[156] Die achte Fabel.
Von einem Edelman.

Im zwei und siebenzigsten jar,
Da Neuß am Rhein belegert war
Von herzog Carol von Burgund,
Der nach all irm verderben stund,
Erhielts landgrave Herman aus Hessen,
Der das mal war in Neuß geseßen,
Wie sich der krieg verlengen tet,
Daß man nit vil mer zeßen het;
Denn, wie man sagt, da man von tregt
All tag und nit wider zulegt,
Da wird zuletst der haufen klein.
Nun het der fürst vor sich allein
Ein kue, von der man alle tag
Die milch zur speis zu nemen pflag.
Beim fürsten war ein edelman,
Den facht auch not und hunger an;
Der gunt dieselbe kue einst fellen,
Schlachtets und aß mit sein gesellen.
Das blieb nun etlich tag vertust,
Daß es sonst niemand fremdes wust,
Jedoch zuletst wards offenbar,
Wo dieselb ku hin komen war.
Als solchs der fürst nun het vernummen,
Den edelman hieß vor sich kummen
Und straft in drumb mit worten hart,
Wiewol sunst draus nit bösers wart.
Denn solchs blieb zwar nit unbedacht,
Daß in die not dazu het bracht
Und der hunger, das scharpfe schwert,
Sonst het er nit der ku begert.
Und was zwar keine große schand,
Dennoch tets im im herzen ant;
Sprach zum fürsten: »So glob ich heut,
Daß hören all dis edelleut,
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Mein dienst keim fürsten sagen zu,
Der nit mer hat denn eine ku.«
Damit derselbig edelman
Gar höflich zeigt den kummer an,
Daß bei eim solchen großen herrn
Auch edelleut in notturft wern.
Doch solt er han rechnung gemacht
Und all umbstend der not betracht;
Aber auf solchs der bauch nit harret,
Er wil damit sein ungenarret.
Der hunger und die große not
Manchen dahin gezwungen hat,
Daß er mit raub den kummer büß:
Der hunger macht rohe bonen süß.

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TextGrid Repository (2012). Waldis, Burkhard. Fabeln. Esopus. Zweiter Theil. Das vierte Buch. 8. Von einem Edelman. 8. Von einem Edelman. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-8D97-B