Getäuschte Erwartung

Alles dacht' ich mir schöner, eh' ich's mit Augen gesehen,
Und erstaunte, wie klein alles in Wirklichkeit ist.
Wie hat nur mich St. Peter getäuscht, nach der Reisebeschreibung
Sollt' er noch einmal so hoch, einmal so prächtig noch sein.
Reden sie vom Capitol, ich erwartet' es hoch in den Lüften,
Und noch einmal so schön dacht' ich's Museum mir selbst;
Und der tarpejische Fels! Doch wenigstens auch wie der Montblanc
Glaubt' ich ihn hoch, und er ist doch wie ein Hügelchen nur.
Auch das Colosseum, ich dacht' es noch einmal so furchtbar,
Britten kämen wohl hier nicht ohne Extrapost durch.
Wie ist der Corso so eng! Vierhundert Kirchen und dennoch
Fast kein Thürmchen, und welch Flüßchen der Tiber nur ist!
Raffaels Stanzen, da hofft' ich doch auch hellschimmernde Farben,
Aber welch häßlicher Wust, schmutziges Alter und Staub!
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Dann das jüngste Gericht ist ein Fleischmarkt, und die Sistina
Hätt' ich mir hundertmal schöner und größer gedacht.
Selbst die Weiber gefallen mir nicht und all' das Gerede,
Falsch ist's, ich hab' sie mir traun hundertmal schöner gedacht.
Auch was sie fabeln zu Hause von italiänischem Himmel,
Nein! Ich habe davon nicht auch ein Bißchen gemerkt.
Uebrigens kann ich zu Haus mich rühmen: ich hab' es gesehen,
Und natürlich, dann ist's – schöner noch als ich's gedacht. 1

Fußnoten

1 Man kann kaum übertreiben, wenn man von dem jammerwürdigen Zeug spricht, das man in Rom über Rom von Fremden hören muß. Man hat keine Vorstellung in Deutschland von solchen dummen Redensarten, die man als Urtheile ausgiebt. Schon den ersten Tag redet man über ganz Rom, und selbst seine Einwohner herunter, ohne daß man auch nur mehr als die Dogana gesehen, und von dieser mehr kennen gelernt hat, als den Facchinen, mit dem man erst nicht sprechen konnte. In den Thermen des Caracalla sagte mir ein Menschlein, daß er Rom unter seiner Erwartung gefunden, während seine kolossalsten Trümmer über ihm in die Lüfte ragten. Ja ich mußte schon hören, daß es in Deutschland wärmer, und daß die Natur daselbst üppiger und fruchtbarer sei. Einer, der das erste Mal übers Campo Vaccino ging, wußte nichts anders als zu bedauern, daß das Colosseum in dieser Wüste von Ruinen, und nicht lieber in München stehe.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Waiblinger, Wilhelm. Gedichte. Oden und Elegien aus Rom, Neapel und Sicilien. Oden und Elegien aus Rom. Vermischtes. Getäuschte Erwartung. Getäuschte Erwartung. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-8B53-6