Die fünfundsechzigste Fabel.
Von der Schnecken und den Fröschen.

Es warn vil frösch in einer lachen,
Daselb teten sich frölich machen
Mit schreien, hupfen, schwimmen, fließen.
Das sahe ein schneck; es tets verdrießen,
[250]
Straft die natur, wie sie gefeilt,
Die gaben ungleich ausgeteilt,
Und sprach: »Selig sind solche tier,
Die haben langer beine vier,
Sein wol zu fuß mit fechten, ringen,
On stecken übern graben springen.
Aber ich muß kriechen, mich stets bucken,
Ein schwere last trag auf dem rucken,
Darunder ich muß stetes keichen,
Mein lebtag auf der erden schleichen.«
Bald ward gewar dieselbig schnecken,
Da kam der storch und gunt sich strecken,
Von im wurden die frösch gestochen,
Daß sie sich hie und da verkrochen
Und niden in dem schlam verhel;
Da lagen große lange ael,
Für den die frösch sich musten scheuen.
Der schnecken tet ir red gereuen,
Gewann zuhand ein beßern mut.
»Ich sihe, mein buckel tut mir gut:
Den wil ich fürbaß lieber tragen,
Denn solt ich stets mein leben wagen.«
Was uns in disem schwachen leben
Gott hat durch die natur gegeben,
Solln wir uns laßen wol gefallen;
Denn er ist klug und weis ob allen:
Wird oft zu unserm besten tan,
Das unser vernunft nit kan verstan.

License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Waldis, Burkhard. 65. Von der Schnecken und den Fröschen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-8D2A-3