Küß

Einig süßes mündelein,
röter dan ein röselein,
das die sonn durch ihr ansehen
macht aufgehen;
lefzen übertreffend weit
den thau, so die erden netzet,
und mit fruchtbarkeit ergetzet
in der süßen frühlingszeit.
Mein liebreiches schätzelein,
gib mir so vil schmätzelein,
so vil du gibst meinem herzen
pein und schmerzen,
so viel pfeil der fliegend got
wider mein herz abgeschossen,
so vil ich leid unverdrossen
jamer, trübsal, angst und spot.
So vil man wol körnlein sands
am ufer des Morenlands,
so vil gras in dem feld stehen
man kan sehen;
so vil tropfen in dem meer,
so vil fisch die wasser bringen,
vögel durch den luft sich schwingen
und so vil der herbst weinbeer.
So vil schöne lieblichkeit,
schmollende holdseligkeit,
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so vil höflichkeit und lachen
lieblich machen
deinen theuren purpurmund;
wie vil rosen deine wangen,
wie vil lilgen machen prangen
deinen busen steif und rund.
So oft küß mich, Nymfelein,
so oft schmätz mich schimpfelein,
laß uns miteinander scherzen
und uns herzen,
bis ich sag: »mein frid, mein freid,
ich kan nicht mehr, laß mich gehen!«
so solt du ein weil abstehen,
daß ich seufzend halb verscheid.
Darnach küß mich widerum,
daß noch größer werd die sum,
stüpf mich auch mit deiner zungen
ungezwungen,
die so süß als honig ist:
also laß uns kurzweil führen
damit wir ja nicht verlieren
der jugend einige frist.
Laß uns nach der lieb willkur
wandlen auf der jugend spur,
bis das alter krum gebogen
kom gezogen
mit kält, zittern, forcht und graus,
welches mit sich auf dem rucken
vil leids bringet, uns zu drucken,
bis es uns macht den garaus.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Weckherlin, Georg Rodolf. Gedichte. Gedichte. Küß. Küß. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-92F2-3