[151] Die vierte Fabel.
Von der Wachtel und iren Jungen.

Ein wachtel het einsmals ir kind
Im korn (wie man noch teglich findt),
In einer forch gemacht ein nest
Und sprach zu in: »Ich halts fürs best,
Daß ich ausfliege nach der speis,
Wie ich hab teglich für ein weis.
Und weils jetzt fast ist umb die zeit,
Daß man das korn mit sicheln schneidt,
Solt ir dieweil euch heimlich schmücken
Und still im nest zusamen rücken,
Auf daß eur niemand werd gewar.
Ob mitler zeit der baur kem har,
Dem das korn und der acker ghort,
So habt wol acht auf seine wort,
Ob er zu schneiden sich wil fügen,
Daß wir darnach uns richten mögen.«
Die wachtel da zu felde flohe.
Der baur mit seinem son auszohe,
Gieng rings umbher, das korn besach,
Zu seinem son gar ernstlich sprach:
»Ich sehe jetzt wol, das korn ist reif,
Zeit ists, daß man mit ernst angreif;
Drumb wil ich morgen frü hin gan,
Derhalb die nachbaurn reden an
Und bitten, daß sies bald abschneiden,
Solls lenger sten, könn ich nit leiden.«
In dem die wachtel bracht ir speis;
Ir jungen fraget sie mit fleiß,
Ob sie was neues hetten ghort.
Eins sprach: »Mutter, hört mich ein wort.
Hie war der baur und sprach zum son:
Morgen wil ich zur sachen tun,
Bei all meinen nachbaurn bestellen,
Daß sie das korn abschneiden wöllen.«
[152]
Da sprach die wachtel: »Förcht euch nicht,
Weiß wol, daß solches nit geschicht.
Die nachbaurn sind nit bald bereit,
Zu gen an eins andern arbeit.«
Des morgens sie sich bald aufmacht,
Sprach zu den jungen: »Habt gut acht,
Ob ir werdt hören neue mer,
Ob des schneidens gedenkt der herr.«
Abermals sprach der baur zum son:
»Ich sihe wol, hie ists nichts geton.
Auf nachbaurn darf mich nicht verlaßen;
Der freundschaft muß ich mich anmaßen,
Unser blutgwanten sprechen an,
Daß sie wölln morgen bei uns stan,
Schneiden mit sicheln ab das korn,
Solts lenger stan, wers gar verlorn.«
Solchs zeigten an die jungen wachteln
Ir mutter, daß sies solt betrachten;
Sie sehen jetzund an fürs best,
Daß sie in mächt ein ander nest.
Da sprach die wachtel: »Lieben kind,
Die freund auch nit so ghorsam sind,
Daß sie bald gen auf fremden acker;
Darumb habt acht, seid morgen wacker,
Ob ir was neues wurdet hörn,
Daß wir daran uns möchten kern.«
Des andern morgens kam der baur,
Sprach zu seim son und sahe gar saur:
»Ich sihe, daß freund und nachbarschaft
In nöten haben wenig kraft.
Wenn ich auch lang auf sie wolt sehen,
Solt mir wol nimmer guts geschehen,
Und solt derhalb mein korn vorwar
Sten bleiben biß zum andern jar.
Ich hab noch scharfer sicheln zwo:
Damit wölln wir beid morgen frü
Uns understan ernstlich zu schneiden.
Ich kan den hon nit lenger leiden.«
[153]
Dasselb die jungen wachteln sagten
Und irer mutter kleglich klagten.
Die wachtel ward der red nicht fro,
Sprach: »Nun sihe ich, der ernst ist da.
Jetzt ist es zeit, daß wir auch fliehen
Und in ein ander wonung ziehen:
Darumb macht euch auf, lieben kind!
Wo man uns morgen frü hie findt,
Wolt ich für unser aller leben
Vorwar nicht einen heller geben.«
Die menschen gmeinlich sein so leg,
Zu fremder arbeit allzu treg;
Denn so gets zu, wo man sol fronen,
Da tut sein selb ein jeder schonen,
Und was ein selber nicht anget,
Dabei er wie der hase stet
Und greift es an ernstlich und frech,
Daß abget wie ein warmes bech:
Also gar leßig get ers an.
Drumb wiltu etwas han getan,
Das aufs fleißigst werd ausgericht,
Schau selber zu, daß es geschicht
Durch deine selbs eigene hand,
Sunst bleibt es noch und ist ein tand,
Wie auch das gmeine sprichwort lert:
Des herren aug füttert das pferd.
Und wer dein freundschaft noch so groß,
So stestu doch in nöten bloß.
Diß sei dir gsagt jetzund zuvorn:
Es ist mit menschen tun verlorn.
Wiltu mir hie nit glauben stellen,
So gee hin und frag den gesellen,
Der sich ins laub verkrochen het,
Und was der ber da mit im redt.
Wer aufs fleisch sein vertrauen stellt,
Der bricht ein bein, e denn er fellt.

License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Waldis, Burkhard. 4. Von der Wachtel und iren Jungen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-9073-2