Die elfte Fabel.
Vom Waldgott und dem Menschen.

Vor zeiten, in den alten jaren,
Vil seltzam tier auf erden waren,
Dort hinden in Sarmatia,
Auch mancherlei in Africa,
In wildnussen und großen welden,
Dahin die leut kamen gar selten.
Sonderlich in Egyptenland
Da waren tierlin unbekant,
[161]
Rauh und vierfüßig wie ein geiß,
Wie man das aus der schrift wol weiß;
Am kopf hetten sie menschen gstalt,
Gar underschiedlich jung und alt;
An vordern füßen finger hetten,
Gleich den menschen zugreifen teten,
Kunten auch laufen gar geschwinde
Gleich einem hirschen oder hinde.
In holen bergen und steinritzen
Tetens vorm frost des winters sitzen.
Dieselben etlich leut anbeten
Und inen göttlich er anteten,
Satyros tete man sie nennen
Und für waldgötter sie bekennen.
Einsmals begab sichs auf ein tag,
Gar tiefer schnee im winter lag,
Da wolt ein junger gselle wandern
Von einem lande zu dem andern,
Ward irr in einer großen wildnus,
Begegnet im ein solches bildnus,
Davon wir jetzt haben geredt.
Vor im er sich entsetzen tet.
Da sprach zu im dasselbig tier:
»Mensch, förcht dich nit, kom, gee mit mir
Und folg mir nach in mein gemach.«
Er gieng mit im; hört, was geschach.
Bei ein groß feur er in da bracht,
Daß er sich wider wermen möcht.
Zu vorderst im sein hende waren
Für großer kelte hart gefroren,
Drumb blies er, daß ers möcht aufbauen
Und sich der werme tu erfreuen.
Der satyrus sprach: »Sag du mir,
Was mag das blasen nützen dir?«
Er sprach: »Der warme atem schafft
Und gibt den henden ire kraft,
Daß ich mög wider greifen zu:
Darumb ich darin blasen tu.«
[162]
Darnach derselbig satyrus
Setzt dem gast für ein warmes mus,
Bat, daß er sich zum tisch wolt setzen
Und sich des hungers auch ergetzen.
Der mensch der setzte sich herbei
Und blies auch in den heißen brei.
Da sprach der satyrus gar bald:
»Laß dein blasen, er ist nit kalt.«
Der mensch sprach: »Ichs vorhin wol weiß,
Daß mir der brei ist allzu heiß,
Drumb blas ich, daß er kelter werd,
Wie mich mein mutter hat gelert.«
Da sprach der satyrus zum knaben:
»Ich mag zwar kein gemeinschaft haben
Mit leuten, die zu einer stund
Kalt, warm blasen aus einem mund.
Hinaus, hinaus, schedlicher gast!
In meinem loch kein platz mer hast.«
Die fabel lert, daß wir uns hüten
Für der falschen zungen wüten,
Im mund nicht zwifach zungen tragen,
Die ja und nein zu gleiche sagen.
Denn des menschen sterben und leben
Kan die zunge nemen und geben,
Wie Salomon uns des bericht
Und mans in allen sachen sicht.
Wer seinen mund zur zeit kan sparen,
Der tut damit sein seel bewaren;
Wer unzeitig heraus her fert,
Sich selb an leib und seel beschwert.
Freidank in seinem alten gedicht
Tut von der zungen solchen bericht:
»Das böste glid, das jemand treit,
Ist die zung, wie sanct Jacob seit;
Und was je übels ward vernomen,
Ist alles von der zungen komen.
[163]
Die zunge reizt zu manchem streit
Und oft zu langwirigem neit,
Sie reizet manchen man zu zorn,
Dadurch wird leib und seel verlorn.
Die zunge treue scheidet,
Das lieb dem lieben leidet.
Desgleichen han die bösen zungen
Die frommen leut gar oft verdrungen.
All bosheit von der zungen fert,
Daß man gar manchen meineid schwert.
Die zung hat ganz und gar kein bein
Und zerreißt doch eisen und stein.
Die zunge zerstöret leut und land
Und stiftet manchen raub und brand;
Die zunge füget manche not,
Die uns oft bringet in den tot.
Die zung auch manchen richter lert,
Daß er böslich das recht verkert.
Von neides zungen das ergieng,
Daß Christus an dem kreuze hieng.
Die boshaftig zung scheiden kan
Manch liebes weib und lieben man.
Die böse zung ist gar vergift,
Das klaget David in der schrift.«
Der herr Christus tut selber kund,
Wie wir solln zemen unsern mund,
In unser red bestendig sein,
Daß ja sei ja und nein sei nein,
Schlecht und einfeltig halten sollen
Mit unserm nehsten; was wir wöllen,
Das er uns tun sol und beweisen,
Dran solln wir uns gegen im auch preisen,
Auf daß on falsch in reiner lieb
Sich einer an dem andern ieb,
Und von einander nicht getrennt:
Das ist des gsetzes brauch und end.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Waldis, Burkhard. Fabeln. Esopus. Erster Theil. Das ander Buch. 11. Vom Waldgott und dem Menschen. 11. Vom Waldgott und dem Menschen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-90B3-0