Es spielte ruhig um uns herum.
FRANZISKA.
Warum sollte es auch nicht?
[129]
VEIT KUNZ.
Warum? – Meinst du, daß es das auch getan hätte, wenn wir statt Menschen Katzen gewesen wären?
FRANZISKA.
Vielleicht nicht. Aus Zartgefühl.
VEIT KUNZ.
Oder aus Neid.
FRANZISKA.
Die Katzen hätten sich seine Gegenwart vielleicht auch gar nicht gefallen lassen.
VEIT KUNZ.
Uns störte es nicht.
FRANZISKA.
Im Gegenteil!
VEIT KUNZ.
Franziska ...
FRANZISKA.
Nun?
VEIT KUNZ.

Gestern abend hielt ich hier unter freiem Himmel ein Weib in den Armen und empfand dabei mit klarstem Bewußtsein die Schönheit der Natur, die uns umgab.

FRANZISKA.
Was wundert dich daran?
VEIT KUNZ.
Ich glaube, rohe Menschen können das nicht.
[130]
FRANZISKA.

Möglich. – Als ich heute abend vom Badeplatz zurückkam, waren die westlichen Schloßfelsen noch von der Sonne beleuchtet. Als Kind sah ich das oft. Aber damals, auf dem Wege zum Schloß hinauf, verdüsterte sich mir das friedliche Bild mit jedem Schritt ...

VEIT KUNZ.
Franziska! Willst du das nie vergessen?
FRANZISKA
lebhaft.

Es ist vergessen! Ausgelöscht. Deshalb erzähle ich es dir. Als ich heute die grünüberwachsenen Felsen im warmen Abendsonnenschein wiedersah, da jubelte es in mir: dieser Friede ist jetzt Wirklichkeit!

VEIT KUNZ.
St! – Du weckst die Schloßbewohner.
FRANZISKA.
Oben wohnt niemand als ein alter Kastellan.
VEIT KUNZ
blickt hinauf.
Kein Licht im ganzen Schloß!
FRANZISKA.

Und der herrliche Badeplatz! Als Kinder badeten wir an derselben Stelle. Heute kletterten die Buben wie damals in die Erlen am Bach hinauf und ließen sich aus den Baumkronen ins Wasser fallen.

[131]
VEIT KUNZ.
Sollten deine unseligen Kindheitserinnerungen nun also wirklich für alle Zeiten vergessen sein ...
FRANZISKA.
Seit gestern abend sind sie's!
VEIT KUNZ.
Und du wirst dir keinen Lebensgenuß mehr durch sie vergällen lassen ...
FRANZISKA.
Jetzt? Wo mir diese Treppe so ganz und gar anders in Erinnerung ist?
VEIT KUNZ.
Dann gib mir als Unterpfand dafür einen Kuß.
FRANZISKA.

Tausend für einen. Sie küßt ihn. Während du mich gestern in den Armen hieltst, sah ich in die Sterne über deinem Kopf.

VEIT KUNZ
sie küssend.
Mund zu und Augen zu! Schweig und sei lieb!
8. Bild
[132]
Achtes Bild
Ankleideraum im Theater der Fünftausend. Franziska in dorischem Chiton, Sandalen an den Füßen. Ralf Breitenbach als jugendlicher Simson.

FRANZISKA.
Mir vergingen die Sinne.
BREITENBACH.
Schwatz' nicht!
FRANZISKA.
Aber zurückdenken.
BREITENBACH.
Quatsch!
FRANZISKA.
Das erstemal, daß mir vollständig die Sinne schwanden.
BREITENBACH.
Schnabel halten!
FRANZISKA.
Nur fühlen.
BREITENBACH.
Fühlen? – Ich sehe und höre nichts.
[133]
FRANZISKA.
Das Denken hört auf.
BREITENBACH.
Denken? – Ich bin ein Tier.
FRANZISKA.
War ich auch. – Möchte es bleiben.
BREITENBACH.
Schnabel halten!
FRANZISKA.
Geliebter!
BREITENBACH.
Quatsch!
FRANZISKA.
Was sagte ich denn?
BREITENBACH.
Was weiß ich!
FRANZISKA.
»Mach' mich tot. Ich sterbe.«
BREITENBACH.
Das höre ich täglich.
FRANZISKA.
Deshalb gehöre ich dir!
BREITENBACH.
Aber ohne Erläuterungen!
FRANZISKA.
Geliebter!
[134]
BREITENBACH.
Wozu spiele ich den Simson:
Mich, der ich dir zu Ehren dreißig Mann
In einer Nacht zu Askalon erschlagen,
Mich, deinen Richter aus dem Stamme Dan,
Mich willst du schmachvoll zu verleugnen wagen?!
FRANZISKA
fällt ihm um den Hals und küßt ihn ab.
Je mehr Weiber du hast, desto inbrünstiger liebe ich dich!
BREITENBACH.

Möchte nur wissen, wozu Helena auch noch in der Unterwelt so leichtgeschürzt herumzustrolchen braucht! Ich ertrage das einfach nicht. Ich gehe aus den Fugen. Ich gerate außer Rand und Band. Ich werde gemeingefährlich!

FRANZISKA.

Um so wonniger für mich. – Ich bin so gekleidet, weil Helena als ganz junges Mädchen in der Unterwelt weilt, so wie sie einst von Perseus zu ihrem ersten Abenteuer nach Athen verschleppt wurde.

BREITENBACH.

Jetzt geht mir ein Licht auf! Seit drei Wochen frage ich mich schon, was der Perseus eigentlich mit dieser Höllenfahrt zu tun hat.

[135]
FRANZISKA.
Sobald Helenas spätere Schandtaten in Betracht kommen, wechsle ich doch auch das Kostüm.
BREITENBACH.

Jedenfalls haben wir uns nichts vorzuwerfen. Warum läßt er dich mit mir allein! Das ist nichts als unverschämte Prahlerei von ihm! In diesem Augenblick hat er draußen nicht das geringste zu suchen.

FRANZISKA.
Vielleicht hat ihn jemand um sein Autogramm gebeten.
BREITENBACH.

Wir spielen hier ganz einfach »Gyges und sein Ring oder wenn schon, denn schon«! Du bist die Rhodope. Welcher anständige Krieger läßt sich denn von Seinesgleichen zur Parade befehlen, ohne daß er eine Schlacht liefern darf!

FRANZISKA.
So weit hätte ich mich jedenfalls nicht entwickeln sollen!
BREITENBACH.
Entwickeln? Was heißt das?
FRANZISKA.

Ich sollte mich nach allen Richtungen möglichst weitgehend entwickeln, damit er um so mehr Anregung in mir findet. Sicherlich empfand er deine künstlerische Mitwirkung auch als Anregung.

[136]
BREITENBACH.

Anregung! – Gesunde Menschen danken ihrem Schöpfer, wenn sie von ihren Trieben nicht blindlings über den Haufen gerannt werden!


Veit Kunz im Büßerhemd, einen Strick um die Lenden, tritt hastig ein.
VEIT KUNZ.
Du bist noch nicht umgekleidet, Franziska?! Die Pause ist gleich zu Ende!
BREITENBACH.

Unsinn! Wir haben noch zwanzig Minuten Zeit. – Vergessen Sie nur nicht, gnädiges Fräulein, Ihr Haar in Ordnung zu bringen.

FRANZISKA.
Ich danke Ihnen. Sie tritt hinter einen Wandschirm.
VEIT KUNZ.

Ich wurde da draußen ganz unversehens von einem Manager festgehalten. Der Mann hat ein unermüdliches Maulwerk. Wenn ich ihn recht verstand, will er ein eigenes Festspielhaus für meine Mysterien bauen.

BREITENBACH.

Ist es nicht eine geradezu übermenschliche Anstrengung für Sie, verehrter Meister, Ihre Haut zu gleicher Zeit als Dramatiker und als Darsteller zu Markte zu tragen?

[137]
VEIT KUNZ.
Wenn das das schlimmste wäre! – Hatten Sie heute Beifall bei den Worten:
Du Satan, hieltst uns niemals hier gefangen,
Hättst du mit meinem Kalbe nicht gepflügt ...?
BREITENBACH.

..., dem unlösbaren Rätsel! Aufgegangen

Ist die Erleuchtung mir! Du bist besiegt!

Es hat jemand geklatscht. – Ich weiß nicht, verehrter Meister, ob ich Ihnen zu Dank spiele, wenn ich meinen Simson:


Er legt Veit Kunz die Hand auf die Schulter.

Den Kinnbacken vom Esel in der Hand,

Mit dem um tausend Mann ich sie geschoren! –

... wenn ich ihn als einen Gauner auffasse, der seine Stammesgenossen Adam, Noah und die drei Erzväter verächtlich über die Achsel ansieht, während er sich von Perseus, Helena und Sokrates ruhig mit der größten Geringschätzung behandeln läßt:

O Helena, aus keiner Unterwelt

Läßt Simson je sich ohne dich erlösen!

VEIT KUNZ.

Sie tun mir einen außerordentlichen Gefallen damit, mein lieber Breitenbach. Mir kam es natürlich nur darauf an, bevor die Gottheit über Satan triumphiert, das stumpfsinnig spießbürgerliche Alltagstreiben [138] zu schildern, in dem sich die Bewohner der Hölle seit Jahrhunderten mit ihren Qualen zurechtgefunden haben.

BREITENBACH.
Genau so, verehrter Meister, war meine Auffassung:
Wer will mit einem besseren Los mich äffen,

Mit einem Blicke nach Franziska.

Dreht' ich die Mühle doch in Gaza schon!
VEIT KUNZ.

In dem Augenblick, wo die Gottheit dann ihr Wunder verrichtet und mit einem Schlage in der ganzen Hölle die seit Jahrhunderten erduldeten Leiden aufhören, in dem Augenblick. ... ich weiß nicht, ob das heute richtig zur Geltung kam?

BREITENBACH
beistimmend, Veit Kunz auf die Schulter klopfend.

Satanas ist schon aufs tiefste gedemütigt. Mit hilflosem Staunen erwartet er, was aus seiner geliebten Hölle werden soll ...

VEIT KUNZ.
Da ... verzeihen Sie, ich weiß nicht mehr recht, was ich sagen wollte.
BREITENBACH.

Da sinkt alles umher mit betäubendem Jubelgeschrei in die Knie und will zu Licht und Seligkeit hinaufgeführt werden. Der ganze Orkus eine Rebellion:

[139] Weltüberwinder, lenk' uns himmelan!

Weltopfer, sei gepriesen! Ewige Zeiten

Beglückt uns, was die Welt dir Leids getan!

Das war heure abend wieder ein Eindruck beim Publikum:

Laß uns hinfort in deinen Spuren schreiten!

Solang ich beim Theater bin, habe ich nie etwas Ähnliches miterlebt!

VEIT KUNZ.
Mir fällt der Anfang des ersten Bildes immer am schwersten.
BREITENBACH.
Ich begreife. Ihre Überfahrt mit Charon, dem sie die ganze Vorgeschichte zu erzählen haben!
VEIT KUNZ.

Noch mehr strengt mich freilich der diplomatische Notenwechsel mit Cerberus an. Ich frage mich immer wieder, ob ich die Szene nicht im Interesse der Gesamtwirkung kürzen soll.

BREITENBACH.

Jedenfalls rechne ich es mir geradezu als eine Art von Lebensglück an, daß ich einmal Gelegenheit fand, an einem Ihrer Prachtwerke mitzuarbeiten.


William Fahrstuhl, Notizbuch und Bleistift in der Sand, tritt hastig ein.
[140]
FAHRSTUHL.

Verzeihung, verehrter Meister! Aber ich muß zwei Fragen an Sie richten, bevor ich meine Besprechung über die heutige Aufführung an meine Zeitung abschicke. Jetzt begreife ich ja erst, warum die Geistlichkeit einen so erbitterten Kampf gegen Sie führt.

VEIT KUNZ.

Lassen Sie mir bitte die Geistlichkeit in Frieden! Kein Geistlicher ist je so abergläubisch wie jeder gebildete Freidenker!

FAHRSTUHL.

Nochmal, bitte. Schreibend. Kein Geistlicher ist je so abergläubisch wie jeder gebildete Freidenker. – Das druckt meine Zeitung, obschon es von Ihnen ist. Schlimmstenfalls schreibt sie, es sei von Nietzsche. Aber nun die Idee unseres Mysteriums. Verzeihung, verehrter Meister! Ich bin so hingerissen, daß ich von den beiden ersten Akten nicht das geringste begriffen habe.

VEIT KUNZ.

Schreiben Sie Ihrer Zeitung: Die Gottheit verbringt einen Abend, einen Tag und einen Morgen in der Unterwelt, um die Geisteshelden der Vergangenheit von dem ihnen drohenden Fluch des Totgeschwiegenwerdens zu befreien.

FAHRSTUHL.

Verzeihung! Totgeschwiegenwerden druckt meine Zeitung nicht. Dazu muß sie einerseits zuviel Rücksicht [141] nehmen – Sie wissen ja, wie das ist! – und anderseits ist sie zu unabhängig dazu. Ließe sich nicht ein milderes Wort dafür finden?

VEIT KUNZ.
Da nennen Sie's den Fluch des Verkanntwerdens oder Invergessenheitgeratens.
BREITENBACH.

Gestatten Sie, verehrter Meister, daß ich dem Herrn William Fahrstuhl über die weiteren Hindernisse hinweghelfe. Zu Fahrstuhl. Unter den Geisteshelden der Vergangenheit, lieber Herr Fahrstuhl, befindet sich unter anderen auch Simson. Den spiele ich, wie Sie vielleicht bemerkt haben:

Herr, gib mir nur dies eine Mal noch Kraft,

Daß ich mit einem Schlag für meine armen

Augen an den Philistern Rache nehme!

Der Besieger der Hölle sucht sich nun seine Leute aus, gerät dabei in ein tief religiöses Gespräch mit Sokrates, aber Simson gegenüber, der sich mit Perseus fortgesetzt um Helena katzbalgt:

Nicht dir allein lacht dieses Weibes Gunst!

... Simson gegenüber zweifelt er noch, ob er ihn in sein himmlisches Reich mitnehmen soll. Damit schließt der zweite Akt. Der erste, wie Ihnen viel leicht noch in Erinnerung ist, fand sein Ende in der ersten Begegnung zwischen der erlösenden Gottheit und dem Beherrscher der Unterwelt.

[142]
FAHRSTUHL.

Danke sehr! Ich lege mir Ihre ganze Höllenfahrt bei mir zu Hause schon so zurecht, daß sie sich für meine Zeitung eignet.


Franziska, reich geschmückt, in hellrotem Übergewand, tritt hinter dem Wandschirm vor.
FAHRSTUHL.

Sieh da! Helena! Ich habe noch keinen Schauspieler um seinen Beruf beneidet. Der Mann lernt auswendig und erzählt's dem Publikum weiter. Aber Schauspielerin! Die Unmenge Einladungen zum Abendessen und was damit zusammenhängt! Meinen Vater schlüg' ich tot, wenn es mir dadurch möglich würde, Schauspielerin zu werden!

BREITENBACH.

Der Künstler, wissen Sie, hat überhaupt keinen Beruf, wie der Arzt oder der Fabrikbesitzer. Der Künstler, Maler, Musiker, sei er, was er sei, sucht sich nur mit möglichst geringem Kostenaufwand einen möglichst ausgiebigen Lebensgenuß zu verschaffen.

FRANZISKA.

Immer gelingt es ja auch nicht. Ich kenne ein Mädchen, das Malerin werden wollte, aber keine Begabung dazu hatte. Darauf wollte es Bildhauerin werden, hatte aber auch dazu keine Begabung. Darauf wollte es Tänzerin werden, hatte aber auch dazu keine Begabung. Schließlich wurde es Schneiderin.

[143]
FAHRSTUHL.

Ist das nicht großartig, wie viele Entwicklungsmöglichkeiten einem jungen Mädchen in unserer Zeit offenstehen?!

VEIT KUNZ.

Vor fünfhundert Jahren hätte man sie längst als Hexe verbrannt gehabt, bevor sie bei der Schneiderin angelangt gewesen wäre.

FRANZISKA.
Bist du verstimmt?
VEIT KUNZ.

Im Gegenteil! Es fiel mir nur eben ein Gleichnis dafür ein, worin denn eigentlich die Bedeutung aller Kunst besteht.

BREITENBACH.
Nun, verehrter Meister? Ich bin aufs äußerste gespannt!
FAHRSTUHL.

Einen Augenblick! In seinem Notizbuch blätternd. Dazu brauche ich eine neue Seite. Meine Zeitung druckt ein Feuilleton darüber.

VEIT KUNZ.

Kunst ist der Spiegel, in dem der Mensch seine Lebensfreude betrachtet. Denn solange ihm das Leben nur Unannehmlichkeiten bringt, hat er keine Zeit und keine Lust, in den Spiegel zu sehen.

[144]
FAHRSTUHL
schreibend.
Das stimmt. Davon kann ich ein Liedchen singen.
FRANZISKA.
Und weiter?
VEIT KUNZ.

Nun wirkt aber der Spiegel belebend und anregend auf den zurück, der sich darin spiegelt, da der Glückliche nicht nur die Freude, die er selber empfindet, sondern obendrein auch den Anblick des Spiegelbildes seiner Freude genießt. Dadurch wird nun aber auch das Spiegelbild wieder um ebensoviel belebter und angeregter. Und so feuern und spornen sich die beiden, Mensch und Spiegelbild, gegenseitig zu immer wilderem Genießen an, bis ...

BREITENBACH.
Bis der Mensch seinem eigenen Spiegelbild ins Gesicht speien möchte.
FRANZISKA.
Oder bis er vor seinem Spiegelbild behaglich einschläft.
FAHRSTUHL.

Oder bis die hohe Obrigkeit kommt und den Spiegel in tausend Scherben schlägt! Punktum! Schluß! Meine Zeitung bezahlt mir drei Pfennige mehr für die Zeile. Aber was ist das für ein dumpfes Donnergepolter? Das tönt ja, weiß Gott, wie wenn im Herbst die Kartoffeln in den Keller hinunterkollern.

[145]
FRANZISKA.

Das ist der Chor der Schatten. Da jeden Abend einige Neulinge dabei sind, muß der Chor vor Beginn des Spieles immer noch einmal besonders eingeübt werden.


Ein Regisseur, einen Taktstock schwingend, tritt rückwärts schreitend von der einen Seite auf. Ihm folgt ein Zug in graue Schleier gehüllter Mädchen.
Der Zug bewegt sich langsam quer durch den Raum und geht nach der entgegengesetzten Seite ab.
REGISSEUR.
Links, zwei, drei! Rechts, zwei, drei! Links, zwei, drei! Rechts!
DIE MÄDCHEN
singen.
Unter regenschweren Weiden,
Von schaurigem Nebel umwallt,
Ohne Taten, ohne Freuden,
Von Kindheit auf müd und alt,
Soweit das Erinnern streift,
Der Menschheit fremd,
Rasch verbraucht, nie gereift,
Zwischen Pflicht und Not geklemmt,
Abgesperrt vom berauschenden Licht,
In der eignen Finsternis blind –
Das glückliche Weltall darf uns nicht
Schauen, wie wir sind.
Erst halb verhüllt, dann ganz verhüllt,
[146] Schleichen wir bang einher.
Kindheitshoffen blieb unerfüllt,
Kopf und Brust sind leer.
Durch Schmeicheln gewonnen,
Umwedelt, getäuscht.
Und eh' wir entronnen,
Schon sind wir zerfleischt.
Denn der Herr mit dem finstern Blick,
Grimmerfüllt, von wildem Gebaren,
Ungelenkig, mit wirren Haaren,
Gibt uns nicht mehr der Welt zurück. –
Oder dann aufs Blut gequält,
Mit bellendem Magen,
Weil Trank und Speise fehlt,
Selbst unsere Mörder erjagen? –
Ohn' ein Wissen, von wo wir kamen,
Ohn' ein Ahnen, wohin's uns treibt,
Ohne Sprache und ohne Namen.
Sag' ein Gott, wo ein Ausweg bleibt!
Ewig schreckt uns des Hades Flut
Durch Zähneklappen und Stöhnen. –
Aber trinken wir einmal Blut,
Dann sind wir die mächtigen Schönen!

Lauter.

Aber trinken wir einmal Blut,
Dann sind wir die mächtigen Schönen!
[147]
FAHRSTUHL.

Jammerschade, verehrter Meister, daß man von den Reizen der mitwirkenden Damen so blutwenig zu sehen bekommt. Sie müßten das notwendig ändern!

VEIT KUNZ.

Wenn es dir recht ist, Franziska, dann sprechen wir, bevor der Vorhang aufgeht, rasch unsern großen Dialog noch einmal durch.

FRANZISKA.
Mit Vergnügen, wenn du es für nötig hältst.

Sie stellen sich einander gegenüber.
VEIT KUNZ.
Wir beginnen an der Stelle, wo im Publikum regelmäßig der sarkastische Widerspruch einsetzt.
FRANZISKA.
Mir ist jede Stelle recht.
VEIT KUNZ.
Ich muß die Macht für größeres mir bewahren.
Doch steigt herab und hebt zum Himmel dich
Vielleicht ein Andrer in zweitausend Jahren.
FRANZISKA.
Weißt du, daß mein Geschick dem deinen glich,
Daß wir, obwohl getrennt durch Ewigkeiten,
Denselben Weg genommen, du und ich?
[148]
VEIT KUNZ.
Um eitles Nichts laß uns nicht länger streiten:
Mir fehlt der Wunsch, dir fehlt für mich der Glaube.
Ich kann die Heidin nicht zum Licht geleiten!
FRANZISKA.
Der Schwan ein Greuel, ein Idol die Taube!
Tyndareos, meiner Mutter Gatte, hört
Kein Lob aus dem ihm abgezwungenen Raube.
VEIT KUNZ.
Wenn ein Erschüttern durch das Weltall fährt,
Und sich der Held bekennt als größten Sünder,
Dann ist verloren, wer auf dich noch schwört!
FRANZISKA.
Zehn Jahr alt waren wir als Wunderkinder
Umschwärmt, ich in Athen, auf Zion du! –
Besiegt fleh' ich zu meinem Überwinder.
VEIT KUNZ.
Was gelt' ich dir in deiner üpp'gen Ruh'?! –
Wie ich aus diesem Dasein mich entferne,
Trägt in der Welt sich nicht noch einmal zu.
FRANZISKA.
Ich ward gehenkt und dann unter die Sterne
Versetzt. Laß mich des Heils teilhaftig sein,
Daß ich bei euch mich zu verleugnen lerne!
[149]
VEIT KUNZ.
Leg' der Verführung gleißnerischen Schein
Erst ab! Begnüg' dich ruhmlos mit Gebären!
Du bist der Hölle Helferin allein!
FRANZISKA.
Erhöht entring' ich mich den dunklen Sphären.
Darf ich erst fesselfrei im Lichte weilen,
Wird sich mein Bild so rasch wie deines klären.
VEIT KUNZ.
Weh dir! Schon seh' ich düstre Flammensäulen!
Jahrhundertlang der Abergläubigen Beute,
Wirst schuldlos du gemartert kreischen, heulen!
FRANZISKA.
Dann aber führt durch unbegrenzte Weite
Gemeinsam uns der Weg vor Gottes Thron.
Dann wandle ich gleichberechtigt dir zur Seite.
VEIT KUNZ.

Doch nicht, eh' zwei Jahrtausend noch entflohn!

Sehr gut! Ausgezeichnet! Nur würde ich die Worte: »Dann wandle ich gleichberechtigt dir zu Seite« mit etwas mehr innerer Wärme sprechen.

BREITENBACH.

Ganz meine Ansicht. Sie müßten etwas mehr Seelenglut hineinlegen. Übertreibend, zwischen Veit Kunz und Franziska tretend.

»Dann wandle ich gleichberechtigt dir zur Seite!«

[150]
FRANZISKA
wird von einem heftigen Lachkrampf geschüttelt.
VEIT KUNZ.
Da geschah etwas!
BREITENBACH.
Finden Sie nicht, verehrter Meister, daß sich das Gelächter ganz vorzüglich für diese Stelle eignet?
VEIT KUNZ.
Was heißt das, Franziska?!
FRANZISKA
beginnt sich lachend in wildem Tanze zu drehen.
VEIT KUNZ
schreit entsetzt.
Ich will Wahrheit!

Franziska stürzt lachend und tanzend hinaus. Veit Kunz folgt ihr.
FAHRSTUHL
zu Breitenbach.

Erzählen Sie mir jetzt bitte noch rasch den Inhalt des letzten Aktes, sonst wird meine Besprechung vor Mitternacht nicht mehr fertig!

BREITENBACH
sehr ruhig.

So geistreich ist doch unser Mysterium nicht, daß Sie sich das nicht selber zusammenreimen könnten! Im dritten Akt erkläre ich, Simson, daß ich ohne Helena die Unterwelt unter keinen Umständenverlasse:

[151] Aus keiner Höllenqual, o Helena,

Läßt Simson je sich ohne dich befreien!

FAHRSTUHL
schreibend.
Weiter! Weiter! Die Minuten sind kostbar! Was geschieht weiter?
BREITENBACH.

Dann legt sich Sokrates ins Mittel und beweist mir, Simson, daß sich mir die Gelegenheit, von all meiner Sündenstrafe loszukommen, nicht so leicht wieder bietet. Ich gebe Helena den Abschiedskuß, ich empfehle sie der freundlichen Obhut meines Höllenfreundes Perseus und dann folgen wir einträchtiglich, Adam, Noah, die drei Erzväter, ich im Verein mit Sokrates, Platon und Aristoteles unserm Befreier in ein schöneres Dasein.


Lautes Geschrei hinter der Szene.
FAHRSTUHL.

Das ist zum Verzweifeln, daß man sich hier nicht einmal in Ruhe seinen Zeitungsartikel diktieren lassen kann!


Franziska tanzt in wildem Taumel mit den Mädchen des Chores herein. Alle drehen sich unter Dudelsacksklängen mit fliegenden Haaren, wie von
Wahnsinn erfaßt, um sich selber. Sie sind mit Tierfellen umgürtet, mit Efeu und Blumen bekränzt[152] und schwingen Thyrsosstäbe und Schellentrommeln in den Händen. – Veit Kunz folgt ihnen, ruhig beobachtend, und stellt sich im Proszenium so, daß er Breitenbach gegenübersteht.
FAHRSTUHL
in heller Verzückung.
Da kommen die Weiber wieder! Und gänzlich verändert! Es wird einem ganz übernatürlich zumute!
DIE MÄDCHEN
singen.
Blut haben wir getrunken,
Uns dürstet nach Blut.
Entfacht sind die Funken.
Die peitschende Glut
Jagt über alle Schranken
Uns blitzschnell hinaus.
Die Berggipfel wanken,
Zertrümmern das Haus.

Jauchzt auf durch die Täler!
Klagt durch den dunklen Wald!
Wir haben unsern Quäler
In finsterm Hinterhalt
Lebendig zerrissen
In unersättlicher Wut.
Als wir ihn totgebissen,
Sprangen wir in die Flut.

[153] Da kühlten uns die Glieder
Die Wasser wundersam.
Nun tanzen wir wieder
Und lachen aller Scham.
Zu dulden, zu dienen,
Des wird kein Weib mehr froh.
Die Herrscherin ist erschienen,
Wir herrschen ebenso.

Warum tanzten und sangen
Wir nicht seit Anbeginn!
Wenn wir die Gerte schwangen,
Welch köstlicher Gewinn!
Uns Tieren, ins Joch gebogen,
Der Menschheit angetraut,
Uns bleibt der Mensch noch gewogen,
Auch wenn ihm vor uns graut!

Die Mädchen tanzen unermüdlich weiter.
DER REGISSEUR
kommt eilig nach vorn und ruft.
Ruhe! Ruhe! Ruhe! – Zu Veit Kunz. Die Ludersch lassen sich einfach nicht bändigen!
FAHRSTUHL
zu Veit Kunz.

Das ist der reine heilige Sankt Veitstanz! Zum Regisseur. Gehören denn diese Menaden nicht mit zu unserem Mysterium?

[154]
REGISSEUR.
Fällt ihnen gar nicht ein! Ich begreife nicht, wo sie den Tanz her haben!
FAHRSTUHL
triumphierend.
Tanzwut ausgebrochen! Nymphomanie! Flagellantismus! Er ruft. Ärzte! Rettungsgesellschaft! Feuerwehr!
FRANZISKA
sinkt Breitenbach an die Brust und küßt ihn.
Deiner Küsse, holder Buhle,
Bin ich lange noch nicht müd.
Lehr' mich du in strengster Schule,
Wie der Körper Funken sprüht. –
Dort ist ein Prophet zu sehen,
Der sich meiner sicher fühlt.
Hab' ihm drum im Handumdrehen
Einen Schabernack gespielt.

Franziska tanzt mit Breitenbach hinaus. Alle übrigen folgen bis auf Veit Kunz.
VEIT KUNZ
allein.
Aus! Hin! Verloren! Mein Geschöpf! Warum
War's mein? Gab ich ihr mehr, als sie mir gab?
Ich hohler Kahlkopf baute dreist und dumm
Auf ein Gesetz, das Menscheneigentum
[155] Durch Opferfreudigkeit aus Menschen macht!
Besitz an Menschen! Wie vernichtend hab'
Den Torenwahn ich tausendmal verlacht!
Doch durch Selbstlosigkeit ... Veit Kunz! Au weh!
Selbstlosigkeit heißt: vier mal vier gleich zwei
Bei dir und andern Narren. Ich versteh'
Mein Einmaleins genau. Ich schreie laut:
Zwei sind's, nur ist ein Stärkerer jetzt dabei!
Da steckt der Rechenfehler. Und man baut
Mir ein Theater noch dafür! Tragödien,
Komödien, endlos wiederholt, entschädigen
Mich Jammerhelden nie. O grimmer Fluch!
Ein halb Jahrhundert alt und nichts, was mein
In Gottes Schöpfung! Vorher schrie entsetzlich
Vor Armut ich! Jetzt gilt's nur den Versuch
Noch mit dem Strick!

Er reißt sich den Strick vom Leib.

Schnür' mir die Kehle zu
Enger als Höllenschmerz! Der Strick wird plötzlich
Die klarste Lösung des Mysteriums sein!

Er hat sich den Strick als Schlinge umgelegt.

Die Schlinge zu, dann hast du endlich Ruh'!

Er zieht kräftig zu und gleitet bewußtlos zu Boden. – Nach einer Pause, röchelnd.

Entwicklung! – Heilige Zuversicht! – Die Schlinge
An meinem Hals! – o Spott! – entwickelt sich.
[156] Dann wohl auch ich! Fast scheint mir, ich bezwinge
Den Höllenschmerz, ich überlebe mich.
Zermalmend siegt das Weiterleidenwollen.
Sie hätt' so weit sich nicht entwickeln sollen!
Ganz nah daran. Dann halt. Je mehr gefährdet
Schien sie ein um so köstlicheres Gut.
Fluch meinem Spiel! Dem Stolz! Dem Übermut!
Als welch ein Maulheld hab' ich mich gebärdet:
Versicherungsbeamter, Sklavenhalter,
Gesangsmagister, Kuppler, Diplomat,
Hanswurst, Schriftsteller, Schauspielakrobat,
Marktschreier, Bräutigam noch in meinem Alter,
Erpresser, Heiratsschwindler, Bauernfänger,
Revolverjournalist und Bänkelsänger,
Um jetzt im Überschwang von Hochgefühlen
Als dümmster Narr den lieben Gott zu spielen!
Nicht Unglück, Ekel nur, mit Haß gepaart,
Kann mich, der unzerbrechlich schien, zerstückeln.
Mag sich die Welt, so schön sie will, entwickeln!
Ich schließe ab mit dieser Höllenfahrt!

Er zieht die Schlinge noch einmal kräftig zu und sinkt ruckweise zusammen. Pause. Freiherr von Hohenkemnath, auf den Arm eines Livreebedienten gestützt, einen Krückstock in der Rechten, tritt ein.
HOHENKEMNATH.
Da ist sie nicht! – Da ist überhaupt kein Mensch! –
Sonderbar! – Wo führen Sie mich denn hin? –
[157]

Veit Kunz bemerkend. Da – da liegt etwas. Bemüht sich zu einem Sessel. Lassen Sie mich hier nieder sitzen und sehen Sie erst einmal nach, was da liegt.

DER DIENER
Veit Kunz betastend.
Der ist tot.
HOHENKEMNATH.
Warum nicht gar! So liegt kein Toter. Schauen Sie nur etwas genauer nach.
DER DIENER
Veit Kunz rüttelnd.
Nein, Exzellenz, mit dem ist es aus. Einen Strick hat er um den Hals.
HOHENKEMNATH.

So, so. – Dann – dann schneiden Sie den Strick durch. Rückt mit dem Stuhl näher und reicht dem Diener sein Taschenmesser. Hier haben Sie ein Messer. Vielleicht geht es am besten mit dem Sektöffner. Veit Kunz betrachtend. Ist das nicht? – Das ist doch der Darsteller, der die Hauptrolle agiert. Der nimmt seine Rollen aber ernst!

DER DIENER
hat den Strick durchschnitten.
Es ist wahr, Exzellenz. Der lebt noch.
HOHENKEMNATH.
Da haben wir glücklich noch einem das Leben gerettet.
[158]
VEIT KUNZ
öffnet die Augen und blickt wirr umher.
Zu Hohenkemnath. Wer sind Sie?
HOHENKEMNATH.

Ich bin der Baron Hohenkemnath. Ich komme in den Zirkus, um die kleine Eberhardt noch einmal zu begrüßen. Zum Diener. Füllen Sie eine Schale mit Wasser und kühlen Sie dem Herrn die Schläfen.

VEIT KUNZ
sich halb aufrichtend.
Verzeihen Sie, Herr Baron, meine Formlosigkeit. Ich habe sehr viel von Ihnen erzählen hören.
HOHENKEMNATH.

Ja, ja, ich habe das Mädel gekannt. Ist sie nicht hier? Ich wollte ihr noch einmal in die Augen sehen.

VEIT KUNZ
den Strick in der Hand, schreit auf.
Wer zerschnitt den Strick?!
HOHENKEMNATH.

Seien Sie froh, Sie junger Mann! Das Sterben überlassen Sie mir. Ich fahre heute noch ins Sanatorium. Deshalb eben. Zum Diener, der mit einer Schale Wasser ankommt. Helfen Sie dem Herrn auf einen Sessel.

VEIT KUNZ
sich setzend.
Sie waren ihr erster Freund?
[159]
HOHENKEMNATH.
Also ihretwegen! – So! – Ich verstehe es. – Aber wozu?
VEIT KUNZ.

Sobald ich sie aus den Krallen des Wahnsinns befreit hatte! Auf der Treppe ihres väterlichen Schlosses!

HOHENKEMNATH.

Ein edles Menschenkind! Da Veit Kunz von Schluchzen geschüttelt wird. Verzeihung! Ich begreife Sie – beneide Sie –

VEIT KUNZ.
Mich? – Um was?
HOHENKEMNATH.

Ich war schon reichlich alt, als wir uns kennen lernten, in der Sommerfrische in einem Alpendorf, als sie mir vorlas.

VEIT KUNZ.
Um ein winziges bißchen zuviel Freude, die ich an ihr haben wollte, alles, alles verloren!
HOHENKEMNATH.

Ihr Geliebter war ich nie. Ich sag' es ganz offen. Sie war noch reichlich jung. Das hätte uns zwar beide nicht gestört. Sie am allerwenigsten. Wo ist sie nur?

VEIT KUNZ.
Ich Tölpel, der ich sie zu kennen glaubte!
[160]
HOHENKEMNATH.

Aber was kennt man denn! Haben Sie schon einen Mann gekannt, der seine Frau gekannt hat? Oder umgekehrt? Als sie sich heirateten, da kannten sie sich. Oder ein Kind, das seine Eltern gekannt hat? Das ist rein logisch schon ganz und gar unmöglich.

VEIT KUNZ
reicht Hohenkemnath die Sand.
Ich muß mich noch etwas verschnaufen. Dann ruf' ich sie.
HOHENKEMNATH.

Ich wollte sie heiraten. Gar keine Verpflichtungen hätte sie gehabt. Wer weiß, wie bald wäre sie jetzt selbstherrliche Freifrau auf Hohenkemnath. Sie war sich zu gut dazu. Mit siebzehn Jahren. Ein loses Mädel.

[161]

5. Akt

9. Bild
1. Szene
Erste Szene
Franziska in leichtem, geschmackvollem Sommerkleid. Dr. Hornstein. Der kleine Veitralf, vier Jahre alt, sehr sorgfältig gekleidet.

DR.

HORNSTEIN das Kind auf den Knien haltend. Sie werden sehen, Frau Eberhardt, der Bub erholt sich jetzt viel rascher wieder, als Sie glauben. Bei dem prachtvollen Wetter lassen Sie ihn nur recht viel im Freien spielen. Springen und Laufen kann er ja natürlich noch nicht. Und dann denken Sie jetzt vor allen Dingen an sich selber. Die Anstrengung, die sie durchgemacht haben, werden Sie wohl noch ein halbes Jahr spüren. Lassen Sie sich jetzt nur zu allem hübsch Zeit. Was hilft es Ihrem Buben, wenn Sie sich durch übertriebene Aufregung um Ihre Kräfte bringen.

[162]
FRANZISKA.
Essen kann er jetzt also wieder alles, was auf den Tisch kommt?
DR.

HORNSTEIN. Nur kein rohes Obst! Fleisch und Gemüse, soviel er Lust hat. Auch Mehlspeisen.Zum Kind. Nicht wahr, Veitralf, Reisauflauf mit Apfelmus! Schmeckt dir das?

VEITRALF.
Das glaub' ich.
FRANZISKA.
Und baden darf ich ihn wie gewöhnlich?
DR.

HORNSTEIN. Gewiß! Nur daß Sie sich selbst dabei nicht anstrengen. Stellt das Kind auf die Füße. So, Veitralf! Ja, ja, Sich erhebend. bis man so einen kleinen Weltbürger wieder in Ordnung bringt ... aber er hat eine gute Natur, Streichelnd. unser Veitralf. Da brauchen Sie sich gar nicht zu ängstigen.

FRANZISKA.
Hoffen wir nur!
DR.

HORNSTEIN. Fällt Ihnen irgend etwas auf, dann telephonieren Sie einfach. Und jetzt, liebe Frau Eberhardt, erholen Sie sich von ihren schlaflosen Nächten. Ich muß jetzt zu dem Vorarbeiter aus der Papiermühle hinüber. Was es für Zufälle gibt! Seit zwanzig [163] Minuten steht die Maschine still. Der kommt ahnungslos mit der Ölkanne, knacks, bricht sie ihm den Arm.

FRANZISKA.
Wann kommen Herr Doktor wieder?
DR.

HORNSTEIN. Alles wieder geheilt. Geht in vierzehn Tagen in die Fabrik. – Ich komme schon wieder vorbei. Grüß' dich Gott, Veitralf! Grüß' den Onkel schön von mir ...

VEITRALF.
Den Onkel Karl?
DR.
HORNSTEIN. Just den mein' ich. Du kennst mich. Grüß' den Onkel Karl von mir.
VEITRALF.
Den grüße ich schon!
FRANZISKA.
Herr Doktor ...
DR.
HORNSTEIN. Liebe Frau Eberhardt ...
FRANZISKA.
Nun?
DR.

HORNSTEIN. Die Sache geht mich nichts an. Sie haben vollkommen recht. Aber – ich spreche ganz offen – der Mensch liebt Sie.

[164]
FRANZISKA.
Herr Doktor ...
DR.

HORNSTEIN. Sie denken, daß ich das Ehestiften als Nebenberuf betreibe? Keine Idee. Ich habe mich nie damit abgegeben. Aber den Karl Almer, den kenne ich doch seit zehn Jahren. Er hatte sich eine Lungenentzündung geholt. War fast so schlimm dran, wie jetzt unser Veitralf. – Wie sich der Mensch verändert hat, seit er Sie kennt. Nein, so was erleb' ich nicht wieder!

FRANZISKA.
Ich habe ein Kind.
DR.

HORNSTEIN. Das ist es ja gerade, daß Sie ein Kind haben! Das ist ja das Prachtvolle! – Komm, Veitralf. Sag' der Mama, sie soll dir den Gefallen tun und den Onkel Karl heiraten.

VEITRALF.
Mama?
DR.

HORNSTEIN. Gehen Sie, machen Sie dem Kind die Freude. Sie geben dem Kind einen Vater. Einen grundbraven Kerl. Und wie liebt er das Kind. Seien Sie doch kein solcher Don Quichote, liebe Frau!

FRANZISKA.

Was soll ich darauf antworten, Herr Doktor? Karl [165] Almer ist mir ein lieber Freund. Er ahnt von dem allem nichts.

DR.

HORNSTEIN. Da kennen Sie ihn schlecht. Wenn Sie einmal unfreundlich mit ihm waren, das merk' ich dem sofort an. Tagelang merk' ich das. Dann schimpft er nämlich auf alle Bilder, die er gemalt hat. – Aber schlafen tun Sie jetzt gut?

FRANZISKA.
Schlafen? Jetzt? Wie kommen Sie darauf?
DR.
HORNSTEIN. Weil Sie mir einmal sagten, daß Sie früher an Schlaflosigkeit gelitten haben.
FRANZISKA.

Sobald der Bub die Augen zugetan hat, falle ich nur so hin. Manchmal schreckt's mich wohl noch auf in der Nacht, wenn er sich regt. Aber gegen früher? Nein, Herr Doktor, das kenne ich nicht mehr, seit ich den Veitralf habe. Gott sei Dank, daß die Zeiten vorbei sind!


Man hört eine alte Küchenglocke läuten.
VEITRALF.
Der Onkel Karl! Der Onkel Karl! Er eilt hinaus.
FRANZISKA.
Nicht so wild, Veitralf! Du schadest dir!
[166]
DR.
HORNSTEIN. Lassen Sie ihm seine Freude, Frau Eberhardt. Ich freue mich ja auch.

Beide folgen dem Kind nach dem Hausflur.
2. Szene
Zweite Szene
Veit Kunz. Franziska.

VEIT KUNZ.
Du bist so entsetzt? So zu Eis erstarrt? – Du scheinst mich gar nicht erwartet zu haben.
FRANZISKA.
Weiß Gott, nein! Warum sollte ich das?
VEIT KUNZ.

Dann bitt' ich um Entschuldigung. – Breitenbach sagte mir, er fahre Dienstag nachmittag hierher, um sich mit dir zu besprechen. Heute ist doch Dienstag? Da die Angelegenheit auch mich betrifft, bat ich ihn, dir zu schreiben, daß ich an der Unterredung gerne teilnehmen würde.

FRANZISKA.

Was ist das für eine Angelegenheit? – Von Breitenbach habe ich, unberufen, seit Jahren nichts gehört.

[167]
VEIT KUNZ.

Ich habe sonst nur geschäftlich mit ihm zu tun. Ich bin dir ja auch wohl völlig aus den Augen entschwunden. Ich habe schwer durch müssen, seit du mir den Schabernack spieltest.

FRANZISKA.
Herr – wollen wir nicht von etwas anderem reden?
VEIT KUNZ.

Franziska! – Als ich dich an jenem Sommerabend im Hause deiner Mutter überraschte, als ich durchs Fenster einstieg und dir meinen Hokuspokus anpries, war ich eine verlorene Existenz. Genau dasselbe hatte ich ohne die geringste Wirkung bei anderen versucht. Aber du erfülltest mich vom ersten Augenblick an mit einem solchen Selbstvertrauen. Deine Gegenwart machte mich so sicher, so waghalsig, so tollkühn, du fachtest einen solchen Größenwahn in mir an, daß ich, solange du zu mir hieltst, über alles Mißgeschick hoch erhaben war.

FRANZISKA.
Aber die Beziehungen zu gekrönten Häuptern unterhieltst du doch damals schon?
VEIT KUNZ.

Wo lebt ein Abenteurer, der die nicht hat? Es wird nie was daraus, wenn man selber nicht Fürst [168] wird. Ich bin's geworden. Fürst im Reiche der Pechvögel! Schwere Repräsentationspflichten!

FRANZISKA.
Mit jedem Wort muß ich fürchten, Sie zu verletzen.
VEIT KUNZ.
Sie?
FRANZISKA.
Dich!
VEIT KUNZ.

Hast du übrigens schon gehört? Der Herzog von Rotenburg, in dessen Festspiel wir damals den kolossalen Erfolg hatten, mußte abdanken.

FRANZISKA.
Das bedaure ich um deinetwillen. Meine Existenz ist gesichert.
VEIT KUNZ.
Durch des alten Hohenkemnaths Vermächtnis. Eine Lebensrente, wie man sich erzählt.
FRANZISKA.
Wenn ich dir mit einem monatlichen Zuschuß ...
VEIT KUNZ.

Franziska! Was fällt dir ein! Ich bin Direktor eines Detektivbüros! Meine Geschäfte umklammern den Erdball! Breitenbach läßt schon seit vier Jahren seine Frau durch mich überwachen. Einmal war ich schon mit ihr in Paris. Er bezahlt mir das [169] mit einem ansehnlichen Monatsgehalt. Aber es ist ein Ding der Unmöglichkeit, ihn von ihrer Untreue zu überzeugen.

FRANZISKA.
Wollen Sie mich bitte damit verschonen.
VEIT KUNZ.
Sie?
FRANZISKA.

Warum denn nicht? So fremd, wie wir einander geworden sind. Sie sagten mir noch immer nicht, was Sie herführt.

VEIT KUNZ.

Das wird Ihnen Breitenbach sagen. Allerdings habe ich auch ein Privatanliegen an Sie. Der alte Hohenkemnath ist tot. Aber damit stehen Sie auch allein in der Welt. Er versicherte mir selbst, daß es nie zu Vertraulichkeiten zwischen euch gekommen ist. Wenn du mir erlauben wolltest – es ist ein Herzensbedürfnis, dem ich damit Ausdruck gebe – erlauben wolltest, von heute, bis ich sterbe, seinen Platz in deinem Leben auszufüllen?

FRANZISKA.

Ich begreife den Sinn deiner Frage nicht. Was hättest du davon? Wer ließ sich träumen, daß aus dir ein solcher Gefühlsmensch wer den könnte!

VEIT KUNZ.

Das erklärt sich leicht. Seit vier Jahren denke ich [170] in jeder Minute, in der ich allein bin, und ich bin viel allein, an die Zeiten, die ich mit dir verlebte. Wie an eine überirdische Herrlichkeit denke ich daran zurück, von der ich nie mehr kosten werde ... Vielleicht verstehst Du mich jetzt.

3. Szene
Dritte Szene
Breitenbach. Die Vorigen.

BREITENBACH
eintretend.

Sonderlich freundlich wird man hier nicht empfangen. Guten Tag, Veit Kunz! Ich habe mich verspätet. Ich wollte vor dir da sein, aber auf der Bahn traf ich natürlich jemand, der es auch nicht verschmerzen kann, daß ich mich nicht mit Weltverbesserungen befasse.

FRANZISKA
im Begriffe, sich zu entfernen.
Es ist sicher das richtigste, wenn ich die Herren allein lasse.
BREITENBACH.

Verzeihen Sie! Seit mehreren Jahren erhalte ich alle paar Monate eine Vorladung von einem sogenannten Vormundschaftsgericht. Darüber wollte ich gerne mit Ihnen sprechen.

[171]
FRANZISKA.

Ich wurde als Zeugin vernommen, und man forderte mir einen Eid ab. Darauf konnte ich nicht schweigen.

BREITENBACH.
Mich haben Sie als Vater Ihres Kindes bezeichnet.
VEIT KUNZ.
Mich! Mich! Ich erhielt die gleichen Vorladungen.
FRANZISKA.
Was haben die Herren geantwortet?
BREITENBACH.
Ich habe meine Aussage verweigert.
VEIT KUNZ.
Ich tat dasselbe.
BREITENBACH.
In Wirklichkeit kann doch schließlich nur einer der Vater sein.
VEIT KUNZ.
Das war auch meine Ansicht.
BREITENBACH.
Zwei Väter zu einem Kind, das ist einfach unsittlich. Dann schon lieber gar keiner.
FRANZISKA.
Das war mein sehnlichster Wunsch! Ich habe mich weiß Gott nach keinem umgesehen.
[172]
VEIT KUNZ.

Immerhin finde ich es weniger unsittlich, von zwei Männern ein uneheliches Kind zu haben, als von einem zwei.

FRANZISKA.

Warum denn? Eine Mutter, die mit der Welt im Einklang lebt, versteht sicher mehr von Erziehung, als ein Elternpaar, das sich täglich in den Haaren liegt.

VEIT KUNZ.

Als Kriminalbeamter bedaure ich, daß wir uns über diese Frage nicht vor einem hohen Gerichtshof auseinandersetzen können. Das Gesetz zieht jeden einzelnen Fall in Betracht, der im Leben überhaupt möglich ist. Dir dürfte es mit deiner anmaßenden Behauptung aber schwerlich recht geben.

BREITENBACH.

Sicherlich nicht! Wenn heute der Hexenhammer noch in Anwendung gebracht würde, dann weiß ich jemand, dessen Asche längst in die vier Winde zerstreut worden wäre!

VEIT KUNZ.

Die Hexenverbrennungen waren die erste gesunde Auflehnung gegen alles das, was heute als Frauenemanzipation die sittliche Weltordnung auf den Kopf stellen möchte.

[173]
FRANZISKA.

Wenn zwei Männer, wie ihr es seid, sich gehörig ins Zeug legen, dann gelingt es euch vielleicht auch heute noch, mich als Hexe verurteilen zu lassen.

BREITENBACH.
Mal' den Teufel nicht an die Wand! Es käme auf den Versuch an!
VEIT KUNZ.

Was ich dir in dieser Welt allenfalls noch gerne sein möchte, alle näheren Beziehungen natürlich ausgeschlossen, habe ich dir genau gesagt. Auf väterliche Gefühle für dein Kind bitte ich unter keinen Umständen bei mir zu rechnen. Deine himmelschreiende Untreue hat in mir auf Lebenszeiten jedes Verlangen nach einem innigen Einvernehmen mit dir getötet. Jetzt weißt du, wie du mit mir dran bist. Er will gehen.

BREITENBACH.

Ich kann dich noch nicht begleiten, lieber Freund. Ich habe noch ein Wort unter vier Augen mit der Dame zu sprechen.


Veit Kunz ab.

[174]
4. Szene
Vierte Szene
Franziska. Breitenbach.

BREITENBACH.
Hast du denn meinen Brief nicht erhalten?
FRANZISKA.
Seit mein Kind krank wurde, öffne ich nur Briefe, deren Handschrift mir aus der Adresse bekannt ist.
BREITENBACH.
Was fehlte dem Kind?
FRANZISKA.
Das gehört nicht hierher. Es ist wieder gesund. Was haben Sie mir zu sagen?
BREITENBACH.

Franziska! – Als ich vom Tode deiner Mutter hörte, da wurde noch einmal alles in mir lebendig, was wir an berauschendem Glück zusammen genossen haben. Aber ich sagte mir: Es geht nicht! Es geht nicht!

FRANZISKA.
Um so besser!
BREITENBACH.

Für dich doch nicht! Aber du hast zuviel gesehen, zuviel gehört, zuviel erlebt, zuviel gelernt, viel [175] zuviel nachgedacht! An deiner Treue würde ich ja niemals zweifeln. Wie käme ich dazu! Ich! Weißt du noch?

Was ist süßer als Honig!

Was ist stärker als der Löwe!

Aber du bist dir selbst so verzweifelt treu! Das ist für mich das Furchtbare an dir! Deine liebe alte Mutter ...

FRANZISKA.
Willst du ihr nicht ihre Ruhe lassen?
BREITENBACH.

Dazu geht mir ihr Schicksal zu nahe. Nach den stärksten inneren Erschütterungen hatte sich die Frau schließlich damit abgefunden, daß ihr Kind, ihre Franziska, in Wirklichkeit ein Mann sei. Darauf erholte sich die sechzigjährige Dame allmählich von ihrer Schwermut. Man entläßt sie als geheilt aus der Anstalt. Und kaum ist sie draußen, erhält sie die betäubende Nachricht, daß du einem Kinde das Leben geschenkt hast. Nun soll das abgebrauchte sechzigjährige Gehirn alles, was es sich mit der größten Selbstverleugnung abgerungen hat, wieder als unbrauchbar beiseite werfen und sich noch einmal eine ganz neue Denkungsart einpauken. – Ich bin durchaus nicht schwerfällig, aber solch einer Gymnastik wäre auch mein [176] Verstand nicht gewachsen. Und deshalb, siehst du, geht es eben nicht!

FRANZISKA.
Was geht nicht?! Ich habe dich nicht hergebeten.
BREITENBACH.
Gib dir weiter keine Mühe. Ich erkläre dir ein für allemal: es geht nicht.
FRANZISKA.
Du bist doch verheiratet.
BREITENBACH.

Seit dem ersten Tage unserer Bekanntschaft – volle vier Jahre sind es jetzt her – lasse ich mich fortgesetzt von meiner Frau scheiden. Du hast das auf dem Gewissen! Niemand anders als du!

FRANZISKA.
Damit finde ich mich zur Not ab.
BREITENBACH.

Mein Freund, Veit Kunz, hat sich der Sache angenommen und führt sie jetzt auch energisch zu Ende. Es kostet ein Sündengeld. – Wenn du also davon absehen willst, daß ich jemals als Vater deines Kindes in Betracht komme, dann würde ich mich glücklich schätzen, wenn ich dir, damit du nicht gänzlich vereinsamt in der Welt stehst, deine alte gute Mutter ersetzen könnte.

[177]
FRANZISKA
mit größter Ruhe.
Verlassen Sie mein Haus!
BREITENBACH.
Ich?
FRANZISKA.
Oder ich. Nach Belieben. Ab.
BREITENBACH
für sich.
Trotzkopf! – Und nur, um sich selbst nicht untreu zu werden. Ab.
5. Szene
Fünfte Szene
Karl Almer. Franziska. Veitralf
Almer bringt ein Bild ohne Rahmen herein, das er auf einen Sessel stellt. Das Bild zeigt Franziska in halber Figur, den nackten Veitralf auf dem Arm haltend.

VEITRALF
jubelt.
Onkel Karl! Onkel Karl!
ALMER.
Wer war denn das, der eben so geringschätzig an Ihnen vorbeistolzierte?
FRANZISKA.
Das war Breitenbach. Er kommt jedenfalls so bald nicht wieder. Veit Kunz war auch hier.
[178]
ALMER.

Ei, ei! Dann begreife ich Ihre erregte Stimmung. Es hat wohl eine heftige Auseinandersetzung gegeben?

FRANZISKA.
Die erste und sicher die letzte. – Ist denn das Bild jetzt schon fertig?
ALMER.

Ja. Während Veitralfs Krankheit habe ich viel daran gemalt. Dadurch hat Ihr Gesicht etwas Leidendes bekommen. Aber das schadet gar nichts. Ich hoffe nur, daß der Kleine recht bald wieder so blühend aussieht, wie er auf dem Bilde ist.

FRANZISKA
vor dem Bilde sitzend, Veitralf in den Armen haltend.
Hoffen wir das, mein Kind. Aber warum haben Sie unten herum den Kranz aus Rosen gemalt?
ALMER.
Gefällt Ihnen das nicht?
FRANZISKA.

Die Rosen finde ich sehr hübsch. Es ist mir nur nicht ganz klar, was sie mit mir und meinem Veitralf zu tun haben.

ALMER.

Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber ich glaube, der Kranz entstammt der Erinnerung an irgendein Madonnenbild.

[179]
FRANZISKA.
Sie wollten der Gruppe wohl nur einen Abschluß geben?
ALMER.

Das natürlich auch. Später gebe ich ihr vielleicht einmal einen ganz anderen Abschluß. Im wesentlichen ein kleines Zugeständnis an dem Geschmack des Publikums.

FRANZISKA.
Sie wollen das Bild doch nicht öffentlich ausstellen?
ALMER.
Selbstverständlich tue ich das. Dafür male ich doch.
FRANZISKA.

Davon haben Sie mir aber kein Wort gesagt. Man wird wunder glauben, wie eitel wir sind, mein Veitralf und ich, daß wir uns malen lassen.

ALMER.

Aber wer kennt Sie denn? Wenn ich auch Ihren Namen darunter schriebe! Die paar Menschen, mit denen Sie verkehren, gehen in keine Ausstellung. Warum wollen Sie mich also um den redlichen Ertrag meiner besten Arbeit bringen?

FRANZISKA.
Dann stellen Sie das Bild aus.
ALMER.

Sie glauben gar nicht, wie unbegreiflich meine Kunst bei diesem Bilde gewachsen ist! Oder verachten [180] Sie Menschen, die sich so leicht beeinflussen lassen? Die meisten Menschen sind anders. Natürlich! Aber solche Männer kannten Sie ja. Eben waren sie hier. Warum sind Sie jetzt mit Veitralf allein? – Ich konnte mir nie ein anderes Lebensglück denken, als mit einem Weib, das ich bewundern und verehren darf.

FRANZISKA.
Wissen Sie auch, was Sie damit wagen?
ALMER.

Gewiß weiß ich das! Aber ich wage das Wagnis. Ich habe den nötigen Mut dazu. Ich bin nun einmal so leichtherzig. Schließlich kommt es ja doch auf gar nichts anderes an, als daß das Wohlbefinden auf beiden Seiten immer ganz genau das gleiche ist. Versuchen Sie es doch einmal mit einem Menschen, der an Güte glaubt!

FRANZISKA.
An Güte? An wessen Güte meinen Sie?
ALMER.

Ich möchte, hol' mich der Teufel, niemanden grundlos verdächtigen. Sagen wir der Kürze halber doch ganz einfach: an Gottes Güte. Gott verzeih' mir den kitschigen Ausdruck. Ich finde augenblicklich keinen, der künstlerischer ist. Gott läßt sich ja leider bis jetzt noch nicht interviewen, er läßt sich nicht photographieren, wie andere Gewalthaber ...

[181]
FRANZISKA.
Er läßt sich nur erleben. Nicht wahr, Veitralf, das haben wir erfahren.
ALMER.

Die Welt, sehen Sie, ist in Wirklichkeit gar nicht so greulich eingerichtet, wie uns gewisse Unglücksraben immer und immer wieder gerne einreden möchten.

FRANZISKA.
Aber warum begehen sie denn den Unsinn?
ALMER
nimmt Veitralf auf den Arm und tanzt mit ihm umher.

Weil sie zu anspruchsvoll sind! Nicht wahr, Veitralf? Weil sie die Grenzen ihrer Begabung und die Grenzen der Welt nicht kennen. Die Männer sowohl wie die Weiber. Wir zwei wissen, was wir einander sein können!


Er setzt sich, das Kind auf den Knien haltend, zu Franziska.

Wenn ich, statt täglich Neues zu begehren,
Dem Schicksal freudig danke, was es gibt,
Wie soll mich Reue je verzehren!

Zu Veitralf.

In dir mag ein Befreier wiederkehren.
Gedeihen wirst du, denn du bist geliebt!
[182]

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TextGrid Repository (2012). Wedekind, Frank. Dramen. Franziska. Ein modernes Mysterium in fünf Akten. Franziska. Ein modernes Mysterium in fünf Akten. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-9554-2