[159] Die zehnte Fabel.
Vom Schiffman und einem Diebe.

Einsmals da ich zu Lübeck war,
Gdacht nach Riga mit meiner war
Zur seewarts auf eim schiff zu farn.
Auf daß ich möcht damit ersparn
Zu land den langen bösen weg,
Der mich oft gmacht hat faul und treg,
Bedinget mich auf ein cravel.
Daselben kamen unser vil
Zusamen, mancher mutter kind,
Wie mans denn da gemeinlich sindt,
Als man im gmeinen sprichwort redt:
Die schiffleut fürn dieb in die städt
Und manchen frummen man zu haus:
Der henker fürt sie wider draus.
Wir furen hin im selben schif,
Biß an den zehnden tag herlief,
Ein großer sturm hub sich bei Gotland
Und nam auch plützlich überhand
Und dreuet uns so mechtig ser:
Wurfen vil güter naus ins mer.
Zuletst wolts beßer werden nit,
Der schiffer blies ins sibilit,
Sprach: »Fründ, all die mit mir sein hie,
Ein jeder fall auf seine knie
Und ruf zu Gott in seim gebet,
Daß er uns aus der not errett.«
Da kam uns all groß schrecken an,
Wie ein jeder abnemen kan;
Wir waren allesam erlegen,
Hetten des lebens uns erwegen.
Da macht die angst und große forcht,
Daß jederman dem schiffhern horcht;
[160]
Er tröst das volk und gieng umbher:
Da fand er ein on als gefer,
Ein jungen übergeben gsellen;
Der tet sich zwar nit traurig stellen,
Er het ein kandel für und trank.
War frölich, bei im selber sang.
Sobald der schiffherr sein ward innen.
Gedacht, er wer nit wol bei sinnen,
Fragt in, sprach; »Was bist vor ein han?
Lest dir diß nit zu herzen gan,
Und sihst vor augen hie den tot?«
Er sprach: »Es hat mit mir kein not!
Wenn gleich das schiff zu grund wurd sinken,
So werd ich dennoch nicht ertrinken.
Denn ich zu hangen bin geborn,
Im waßer werd ich nit verlorn,
Es gieng denn übern galgen hoch:
Derhalben frag ich hie nit nach.
Ich hab mich all mein tag ernert
Der dieberei, nit anderst glert,
Und hab mein curs also gericht:
Wer hangen sol, ertrinket nicht.«
Die gselln, die so irn datum setzen
Und all morgen ir meßer wetzen,
Damit sie zwiefach riemen schneiden,
Ob sie denn auch am galgen leiden,
Des sol man kein mitleiden hon,
Solch arbeit fordert solchen lon;
Auf solcher kirchweih, solchem gottshaus
Teilt man kein andern ablaß aus.

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TextGrid Repository (2012). Waldis, Burkhard. Fabeln. Esopus. Zweiter Theil. Das vierte Buch. 10. Vom Schiffman und einem Diebe. 10. Vom Schiffman und einem Diebe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-8F41-8