Jules Verne
Keraban der Starrkopf


1. Theil

1. Capitel
Erstes Capitel.
In dem Van Mitten und sein Diener Bruno sich umsehend und plaudernd lustwandeln, ohne zu begreifen, was um sie vorgeht.

Am Tage des Beginns unserer Erzählung, dem 16. August, war der, sonst von dem Hin- und Herwogen und dem Getöse der Menge so belebte Top-Hane-Platz in Constantinopel auffallend still, düster und fast menschenleer.

[5] Betrachtete man ihn von der Höhe der Terrassentreppe, welche nach dem Bosporus hinabführte, so bot derselbe immer noch ein reizendes Bild, dem es nur an allem Leben fehlte. Kaum einige Stadtfremde eilten über den Platz nach den engen schmutzigen, oft mit üblem Geruch erfüllten und von herrenlosen gelbhaarigen Hunden belagerten Straßen, durch die man von hier aus nach der Vorstadt Pera gelangt. Letztere bildet bekanntlich das eigentliche Quartier der Europäer, deren steinerne Häuser sich weiß von dem dunkelgrünen Hintergrunde mit Cypressen besetzter Hügel abheben.

Malerisch aber bleibt jener Platz immer, selbst ohne das schillernde Farbenspiel von Costümen, welches ihn sonst gewöhnlich schmückt, malerisch und augengefällig durch seine Moschee Mahmud's mit den schlanken Minarets, durch seinen hübschen Springbrunnen in arabischem Style, von dem das frühere chinesische Dach entfernt worden ist, durch seine vielen Läden, in denen hier Sorbet und tausenderlei Zuckerbackwaren verkauft werden, dort ungeheure Mengen von Kürbissen, Melonen aus Smyrna, Weintrauben aus Scutari aufgehäuft sind, während dazwischen noch Specereihandlungen liegen und Händler mit Rosenkränzen umherziehen, endlich auch durch seine Ufertreppe, an der Hunderte von buntgemalten Kajiks anlegen, deren Doppelruder unter den gekreuzten Händen der Kajiktschi (d. s. Schiffer) die blauen Wellen des Goldenen Horns und des Bosporus mehr liebkosen als durchschneiden.

Wo waren jetzt aber die gewöhnlichen Flaneurs des Top-Hane-Platzes; jene Perser mit der coquetten Astrachan-Mütze; jene Griechen, die sich in ihrer Fustanella mit tausend Falten und Fältchen nicht ohne Eleganz hin- und herwiegen; jene Circassier mit fast ausnahmslos militärischer Haltung; jene Georgier, die bezüglich des Costüms auch jenseits ihrer Grenze noch Russen geblieben sind; jene Arnauten, deren vom Sonnenbrande geröstete Haut durch den rundlichen Ausschnitt ihrer gestickten Westen hervorsieht, und jene Türken endlich, jene Türken oder Osmanlis, die Söhne des alten Byzanz, des alten Istambul – ja, wo waren sie Alle?

Keinesfalls hätte man eine solche Frage an zwei Fremdlinge richten dürfen, zwei Occidentalen, welche eben jetzt neugierigen Blickes, mit hoch erhobener Nase und unsicheren Schrittes fast allein auf dem genannten Platze lustwandelten; sie hätten darauf keine Antwort geben können. Aber noch mehr. Selbst in der eigentlichen Stadt, jenseits des Hafens, hätte ein Tourist dasselbe Schweigen, dieselbe Oede angetroffen. Auf der anderen Seite des Goldenen Horns – dieses[6] tiefen Einschnittes zwischen dem alten Serail und den Landungsplätzen des Top-Haue – dessen linkes Ufer mit dem rechten durch drei Schiffbrücken in Verbindung gesetzt wird, schien das ganze Amphitheater von Constantinopel in Schlummer versunken zu sein. Wachte jetzt wirklich kein Mensch im Palaste von Serai-Burnu? Gab es keine Gläubigen, keine Hadjis mehr, welche nach den Moscheen Ahmed's, von Bayezidieh, der heiligen Sophie Suleïmanieh pilgerten? Hielt auch er Siesta, der sorglose Thurmwächter des Seraskierats, ebenso vielleicht, wie sein College auf dem Thurme von Galata, welche auf den Ausbruch der gerade in dieser Stadt so überaus häufigen Schadenfeuer ein wachsames Auge haben sollen? In der That, hier war nichts zu bemerken, als höchstens das nie ganz aussetzende Leben im Hafen, welches jedoch ebenfalls etwas gedämpft erschien, trotz der Flottille österreichischer, französischer und englischer Dampfer, der Zollkutter, Kajiks und Dampfschaluppen, welche sich längs der Brücken und der Häuserzeilen hindrängen, deren Grund die Wässer des Goldenen Horns umspülen.

War das jenes hochgepriesene Constantinopel, der durch den Machtwillen Constantins und Mahomeds II. verwirklichte Traum des Morgenlandes? – Diese Frage stellten sich die beiden auf dem Platze vereinzelt dahinschreitenden Fremdlinge, und wenn sie dieselbe nicht beantworteten, lag das keineswegs an ihrer Unkenntniß der Landessprache. Im Gegentheil, sie waren des Türkischen ziemlich mächtig; der Eine, weil er dasselbe in seinem geschäftlichen Briefwechsel seit zwanzig Jahren anwendete; der Andere, weil er seinem Herrn oft als Schreibgehilfe beigetreten war, obgleich er bei diesem eigentlich nur als Diener in Lohn und Brot stand.

Die beiden Fremden waren Holländer, gebürtig aus Rotterdam, Herr Jan Van Mitten und dessen Leibdiener Bruno, welche eigenthümliche Umstände bis zu dieser äußersten Ostmark Europas verschlagen hatten.

Van Mitten – in der Heimat eine allbekannte Persönlichkeit – war ein Mann von fünf- bis sechsundvierzig Jahren, mit blondem Haar und himmelblauen Augen, gelblichem Backen- und Kinn-, aber mangelndem Schnurrbart, einer für die sonstige Entwicklungsstufe des Gesichts etwas zu kurz gerathenen Nase, mit ziemlich kräftigem Kopfe und breiten Schultern bei übermittlerem Wuchs, mit mäßigem Embonpoint und Beinen, welche mehr auf sicheren Stand als auf Eleganz berechnet schienen – mit einem Wort, er machte den Eindruck eines achtbaren, seinem Vaterlande zur Ehre gereichenden Staatsbürgers.

[7] Von Charakter schien Van Mitten freilich etwas weich zu sein. Er gehörte unbestreitbar zur Kategorie der Leute von sanfter geselliger Gemüthsverfassung, welche Wortgefechte nicht lieben, in allen Punkten gern nachgeben und weniger zum Befehlen als zum Gehorchen geschaffen sind –


Die beiden Fremden waren Holländer, Herr Jan Van Mitten und dessen Leibdiener Bruno. (S. 7.)

zu jenen ruhigen, schwer erregbaren Persönlichkeiten, von denen man allgemein sagt, daß sie keinen eigenen Willen haben, selbst wenn sie sich einmal einbilden, einen solchen zu besitzen. Schlechter sind sie deshalb ja keineswegs. Einmal, aber nur ein einziges Mal in seinem Leben, hatte sich Van Mitten, zum Aeußersten getrieben, in einen


Die Moschee Mahmud in Constantinopel. (S. 6.)

Wortwechsel eingelassen, der für ihn von ernstester Folge werden sollte. An dem betreffenden Tage war er sozusagen aus seinem Charakter ganz herausgegangen, seitdem in denselben aber wieder zurückgekehrt, [8] wie der Mensch ja zuweilen auf's Neue bei sich selbst Einkehr hält. Er hätte wohl auch damals besser gethan nachzugeben, und würde das zu thun gar nicht gezögert haben, wenn er ahnen konnte, was ihm die Zukunft vorbehielt. Doch es scheint unpassend, hier den Ereignissen vorzugreifen, welche sich im Verlaufe dieser Erzählung abspielen.

»Nun, Mynheer? begann Bruno, als Beide auf den Top-Hane-Platz kamen.

[9] – Nun, Bruno?

– Da wären wir also in Constantinopel.

– Jawohl, Bruno, in Constantinopel, das heißt, viele Hundert Meilen von Rotterdam.

– Glauben Sie endlich, fragte Bruno, daß wir uns nun weit genug von Holland befinden?

– Ich kann davon niemals weit genug weg sein!« antwortete Van Mitten nur halblaut, als wäre Holland so nahe gewesen, um ihn hören zu können.

Van Mitten besaß in Bruno einen unter allen Verhältnissen treu ergebenen Diener. Aeußerlich ähnelte der brave Mann einigermaßen seinem Herrn – wenigstens so weit das die, jenem gebührende Ehrerbietung gestattete – eine Folge langjährigen Beisammenseins. Während voller zwanzig Jahre hatten sie sich wohl kaum einen einzigen Tag getrennt. War Bruno im Hause auch weniger als ein Freund, so galt er doch bestimmt mehr als ein bloßer Diener. Er erfüllte seine Pflichten mit Verstand und Methode und versagte sich keineswegs, gelegentlich guten Rath zu geben, aus dem Van Mitten hätte Nutzen ziehen können, oder selbst diesem gelinde Vorwürfe zu machen, welche sein Dienstherr ohne aufzubrausen entgegennahm. Vorzüglich wurmte es ihn, daß der Letztere für die Befehle aller Welt da zu sein schien, daß er den Wünschen Anderer niemals entgegentreten konnte, kurz, daß es ihm an Charakter fast gänzlich fehlte.

»Das wird noch Ihr Unglück sein, wiederholte er öfters, und meines natürlich mit!«

Wir müssen hier einfügen, daß der nun vierzigjährige Bruno etwas seßhafter Natur war und Ortsveränderungen nicht leiden konnte. Strengt man sich in dieser Weise an, so setzt man damit das ruhige Gleichgewicht des Organismus in Gefahr, man nützt sich ab, wird magerer, und Bruno, der sich jede Woche einmal wiegen zu lassen pflegte, hielt darauf, von seiner stattlichen Erscheinung nichts einzubüßen. Beim Eintritt in die Dienste des Herrn Van Mitten erreichte sein Gewicht nur hundert Pfund; er war also damals von einer, für ihn als Holländer demüthigenden Magerkeit. Dank der vorzüglichen Lebensweise hatte er nach kaum einem Jahre um dreißig Pfund zugenommen und konnte sich nun ohne Erröthen überall sehen lassen. Seinem Brotherrn verdankte er endlich die jetzige hübsche Abrundung, die hundertsechzig Pfund Körpergewicht – was ihm unter seinen Mitbürgern etwa eine mittlere Stellung [10] anwies. Man muß übrigens bescheiden sein, und so hatte er sich auch erst für seine alten Tage vorgenommen, zweihundert Pfund zu erreichen.

Bei der innigen Anhänglichkeit an sein Haus, an seine Vaterstadt und sein Heimatland – jenes der Nordsee abgerungene Niederland – würde sich Bruno ohne höchst zwingende Gründe niemals entschlossen haben, die behagliche Wohnung am Nieuve-Haven, die gute Stadt Rotterdam, in seinen Augen überhaupt die erste Stadt Hollands, oder gar letzteres selbst zu verlassen, das ihm gewiß als das schönste Königreich der Erde galt.

Ja, gewiß nicht; und dennoch ist es ebenso wahr, daß sich Bruno an jenem Tage in Constantinopel, dem alten Byzanz, dem Istambul der Türken, in der Hauptstadt des ottomanischen Reiches befand.

Was war denn übrigens Van Mitten? – Nichts anderes als ein reicher Kaufmann in Rotterdam, ein Tabakshändler und Importeur der feinsten Erzeugnisse der Habana, wie der von Maryland, Virginia, von Varinas und Porto-Rico, insbesondere auch der von Macedonien, Syrien und Kleinasien überhaupt.

Seit zwanzig Jahren schon machte Van Mitten umfängliche Geschäfte dieser Art mit dem Hause Keraban in Constantinopel, welches seine renommirten und garantirten Tabake nach allen fünf Erdtheilen versendete. Durch den vielfachen Schriftenwechsel mit dem bedeutenden Comptoir hatte sich der holländische Kaufmann eine gründliche Kenntniß der türkischen Sprache, das heißt des Osmanli, angeeignet, welches durch das ganze Reich in Gebrauch ist, so daß er dasselbe wie ein leibhaftiger Unterthan des Padischah oder ein Minister des »Emir-el-Mumenin«, des Oberherrn der Gläubigen, handhabte. Aus reiner Sympathie sprach es auch Bruno, der seines Herrn Geschäftsthätigkeit, wie oben gesagt, von jeher nahe stand, ebenso geläufig wie dieser.

Die beiden originellen Leutchen waren sogar dahin übereingekommen, sich der türkischen Sprache nach ihrer Ankunft in der Türkei auch in der persönlichen Unterhaltung bedienen zu wollen. Und wirklich hätte man sie, abgesehen von ihrer Tracht, recht gut für zwei Osmanlis alten Schlages halten können. Uebrigens machte das nur Van Mitten Spaß, während es Bruno eigentlich mißfiel.

Dennoch unterließ es der gehorsame Diener nicht, jeden Morgen zu seinem Herrn zu sagen:

»Efendum, emriniz nè dir?«

[11] Das bedeutet: »Mein Herr, was befehlen Sie?– Und der also Angeredete antwortete in gutem Türkisch:

»Sitrimi, pantalounymi fourtcha

Das bedeutet: »Bürste meinen Rock und meine Hose aus.«

Aus Obigem wird man die Ueberzeugung gewinnen, daß Van Mitten und Bruno sich in der so ausgedehnten Stadt Constantinopel, ohne in Verlegenheit zu kommen, überall bewegen konnten, erstens, weil sie sich in der Landessprache geläufig auszudrücken verstanden, und dann auch, weil sie eines freundschaftlichen Empfanges im Hause Keraban sicher waren, dessen Chef schon einmal eine Reise nach Holland gemacht und sich – eine häufige Wirkung greller Gegensätze – mit seinem Geschäftsfreunde in Rotterdam auf vertrautesten Fuß gestellt hatte. Das war eigentlich der Hauptgrund gewesen, um des willen Van Mitten, als er dem Vaterlande den Rücken kehrte, der Gedanke gekommen war, einmal in Constantinopel Aufenthalt zu nehmen, und um des willen auch Bruno, freilich zu seinem Leidwesen, sich hatte bestimmen lassen, ihn zu begleiten; und die Veranlassung endlich, daß jetzt beide auf dem Top-Hane-Platze umhergingen.

»Noch eine Stunde, sagte da ein Türke, dann wird die Sonne in den Fluthen des Bosporus erloschen sein, und dann...

– Dann können wir, fuhr ein Anderer fort, nach Herzenslust essen, trinken und, vor Allem, rauchen!

– Sie wird etwas langweilig, diese Ramadan-Fastenzeit.

– Wie jedes religiöse Fasten!«

Andererseits wechselten wieder zwei, vor einem Kaffeehause auf- und abgehende Fremde die Worte:

»Es sind doch wunderliche Leute, diese Türken! Wahrlich, wenn ein Fremder gerade während dieser langen Abstinenzzeit Constantinopel zum ersten Male sähe, er müßte eine traurige Vorstellung von der Hauptstadt Mohammed's gewinnen!

– Bah! meinte der Andere, London ist Sonntags auch nicht lustiger! Wenn die Türken tagsüber fasten, so entschädigen sie sich in der Nacht, und mit dem Kanonenschusse, der den Untergang der Sonne meldet, werden die Straßen mit dem Geruche gebratenen Fleisches, dem Dufte der Getränke und dem Rauche der Tschibuks und Cigaretten schon wieder das gewohnte Gesicht annehmen.«

[12] Die Fremdlinge mußten wohl Recht haben, denn eben rief der Wirth des Kaffeehauses einem dienstbaren Geiste zu:

»Sorgt, daß Alles bereit ist! Nach einer Stunde werden die Fastenhalter herzuströmen, und dann weiß Einer nicht, wo er zuerst hinhören soll.«

Da nahmen die beiden Fremden ihr Gespräch wieder auf:

»Ich weiß es nicht, aber mir will's scheinen, als ob Constantinopel gerade zur Zeit des Ramadan am merkwürdigsten zu sehen wäre. Wenn die Tage da traurig, widerlich und kläglich sind, wie ein Aschermittwoch, so geht's während der Nächte desto lustiger, lauter und ausgelassener zu, wie an einem Faschings-Dienstage.

– Ja, es ist wirklich ein greller Unterschied.«

Und während diese Beiden ihre Gedanken austauschten, sandten ihnen wieder einige Türken ziemlich neidische Blicke zu.

»Was sie glücklich sind, diese Fremden! meinte der Eine. Sie können trinken, essen und rauchen, wie es ihnen gefällt!

– Gewiß, entgegnete der Andere; zur Stunde würden sie freilich weder ein Kebab von Lammfleisch, ein Pilaw von Huhn mit Reis, noch einen Baklavakuchen austreiben können – nicht einmal eine Schnitte Wassermelone oder Kürbis...

– Weil sie die richtigen Stellen nicht kennen! Mit einigen Piastern findet man stets bereitwillige Händler, welche von Mohammed II. Dispense besitzen.

– Bei Allah! sagte da einer der Türken, mir verdorren die Cigaretten in der Tasche, und es soll gar nicht beschworen sein, ob ich's nicht gern auf ein paar Paras von Latakieh ankommen lasse.«

Und auf die Gefahr hin, in Strafe genommen zu werden, holte dieser durch seine Glaubenssätze wenig genirte Gläubige eine Cigarette hervor, zündete sie an und that zwei oder drei herzhafte Züge.

»Nimm Dich in Acht! ermahnte sein Begleiter. Wenn ein etwas orthodoxer Ulema hier vorbeikäme, so...

– So würde ich den Rauch einfach verschlucken, und da sähe er nichts davon!« erwiderte lachend der Freidenker.

Beide setzten ihren Spaziergang fort, schlenderten über den Platz und dann nach einer der Nachbarstraßen, welche bis nach den Vorstädten Galata und Pera hinaufführen.

[13] »Na, Mynheer, rief da Bruno, sich nach rechts und links umsehend, entschieden ist das eine sonderbare Stadt. Seit wir unser Hôtel verlassen, hab' ich nur Schatten von Einwohnern, nur Phantome von waschechten Constantinopolitanern entdeckt. Alles schläft auf den Straßen, den Quais und den Plätzen, selbst die gelben, spindeldürren Hunde, die nicht einmal aufstehen, um Einen in die Waden zu beißen. Nein, gehen Sie! Was die Reisenden Einem auch vorschwatzen mögen, seh' ich doch mehr und mehr, daß bei der Sache nichts herauskommt. Da lob' ich mir unsere gute Stadt Rotterdam und den grauen Himmel unseres alten Holland!

– Geduld, Bruno, Geduld! antwortete Van Mitten. Wir sind seit einigen Stunden hier angelangt. Ich gestehe indeß, daß das auch nicht das Constantinopel ist, welches ich mir vorgestellt hatte. Man bildet sich ein, in's richtige Morgenland zu kommen, einen Traum aus Tausendundeine Nacht verwirklicht zu finden, und sieht sich dafür tief eingepfercht in...

– In ein ungeheures Kloster, fuhr Bruno fort, versetzt unter Leute, welche ebenso griesgrämig aussehen, wie einsame Mönche in ihrer Zelle.

– Mein Freund Keraban wird uns schon erklären, was das Alles zu bedeuten hat, antwortete Van Mitten.

– Aber wo sind wir jetzt? fragte Bruno. Was für ein Platz und welcher Quai ist das?

– Wenn ich nicht irre, belehrte ihn Van Mitten, befinden wir uns auf dem Top-Hane-Platze, am äußersten Ende des Goldenen Horns. Hier ist der Bosporus, der die Küste Asiens bespült, und auf der anderen Seite des Hafens kannst Du die Serailspitze sehen und die eigentliche türkische Stadt, welche sich über derselben aufbaut.

– Das Serail! rief Bruno. Wie, der Palast des Sultans, in dem er mit seinen achtzigtausend Odalisken wohnt?

– Achtzigtausend! Das ist viel Bruno; ich glaube, es ist zu viel – selbst für einen Türken. In Holland hat man nur eine einzige Frau, und es ist da manchmal schwierig genug, in seinen vier Pfählen auszuhalten.

– Ja, ja, Mynheer, sprechen wir davon nicht mehr – lieber so wenig als möglich!«

Dann wendete sich Bruno dem noch immer leeren Kaffeehause zu.

»Ah, das scheint mir doch ein Café zu sein, sagte er. Wir haben uns mit dem Herabsteigen aus der Vorstadt Pera ganz abgemattet. Die Sonne der [14] Türkei heizt Einem ein, wie die Mündung eines Gießofens, und ich würde nicht darüber staunen, von Mynheer zu vernehmen, daß Sie sich nach einer Erfrischung sehnten.

– Auch eine Art, auszudrücken, daß Du Durst hast, antwortete Van Mitten. – Meinetwegen, wir wollen in jenes Café gehen.«

Beide nahmen vor der Front des Etablissements an einem leeren Tischehen Platz.

»Cawadji!« rief Bruno, auf Europäerart klopfend.

Niemand erschien.

Bruno rief mit lauterer Stimme.

Der Inhaber des Cafés zeigte sich im Hintergrunde seines Locals, beeilte sich aber keineswegs, herauszukommen.

»Ein paar Fremde! murmelte er, die beiden am Tische sitzenden Männer erblickend. Sollten sie wirklich glauben, daß...«

Endlich kam er näher.

»Cawadji, bringen Sie uns eine Karaffe Kirschwasser, aber hübsch frisch! bestellte Van Mitten.

– Mit dem Kanonenschusse, antwortete der Cafétier.

– Was? Kirschwasser mit einem Kanonenschusse? rief Bruno. Nein, dann geben Sie uns lieber Pfefferminzwasser.

– Oder, wenn Sie Kirschwasser nicht hätten, sagte Van Mitten, so serviren Sie uns ein Glas rosa Rahtlokum. Das scheint, meinem Reisehandbuche nach, etwas Vorzügliches zu sein.

– Mit dem Kanonenschusse, wiederholte der Wirth, mit den Achseln zuckend.

– Aber was hat er nur mit seinem ewigen Kanonenschusse? fragte jetzt Bruno seinen Herrn in holländischer Sprache.

– Das werden wir ja sehen, antwortete dieser gemächlich. Nun, wenn Sie auch keinen Rahtlokum führen, so lassen Sie uns wenigstens eine Tasse Mokka zukommen – ein Glas Sorbet – was Sie wollen, guter Freund.

– Mit dem Kanonenschusse!

– Mit dem Kanonenschusse? wiederholte Van Mitten.

– Nicht eher!« antwortete der Cafétier.

Ohne weitere Umstände zog er sich wieder in die inneren Räumlichkeiten zurück.

[15] »Ich bitte Sie, Mynheer, sagte da Bruno, wir wollen fortgehen; hier ist doch nichts zu machen. Sie haben ja den Spitzbuben von Türken gesehen, der Ihnen immer nur einen Kanonenschuß auf Ihre Fragen zur Antwort giebt.

– Komm, Bruno, antwortete Van Mitten, wir werden schon ein anderes Kaffeehaus finden, wo sich's mit dem Wirthe vernünftiger reden läßt.«

Beide kehrten nach dem Platze zurück.

»Entschieden, Mynheer, begann Bruno, ist es nicht mehr zu frühzeitig, daß wir Ihren Freund, den Seigneur Keraban, entdecken. Hätten wir ihn in seinem Comptoir angetroffen, so wüßten wir doch wenigstens, woran wir hier eigentlich sind.

– Ja wohl, Bruno, nur ein wenig Geduld. Man hat uns doch versichert, daß wir ihn auf diesem Platze treffen würden...

– Nicht vor sieben Uhr, Mynheer. Hier an der Ufertreppe von Top-Hane soll sein Kajik anlegen, um ihn nach der andern Seite des Bosporus, nach Scutari überzusetzen.

– Nun, Bruno, dieser hochachtbare Handelsherr wird uns schon über Alles, was hier vorgeht, aufklären. O, das ist ein richtiger Osmanli, ein getreuer Anhänger der alttürkischen Partei, welche sich weder in den Vorstellungen noch den Gebräuchen mit den thatsächlichen Verhältnissen zu befreunden vermag, gegen alle neuzeitlichen Erfindungen Einspruch erhebt; der Leute, die einen rumpelnden Postwagen jeder Eisenbahn, eine gebrechliche Tartane jedem Dampfschiffe vorziehen. Seit unserer, nun schon über zwanzig Jahre bestehenden Geschäftsverbindung habe ich noch nie bemerkt, daß die Anschauungen meines Freundes Keraban sich nur im geringsten geändert hätten. Als er vor drei Jahren in Rotterdam eintraf, um mich zu besuchen, kam er in einem Postwagen an und, statt einer Woche höchstens, hat er einen vollen Monat zur Fahrt hierher gebraucht. Siehst Du, Bruno, ich sah wohl in meinem Leben so manchen Trotzkopf, aber einen solchen Starrsinn wie den seinigen niemals!

– Er wird schön erstaunt sein, Sie hier in Constantinopel zu treffen, bemerkte Bruno.

– Ich glaub' es auch, antwortete Van Mitten, doch es machte mir eben Vergnügen, ihn zu überraschen. In seiner Gesellschaft aber werden wir uns erst wirklich in der Türkei befinden. O, mein Freund Keraban wird sich niemals bestimmen lassen, die Tracht des Nizam anzulegen, den einreihigen blauen Rock und das rothe Fez der Jungtürken zu tragen.

[16] – Wenn sie ihr Fez abnehmen, meinte Bruno, sehen sie aus wie eine Flasche, die sich selbst entkorkt.

– O, dieser werthe, stets unwandelbare Keraban! fuhr Van Mitten fort; er wird noch ganz ebenso gekleidet sein, wie damals, als er mich am anderen Ende Europas aufsuchte, im weitbauchigen Turban, narzißgelben oder zimmetrothen Kaftan...

– Ein richtiger Dattelhändler, das! rief Bruno dazwischen.


»Mit dem Kanonenschusse!« (S. 15.)

– Ja, aber ein Dattelhändler, der goldene Datteln verkaufen und auch ebensolche bei jeder Mahlzeit verzehren könnte. Er hat sich wohlweislich den [17] Handelszweig erwählt, der für sein Land am passendsten ist, den eines Tabakshändlers. Wie sollte Einer dabei nicht Schätze sammeln in einer Stadt, in der alle Welt vom Morgen bis zum Abend, nein, selbst noch vom Abend bis zum Morgen raucht!

– Was, hier würde so stark geraucht? fragte Bruno ungläubig. So zeigen Sie mir doch Leute, welche rauchen, Mynheer! Im Gegentheil, hier raucht ja keine Seele! Und ich – ich erwartete schon ganze Gruppen von Türken vor ihren Thüren gelagert und in die langen Schläuche ihrer Narghiles eingewickelt oder mit dem großen Weichselrohre in der Hand und an dem Bernsteinmundstücke saugend zu finden! Aber nein – keine Cigarre, nicht einmal eine Cigarette!

– Das ist freilich kaum zu begreifen, Bruno, gab Van Mitten zu; in der That sind die Straßen Rotterdams mehr von Tabaksrauch erfüllt, als die Constantinopels.

– Ja, sapperment, Mynheer, sagte Bruno, sind Sie sich denn auch gewiß, daß wir uns nicht im Wege geirrt haben? Ist das wirklich die Hauptstadt der Türkei? Können wir darauf wetten, nicht nach der entgegengesetzten Seite gefahren zu sein, und darauf, daß das hier das Goldene Horn und nicht vielleicht die Themse mit ihren Tausenden von Dampfern ist? Bedenken Sie, die Moschee da unten ist gar nicht die der heiligen Sophie, sondern höchst wahrscheinlich die Paulskirche. Das soll Constantinopel sein? – Nimmermehr! Das ist ja London!

– Halt' ein, Bruno, mahnte Van Mitten. Für ein Kind Hollands scheinst Du mir etwas zu nervöser Natur zu sein. Bleibe ruhig, geduldig, phlegmatisch wie Dein Herr, und erstaune über nichts zu sehr. Wir verließen Rotterdam infolge... nun, Du weißt's ja selbst.

– Ja... ja!... bestätigte Bruno den Kopf schüttelnd.

– Wir gingen über Paris, den Sanct Gotthardt, durch Italien nach Brindisi und über das Mittelmeer, und Du hast gar keinen Grund zu glauben, daß das Packetboot der Messageries uns nach achttägiger Ueberfahrt an der London-Bridge, und nicht an der Brücke von Galata abgesetzt hätte.

– Indeß... wendete Bruno ein.

– Ich empfehle Dir übrigens dringend, in Gegenwart meines Freundes Keraban von solchen Scherzen abzusehen. Er könnte sie sehr übel aufnehmen, sich weiter einlassen, seinen Starrkopf aufsetzen...

[18] – Werde mir's merken, Mynheer! versprach Bruno; doch da man hier keine andere Herzstärkung haben kann, ist es doch, vermuthe ich, wenigstens gestattet, eine Pfeife Tabak zu rauchen. Sie erkennen darin doch keinen Verstoß?

– Nein, Bruno, mir als Tabakshändler ist nichts angenehmer, als die Leute rauchen zu sehen. Ich bedauere sogar, daß wir von der Natur nur mit einem einzigen Munde ausgestattet wurden. Freilich haben wir noch die Nase, Tabak zu schnupfen...

– Und die Zähne, um solchen zu kauen!« setzte Bruno hinzu.

Unter diesen Worten stopfte er schon seinen mächtigen buntbemalten Porzellankopf, zündete die Pfeife an und that mit sichtlicher Befriedigung daraus einige kräftige Züge.

Da erschienen eben wieder die beiden Türken, welche so energisch gegen die durch den Ramadan auferlegten Entbehrungen geeifert hatten, auf dem Platze. Gerade Der, der sich nicht genirte, seine Cigarette zu rauchen, bemerkte Bruno, als dieser mit der Pfeife im Munde dahinging.

»Bei Allah! rief er seinem Begleiter zu, da ist wieder einer jener verdammten Fremdlinge, der dem Gebote des Korans zu trotzen wagt. Ich werd' ihn eines Besseren belehren...

– Lösche wenigstens Deine eigene Cigarette, bemerkte ihm der Andere.

– Ja!«

Und die Cigarette wegschleudernd, ging er stracks auf den würdigen Holländer zu, der es sich nicht versah, wieder mit den Worten angeredet zu werden:

»Mit dem Kanonenschusse!« polterte der Türke heraus.

Gleichzeitig entriß er ihm hastig die Pfeife.

»He! Meine Pfeife! rief Bruno, den sein Herr vergeblich zu besänftigen suchte.

– Mit dem Kanonenschusse, Christenhund!

– Selbst Türkenhund!

– Ruhig, Bruno, sagte Van Mitten.

– Er soll mir wenigstens meine Pfeife wiedergeben! versetzte Bruno.

– Mit dem Kanonenschusse! wiederholte zum letzten Male der Türke, der die Pfeife in einer Falte seines Kaftans verschwinden ließ.

– Komm', Bruno, redete Van Mitten diesem zu, man darf die Sitten eines Landes, das man besucht, nicht verletzen.

[19] – Die Sitten von Straßenräubern!

– Komm, sag' ich Dir. Mein Freund Keraban wird vor sieben Uhr nicht auf diesem Platze sein. Wir wollen unseren Spaziergang fortsetzen und ihn zu finden suchen, wenn es dazu Zeit ist.«

Van Mitten zog Bruno mit sich fort, der sehr ärgerlich war, so mir nichts dir nichts einer Pfeife beraubt worden zu sein, die er als Raucher besonders schätzte.

Und während sie weggingen, sagten die beiden Türken zu einander:

»Wahrlich, diese Fremden glauben sich Alles gestatten zu dürfen!...

– Aber auch vor Sonnenuntergang zu rauchen!

– Willst Du Feuer? fragte der Eine, eine neue Cigarette anzündend.

– Ja, gern!« antwortete der Andere.

2. Capitel
Zweites Capitel.
Wo der Intendant Scarpante und der Capitän Yarhud sich von Projecten unterhalten, deren Kenntniß für den Leser von Wichtigkeit ist.

Als Van Mitten und Bruno so am Quai von Top-Hane hinschlenderten und sich eben an der ersten Schiffsbrücke der Sultanin Valide befanden, welche Galata quer über das Goldene Horn mit dem alten Stambul in Verbindung setzt, kam ein Türke um die Ecke der Moschee Mahmud's und blieb dann auf dem Platze stehen.

Es war jetzt um sechs Uhr. Zum vierten Male im Laufe des Tages hatten die Muezzins die Gallerie jener Minarete erstiegen, deren jede von einem Kaiser gestiftete Moschee wenigstens vier hat. Feierlich erklang über der Stadt ihre Stimme, während sie die Gläubigen zum Gebete riefen und in's Freie ertönen ließen: »La Ilah il Allah ve Mohammed reconl Allah« (Es giebt keinen Gott außer Gott und Mohammed ist sein Prophet!)

Der Türke sah sich vorsichtig um, faßte die wenigen Leute auf dem Platze scharf in's Auge und ging dann in der Achse einer der verschiedenen, hier [20] mündenden Straßen weiter; offenbar bemühte er sich, unter deutlichen Zeichen von Ungeduld, zu sehen, ob nicht eine von ihm erwartete Person käme.

»Dieser Yarhud stellt sich auch niemals rechtzeitig ein, murmelte er, und weiß doch, daß er zur bestimmten Zeit hier sein soll!«

Noch mehrmals ging der Türke um den Platz herum, entfernte sich sogar bis zur nördlichen Ecke der Kaserne von Top-Hane, blickte in der Richtung der Kanonengießerei hinaus, stampfte mit dem Fuße, wie einer der ungern wartet, und kam endlich zurück bis nach dem Café, wo Van Mitten und sein Diener vergeblich eine Erfrischung zu erhalten versucht hatten.

Hier nahm der Türke ungenirt an einem der Tische Platz, ohne nach dem Cavadji zu verlangen; als gewissenhafter Beobachter der Fasten des Ramadan wußte er, daß die Stunde, von welcher ab die so verschiedenen Getränke der ottomanischen Destillation verabreicht werden, noch nicht gekommen war.

Dieser Türke war kein Anderer, als Scarpante, der Intendant des reichen Herrn Saffar, eines Ottomanen, der in Trapezunt, d. h. in dem Theil der asiatischen Türkei wohnte, welcher das südliche Ufer des Schwarzen Meeres bildet.

Eben jetzt bereiste Herr Saffar die südlichen Provinzen Rußlands; nach einem Besuche der Kaukasusländer gedachte er dann nach Trapezunt zurückzukehren, in der sicheren Erwartung, daß sein Intendant eine ihm aufgetragene Unternehmung inzwischen mit günstigem Erfolge werde ausgeführt haben. In seinem Palaste, der in der ganzen Pracht orientalischen Luxus' glänzte, in jener Stadt, wo man seine Equipagen allgemein bewunderte, sollte Scarpante nach Durchführung seiner Mission ihn wieder treffen. Herr Saffar hätte nie zugestanden, daß ein Mann, dem er befohlen, etwas zu thun, dabei einen Mißerfolg haben könne. Er liebte es, die Allmacht, welche ihm sein Reichthum verlieh, auf die schwierigsten Proben zu stellen, und verfuhr gewöhnlich mit jener Ostentation, welche den Nabobs Kleinasiens gleich im Blute zu liegen scheint.

Jener Intendant, ein waghalsiger Mann und als solcher zu jedem Handstreich bereit und vor keinem Hinderniß zurückschreckend, war stets entschlossen, per fas et nefas, auch die kleinsten Wünsche seines Herrn zu befriedigen. Aus ähnlicher Absicht traf er auch heute in Constantinopel ein und erwartete er an verabredeter Stelle einen gewissen, maltesischen Capitän, der seiner nach allen Seiten würdig war.

Dieser Capitän, Namens Yarhud, befehligte die Tartane »Guidare«, mit der er meist das Schwarze Meer befuhr.

[21] Seinen Handel mit Contrebande verband er noch mit einem anderen, der das Licht eigentlich noch mehr zu scheuen hatte, nämlich einem solchen mit Sclaven aus dem Sudan, aus Aethiopien oder Aegypten, mit Circassierinnen oder Georgierinnen, welche vorzüglich in dem Stadttheile Top-Hane verkauft werden – übrigens ein Handel, dem gegenüber die Behörde gar zu gern ein Auge zudrückte.

Scarpante wartete noch immer, Yarhud aber kam nicht.

Obwohl der Intendant äußerlich ganz gelassen blieb und nichts seine Gedanken verrieth, brachte doch der innerliche Grimm sein Blut mehr und mehr in Wallung.

»Wo steckt er denn, der Hund? murmelte er. Sollte ihm ein Unfall zugestoßen sein? Vorgestern hat er aus Odessa abreisen wollen! Er mußte hier auf diesem Platz, in diesem Café und in der Minute hier sein, in der ich ihn zu treffen bestimmt hatte«...

In diesem Augenblicke erschien ein maltesischer Seemann an der Ecke des Quais. Das war Yarhud. Er blickte nach rechts und nach links und gewahrte jetzt Scarpante. Dieser erhob sich sogleich, verließ das Kaffeehaus und gesellte sich zu dem Capitän der »Guidare«, während einige Passanten – jetzt zwar in etwas größerer Anzahl, aber alle schweigend – sich hier und dorthin über den Platz bewegten.

»Ich bin nicht gewohnt, daß man mich warten läßt, Yarhud, sagte Scarpante in einem Tone, über den der Malteser nicht im Unklaren bleiben konnte.

– Möge Scarpante mir verzeihen, antwortete Yarhud, aber ich habe gewiß das Möglichste gethan, um rechtzeitig hier einzutreffen.

– So bist Du eben erst angekommen?

– Erst diesen Augenblick mit der Eisenbahn von Janboli nach Adrianopel, und ohne jede Zugsverspätung...

– Wann bist Du aus Odessa abgefahren?

– Vorgestern.

– Und Dein Schiff?

– Erwartet mich im Hafen von Odessa.

– Kannst Du Deinen Leuten trauen?

– Vollkommen! Es sind Malteser gleich mir, welche dem treu dienen, der freigebig bezahlt.

[22] – Und sie werden Dir gehorchen?...

– Hierin, wie in Allem.

– Gut! Welche Nachrichten bringst Du, Yarhud?

– Ja, gleichzeitig gute und schlechte, erwiderte der Capitän achselzuckend.

– Wie lauten zunächst die schlechten? fragte Scarpante.

– Die schlechten... nun, dahin, daß die junge Amasia, die Tochter des Banquiers Selim zu Odessa, sich bald verheiraten soll. Ihre Entführung wird also mehr Schwierigkeiten bieten und verlangt jetzt größere Eile, als wenn ihre Vermählung noch nicht so bald bevorstände.

– Aus dieser Vermählung wird eben nichts werden, Yarhud! rief Scarpante etwas lauter, als es zweckdienlich schien. Nein, bei Mohammed, es darf nichts daraus werden.

– Ich habe nicht gesagt, daß dieselbe vor sich gehen werde, Scarpante, versetzte Yarhud, sondern nur, daß sie stattfinden sollte.

– Nun ja doch, erwiderte der Intendant, Herr Saffar erwartet jedoch, daß jenes junge Mädchen vor Ablauf von drei Tagen nach Trapezunt eingeschifft ist, und wenn Du das für unmöglich hieltest...

– Ich habe nicht gesagt, daß es unmöglich sei, Scarpante. Mit Muth und Geduld ist nichts unmöglich. Ich habe nur gesagt, daß es schwieriger sein werde, nichts weiter.

– Schwierig! antwortete Scarpante. Das wird auch nicht zum ersten Male sein, daß eine junge Türkin oder Russin aus Odessa verschwunden und nicht in das väterliche Haus zurückgekehrt wäre.

– Und es wird hier nicht zum letzten Male der Fall sein, erklärte Yarhud, oder der Capitän der »Guidare« müßte sein Geschäft nicht verstehen.

– Was für ein Mann ist es, den die junge Amasia heiraten soll? fragte Scarpante.

– Ein junger Türke, von dem nämlichen Stamme wie sie.

– Ein Türke aus Odessa?

– Nein, aus Constantinopel.

– Und er heißt?...

– Ahmet.

– Was ist dieser Ahmet?

– Der Neffe und einzige Erbe eines reichen Kaufmanns von Galata, des Seigneur Keraban.


»Ich rechne auf Deinen Eifer, Yarhud.« (S. 28.)

– Was treibt dieser Keraban?

[23]

– Tabakhandel, bei dem er ein großes Vermögen erworben hat; in Odessa ist sein Correspondent der Banquier Selim. Sie machen miteinander sehr ausgedehnte Geschäfte und statten sich öfters Besuche ab. Bei einer solchen Gelegenheit hat Ahmet die junge Amasia kennen gelernt, und so ist die Verbindung zwischen dem Vater des jungen Mädchens und dem Onkel des jungen Mannes ausgemacht worden.

– Wo soll die Trauung vor sich gehen? fragte Scarpante. Hier in Constantinopel?

[24] – Nein, in Odessa.

– Zu welcher Zeit?

– Das weiß ich zwar nicht, fürchte aber, daß sie auf Betreiben der jungen Ahmet jeden Tag stattfinden könne.

– Es ist also kein Augenblick zu verlieren.

– Kein einziger!

– Wo befindet sich Ahmet jetzt?

– In Odessa.

[25] – Und jener Keraban?

– In Constantinopel.

– Hast Du während der Zeit zwischen Deiner letzten Ankunft in Odessa und Deiner Abreise von da den jungen Mann gesehen, Yarhud?

– Ich hatte ja ein Interesse daran, ihn zu kennen, Scarpante... Ich hab' ihn gesehen und kenne ihn.

– Wie ist er?

– O, ein junger Mann, der geschaffen ist zu gefallen und der der Tochter des Banquiers Selim auch gefällt.


Die Aja Sophia in Constantinopel. (S. 18.)

– Ist er zu fürchten?

– Man nennt ihn muthvoll, entschlossen, und bei unserem Vorhaben, mein' ich, werden wir ihn nicht außer Rechnung lassen dürfen.

– Ist er unabhängig bezüglich seiner Stellung, seines Vermögens? fragte Scarpante, der alles diesen jungen Ahmet Betreffende, der ihm doch einige Unruhe einflößte, kennen zu lernen wünschte.

– Nein, Scarpante, antwortete Yarhud. Ahmet hängt von seinem Onkel und Vormund, dem Seigneur Keraban ab, der ihn wie einen Sohn liebt und sich aller Wahrscheinlichkeit nach sehr bald nach Odessa begeben wird, um die Verbindung zum Abschluß zu bringen.

– Ließe sich die Abreise dieses Keraban nicht verzögern?

– Ja, das wäre freilich das Beste und gewährte uns mehr Zeit zum Handeln. Doch wie sollten wir es anfangen?

– Es ist Deine Sache, das auszuklügeln, Yarhud, erklärte Scarpante; jedenfalls muß geschehen, was Seigneur Saffar wünscht, das heißt, die junge Amasia muß nach Trapezunt geschafft werden. Es ist ja nicht zum ersten Male, daß die Tartane »Guidare« für seine Rechnung das Schwarze Meer befährt, und Du weißt, wie er die ihm geleisteten Dienste belohnt....

– Gewiß, Scarpante.

– Seigneur Saffar hatte jenes junge Mädchen nur einen Augenblick in ihrer Wohnung zu Odessa gesehen; ihre Schönheit hatte ihn berückt, und sie wird sich nicht zu beklagen haben, das Haus des Banquiers Selim mit seinem Palast in Trapezunt vertauscht zu haben. Amasia wird also entführt, und wenn es nicht durch Dich geschieht, nun, so wird es ein Anderer übernehmen.

– Ich werd's ausführen, verlassen Sie sich auf mich, antwortete einfach der Maltesercapitän. Die schlimmen Neuigkeiten wissen Sie nun; jetzt hören Sie die bessern.

[26] – Rede, erwiderte Scarpante, der, nachdem er einige Schritte hin und her gegangen war, wieder an Yarhud herantrat.

– Wenn die bevorstehende Vermählung es etwas erschwert, das junge Mädchen zu entfernen, fuhr der Malteser fort, da Ahmet kaum von ihrer Seite weicht, so bietet sie mir andererseits Gelegenheit, in das Haus des Banquiers Selim zu gelangen. Ich bin ja nicht allein Schiffsführer, sondern auch Händler. Die »Guidare« birgt eine reiche Ladung Seidenstoffe aus Brussa, Marder- und Zobelpelzwerk, glänzende Brocate, Schnüre und Besatz von den geschicktesten Goldspinnerinnen Kleinasiens und hundert andere Waaren, welche die Begehrlichkeit einer jungen Verlobten zu reizen vermögen. Gerade, wenn sie sich vermählen soll, wird die Versuchung sie leichter besiegen. Ich werde sie also an Bord locken, einen günstigen Wind benützen können, ehe Jemand von der Entführung etwas ahnt.

– Das scheint mir gut erdacht, Yarhud, antwortete Scarpante, und ich zweifle nicht, daß Du damit Erfolg hast. Aber sorge dafür, daß Alles in größter Heimlichkeit geschieht.

– Seien Sie ohne Sorge, versicherte Yarhud.

– An Geld fehlt es Dir nicht?

– Nein, daran wird mir's nie fehlen mit einem Auftraggeber wie Ihr Herr.

– Verliere keine Zeit! Nach vollzogener Trauung ist Amasia die Gattin Ahmets, erwiderte Scarpante, und Ahmets Frau erwartet Seigneur Saffar nicht in Trapezunt!

– Ich verstehe!

– Du wirst also, sobald die Tochter des Banquiers Selim bei Dir an Bord ist, auslaufen?...

– Gewiß, Scarpante, denn ich werde nicht eher vorgehen, als bis eine gute westliche Brise weht.

– Und wieviel Zeit brauchst Du, Yarhud, um von Odessa direct nach Trapezunt zu segeln?

– Unter Berücksichtigung der möglichen Verzögerungen, der im Sommer nicht seltenen Windstille und der häufiger wechselnden Winde auf dem Schwarzen Meere dürfte die Ueberfahrt wohl auf drei Wochen zu veranschlagen sein.

– Gut, erwiderte Scarpante; eben zu derselben Zeit werd' ich in Trapezunt zurück sein, und mein Herr wird auch nicht auf sich warten lassen.

[27] – Ich hoffe noch vor Ihnen dort einzutreffen.

– Seigneur Saffar hat, das bemerke ich Dir, noch ausdrücklich vorgeschrieben, daß das junge Mädchen mit aller erdenklichen Rücksicht behandelt werden soll. Keine Rohheit, keine Gewalt, wenn sie erst bei Dir an Bord ist!...

– Sie wird respectirt werden, ganz wie es Seigneur Saffar wünscht, und ganz so, als wenn es ihm selbst gälte.

– Ich rechne auf Deinen Eifer, Yarhud.

– Er gehört ganz Ihnen, Scarpante.

– Und auf Deine Gewandtheit!

– Sicherer würde ich meiner Sache freilich sein, wenn diese Heirat etwas verzögert würde, und das könnte erreicht werden, wenn irgend ein Zwischenfall die unmittelbare Abreise des Seigneur Keraban verhinderte.

– Kennst Du ihn, diesen Händler?

– Seine Feinde, oder die, welche es werden wollen, muß man immer kennen, entgegnete der Malteser. So ist es auch nach der Ankunft hier meine erste Sorge gewesen, mich unter dem Vorwande von Geschäften nach seinem Comptoir in Galata zu begeben.

– Und da hast Du ihn gesehen?

– Nur einen Augenblick, doch das genügte, und...«

Da unterbrach sich Yarhud und trat eiligst näher zu Scarpante heran, dem er leise zuflüsterte:

»Ei, Scarpante, ein merkwürdiger Zufall und vielleicht ein glückliches Zusammentreffen!

– Was willst Du?

– Jener starke Mann, der dort in Begleitung seines Dieners die Straße von Pera herunterkommt...

– Das wäre er?

– Ja freilich, Scarpante, antwortete der Capitän. Halten wir uns bei Seite und verlieren wir ihn nicht aus den Augen. Ich weiß, daß er jeden Abend nach seiner Wohnung in Scutari zurückkehrt, und um zu erfahren, ob er demnächst abzureisen gedenkt, würde ich ihm, wenn nöthig, selbst auf die andere Seite des Bosporus folgen!«

Scarpante und Yarhud mischten sich unter die Menschen, deren Zahl auf dem Platze von Top-Hane jetzt jede Minute anwuchs, und hielten sich in gemessener Entfernung, um Alles sehen und hören zu können, was übrigens [28] ziemlich leicht war, da der »Seigneur Keraban«, so wurde er im Quartier von Galata betitelt, mit sehr lauter Stimme sprach und seine gewichtige Persönlichkeit keineswegs zu verbergen suchte.

3. Capitel
Drittes Capitel.
In welchem Seigneur Keraban höchst erstaunt ist, mit seinem Freunde Van Mitten zusammenzutreffen.

Der Seigneur Keraban war, um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen, ein »Mann von großer Oberfläche« – körperlich wie geistig – zählte seinem Gesicht nach vierzig, seiner Corpulenz nach fünfzig und in Wahrheit fünfundvierzig Jahre; bei seiner imponirenden Gestalt zeichnete er sich durch ein höchst intelligentes Gesicht aus. Sein schon etwas grau schimmernder Bart mit zwei Spitzen, die er mehr kurz als lang hielt, die schwarzen, seinen, scharfen Augen mit lebhaftem Blick, welche selbst für die flüchtigsten Eindrücke ebenso empfänglich waren, wie die Schale einer Präcisionswage für den Unterschied eines Zehntel-Karat, ein mächtiges Kinn, seine, wenn auch nicht übermäßig ausgesprochene Adlernase, welche zu den Augen vortrefflich paßte, der Mund mit festgeschlossenen Lippen, die sich nur öffneten, um eine volle Reihe schöner weißer Zähne zu zeigen; die hohe gut gewölbte Stirn mit lothrechter Falte, einer richtigen Trotzkopf-Falte zwischen den beiden rabenschwarzen Augenbrauen – alles das zusammen verlieh ihm das eigenthümliche Aussehen eines originellen selbstbewußten Mannes, den man nicht leicht wieder vergessen konnte, wenn er auch nur einmal die Aufmerksamkeit eines Anderen erregt hatte.

Die Kleidung des Seigneur Keraban war die der alten Türken, welche noch der früheren Tracht aus der Janitscharenzeit treugeblieben sind: ein breiter, vorstehender Turban, weite, flatternde Beinkleider, die nach den »Pabüdj« zu herabfielen, eine ärmellose Weste verziert mit großen facettirten Knöpfen und mit seidenem Ausputz, der Gürtelshawl, der seinen wohlbeleibten Rumpf umschloß, und endlich der Kaftan, der in majestätischen Falten herabwallte. In dieser [29] antiken Tracht fand sich also keine Spur europäischer Mode, und sie unterschied sich auf den ersten Augenblick von der Kleidung der Orientalen der neuen Epoche. Eben diese Tracht gilt als Abweisung der neuen Ideen, als Protest zu Gunsten der localen Färbung, welche mehr und mehr zu verschwinden droht, und als offener Widerspruch gegen die Erlässe des Sultans Mahmud, dessen allmächtiger Wille das moderne Costüm der Osmanlis vorgeschrieben hat.

Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß der Diener des Seigneur Keraban, ein Bursche von fünfundzwanzig Jahren, Namens Nizib, der so mager war, daß der Holländer Bruno sich darüber fast entsetzte, ebenfalls das alttürkische Costüm trug. Da er seinem Herrn, einen der starrsinnigsten Menschen, in keiner Weise entgegentrat, konnte er doch hierin nicht von ihm abweichen. Er war ein treuer Diener, dem es nur an eigenen Gedanken völlig fehlte. Meist sagte er schon im Voraus zu Allem ja und wiederholte unbewußt, wie ein Echo, das Ende der Phrasen des mächtigen Kaufherrn. Das war das beste Mittel, mit ihm stets einer Ansicht zu sein und sich gelegentlich harte Zurechtweisungen zu ersparen, welche Seigneur Keraban ziemlich verschwenderisch auszutheilen liebte.

Beide kamen also durch eine der engen schlauchartigen Gassen, die von den Vorstadt Pera herabführen, nach dem Platze von Top-Hane. Seiner Gewohnheit gemäß sprach Seigneur Keraban mit lauter Stimme, ohne sich darum zu kümmern, ob ihn Jemand hörte oder nicht.

»Zum Teufel, nein! sagte er. Mög' Allah mit uns sein, aber seit der Zeit der Janitscharen hatte Jedermann das Recht, wenn der Abend gekommen war, zu thun, was ihm beliebte. Nein, ich füge mich ihren neuen Polizeiordnungen nicht! Ich werde auf der Straße gehen ohne Laterne in der Hand, wenn mir das beliebt, und wenn ich in das erste beste Schlammloch stürzen oder mich von einem herrenlosen Hunde sollte in die Beine beißen lassen.

– Beine beißen lassen!... wiederholte Nizib.

– Du hast gar nicht nöthig, mir die Ohren mit Deinen dummen Warnungen zu belästigen, oder bei Mohammed, ich verlängere die Deinigen, daß Dich jeder Esel sammt seinem Großvater darum beneiden soll!

– Darum beneiden soll!... antwortete Nizib, dem es übrigens kaum in den Sinn gekommen war, sich mit einer Warnung aufzudrängen.

– Und wenn der Polizeipräfect mich in Strafe nimmt, fuhr der trotzige Mann fort, so werd' ich eben die Strafe bezahlen. Verurtheilt er mich zu [30] Gefängniß – gut, so gehe ich in's Gefängniß; aber es fällt mir, in diesem Punkte wie in jedem andern, gewiß nicht ein, nachzugeben!«

Nizib machte ein Zeichen der Zustimmung. Er war bereit, seinen Herrn in's Gefängniß zu begleiten, wenn es so weit kam.

»Ah, diese Herren Jungtürken! rief Seigneur Keraban, als er eben ein paar Constantinopolitaner in schwarzem Rocke und mit dem rothen Fez auf dem Kopfe vorübergehen sah. Ah, Ihr wollt uns Gesetze geben, wollt mit den alten Gewohnheiten brechen! – Nun wohlan, und wenn ich allein übrig bleiben sollte, ich erhebe Einspruch!... Nizib, hast Du meinem Kajiktschi gesagt, sich um sieben Uhr an der Terrasse von Top-Hane einzufinden?

– Um sieben Uhr!

– Warum ist er noch nicht da?

– Ja, warum wird er noch nicht da sein?

– Aha, weil es eben noch nicht sieben Uhr ist.

– Nein, es ist noch nicht sieben Uhr.

– Woher weißt Du das?

– Ich weiß es, weil Sie es sagen, Herr!

– Und wenn ich sagte, es wäre fünf Uhr?

– Dann würde es auch um fünf Uhr sein, antwortete Nizib.

– Nein, es giebt doch keinen dümmeren Menschen!

– Keinen dümmeren Menschen.

– Dieser Kerl, murmelte Keraban, wird mich noch wüthend machen damit, daß er nie eine andere Meinung hat!«

Eben erschienen Van Mitten und Bruno wieder auf dem Platze, und Bruno sagte mit dem Tone schwerer Enttäuschung:

»Nein, ziehen wir unseres Wegs, Herr; lassen Sie uns fortgehen und mit dem ersten Zuge reisen! Das soll Constantinopel sein, die Hauptstadt des Oberherrn der Gläubigen? – Nimmermehr!

– Nur ruhig, Bruno, ruhig!« antwortete Van Mitten.

Es wurde jetzt allmählich Abend. Die hinter den Anhöhen des alten Stambul verborgene Sonne ließ den Platz von Top-Hane schon in einer Art Helldunkel. Van Mitten erkannte deshalb den Seigneur Keraban nicht gleich, als dieser sich mit ihm auf dem Wege nach dem Quai von Galata kreuzte. Der Zufall wollte es auch, daß die beiden Männer, da sie gerade in verschiedener Richtung gingen, an einander stießen, indem sie gleichzeitig nach


Beide kamen nach dem Platze von Top-Hane. (S. 30.)

rechts und wieder nach links ausweichen wollten. Diese Hin- und Herbewegung, welche eine halbe Minute dauerte, hatte einen fast lächerlichen Anstrich.

»Nun, mein Herr, rief Keraban, der nicht dazu angethan war, nachzugeben, Sie werden mich durchlas [31] sen.

– Ja, aber... erwiderte Van Mitten, der höflich zur Seite wich, um Platz zu machen, aber aus dem eben angegebenen Grunde nicht dazu kam.

– Ich werde doch vorwärts gehen...

– Ja wohl, aber«...


»Nun, mein Herr, Sie werden mich durchlassen,« sagte Keraban. (S. 32.)

[32]

Plötzlich rief er, den, mit dem er zu thun hatte, erkennend:

»Ah mein Freund Keraban!

– Sie... Sie, Van Mitten, erwiderte Keraban höchst erstaunt, Sie hier in Constantinopel?

– Wie Sie sehen.

– Seit wann?

– Seit diesem Morgen.

– Und Sie haben nicht zuerst mir, mir einen Besuch abgestattet?

[33] – Im Gegentheil, ich bin bei Ihnen gewesen, erklärte der Holländer. Ich begab mich sofort nach Ihrem Comptoir, traf Sie daselbst aber nicht an und hörte nur, daß Sie um sieben Uhr Abends nach diesem Platze kommen würden...

– Womit meine Leute ganz Recht hatten, Van Mitten, rief Keraban, indem er mit einer Heftigkeit, die schon mehr an Gewalt grenzte, die Hand seines Correspondenten aus Rotterdam drückte. Ah, mein lieber Van Mitten, nie, nein, niemals hätte ich erwartete Sie in Constantinopel zu sehen!... Warum haben Sie mir nicht geschrieben?

– Ich bin aus Holland sehr plötzlich abgereist

– Eine Geschäftsreise?

– Nein... eine Tour... zum Vergnügen! Bisher kannte ich ja weder Constantinopel, noch die Türkei überhaupt, und ich beabsichtigte gleichzeitig, Ihnen für Ihren Besuch, den Sie mir in Rotterdam gemacht, einen Gegenbesuch abzustatten.

– Das ist schön von Ihnen!... Aber es scheint mir, ich sehe Frau Van Mitten nicht mit Ihnen?

– Freilich... ich habe sie nicht mitgebracht, gestand der Holländer nicht ohne einiges Zögern. Meine Frau geht nur ungern von zu Hause fort; so bin ich mit meinem Diener Bruno allein gekommen!

– Aha, mit diesem Burschen, sagte Seigneur Keraban, eine leichte Handbewegung gegen Bruno machend, der sich nach türkischer Sitte verneigen zu müssen glaubte und seine beiden Arme wie die Henkel einer Vase nach dem Hute ausstreckte.

– Jawohl, antwortete Van Mitten, dieser wackere junge Mann, der mich schon verlassen und zurückreisen wollte...

– Zurückreisen? rief Keraban. Zurückreisen, ohne von mir dazu Erlaubniß zu haben?

– Ja, Freund Keraban. Er findet diese Hauptstadt des ottomanischen Kaiserreichs weder sehr unterhaltend, noch sehr belebt.

– Das richtige Mausoleum! ließ sich Bruno vernehmen. Kein Mensch in den Läden!... Kein Wagen auf Straßen und Plätzen!... Nur Schattengestalten, welche durch die Straßen eilen und Einem auch noch die Pfeife rauben.

– Ja, so ist's wohl während des Ramadan, Van Mitten, antwortete Seigneur Keraban, und wir sind jetzt mitten im Ramadan.

[34] – Ah so, das nennt man Ramadan? fiel Bruno ein. Nun erklärt sich ja Alles! – Doch bitte, was ist denn das, dieser Ramadan?

– Eine Zeit des Fastens und der Enthaltsamkeit, belehrte ihn Keraban. Während der Dauer desselben ist es zwischen Auf- und Untergang der Sonne verboten zu rauchen, zu trinken und zu essen. Nach Verlauf einer halben Stunde aber, sobald der Kanonenschuß das Ende des Tages verkündet...

– Aha, da haben wir ja, was sie mit ihrem Kanonenschuß meinten, rief Bruno.

– Dann wird sich Alles die ganze Nacht hindurch für die Entbehrung des Tages schadlos halten.

– Also haben Sie, wandte Bruno sich an Nizib, weil jetzt Ramadan ist, seit diesen Morgen noch keinen Bissen genossen?

– Noch keinen Bissen genossen, bestätigte Nizib.

– Sapperment, da würd' ich bald gehörig abmagern! Das kostete mir jeden Tag ein Pfund Leibesgewicht – mindestens ein Pfund.

– Mindestens, stimmte Nizib zu.

– Nun sollen Sie aber sehen, wenn die Sonne untergegangen ist, Van Mitten, nahm Keraban das Wort, da werden Sie große Augen machen! Dann ändert sich Alles wie mit einem Zauberschlage, der aus einer todten Stadt eine lebende macht. Ah, Ihr Herren Jungtürken, diese guten alten Sitten habt Ihr mit Euren albernen Neuerungen doch nicht beseitigen können! Der Koran hält schon solchen Dummheiten die Stange! Möge Mohammed Euch erdrosseln!

– O, Freund Keraban, meinte Van Mitten, ich sehe, daß Sie den alten Gewohnheiten noch vollkommen treu geblieben sind.

– Das ist mehr als Treue, Van Mitten, das grenzt schon an Trotz! – Doch, sagen Sie mir, werther Freund, Sie werden doch einige Tage in Constantinopel verweilen, nicht wahr?

– Ja... das heißt...

– Schon gut, Sie gehören mir! Ich lege Beschlag auf Ihre Person! Sie werden mich nicht mehr verlassen.

– Gut, ich gehöre Ihnen.

– Und Du, Nizib, wirst für den Burschen da Sorge tragen, setzte Keraban mit einem Hinweis auf Bruno hinzu. Ich beauftrage Dich vor Allem, seine Vorstellungen über unsere wundervolle Hauptstadt zu ändern.«

[35] Nizib gab ein Zeichen der Zustimmung und zog Bruno mitten in die Menschenmenge, welche immer dichter wurde.

»Halt, da fällt mir etwas ein, rief plötzlich Seigneur Keraban, Sie kommen gerade zur rechten Zeit, Van Mitten. Sechs Wochen später hätten Sie mich nicht mehr in Constantinopel getroffen.

– Sie, Keraban?

– Ja, mich; ich wäre dann nach Odessa abgereist.

– Nach Odessa?

– Nun, wenn Sie dann noch hier sind, reisen wir natürlich zusammen. Ja, wahrlich, ich sehe gar nicht ein, warum Sie mich nicht begleiten sollten.

– Das heißt... stotterte Van Mitten.

– Sie werden mich eben begleiten, sage ich Ihnen!

– Ich dachte allerdings, von der etwas schnell zurückgelegten Reise mich hier zu erholen...

– Ganz recht! Sie ruhen hier aus!... Nachher ruhen Sie wieder in Odessa aus, drei volle Wochen lang.

– Freund Keraban...

– Alles abgemacht, Van Mitten. Ich denke doch, daß Sie nicht die Absicht haben, mir schon am ersten Tage Ihres Hierseins zu widersprechen? Sie wissen ja, wenn ich Recht habe, gebe ich nicht so leicht nach.

– Ja... das weiß ich!... erwiderte Van Mitten.

– Uebrigens, fuhr Keraban fort, kennen Sie meinen Neffen Ahmet noch gar nicht, und dessen Bekanntschaft müssen Sie doch nothwendig machen.

– Sie haben mir zwar von Ihrem Neffen gesprochen...

– Besser, von meinem Sohne, Van Mitten, da ich ja keine Kinder habe. Sie wissen, die Geschäfte... O, die Geschäfte!... Ich habe keine fünf Minuten Zeit gefunden, mich zu verheiraten.

– Dazu genügt schon eine Minute, bemerkte Van Mitten sehr ernst, und zuweilen ist schon eine Minute zu viel!

– Sie werden Ahmet in Odessa treffen, sagte Keraban. Ein prächtiger Junge!... Vom Geschäft will er zwar nicht viel wissen, ist so ein Stückchen Künstler und ein Stückchen Dichter... Aber ein prächtiges Kerlchen! Seinem Onkel gleicht er nicht im Geringsten und tritt ihm niemals entgegen.

– Freund Keraban...

[36] – Schon gut! Schon gut! Zur Feier seiner Hochzeit gehen wir eben nach Odessa.

– Seiner Hochzeit?

– Ja, freilich. Ahmet heiratet ein hübsches Mädchen... die junge Amasia... die Tochter meines Banquiers Selim, eines reichen Türken, wie ich. Da wird es schöne Feste geben. Das muß herrlich werden! Sie sind natürlich dabei!

– Aber... ich hätte vorgezogen... stammelte Van Mitten, der noch einen letzten Einwurf machen wollte.

– Ist schon Alles abgemacht! erklärte Keraban. Es wird Ihnen doch nicht in den Sinn kommen, sich wider mich auflehnen zu wollen?

– Ich möchte nur... antwortete Van Mitten.

– Ach was, Sie werden's aber nicht können!«

In diesem Augenblicke näherten sich Scarpante und der Maltesercapitän, welche weiter in der Mitte des Platzes gestanden hatten.

Seigneur Keraban sagte eben zu seinem Gastfreunde:

»Abgemacht! Binnen höchstens sechs Wochen reisen wir Beide nach Odessa!

– Und die Hochzeit findet statt...? fragte Van Mitten.

– Sobald wir daselbst angelangt sind,« antwortete Keraban.

Yarhud hatte sich nach Scarpante's Ohr geneigt.

»Sechs Wochen, da haben wir ja hinlänglich Zeit!

– Ja, aber je eher Alles abgemacht ist, desto besser, antwortete Scarpante. Vergiß nicht, Yarhud, daß Seigneur Saffar vor Ablauf von sechs Wochen in Trapezunt zurück sein wird.«

Beide gingen dann wieder mit lauerndem Auge und gespanntem Ohre auf und ab.

Inzwischen plauderte Seigneur Keraban mit Van Mitten weiter und sagte:

»Mein Freund Selim, der's immer eilig hat, und mein Neffe Ahmet, der vielleicht noch ungeduldiger ist, wollten die Hochzeit unverzüglich feiern. Ich muß wohl zugeben, daß sie dafür einen gewissen Grund haben. Selim's Tochter muß nämlich vor vollendetem siebzehnten Lebensjahre vermählt sein, oder sie verliert die Kleinigkeit von hunderttausend türkischen Pfunden (– 1,800.000 Mark^ welche eine alte verrückte Tante ihr nur unter jener Bedingung testamentarisch ausgesetzt hat. Siebzehn Jahre alt wird sie aber erst nach sechs Wochen. Ich habe den Leutchen auch den Kopf zurecht gesetzt und gesagt: »Ob's Euch [37] nun recht ist oder nicht, die Hochzeit wird vor Ende des kommenden Monats doch nicht stattfinden.«

– Und Ihr Freund Selim hat sich gefügt? fragte Van Mitten.

– Das versteht sich.

– Und der junge Ahmet?

– Der nicht so leicht, antwortete Keraban. Er betet die hübsche Amasia an; ich habe nichts dagegen; er hat ja Zeit genug dazu. Geschäftlich ist er nicht in Anspruch genommen. Nun, Sie müssen so etwas ja begreifen, Freund Van Mitten, Sie haben ja einmal die schöne Frau...

– Ja, ja, Freund Keraban, unterbrach ihn der Holländer. Das ist aber schon lange her... so lange, daß es kaum der Mühe lohnt, mich daran zu erinnern.

– Gleichgiltig, Freund Van Mitten; wenn es nun in der Türkei unziemlich ist, einen Türken nach den Frauen seines Harems zu fragen, so ist das doch uns gegenüber einem Fremden nicht verboten... Frau Van Mitten befindet sich hoffentlich...

– O ganz gut, ganz gut!... versicherte Van Mitten, den die Höflichkeiten seines Freundes etwas in üblere Laune zu versetzen schienen. Ja... recht gut... das heißt, sie ist meist etwas leidend!... Sie kennen ja die Weiber...

– Die Weiber! Nein, wahrhaftig nicht, rief Seigneur Keraban auflachend. Die Weiber nicht – die Geschäfte so viel Sie wollen. Den Tabak von Macedonien für die Cigarettenraucher, den Tabak von Persien für die Liebhaber von Narghiles, und meine Geschäftsfreunde in Salonichi, Erzerum, Lataklah, Badra, Trapezunt – meinen Freund Van Mitten in Rotterdam nicht zu vergessen! Schon seit dreißig Jahren hab' ich meine Tabakcollis nach allen vier Enden Europas versendet.

– Und Tabak geraucht! fügte Van Mitten hinzu.

– Ja, geraucht wie ein Fabriksschornstein. Ich frage Sie auch, giebt's denn etwas Schöneres in der Welt?

– Nein, gewiß nicht, Freund Keraban.

– Ich rauche schon vierzig Jahre lang, Freund Van Mitten, treu meinem Tschibuk, ergeben meinem Narghile! Das ist mein ganzer Harem, und es giebt überhaupt keine Frau, die eine Pfeife Tombeki werth wäre.

– Darin bin ich ganz Ihrer Meinung, bestätigte der Holländer.

– Uebrigens, fuhr Keraban fort, da ich Sie nun einmal habe, werd' ich Sie auch nicht loslassen. Mein Kajik muß sofort eintreffen, mich über den [38] Bosporus zu bringen. Ich speise in meiner Villa in Scutari und nehme Sie natürlich mit...

– Das heißt...

– Ich nehme Sie mit, sage ich Ihnen! Wollen Sie gar noch Umstände machen, jetzt... mit mir?

– Nein, nein, Freund Keraban, ich nehme an, antwortete Van Mitten, ich gehöre Ihnen mit Leib und Seele.

– Sie werden selbst sehen, sagte Keraban, werden sehen, welch' reizende Wohnung ich mir unter den dunklen Cypressen auf halber Höhe des Hügels von Scutari eingerichtet habe, von der aus man die Aussicht über den Bosporus und über das ganze Panorama von Constantinopel genießt. Ah, die wahre Türkei liegt doch nur am Ufer da drüben! Hier ist noch Europa, dort ist Asien, und unsere Fortschrittler im schwarzen Rock werden nicht wagen, ihren Ideen da Eingang verschaffen zu wollen. Sie würden ertrinken, wenn sie über den Bosporus wollten. – Wir speisen also zusammen!

– Sie machen eben mit mir, was Sie wollen.

– Und Sie müssen sich's gefallen lassen! antwortete Keraban. Dann drehte er sich einmal um.

– Wo steckt denn Nizib?... He, Nizib! Nizib!...«

Nizib, der mit Bruno ein Stückchen weiter gegangen war, hörte die Stimme seines Herrn, und Beide kamen schnellen Schrittes heran.

»Nun, fragte Keraban, dieser Kajiktschi scheint mit seinem Kajik noch nicht zu kommen.

– Nicht zu kommen, wiederholte Nizib.

– Ich werde ihm die Bastonnade geben lassen, wahrhaftig! rief Keraban. Ja, hundert Stockhiebe.

– O, machte Van Mitten.

– Fünfhundert!

– Oh! ließ Bruno sich vernehmen.

– Tausend, wenn mir noch Jemand widerspricht!

– Seigneur Keraban, meldete sich da Nizib, ich sehe Ihren Kajiktschi. Er verläßt eben die Serailspitze und muß binnen zehn Minuten an der Treppe von Top-Hane anlegen.«

Und während Seigneur Keraban am Arme Van Mitten's vor Ungeduld mit dem Fuße stampfte, ließen ihn Yarhud und Scarpante keinen Moment aus den Augen.

[39]
4. Capitel
Viertes Capitel.
In welchem Seigneur Keraban, noch starrköpfiger als sonst, sogar den Beamten der Hohen Pforte entgegentritt.

Inzwischen war der Kajiktschi angelangt und hatte dem Seigneur Keraban gemeldet, daß sein Kajik ihn unten an der Treppe erwarte.

Dieser Kajiktschis giebt es auf den Gewässern des Bosporus und des Goldenen Horns Tausende. Ihre Boote laufen am Vorder- wie am Hintertheile gleichmäßig spitz aus, um in beiden Richtungen bequem fahren zu können, und haben etwa die Form fünfzehn bis zwanzig Fuß langer Schlittschuhe, welche aus einigen mit Bildhauerarbeit und im Innern mit Malereien geschmückten Planken von Buchen- und Cypressenholz gezimmert werden. Es ist überraschend zu sehen, mit welcher Schnelligkeit diese schlanken Boote dahingleiten, einander kreuzen oder überholen in der herrlichen Meerenge, welche das Ufer beider Continente trennt. Die einflußreiche Zunft der Kajiktschis versieht diesen Dienst vom Anfang des Marmarameeres bis zu dem Schlosse Europas und dem Asiens, welche sich im nördlichen Theile des Bosporus gegenüberstehen.

Es sind im Allgemeinen hübsche Gesellen, bekleidet mit dem »Burudjuk«, einer Art seidenem Hemd, mit lebhaft gefärbtem und mit Goldstickereien verziertem »Yelek«, einem kurzen Beinkleid aus weißer Baumwolle, wozu sie einen »Fez«, und, während Schenkel und Arme nackt bleiben, an den Füßen selbst »Yemenis« tragen.

Daß der Kajiktschi des Seigneur Keraban – d. h. der Schiffer, welcher Letzteren jeden Abend nach Scutari und jeden Morgen zurückfuhr – daß dieser Kajiktschi wegen seines etwas langen Ausbleibens einen ziemlich üblen Empfang fand, ist wohl unnöthig hier hervorzuheben. Der phlegmatische Seemann ließ sich davon freilich nicht besonders berühren, denn er wußte recht gut, daß man einem so vortrefflichen Kunden auch etwas zu Gute halten müsse, und so begnügte er sich, nur nach seinem am Fuße der Treppe liegenden Boote zu zeigen.

Seigneur Keraban wollte sich eben in Begleitung Van Mitten's und gefolgt von Bruno und Nizib nach dem Fahrzeug hinabbegeben, als in der Menge auf dem Top-Hane-Platze plötzlich eine gewisse Bewegung entstand.

[40] Seigneur Keraban hielt ein.

»Was giebt's denn da?« fragte er.

Da erschien der Polizeihauptmann des Stadtviertels von Galata, umgeben von Gardisten, welche das Volk auseinanderdrängten, auf dem Platze. Ein Trommelschläger und ein Trompeter begleiteten ihn. Der erstere schlug einen Wirbel, der Andere blies ein Signal, und allmählich wurde es ruhig unter der sehr heterogenen, aus Asiaten und Europäern zusammengewürfelten Menschenmenge.


»Hier ist noch Europa, dort drüben ist Asien!« (S. 39.)

»Doch wieder eine ungerechte Proclamation,« mur [41] melte Seigneur Keraban im Tone eines Mannes, der überall und immer auf seinem Rechte zu bestehen gewillt ist.

Der Polizeihauptmann zog ein mit den vorschriftsmäßigen Siegeln bedecktes Document hervor und verlas mit weithinschallender Stimme folgende Verordnung:

»Auf Befehl des Muzir und Präsidenten der Polizeiverwaltung wird hiermit von heute an eine Abgabe von zehn Paras Jedermann auferlegt, der über den Bosporus fährt, um von Constantinopel nach Scutari oder von Scutari nach Constantinopel zu gelangen, sowohl mittelst Kajik, wie mittelst jeden anderen Segel- oder Dampffahrzeuges. Wer diese Abgabe verweigert, wird mit Haft- und mit Geldstrafe belegt.

Gegeben im Palaste am 16. hujus.

Gezeichnet: Der Muzir.«


Ein Murmeln der Unzufriedenheit empfing diese neue Auflage, welche per Kopf etwa vier Pfennige betrug.

»Schön, wieder eine neue Steuer! rief ein alter Türke, der doch die Finanzlaunen des Padischah schon seit Langem kennen mußte.

– Zehn Paras, jammerte ein Anderer, das ist ja der Preis für eine halbe Tasse Kasse!«

Der Polizeihauptmann schickte sich in dem Be wußtsein, daß man in der Türkei zwar murrt, aber doch bezahlt, schon an, den Platz zu verlassen, als der Seigneur Keraban auf ihn zutrat.

»Also, begann dieser, eine neue Steuer, welche allen Denen auferlegt wird, die über den Bosporus gehen wollen?

– Auf Befehl des Muzir,« antwortete der Polizeihauptmann.

Dann setzte er hinzu:

»Wie, das ist der reiche Keraban, welcher Widerspruch erhebt?

– Ja, der reiche Keraban.

– Und es geht mit Ihnen gut, Seigneur Keraban?

– Ganz gut... ebensogut wie mit der Steuer. Diese Bekanntmachung tritt sofort in Kraft?

– Gewiß, mit deren öffentlicher Verlesung.

– Und wenn ich mich heut' Abend... in meinen Kajik begeben will, wie das alle Tage geschieht?...

[42] – So werden Sie dafür zehn Paras erlegen.

– Und da ich jeden Morgen und jeden Abend über den Bosporus fahre?

– So macht das zwanzig Paras den Tag, antwortete der Polizeihauptmann. – Eine nicht nennenswerthe Kleinigkeit für den reichen Keraban.

– Wirklich?

– Mein Herr wird sich eine böse Geschichte auf den Hals laden, flüsterte Nizib Bruno zu.

– Er wird schon nachgeben müssen.

– Er? Da kennen Sie ihn schlecht!«

Seigneur Keraban hatte die Arme gekreuzt, dann sah er den Beamten Auge in Auge fest an und sagte mit scharfer Stimme, aus der man seine Gereiztheit heraushörte:

»Nun, da ist mein Kajiktschi, der mir meldet, daß sein Kajik für mich bereit steht; und da ich einen Freund, den Herrn Van Mitten, dessen Diener und den meinigen mitnehme...

– So macht das vierzig Paras, erklärte der Beamte. Ich wiederhole, daß Sie ja die Mittel haben, bezahlen zu können...

– Daß ich Mittel genug besitze, vierzig Paras zu zahlen, unterbrach ihn Keraban, auch hundert und tausend und hunderttausend oder fünfhunderttausend, wäre schon möglich, aber ich zahle nichts und werde schon hinübergelangen.

– Ich bedauere, dem Seigneur Keraban widersprechen zu müssen, erwiderte der Polizeihauptmann, aber er wird, ohne zu zahlen, nicht über das Wasser kommen.

– Er wird hinüberkommen, ohne Zweifel!

– Nein!

– Doch!

– Freund Keraban... sagte Van Mitten in der löblichsten Absicht, dem störrischsten aller Menschen Vernunft beizubringen.

– Lassen Sie mich zufrieden, Van Mitten, antwortete Keraban grimmigen Tones. Die Auflage ist ungerecht, eine Schmach! Man darf sich derselben nicht unterwerfen! Niemals, nein, niemals hätte die Regierung der Alttürken gewagt, die Kajiks des Bosporus mit einer Steuer zu belasten.

– Zugegeben; die Regierung der Jungtürken, welche Geld braucht, hat nicht gezögert, es zu thun, antwortete ruhig der Beamte.

[43] – Wir werden ja sehen! rief Keraban.

– Gardisten, wandte der Beamte sich an die ihn begleitenden Soldaten, Ihr werdet über die Befolgung der neuen Verordnung wachen.

– Kommen Sie, Van Mitten, lautete Keraban's Antwort, mit dem Fuße auf dem Boden stoßend, kommen Sie, Bruno, und Du, Nizib, folge uns nach.

– Das wären vierzig Paras... sagte der Polizeihauptmann noch einmal.

– Vierzig Stockschläge!« versetzte Seigneur Keraban, dessen Wuth jetzt zum Höchsten gestiegen war.

In dem Augenblicke aber, als er sich nach der Treppe von Tope-Hane begab, umringten ihn die Soldaten und er mußte wohl oder übel umkehren.

»Laßt mich! rief er sich vertheidigend. Daß mich Keiner anrührt, nicht mit einer Fingerspitze! Ich komme hinüber, beim Barte des Propheten! Ich komme hinüber, ohne daß ein Para aus meiner Tasche kommt!

– Ja, wegkommen werden Sie schon, aber nur durch die Thür des Gefängnisses, antwortete der Polizeihauptmann, der auch allmählich warm wurde, und werden eine hübsche Strafe erlegen, um wieder herauszukommen!

– Ich werde nach Scutari gelangen.

– Ueber den Bosporus niemals, und da es nicht möglich ist, auf anderem Wege dahin zu gelangen...

– Das glauben Sie? antwortete Seigneur Keraban, die Hand ballend und im Gesichte hochroth, als wenn ihn ein Schlaganfall bedrohte. Das glauben Sie?... Nun wohl, ich werde nach Scutari kommen, ohne über den Bosporus zu gehen, und werde nicht bezahlen...

– Das möcht' ich sehen!

– Und müßt' ich... ja... und müßt' ich rings um das Schwarze Meer fahren!

– Siebenhundert Lieues, um zehn Paras zu sparen! rief der Polizeihauptmann, mit den Achseln zuckend.

– Siebenhundert Lieues, tausend, zehntausend, hunderttausend Lieues, antwortete Keraban, und wenn sich's nur um fünf, um zwei, nur um einen einzigen Para handelte!

– Aber, lieber Freund... sagte Van Mitten zuredend.

– Noch einmal, lassen Sie mich in Ruhe! entgegnete Keraban, seine Einmischung abweisend [44] – Schön, da hat er seinen Zehnten! sagte Bruno leise.

– Und ich werde die Türkei hinausgehen, werde den Chersones durchziehen, über Kaukasien reisen und durch Anatolien fahren, und damit nach Scutari gelangen, ohne einen Para Eurer ungerechten Steuer entrichtet zu haben!

– Wir werden ja sehen, versetzte der Beamte.

– Ist schon so gut wie gesehen! erwiderte Keraban, der jetzt wüthend wurde, und noch heute Abend werde ich abreisen.

– Teufel, flüsterte Capitän Yarhud dem Scarpante zu, der so wie er kein Wort dieser unerwarteten Unterhaltung verloren hatte, das könnte uns einen Strich durch die Rechnung machen.

– Freilich, stimmte Scarpante ein. Wenn dieser Trotzkopf auf seinem Vorhaben beharrt, kommt er über Odessa und könnte da im Vorübergehen die Trauung vornehmen lassen....

– Aber... begann noch einmal Van Mitten, der seinen Freund Keraban von einer solchen Thorheit abhalten wollte.

– Lassen Sie mich, sag' ich Ihnen!

– Und die Hochzeit Ihres Neffen Ahmet?

– Wird gefeiert, wann sich's eben macht!«

Scarpante nahm Yarhud bei Seite.

»Wir haben keine Stunde zu verlieren, erklärte er.

– In der That, antwortete der maltesische Capitän, und ich denke auch schon morgen früh mit dem ersten Zuge über Adrianopel nach Odessa abzufahren.«

Beide zogen sich hierauf zurück.

Eben hatte sich Seigneur Keraban heftig erregt nach seinem Diener umgewendet.

»Nizib! rief er.

– Mein Herr?

– Folge mir nach dem Comptoir.

– Nach dem Comptoir? antwortete Nizib.

– Und Sie auch, Van Mitten, sagte Keraban.

– Ich?

– Und Sie auch, Bruno.

– Damit wir...

– Damit wir zusammen abreisen.

[45] – Au! rief Bruno, die Ohren spitzend.

– Ja. Ich habe Sie eingeladen in Scutari zu speisen, wandte Seigneur Keraban sich an Van Mitten, und, beim Barte des Propheten, Sie werden in Scutari speisen... natürlich bei unserer Rückkehr.

– Doch das wird nicht geschehen vor... antwortete der durch diesen Vorschlag in größte Verlegenheit gesetzte Holländer.

– Nicht vor Ablauf eines Monats, eines Jahres oder vielleicht vor zehn Jahren! antwortete Keraban in einem Tone, der keinen Widerspruch zuließ. Sie haben einmal zugesagt, bei mir zu speisen, und Sie werden an meinem Diner theilnehmen.

– Nun, das wird Zeit genug haben kalt zu werden, murmelte Bruno.

– Erlauben Sie, Freund Keraban...

– Ich erlaube nichts, Van Mitten. Kommen Sie!«

Seigneur Keraban machte einige Schritte nach rückwärts über den Platz.

»Es ist unmöglich, diesem Teufel in Menschengestalt Widerstand zu leisten, sagte Van Mitten heimlich zu Bruno.

– Wie, Mynheer, Sie wollten einer solchen Laune nachgeben?

– Ob ich nun hier bin oder anderswo, Bruno, wenn ich nur nicht in Rotterdam sein muß.

– Aber...

– Da ich meinen Freund Keraban begleite, wirst Du schon nicht anders können, als Dich mir anzuschließen.

– Das wird eine schöne Geschichte!

– Vorwärts!« drängte Seigneur Keraban.

Dann wandte er sich noch einmal an den Polizeihauptmann, dessen spöttisches Lächeln wohl dazu angethan war, ihn außer Fassung zu bringen.

»Ich reife ab, sagte er, und trotz aller Eurer Verordnungen werd' ich mich nach Scutari begeben, ohne den Bosporus überschritten zu haben.

– Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihrer Heimkehr beizuwohnen, wenn Sie eine so merkwürdige Reise zurückgelegt haben, antwortete der Beamte.

– Und mir wird es ein ganz besonderes Vergnügen sein, Sie bei meiner Heimkunft anzutreffen, erwiderte Seigneur Keraban.

– Doch mache ich Sie darauf aufmerksam, fügte der Beamte hinzu, daß wenn diese Steuer noch in Geltung ist...

– Nun?

[46] – Daß ich Sie nicht rückwärts über den Bosporus nach Constantinopel fahren lasse, ohne daß Sie für die Person zehn Paras erlegen.

– Und wenn Ihre ungerechte Steuer noch nicht wieder aufgehoben ist, erklärte Seigneur Keraban in demselben Tone, werd' ich schon Mittel und Wege finden, nach Constantinopel zu gelangen, ohne daß Ihnen ein Para in die Tasche fällt.«

Mit diesen Worten nahm Seigneur Keraban seinen Freund Van Mitten am Arm und machte Bruno und Nizib ein Zeichen nachzufolgen. Dann verschwand er in der Menge, welche diesen unerschütterlichen Parteigänger der Alttürken, der seine Rechte so hartnäckig vertheidigte, mit Jubelrufen begrüßte.

Eben dröhnte in der Entfernung ein Kanonenschuß. Die Sonne war unter dem Horizont des Marmarameeres untergegangen, das Ramadanfest war für heute vorüber, und die getreuen Unterthanen des Padischah konnten sich schadlos halten für die Entbehrungen des langen Tages.

Plötzlich, wie durch den Zauberschlag eines Genius, verwandelte sich nun Constantinopel. Auf die Stille auf dem Top-Hane-Platz folgte lautes Jubelrufen und Hurrahgeschrei. Cigaretten, Tschibuks, Narghiles wurden in Brand gesetzt, und die Luft erfüllte sich mit wohlriechendem Dufte. Die Cafés strotzten bald von hungrigen und durstigen Gästen.

Gebratenes aller Art, »Yaurth«, geronnene Milch, »Kaimak«, eine Art heißer Erême, »Kebab«, Lammfleisch in seinen Scheibchen, Brotkuchen von »Baklava«, die frisch aus dem Ofen kamen, mit Weinblättern umwickelte Fleischklöschen, Schüsseln voll gesottenem Mais, ganze Fässer mit Oliven, Caviartonnen, Pilaws von Huhn, in Fett gebackene kleine Kuchen mit Honig oder Syrup gefüllt, Sorbets, Eis, Kaffee, Alles, was man im Morgenlande nur zu essen und zu trinken pflegt, erschien auf den Tafeln der Läden, während kleine, an Kupferfäden hängende Lampen auf und nieder schwankten, da die Cawadjis unablässig an dieselben stießen.

Dann erglänzte die alte wie die neue Stadt bald in magischem Lichte. Die Moscheen der heiligen Sophia, der Suleïmanieh, des Sultan Ahmed, alle öffentlichen, religiösen und profanen Gebäude vom Seraï-Burnu bis zu den Hügeln von Eyub bedeckten sich mit vielfarbigen Laternen. Leuchtende, von einem Minaret zum anderen reichende Streifen zeigten Sprüche aus dem Koran am dunklen Himmel. Der Bosporus, dessen Wellen zahllose, mit hin und her


Kajiktschis im Bosporus. (S. 40.)

schaukelnden Papierlaternen geschmückte Kajiks durchfurchten, glitzerte wirklich, als wenn die Sterne des Firmaments in sein Bett herabgefallen wären. Die [47] Paläste am Ufer, die Landhäuser an den Küsten Asiens und Europas, Scutari, das alte Chrisopolis und seine amphitheatralisch über einander liegenden Häuser boten unendliche Feuerlinien, welche durch den Widerschein im Wasser verdoppelt schienen.


»Ist schon so gut wie gesehen, und noch heute Abend werde ich abreisen.« (S. 45.)

Von weither dröhnte die baskische Trommel, erklangen die »Luta« oder Guitarre, der »Taburka«, der »Rebel« und die Flöte, vermischt noch mit frommen[48] Gesängen, die den scheidenden Tag begleiteten. Und von der Höhe der Mirarets fangen die Muezzins mit einförmiger, nur drei Töne wiedergebender Stimme über die festlich glänzende Stadt das letzte kurze, aus einem türkischen und zwei arabischen Wörtern bestehende Abendgebet : »Allah, hoekk kebir!« (Gott, Gott ist groß!)

[49]
5. Capitel
Fünftes Capitel.
Worin Seigneur Keraban in seiner Weise darüber spricht, was er unter Reisen versteht, und Constantinopel verläßt.

Die europäische Türkei umfaßt heutzutage drei Haupttheile: Rumelien (Thracien und Macedonien), Albanien und Thessalien, neben einem tributpflichtigen Staate, Bulgarien. Durch den Berliner Congreß von 1878 wurden dagegen das Königreich Rumänien (die Moldau, Walachei und Dobrudscha) das damalige Fürstenthum, jetzige Königreich Serbien, und das Fürstenthum Montenegro für unabhängig erklärt, während Oesterreich noch Bosnien, mit Ausnahme des Sandjaks Novi-Bazar, besetzte.

Wenn Seigneur Keraban um die Küsten des Schwarzen Meeres reisen wollte, so führte ihn sein Weg zunächst durch die Uferländer Rumeliens, Bulgariens und Rumäniens hin, womit er die russische Grenze erreichte.

Von da ab umschloß die Reiseroute durch Bessarabien, den Chersones, Tauris oder vielmehr das Land der Tscherkessen, quer durch Kaukasien und Transkaukasien die Nord- und Ostküste des alten Pontus Euxinus bis zur Grenze, wo Rußland und das ottomanische Reich in Asien zusammenstoßen.

Längs der Küste Anatoliens, im Süden des Schwarzen Meeres, konnte dann der eigensinnigste aller Osmanlis den Bosporus und Scutari erreichen, ohne die neue Steuer erlegt zu haben.

Zusammen war das eine Strecke von 650 türkischen »Agatschs«, welche etwa 2800 Kilometern (373 geographischen Meilen) entsprechen, – oder, um nach ottomanischer Meile zu rechnen, das heißt nach der Entfernung, welche ein Pferd bei gewöhnlicher Gangart binnen einer Stunde zurücklegt, betrug die ganze Strecke 725 solcher Meilen. Vom 17. August bis 30. September waren 45 Tage; es galt also fünfzehn türkische Meilen täglich zurückzulegen, wenn man mit dem 30. September, d. h. mit dem Datum zurück sein wollte, an welchem spätestens Amasias Hochzeit stattfinden mußte, sofern sie nicht die 100.000 Pfund von ihrer Tante einbüßen sollte. Doch gleichviel, sein Gast und er würden sich nicht eher am Tische der Villa, wo das Essen sie erwartete, niederlassen, als bestenfalls nach fünfundvierzig Tagen.

[50] Immerhin wär' es ja leicht genug gewesen, Zeit zu ersparen und die Dauer der Reise abzukürzen, wenn die schnellen Verkehrsmittel, wie sie die verschiedenen Eisenbahnstrecken bieten, in Anspruch genommen wurden. Von Constantinopel aus führt nämlich ein Schienenweg nach Adrianopel und eine Flügelbahn von hier nach Jamboli. Weiter nördlich schließt sich die Varna-Rustschuker Bahn an die rumänischen Linien an, und diese führen durch das Küstengebiet Südrußlands von Jassy über Kischeneff, Charkow, Taganrog und Nachintschewan bis an die Gebirgskette des Kaukasus. Endlich verläuft ein isolirter Schienenstrang von Tiflis bis Poti an's Schwarze Meer und nahe an die russisch-türkische Grenze. Später freilich trifft man im türkischen Kleinasien eine Eisenbahn nicht eher, als in Brussa, aber von hier kann man wieder ohne Unterbrechung bis Scutari fahren.

Dem Seigneur Keraban aber nach dieser Beziehung Vernunft beizubringen, wäre sicher verlorene Liebesmüh' gewesen. Er, ein Alttürke von reinstem Wasser, der seit vierzig Jahren mit allen Kräften dem Eindringen europäischer Erfindungen Widerstand leistete, er hätte sich in den Waggon einer Eisenbahn setzen und damit den Fortschritten der neuzeitlichen Industrie huldigen sollen? Niemals! Er hätte die ganze Reise lieber zu Fuß zurückgelegt, als nach dieser Seite um Haaresbreite nachgegeben.

Am nämlichen Abend, als Van Mitten und er noch im Comptoir zu Galata standen, kamen sie auch auf dieses Thema zu sprechen.

Auf die ersten Worte, welche der Holländer bezüglich der türkischen und russischen Bahnen fallen ließ, antwortete Seigneur Keraban erst durch ein nicht mißzudeutendes Achselzucken, nachher aber mit kategorischer Ablehnung.

»Indessen... wendete Van Mitten noch einmal schüchtern ein, da er der Form wegen glaubte, bei seiner Meinung beharren zu müssen, freilich ohne die geringste Aussicht, seinen Gastfreund zu überzeugen.

– Wenn ich einmal Nein! gesagt habe, bleibt's bei Nein! entgegnete Seigneur Keraban. Uebrigens gehören Sie mir, sind mein Gast, ich werde die Sorge für Sie übernehmen und Sie haben eben einfach Alles ruhig geschehen zu lassen.

– Nun meinetwegen, lenkte Van Mitten ein. Indeß giebt es, von Eisenbahnen abgesehen, vielleicht noch ein anderes, ganz einfaches Mittel, nach Scutari zu gelangen, auch ohne den Bosporus zu überschreiten oder gar eine Rundfahrt um des ganze Schwarze Meer zu machen.

[51] – Und welches? fragte Keraban die Stirn runzelnd. Wenn dieses Mittel gut ist, nehm' ich es an, andernfalls weise ich es zurück.

– Es ist ausgezeichnet, versicherte Van Mitten.

– Sprechen Sie schnell! Wir haben die Vorbereitungen zur Abreise zu treffen und keine Stunde zu verlieren.

– So hören Sie, Freund Keraban: Wir begeben uns nach einem der Constantinopel nächstgelegenen Häfen des Schwarzen Meeres, miethen ein Dampfboot...

– Ein Dampfboot! rief Seigneur Keraban, den das Wort »Dampf« allein außer sich zu bringen vermochte.

– Nein... Ein Schiff... Ein einfaches Segelschiff, beeilte sich Van Mitten hinzuzufügen, einen Chebec, eine Tartane, eine Caravelle, und wir fahren damit nach einem Hafen Anatoliens, zum Beispiel Kirpih. Einmal auf diesem Küstenpunkte, gelangen wir dann in einem Tage gemächlich zu Lande nach Scutari, wo wir höhnisch die Gesundheit des Muzirs trinken.«

Der Seigneur Keraban hatte seinen Freund ausreden lassen, ohne ihn zu unterbrechen. Vielleicht schmeichelte dieser sich schon, seinen übrigens ganz annehmbaren Vorschlag eine günstige Aufnahme finden zu sehen, da derselbe allen Fragen der Eigenliebe Rechnung trug.

Jedoch, als er geendet, leuchtete das Auge des Seigneur Keraban heller auf, seine Finger öffneten und schlossen sich nach einander und er machte ein paar Fäuste, deren Anblick Nizib wenig vertrauenerweckend fand.

»Also, was Sie mir rathen, Van Mitten, sagte er, geht im Grunde darauf hinaus, mich auf das Schwarze Meer einzuschiffen, um nicht über den Bosporus zu gehen?

– Das wäre ein guter Streich, meiner Meinung nach, antwortete Van Mitten.

– Haben Sie einmal, fuhr Keraban fort, von einer gewissen Krankheit gehört, welche man die Seekrankheit nennt?

– Gewiß, Freund Keraban.

– Und Sie haben sie natürlich nie gehabt?

– Niemals. Uebrigens bei einer so kurzen Ueberfahrt...

– So kurz! fuhr Keraban auf. Ich glaube, Sie sagen, eine so »kurze« Ueberfahrt?

– Kaum sechzig Lieues.

[52] – Und wären es nur fünfzig, nur zwanzig, nur zehn, nur fünf! rief Seigneur Keraban, den der Widerspruch wie immer mächtig reizte, wären es nur zwei, ja, nur eine, so wäre das zu viel für mich!

– Aber überlegen Sie doch...

– Sie kennen doch den Bosporus?

– Ja!

– Bei Scutari ist er doch kaum eine halbe Lieue breit...

– Gewiß.

– Nun, Van Mitten, es braucht nur ein mäßiger Wind zu wehen, so bekomme ich die Seekrankheit beim Uebersetzen in meinem Kajik.

– Die Seekrankheit?

– Ich bekomme Sie auf jedem Teiche, in jeder Badewanne! Und nun wagen Sie noch einmal, mir jenen Weg zu empfehlen! Wagen Sie den Vorschlag, einen Chebec, eine Tartane, eine Caravelle oder irgend ein anderes, dem Schaukeln ausgesetztes Transportmittel zu miethen! Wagen Sie es nur!«

Es versteht sich von selbst, daß der wackere Holländer so etwas nicht wagte, und daß die Frage einer Ueberfahrt zu Wasser für immer verlassen wurde.

Wie sollte nun die Reise vor sich gehen? Die Verkehrsverhältnisse sind – mindestens in der eigentlichen Türkei – ziemlich schwierige, aber doch nicht unbedingt hinderlich für das Fortkommen zu Lande. Auf den Landstraßen findet man Postrelais, und ebenso kann man zu Pferde reisen, wenn man Proviant, Lagerzelt und Kocheinrichtungen mitnimmt, wozu gewöhnlich ein Führer gemiethet wird, wenn man es nicht vorzieht, sich einem Tataren anzuschließen, das heißt einem mit dem Postdienst betrauten Courier; da dieser jedoch nur eine im voraus bestimmte Zeit darauf verwenden darf, von einem Orte zum andern zu gelangen, ist es sehr anstrengend, wenn nicht gar für den, der an das Zurücklegen längerer Wegstrecken nicht gewöhnt ist, fast unmöglich, ihm zu folgen.

Es versteht sich von selbst, daß der Seigneur Keraban nicht daran dachte, auf diese Weise um das Schwarze Meer zu reisen. Er wollte schnell, doch jedenfalls ohne Unbequemlichkeit fortkommen. Das war nur eine Geldfrage, und eine solche Frage war nicht dazu angethan, den reichen Kaufmann aus der Vorstadt Galata überhaupt zu berühren.

»Nun gut, sagte Van Mitten ganz resignirt, da wir nun nicht mit der Eisenbahn und auch mit keinem Schiffe reisen werden, wie sollen wir überhaupt fortkommen, Keraban?

[53] – In meinem Postwagen.

– Mit Ihren Pferden?

– Mit Relaispferden.

– Und werden wir solche auf der ganzen Wegstrecke immer zur Hand haben?

– Ohne Zweifel.

– Das wird Ihnen ein schönes Stück Geld kosten!

– Das wird kosten, was es eben kostet! antwortete Seigneur Keraban, der wieder warm zu werden anfing.

– Nun, unter tausend Pfund Türkisch 1 werden Sie nicht davon kommen, und vielleicht werden's gar fünfzehnhundert!

– Meinetwegen! Tausend oder Millionen! rief Keraban. Ja, Millionen, wenn's sein muß. Sind Sie mit Ihren Einreden zu Ende?

– Ja, antwortete der Holländer.

– Es war auch Zeit!«

Die letzten Worte stieß er in einem Tone heraus, daß Van Mitten es für gerathen hielt, zu schweigen.

Er bemerkte seinem rechthaberischen Wirthe nur noch schüchtern, daß eine solche Reise beträchtliche Ausgaben verursache, daß er von Rotterdam eine größere Summe erwarte, welche er als Depot in die Bank von Constantinopel einzahlen wollte, und daß er gegenwärtig nicht mehr Geld übrig habe, als...

Da schloß ihm Seigneur Keraban aber den Mund mit den Worten, daß alle Reisekosten ihn allein angingen, daß Van Mitten von ihm eingeladen sei und daß der reiche Kaufmann aus Galata nicht die Gewohnheit habe, seine Gäste bezahlen zu lassen; ferner daß... »et caetera!«

Auf dieses et caetera schwieg der Holländer und that sehr wohl daran Wenn Seigneur Keraban nicht im Besitze eines alten Wagens englischen-Fabrikats gewesen wäre, den er schon früher erprobt hatte, so wäre er für diese lange und beschwerliche Reise auf eine türkische Araba beschränkt gewesen, die gewöhnlich mit Ochsen bespannt wird. Der alte Reisewagen aber, mit dem er schon die Fahrt nach Rotterdam gemacht, befand sich noch immer in seiner Remise, und zwar in bestem Zustande.

[54] Für drei bis vier Reisende war die Chaise vortrefflich eingerichtet. Vorn zwischen den Schwanenhalsfedern trug die eigentliche Kutsche einen gewaltigen Kutschkasten für Proviant und Gepäck; hinter demselben hing ein Behälter, über dem ein Cabriolet angebracht war, auf dem zwei Diener bequem Platz hatten. Der Wagen bot freilich keinen Sitz für den Führer, der hier meist auf einem Pferde reitet.

Das Ganze erschien etwas altmodisch und hätte wohl Kennern des modernen Wagenbaues ein Lächeln abnöthigen müssen; das Gefährt war jedoch solid, hatte tüchtige Achsen, Räder mit breiten Felgen und dicht stehenden Speichen, und hing in Stahlfedern bester Sorte, welche weder zu weich noch zu hart waren, um den Stößen, wie sie auf den kaum gebahnten Landstraßen unvermeidlich sind, gut Widerstand zu leisten.

In diesem Beförderungsmittel, in welchem Van Mitten und Keraban das eigentliche Coupé einnahmen, welches Glasfenster mit Schutzgardinen hatte, während Bruno und Nizib hoch auf dem Cabriolet thronten, vor dem sich noch ein kleines Schiebfenster befand, hätten sie bequem bis China fahren können. Glücklicherweise erstreckte sich das Schwarze Meer nicht bis zur Küste des Stillen Oceans, sonst hätte Van Mitten jetzt gar noch die Bekanntschaft des Himmlischen Reiches machen müssen.

Die nöthigen Vorbereitungen wurden unverzüglich getroffen. Wenn Seigneur Keraban auch noch nicht am nämlichen Abend abreisen konnte, wie er es vorher in der Hitze des Gefechtes gesagt, so wollte er sich wenigstens morgen mit dem Frühesten auf den Weg machen.

Eine Nacht war natürlich nicht viel für alle Arbeiten, wie für Regelung der Geschäfte.


Und von der Höhe der Minarets sangen die Muezzins. (S. 49.)

Das Personal des Comptoirs wurde denn zurückbefohlen, als die Leute sich eben nach einem Kaffeehause begeben wollten, um sich für die Entbehrungen des langen Fasttages zu entschädigen. Außerdem war Nizib bei der Hand, der sich in solchen Fällen sehr nützlich zu machen wußte.

Bruno mußte nach dem »Hôtel de Pesth« in der Hauptstraße von Pera zurückgehen, wo sein Herr und er am Morgen abgestiegen waren, um sofort alles Gepäck Van Mitten's und sein eigenes nach dem Comptoir schaffen zu lassen Der gehorsame Holländer, den sein Freund kaum aus dem Auge verlor, hätte nicht gewagt, diesen einen Moment zu verlassen.

»Es ist also abgemacht, Mynheer? fragte Bruno, als er im Begriff stand, das Hôtel zu verlassen.

[55] – Wie könnte es mit diesem Teufel von Menschen anders sein! antwortete Van Mitten.

– Wir werden um das ganze Schwarze Meer reisen?

– Wenn mein Freund Keraban unterwegs nicht einen anderen Einfall hat, was kaum zu erwarten ist.

– Unter allen Türkenköpfen, auf die man bei Jahrmärkten zur Kraftprobe schlägt, antwortete Bruno, glaube ich, wäre keiner zu finden, der so hart ist, wie dieser.

[56] – Deine Vergleichung ist, wenn auch nicht gerade sehr respectvoll, doch sehr richtig, Bruno, erwiderte Van Mitten. Und da ich mir auch die Faust auf diesem Schädel zerbrechen würde, ziehe ich es vor, zukünftig nicht darauf zu schlagen.

– Ich hoffte doch, mich in Constantinopel erholen zu dürfen, sagte Bruno, die Reise und ich...

– Das ist keine Reise, unterbrach ihn Van Mitten, sondern einfach ein anderer Weg, den mein Freund Keraban einschlägt, um zum Abendessen nach Hause zu gelangen.«


Bruno kam mit mehreren Lastträgern zurück. (S. 58.)

Diese Auffassung der Sache trug nicht dazu bei, Bruno zu beruhigen. Er liebte Ortsveränderungen nicht, und sollte jetzt Wochen, vielleicht Monate lang unterwegs bleiben auf der Tour durch verschiedene [57] Länder, die ihn herzlich wenig interessirten, dafür aber genug Schwierigkeiten, wenn nicht gar Gefahren darboten, was ihm am meisten am Herzen lag. Durch die nicht zu umgehende Anstrengung fürchtete er überdies magerer zu werden, von seinem Normalgewicht – den hundertsechzig Pfund – zu verlieren, worauf er ja so sehr hielt.

Da ertönte wieder sein ewiger kläglicher Refrain vor dem Ohre seines Herrn:

»Sie werden noch Unglück haben, Mynheer; ich wiederhole Ihnen, Sie werden noch Unglück haben!

– Das wird sich ja zeigen, entgegnete der Holländer; jetzt besorge nur mein Gepäck, während ich einen Führer kaufe, um mich über die betreffenden Länder zu unterrichten, und ein Taschenbuch, meine Reiseeindrücke aufzuzeichnen. Du kommst ja später hierher zurück und kannst dann ausruhen...

– Wann?

– Sobald wir um das Schwarze Meer gefahren sind, da es nun einmal unser Loos ist, das auszuführen.«

Unten diesen fatalistischen Reflexionen, welche jedem Moslem zur Ehre gereicht hätten, verließ Bruno kopfschüttelnd das Comptoir und begab sich nach dem Hôtel. In der That, diese Reise versprach ihm nichts Gutes.

Zwei Stunden später kam Bruno zurück mit mehreren Lastträgern mit Reffen ohne Rückwand, welche am Körper mittelst starker Gurte festgehalten werden. Es waren Einheimische, bekleidet mit einer Art Filzstoff, wollenen Strümpfen, auf dem Kopfe einen seidengestickten, bunten »Kalah« und tüchtige Schuhe an den Füßen, mit einem Worte, einige von jenen Hamals, welche Theophil Gautier so bezeichnend »zweibeinige Kameele ohne Höcker« genannt hat.

Ein krummer Rücken fehlte ihnen übrigens nicht, Dank der zahlreichen Collis, welche sie schleppen. Alles wurde im Hofe des Geschäftshauses niedergelegt, und man begann bald, den aus der Remise hervorgezogenen Wagen zu beladen.

Inzwischen brachte Seigneur Keraban als gewissenhafter Geschäftsmann seine Sachen in Ordnung. Er untersuchte den Bestand der Casse, schloß sein Journal ab, gab dem ersten Buchhalter die nöthigen Anweisungen, schrieb noch einige Briefe und versah sich mit einer großen Summe in Gold, da das seit 1862[58] entwerthete Papiergeld jetzt außer Cours war. Da Keraban auch eine gewisse Menge russisches Geld brauchte, für den Theil der Fahrt, welcher an der Küste des russischen Reiches hinführte, wollte er seine türkischen Pfunde bei dem Banquier Selim auswechseln, da ihn der Weg jedenfalls über Odessa führte.

Die Vorbereitungen waren schnell beendigt. Im Kutschkasten befand sich Ueberfluß an Proviant. Einige Waffen wurden in das Coupé mitgenommen, denn man wußte ja nicht, was passiren konnte, und mußte für jeden Fall vorbereitet sein. Natürlich vergaß Seigneur Keraban auch nicht zwei Narghiles, das eine für sich, das andere für Van Mitten, als die für einen Türken und noch dazu für einen Tabakshändler unentbehrlichsten Utensilien.

Die Pferde waren noch am nämlichen Abende bestellt worden und sollten mit dem Morgenrothe da sein. Von Mitternacht bis zum Tagesanbruch waren nur noch wenige Stunden übrig, welche zunächst zu einer Mahlzeit und dann zum Ausruhen verwendet wurden. Als Seigneur Keraban am folgenden Morgen zum Aufstehen rief, sprangen Alle aus den Betten und zogen die Reisekleidung an.

Der Wagen stand schon angespannt und beladen, der Postillon saß im Sattel und erwartete nur noch die Fahrgäste.

Seigneur Keraban wiederholte seinen Leuten seine letzten Anordnungen – dann konnte die Reise fortgehen.

Van Mitten, Bruno und Nizib warteten schweigend in dem großen Hofe des Comptoirs.

»Es ist also abgemacht?« sagte zum letzten Male Van Mitten zu seinem Freunde Keraban.

Statt jeder Antwort wies dieser nach dem Wagen, dessen Thür schon offen stand.

Van Mitten verneigte sich, bestieg den Wagentritt und setzte sich im Coupé zur Linken nieder. Seigneur Keraban nahm neben ihm Platz. Nizib und Bruno erkletterten das Cabriolet.

»Ah, mein Brief!« rief Keraban noch in dem Augenblicke, als die Equipage schon den Hof seines Geschäftshauses verlassen sollte.

Er ließ das Thürfenster nieder und reichte einem seiner Leute einen Brief, den er demselben noch am heutigen Morgen zur Post zu befördern befahl.

Dieser Brief war an den Koch der Villa in Scutari gerichtet und enthielt nur die Worte:

[59] »Das Abendessen erst bei meiner Rückkehr. Aendern Sie den Speisezettel: Geronnene Milch; Lammkeule mit Gewürz; nicht zu scharf gebraten.«

Dann setzte sich der Wagen in Bewegung, rollte die Gassen der Vorstadt hinunter, passirte das Goldene Horn auf der Brücke der Sultanin Valide und verließ die Stadt durch die »Jeni-Kapussi«, das Neue Thor.

Der Seigneur Keraban ist abgereist! Möge Allah ihn in seinen Schutz nehmen!

Fußnoten

1 Das türkische Pfund ist eine Goldmünze im Werthe von 18 Mark 50 Pfennig, und etwa gleich mit hundert Piastern, welche je 18 Pfennige werthen.

6. Capitel
Sechstes Capitel.
In welchem die Reisenden, vorzüglich im Donau-Delta, auf einige Schwierigkeiten stoßen.

In administrativer Hinsicht ist die europäische Türkei eingetheilt in »Vilajets«, d. s. Gouvernements, Regierungsbezirke, denen ein »Vali«, etwa ein General-Gouverneur, vorsteht, der direct vom Sultan ernannt wird. Diese Vilajets zerfallen in »Sandjaks«, oder Kreise, unter der Verwaltung eines »Mustesaris«; die Sandjaks wieder in »Kazas« oder Gerichtsbezirke mit einem »Caïmacan«, etwa einem Amtmann an der Spitze; die letzteren Landestheile endlich in »Nahiës«, das sind Gemeinden unter einem »Mudir« oder selbstgewählten Vorstande. Diese Eintheilung gleicht also fast gänzlich der der meisten civilisirten Staaten.

Der Seigneur Keraban konnte übrigens mit den Behörden Rumeliens, welches die Landstraße von Constantinopel nach der Grenze durchzieht, in gar keine oder nur sehr geringe Berührung kommen. Die betreffende Straße entfernt sich nirgends beträchtlich von der Küste des Schwarzen Meeres und kürzt die Entfernung so viel als möglich.

Es war prächtiges Reisewetter und herrschte eine angenehme Temperatur, abgekühlt durch die Seebrise, welche, ohne Hindernisse zu finden, über das hier ganz ebene Land hinwegstreicht. Hier giebt es Mais-, Gersten- und Roggenfelder, untermischt mit Weingärten, welche in den südlichen Theilen des ottomanischen [60] Reiches vorzüglich gedeihen: schöne Wälder von Eichen, Buchen, Weiden und Birken; da und dort Gruppen von Platanen, Judenkirschen, Lorbeer-, Feigen- und Johannisbrotbäumen; daneben, meist in der Nachbarschaft des Meeres, Granat- und Olivenbäume, ganz den in gleicher Breite Südeuropas vorkommenden Arten entsprechend.

Durch das Jeni-Thor rollend, schlug der Wagen die Straße von Constantinopel nach Schumla ein, von wo aus ein Zweig derselben über Kirk-Kilisse nach Adrianopel führt. Diese Straße verfolgt seitlich und kreuzt selbst an manchen Stellen die Eisenbahn nach Adrianopel, welche diese zweite Hauptstadt der europäischen Türkei mit der Metropole des osmanischen Reiches verbindet.

Gerade als der Wagen einmal dicht neben dem Bahnkörper hinrollte, brauste ein Personenzug vorüber. Am Fenster eines der Waggons erschien der Kopf eines Passagiers, der die von muthigem Gespann rasch dahingezogene Equipage des Seigneur Keraban wahrnehmen konnte.

Dieser Passagier war niemand Anderes als der maltesische Capitän Yarhud auf dem Wege nach Odessa, wo er, Dank der Schnelligkeit des Dampfwagens, weit eher eintreffen mußte, als der Onkel des jungen Ahmet.

Van Mitten konnte sich nicht enthalten, seinem Freunde den unter vollem Dampfdrucke dahinfliegenden Zug zu zeigen.

Dieser zuckte, wie er immer zu thun pflegte, dazu nur die Achseln.

»Sehen Sie, Freund Keraban, damit kommt man schnell an's Ziel, sagte Van Mitten.

– Nun ja, wenn man überhaupt ankommt!« antwortete Seigneur Keraban.

Während dieses ersten Reisetages ging keine einzige Stunde verloren. Die Mithilfe reichlicher Geldmittel beseitigte stets alle Schwierigkeiten an den Stationen mit Pferdewechsel, und die Pferde ließen sich scheinbar ebensowenig bitten, unter's Zaumzeug zu gehen, wie die Postillone, einen großen Herrn zu fahren, der so freigebig bezahlte.

Die Reise ging über Tchataldje und Buyuk-Khan, auf der Grenze der Wasserscheide der nach dem Marmarameer abfließenden Gewässer, ferner durch das Thal von Tchorlu, durch das Dorf Yeni-Keni und von da durch das Thal von Galata, quer durch welches – wenn die Ueberlieferungen Glauben verdienen – unterirdische Canäle verliefen, welche der Hauptstadt in früheren Zeiten das nöthige Quellwasser zuführten.

[61] Als der Abend hereinbrach, hielt der Wagen nur eine Stunde lang bei dem Flecken Saraï. Da der in den Kutschkästen mitgenommene Proviant ausdrücklich für solche Gegenden bestimmt war, wo es zu schwer sein würde, eine, wenn auch nur mittelmäßige Mahlzeit aufzutreiben, wurde derselbe hier nicht in Anspruch genommen. Man speiste in Saraï sogar noch ganz leidlich, und gleich darauf gings wieder weiter.

Bruno fand es vielleicht etwas hart, die Nacht in dem Cabriolet zuzubringen; Nizib dagegen betrachtete das als ganz natürlich und fiel bald in so ansteckenden Schlaf, daß ihm sein Nachbar schließlich nachfolgte.

Die Nacht verlief ohne Zwischenfall, Dank dem langen, vielfach gewundenen Verlaufe der Straße in der Nähe von Viza, wodurch die steilen Abhänge und die sumpfigen Strecken der Thalmulde vermieden werden. Zu seinem großen Leidwesen bekam dabei Van Mitten freilich nichts zu sehen von genannter kleinen Stadt mit 7000 Einwohnern und fast ausschließlich griechisch-katholischer Bevölkerung, dem Sitze eines orthodoxen Bischofs. Er war ja überhaupt nicht gekommen, Etwas zu sehen, sondern nur, um den rechthaberischen Seigneur Keraban zu begleiten, dem es herzlich wenig darauf ankam, besondere Eindrücke von der Reise mit heimzubringen.

Nachmittags gegen fünf Uhr fuhren die Reisenden dann, nachdem sie durch die Dorfschaften Bunar-His san, Yena und Uskup gekommen, um ein kleines gräbererfülltes Gehölz, in welchem die erdrosselten Opfer einer Räuberbande ruhen, die vormals in dieser Gegend hauste; dann gelangte die kleine Gesellschaft nach der ziemlich bedeutenden, über 16.000 Einwohner zählenden Stadt Kirk-Kilisse. Ihr Name »Vierzig Kirchen« rechtfertigt sich durch die auffallende Zahl kirchlicher Baudenkmäler. Eigentlich bildet sie übrigens ein beschränktes Thal, dessen Grund und Abhänge die Häuser einnehmen, welche Van Mitten in Begleitung des getreuen Bruno einige Stunden lang durchstreifte.

Der Wagen wurde in der Remise eines ziemlich gut erhaltenen Gasthofes eingestellt, in welchem Seigneur Keraban und seine Gefährten die Nacht verbrachten, und von wo aus sie mit Tagesanbruch weiterfuhren.

Im Laufe des 19. August rollte der Wagen durch das große Dorf Karabunar und erreichte erst spät Abends das Dorf Burgas am gleichnamigen Golf. Die Reisenden schliefen diese Nacht in einem »Khani«, einer Art sehr primitiver Herberge, welche gewiß nicht so viele Bequemlichkeiten bot, wie ihre eigene Postchaise.

[62] Am folgenden Tage brachte sie die, jetzt vom Schwarzen Meere wieder abbiegende Landstraße noch am Vormittag nach Aïdos und am Abend nach Paravadi, einer Station der kleinen Eisenbahn von Schumla nach Varna (welche übrigens jetzt bis Rustschuk an der Donau ausgebaut ist. Der Uebers.). Sie durchschnitten darauf, im äußersten Süden der Dobrudscha und am Fuße der letzten Vorberge der Balkankette, die Provinz Bulgarien.

Bei dieser mühseligen Fahrt stießen sie auf so manche Hindernisse, bald inmitten der sumpfigen Thäler, bald in Wäldern mit üppiger Vegetation von Wasserpflanzen, durch welche der Wagen manchmal gar nicht hindurchzubringen war, dafür aber Tausende von langgeschwänzten Enten, Schnepfen und Wasserschnepfen aus ihren Schlupflöchern aufstörte, von welchen der leicht wellenförmige Boden durchsetzt war.

Die Balkanberge bilden bekanntlich eine gewaltige Kette. Zwischen Rumelien und Bulgarien nach dem Schwarzen Meere verlaufend, entsendet dieselbe an ihrem Nordabhange zahlreiche Ausläufer, deren Bewegung sich fast bis zum Donaubette hin bemerkbar macht.

Der Seigneur Keraban fand hier reichlich Gelegenheit, seine Ungeduld auf harte Proben gestellt zu sehen.

Als es galt, das Ende des Gebirgskammes zu überschreiten, um nach der Niederung der Dobrudscha zu gelangen, wo sich fast unzugängliche Abhänge vorfanden, Straßenbiegungen mit so scharfem Winkel, daß zuweilen nicht einmal alle Pferde gleichzeitig anziehen konnten, enge, von Schluchten begrenzte Wege, welche zur Noth für ein Reitpferd, aber kaum für einen Wagen geeignet waren, da nahm das Alles unerwartet viel Zeit weg und wurde nie ohne großen Aufwand übler Laune und unverhehlter Verwünschungen durchgeführt. Manchmal mußte man sogar ausspannen und die Räder mit Hemmschuhen versehen, um erst aus gefährlicher Lage freizukommen – außerdem jene auch noch mit einer tüchtigen Anzahl Piaster beschweren, welche den Rosselenkern, die alle Augenblicke mit der Umkehr drohten, in die Tasche fielen.

O, Seigneur Keraban hatte hier leichtes Spiel, gegen die heutige Regierung loszuwettern, welche die Straßen des Reiches so schlecht unterhielt und sich so blutwenig darum bekümmerte, ob man durch die Provinzen bequem gelangen könne oder nicht. Der Divan war ja sonst gleich bei der Hand, wenn es sich um Auferlegung neuer Zölle, Steuern oder um sonst welche belästigende Maßregeln handelte – was Seigneur Keraban ja aus eigener Erfahrung kannte.

[63] Zehn Paras, um über den Bosporus zu fahren! Er kam, wie besessen von fixer Idee, immer wieder darauf zurück. Zehn Paras! Zehn Paras!


Enge, von Schluchten begrenzte Wege... (S. 63.)

Van Mitten hütete sich wohl, seinem Reisegefährten irgendwie zu widersprechen; nur der Schein einer anderen Ansicht hätte eine Scene herbeigeführt. Um ihn zu beruhigen, schimpfte er vielmehr ein wenig mit auf die türkische Regierung, wie überhaupt auf alle Regierungen.

»Es kann aber nicht möglich sein, erwiderte Keraban, daß in Holland eine solche Mißwirthschaft herrscht.


Das Wageninnere erfüllte sich bald mit dichten blauen Wolken. (S. 66.)

– Und doch ist's nicht anders, Freund Keraban, antwortete Van Mitten, der vor Allem seinen Gefährten besänftigt sehen wollte.

– Ich sag' Ihnen aber nein! versetzte dieser. Ich erkläre Ihnen, daß solche miserable Zustände nur in [64] Constantinopel möglich sind. Ist es in Rotterdam schon vorgekommen, die Kajiks mit einem Zolle zu belegen?

– Wir haben dort keine Kajiks!

– Das ändert an der Sache nichts.

– Wie, das ändert nichts?

[65] – Nun, wenn Sie solche hätten, würde Ihr König nicht gewagt haben, sie zu besteuern. Wollen Sie mir etwa weismachen, die Regierung unserer Jungtürken wäre nicht die erbärmlichste der ganzen Welt?

– Die schlechteste, unzweifelhaft!« gab ihm Van Mitten zu, um kurz eine Streitfrage zu beendigen, welche einen unangenehmen Charakter zu gewinnen drohte.

Um das sich jetzt noch in nicht allzu gereiztem Tone bewegende Gespräch noch bestimmter zu beendigen, zog er seine lange holländische Pfeife hervor. Das machte Seigneur Keraban ebenfalls Lust, sich in den Rauchwolken seines Narghiles zu betäuben. Das Wageninnere erfüllte sich denn bald mit so dichten blauen Wolken, daß die Thürfenster geöffnet werden mußten, um sie hinauszulassen. In der narkotischen Schlaftrunkenheit, die sich schließlich seiner bemächtigte, wurde der starrsinnige Reisende dann stumm und ruhig bis zu dem Moment, wo irgend ein Ereigniß ihn wieder zur Wirklichkeit zurückführte.

In Ermanglung einer Haltestelle in diesem halbwilden Lande, verbrachte man die Nacht vom 21. zum 22. August im Wagen. Erst gegen Morgen, nach Ueberschreitung der letzten Balkanausläufer, befand man sich jenseits der rumänischen Grenze, auf den besser fahrbaren Wegen der Dobrudscha.

Diese Gegend gleicht einer Halbinsel, gebildet durch einen weiten Bogen der Donau, welche, nachdem sie sich erst nordwärts nach Galatz gewendet, in östlicher Richtung nach dem Schwarzen Meere zurückkehrt, in welches sie mit mehreren Armen mündet. Diese Art Isthmus, welcher diese kleine Halbinsel mit der großen der Balkanstaaten verbindet, ist umschlossen von dem, zwischen Tschernavoda und Küstendje gelegenen Landestheile, zwischen welchen sich eine kurze, höchstens fünfzehn bis sechzehn Lieues lange Eisenbahn hinzieht. Im Süden dieser Bahnlinie gleicht die Landschaft in topographischer Hinsicht übrigens fast ganz der im Norden, und man kann sagen, daß die Ebenen der Dobrudscha eigentlich schon am Fuße der letzten Vorberge des Balkans ihren Anfang nehmen.

»Das gute Land«, so nennen die Türken jene fruchtbare Gegend, in welcher Grund und Boden dem ersten Besitznehmer gehört. Dieselbe ist, wenn nicht besiedelt, so doch durchzogen von viehzuchttreibenden Tataren, und in der Nachbarschaft des Stromes von Walachen bevölkert. Das ottomanische Reich besitzt hier ein ausgedehntes Gebiet, wo kaum noch bemerkbare Thäler in dem weithin flachen Boden einsinken. Dasselbe stellt vielmehr eine Reihenfolge von Ebenen dar, die sich bis zu den, um die Donaumündungen aufsprießenden Wäldern erstrecken.

[66] Auf diesem Boden gestatten die Straßen ohne Schluchten an der Seite, wie ohne steile Abhänge, dem Wagen ein schnelleres Vorwärtskommen. Die Postmeister hatten hier kein Recht zu schimpfen, wenn sie ihre Pferde einspannen sahen, und wenn sie es thaten, geschah es nur, um nicht aus der Uebung zu kommen.

Man kam also rasch und bequem vorwärts. An jenem Tage, dem 21. August, wurden in Kostidcha einmal die Pferde gewechselt und erreichte der Wagen gegen Abend Bazardjik.

Hier entschied sich Seigneur Keraban zu übernachten, um Allen die höchst nöthige Ruhe zu gönnen, was ihm Bruno – der aus Klugheit freilich darüber schwieg – wirklich Dank wußte.

Am nächsten Tage mit dem ersten Morgenroth rollte die mit frischen Pferden versehene Chaise in der Richtung des Karasusees hin, einer geräumigen Bodensenkung, deren aus Grundquellen sich nährender Inhalt bei niedrigem Wasserstande der Donau in diese abfließt. In zwölf Stunden wurden etwa vierundzwanzig Lieues zurückgelegt, und gegen 8 Uhr Abends trafen die Reisenden bei der Bahnlinie von Küstendje nach Tschernawoda, an der Station Medjidieh ein, einer ganz neuen Stadt, welche jedoch schon zwanzigtausend Seelen zählt und sich schnell noch weiter zu entwickeln verspricht.

Hier konnte Seigneur Keraban zu seinem großen Mißvergnügen nicht sogleich das Geleise überschreiten, um nach dem zum Nachtquartier ausersehenen Khan zu kommen. Ein Zug auf der Bahnlinie sperrte den Weg, und er mußte eine gute Viertelstunde auf das Freiwerden desselben warten.

Das entlockte ihm eine Fluth von Klagen und Wuthausbrüchen über die Eisenbahnverwaltungen, welche sich Alles gestatten zu dürfen glauben, nicht nur diejenigen Fahrgäste zu zermalmen, welche dumm genug waren, sich ihnen anzuvertrauen, sondern auch die aufzuhalten, welche sich hüteten, in ihren Dampfwägen Platz zu nehmen.

»Mir, sagte er zu Van Mitten, wird wenigstens niemals ein Eisenbahnunfall zustoßen.

– Das weiß man nicht, erwiderte – vielleicht etwas unkluger Weise – der würdige Holländer.

– Ich weiß es aber!« versetzte Seigneur Keraban in einem Tone, der jede weitere Verhandlung abschnitt.

Endlich verließ der Zug die Station Medjidieh, die Schlagbäume öffneten sich, der Wagen rollte weiter, und die Reisenden erholten sich in dem recht [67] behaglich eingerichteten Khan dieser Stadt, die ihren Namen zu Ehren des Sultans Abdul-Medjid erhielt.

Am folgenden Tage erreichten die Reisenden ohne Unfall, durch eine gänzlich wüste Ebene fahrend, Babagagh, aber so spät, daß es rathsamer schien, gleich die Nacht hindurch weiter zu fahren. Nachmittag gegen fünf Uhr hielt man dann in Tultscha, einer der bedeutendsten Städte des früheren Fürstenthumes Moldau an.

In dieser, zwischen dreißig- und vierzigtausend Bewohner zählenden Stadt, wo sich Tscherkessen, Nogaïs, Perser, Kurden und Türken mit Bulgaren, Rumänen, Griechen, Armeniern und Juden mischen, konnte Seigneur Keraban nicht in Verlegenheit kommen, ein einigermaßen anständiges Gasthaus zu finden. Das war denn auch der Fall. Van Mitten erübrigte, mit Erlaubniß seines Begleiters, die nöthige Zeit, Tultscha in Augenschein zu nehmen, dessen höchst malerisches Amphitheater sich auf der Nordseite einer kleinen Bergkette, im Hintergrunde einer durch Verbreiterung des Stromes gebildeten Bai, fast gegenüber der Schwesterstadt Ismaïl ausdehnt.

Am folgenden Tage, dem 24. August, überschritt der Wagen vor Tultscha die Donau und setzte nun seinen Weg durch das von zwei mächtigen Stromarmen umschlossene Delta fort. Der erstere, den auch die Dampfschiffe benützen, heißt der Arm von Tultscha; der zweite, nördliche fließt bei Ismaïl, dann bei Kilia vorüber und erreicht unterhalb desselben das Schwarze Meer, nachdem er sich in fünf Canäle gespalten hat. Das Ganze bildet also die Donaumündungen.

Jenseits Kilias und der Grenze dehnt sich Bessarabien aus, das sich in einer Strecke von etwa fünfzehn Meilen weiter nach Nordosten erstreckt und ein Stück von der Küste des Schwarzen Meeres einnimmt.

Es liegt auf der Hand, daß der, viele wissenschaftliche Streitigkeiten verschuldende Ursprung des Namens Donau auch eine, zunächst rein etymologische Discussion zwischen Seigneur Keraban und Van Mitten veranlaßte, daß die Griechen zur Zeit Hesiod's sie unter dem Namen Hister oder Ister gekannt; daß der Name Danubius durch die Heere Roms aufgekommen und verbreitet worden sei und Cäsar sie zuerst unter demselben bekannt gemacht habe; daß dieser Name in der Sprache der Thracier »wolkig« bedeute; daß er aus dem Keltischen, dem Sanskrit, dem Zend oder dem Griechischen abstamme; daß der Professor Bopp Recht und der Professor Windischmann nicht Unrecht habe, [68] wenn sie über diesen Ursprung streiten – zuletzt wußte natürlich Seigneur Keraban wie immer seinen Gegner zum Schweigen zu bringen durch Ableitung des Namens Donau von dem Zend-Worte »Asdanu«, welches »der reizende Fluß« bedeutet.

So schnell ihre Strömung ist, reicht dieselbe doch nicht hin, die gewaltige Wassermenge abzuführen und in ihren selbstgegrabenen Betten zu erhalten; im Gegentheil muß man immer auf Ueberschwemmungen durch den Strom gefaßt sein. Trotz aller ihm zugegangenen Abmahnungen nahm der Seigneur Keraban darauf doch nicht die mindeste Rücksicht und ließ seinen Wagen quer durch das nicht eben kleine Delta führen.

Er befand sich in dieser Einöde übrigens insofern nicht allein, als Schaaren von Enten, wilden Gänsen, Ibissen, Schwänen und Pelikanen ihm Geleit zu geben schienen. Freilich vergaß er aber, daß wenn die Natur jene Wasservögel zu Stelzfüßlern geschaffen oder mit Schwimmhäuten versehen hat, man eben solche lange Beine oder Schwimmhäute besitzen muß, um bei Hochwasser nach längeren Regenperioden diese oft überschwemmten Gegenden ohne Gefahr besuchen zu können.

Jedermann wird zugeben, daß die Füße der Pferde vor dem Wagen sehr unzulänglich vorbereitet waren, um über den, von der letzten Ueberschwemmung her noch stark erweichten Boden zu gelangen. Jenseits dieses Armes der Donau, der sich bei Sulina in's Schwarze Meer ergießt, findet sich nichts als ein ausgedehntes Sumpfland, durch welches eine kaum fahrbare Straße hinführt. Trotz der Rathschläge des Kutschers, denen Van Mitten sich anschloß, befahl Keraban doch, geradeaus weiter zu fahren, und man mußte ihm wohl oder übel gehorchen. Die vorauszusehende Folge davon war, daß der Wagen gegen Abend tief im Schlamme stak, ohne daß die Pferde ihn herauszuziehen vermocht hätten.

»Die Landstraßen sind in dieser Gegend nicht besonders gut unterhalten, glaubte Van Mitten bemerken zu sollen.

– Sie sind, wie sie sind, antwortete Seigneur Keraban, sind so, wie sie unter einer derartigen Regierung eben sein müssen.

– Wir thäten vielleicht besser, umzukehren und einen anderen Weg einzuschlagen?

– Im Gegentheil, es ist das Beste, geradeaus zu fahren und unsere Reiseroute in keiner Weise zu ändern.

– Aber wie sollen wir das können?...

[69] – Sehr einfach, erklärte der unverbesserliche Starrkopf, wir lassen uns aus dem nächsten Dorfe Vorspannpferde holen. Ob wir nun im Reisewagen oder in einem Gasthofe ausschlafen, macht ja keinen Unterschied!«

Dagegen war nichts einzuwenden. Der Postillon und Nizib wurden also ausgesendet, das nächste Dorf aufzusuchen, welches immerhin ziemlich weit entfernt sein konnte. Voraussichtlich konnten sie vor Tagesanbruch nicht wieder zurück sein. Der Seigneur Keraban, Van Mitten und Bruno sahen sich demnach genöthigt, inmitten der weiten Steppe und ebenso verlassen, als wären sie tief in den Wüsten Inneraustraliens gewesen, zu übernachten. Glücklicherweise konnte der tief bis in die Mitte der Räder im Morast sitzende Wagen sich nicht weiter neigen.

Tiefdunkle Nacht lagerte ringsum. Große, niedkige Wolken, welche Regen verkündeten, zogen, getrieben durch den Wind vom Schwarzen Meere, am Himmel hin; wenn es auch nicht wirklich regnete, so stieg doch vom Boden ein so feuchter Dunst auf, daß er, gleich einem Polarnebel, Alles durchnäßte. Man konnte keine zehn Schritte weit sehen. Nur die beiden Wagenlaternen warfen einen ungewissen Schein durch die aus dem Sumpfe aufdampfenden Dunstmassen, und es wäre vielleicht rathsamer gewesen, sie ganz zu löschen.

Dieser Schein konnte in der That sehr unerwünschte Gäste herbeilocken. Ueber eine solche, von Van Mitten geäußerte Bemerkung ließ sich dessen unlenksamer Freund zwar auf eine Verhandlung ein, die aber natürlich damit endigte, daß der Vorschlag Van Mitten's verworfen wurde.

Er hatte jedoch Recht, der kluge Holländer; bei einiger Schlauheit hätte er seinem Gefährten nur empfehlen sollen, die Laternen recht hell brennen zu lassen, dann wären sie gewiß ausgelöscht worden.

[70]
7. Capitel
Siebentes Capitel.
In welchem die Pferde aus Angst zustande bringen, was sie unter der Peitsche des Postillons nicht auszuführen vermochten.

Er war zehn Uhr Abends. Keraban, Van Mitten und Bruno gingen, nachdem sie ein aus Vorräthen des Kutschkastens bestehendes Abendbrot verzehrt, etwa eine halbe Stunde lang rauchend einen schmalen Fußpfad auf und ab, der wenigstens nicht zu sehr aufgeweicht war.

»Und nun, Freund Keraban, meinte Van Mitten, denk' ich, werden Sie nichts dagegen einzuwenden haben, daß wir zu schlafen versuchen, bis der Vorspann eintrifft.

– Ich wüßte nichts, antwortete Keraban, nachdem er kurze Zeit nachgedacht, ehe er diese, für einen Mann, der stets nur Widerspruch zu erheben pflegte, immerhin außergewöhnlichen Worte äußerte.

– Ich will doch hoffen, daß wir nichts zu fürchten haben inmitten dieser vollständig verlassenen Ebene? setzte der Holländer hinzu.

– Ich doch auch.

– Es ist kein Angriff, kein Ueberfall zu gewärtigen?

– Keiner...

– Außer einem Ueberfall durch Muskitos!« ließ sich Bruno vernehmen, der eben einen herzhaften Schlag nach seiner Stirne führte, um ein Dutzend dieser lästigen Dipteren zu verscheuchen.


Es findet sich nichts als ein ausgedehntes Sumpfland (S. 69.)

Schon begannen nämlich kleine Wölkchen jener gefräßigen, wahrscheinlich vom Laternenschein herbeigelockten Insecten den Wagen zudringlich zu umschwirren.

»Hm! brummte Van Mitten, eine hübsche Menge Muskitos, und ein Muskitonetz wäre hier recht brauchbar gewesen.

– Das sind keine Muskitos, behauptete Seigneur Keraban, sich unten am Nacken kratzend, und ein Muskitonetz ist es nicht, was uns fehlt.

– Was denn?

– Ein Mückenflor, antwortete Keraban, denn diese sogenannten Muskitos sind nur Stechmücken.

[71] – Den Kukuk, ob ich da einen Unterschied zu machen weiß, dachte Van Mitten, der sich jedoch hütete, diese rein entomologische Frage weiter zu discutiren.

– Und das merkwürdigste ist, fuhr Keraban fort, daß es nur die weiblichen Insecten sind, welche über den Menschen herfallen.

– Ja, ja, daran erkennt man sie wieder, die Vertreterinnen des schönen Geschlechts! bemerkte Bruno, sich die Waden reibend.

– Ich glaube, wir thun wohl daran, in den Wagen zu flüchten, sagte da Van Mitten, denn hier werden wir aufgefressen.

[72] – Freilich, antwortete Keraban, gerade das Gebiet der unteren Donau ist besonders berüchtigt wegen der Stechmücken, die man nur dadurch von sich abzuhalten pflegt, daß man während der Nacht das Bett, während des Tages Hemd und Strümpfe mit Pyrethrum einpudert...


Bruno besichtigte das Gespann. (S. 74.)

– Das uns unglücklicher Weise vollständig mangelt, schloß der Holländer den Satz.

– Richtig, sagte Keraban; doch wer hätte ahnen können, daß wir in den Sümpfen der Dobrudscha fest sitzen bleiben sollten?

[73] – Niemand, Freund Keraban.

– Ich habe von einer Colonie krimscher Tataren berichten hören, Freund Van Mitten, der von der türkischen Regierung in diesem Delta des Stromes große Strecken Land überwiesen worden waren, welche jene wegen der Legionen von Stechmücken wieder verlassen mußten.

– Nach dem, was wir davon schon gekostet haben, Freund Keraban, klingt diese Geschichte nicht unwahrscheinlich.

– Ziehen wir uns also in den Wagen zurück.

– Wir haben das schon zu lange verzögert!« antwortete Van Mitten, der unter dem Gesumm von Flügelschlägen herumfocht, welche sich bei diesen Insecten auf Millionen in der Secunde belaufen sollen.

Eben als Seigneur Keraban mit seinem Begleiter den Wagen ersteigen wollte, blieb der Erstere stehen.

»Obwohl nichts zu fürchten ist, sagte er, wäre es doch gut, wenn Bruno bis zur Rückkehr des Postillons Wache hielte.

– Er wird sich dessen nicht weigern, meinte Van Mitten.

– Ich werde mich nicht weigern, erklärte Bruno, weil es meine Pflicht ist, mich nicht zu weigern, aber ich werde bei lebendigem Leibe aufgezehrt werden.

– Nein, erwiderte Keraban, ich habe mir sagen lassen, daß die Mücken höchstens zweimal an einundderselben Stelle stechen, so daß Bruno nun bald gegen ihre Angriffe gefeit sein muß.

– Ja – wenn ich aber tausendfach durchlöchert bin.

– So verstehe ich es, Bruno.

– Aber könnt' ich nicht mindestens im Cabriolet Wache halten?

– Gewiß; vorausgesetzt, daß Sie da nicht einschlafen.

– Wie sollt' ich denn schlafen können, bei diesem abscheulichen Gesumm von Muskitos?

– Stechmücken, Bruno, versicherte Keraban, einfache Stechmücken!.... Vergessen Sie das nicht!«

Nach dieser Bemerkung zogen sich Keraban und Van Mitten in das Coupé zurück und überließen es Bruno, für die Sicherheit seines Herrn oder vielmehr seiner Herren zu wachen. Denn konnte er seit dem Zusammentreffen Keraban's und Van Mitten's nicht in der That sagen, daß er deren zwei hatte?

Nachdem er sich von dem guten Verschluß der Wagenthüren überzeugt, besichtigte Bruno das Gespann. Erschöpft von Anstrengung, hatten sich die Pferde [74] auf den Boden gelagert, athmeten geräuschvoll und vermischten ihren warmen Athem mit dem Dunste der sumpfigen Ebene.

Dann bestieg Bruno das Cabriolet und ließ den Glasverschluß desselben herab, durch den er den von den Strahlen der Laternen erleuchteten Halbkreis überblicken konnte.

Was konnte der Diener Van Mitten's Besseres thun, als bei offenen Augen zu träumen und durch Vergegenwärtigung der Reihe von Abenteuern, in die ihn sein Herr im Gefolge des starrsinnigsten der Osmanlis zog, den Schlaf von sich fern zu halten?

Er, ein Kind des alten Bataverlandes, ein Pflastertreter der Straßen Rotterdams, ein täglicher Gast der Quais der Meuse, ein Fischer mit der emeritirten Angelschnur, ein Maulaffenfeilhalter an den Canälen, welche seine Vaterstadt durchziehen – er war jetzt an das andere Ende Europas verschleppt worden! Er hatte den Riesensprung von Holland in das ottomanische Reich gemacht! Und kaum in Constantinopel angelangt, verschlug ihn das Schicksal schon in die Steppen der unteren Donau! Hier sah er sich nun, eingeschlossen im Cabriolet eines Reisewagens, inmitten der Sümpfe der Dobrudscha, verloren in tiefdunkler Nacht, und der Wagen fester im Erdboden eingewurzelt als der gothische Thurm der Zuidekerk! Und alles das, weil ihm die Pflicht oblag, seinem Herrn zu gehorchen, der wiederum, ohne dazu gezwungen zu sein, dem Seigneur Keraban Gehorsam leistete.

»O du launenhaftes Menschenloos! wiederholte sich Bruno. Da bin ich nun im besten Zuge, eine Reise um das Schwarze Meer zu machen, wenn's noch so weit kommt, und das allein, um zehn Paras zu sparen, die ich herzlich gern aus eigener Tasche bezahlt hätte, wenn's nur geschehen konnte, ohne daß es der vermaledeite Türke bemerkte. Ah, der Starrkopf! Der Dickkopf! Ich weiß bestimmt, daß ich seit der Abfahrt schon um zwei Pfund abgenommen habe... Binnen vier Tagen!... Wie wird das in vier Wochen aussehen!

– Ha, wieder eines der verdammten Insecten!«

So fest Bruno auch den Glasverschlag des Cabriolets verschlossen, hatten doch einige Dutzend Stechmücken Eingang gefunden und fielen nun wüthend über den armen Teufel her. Da gab's Schläge und Gekratz, und wie gab er sich Mühe, jetzt, wo Seigneur Keraban ihn nicht hören konnte, die Mücken als Muskitos zu behandeln.

[75] So verging eine Stunde und schlich noch eine hin. Ohne den aufregenden Angriff der Insecten wäre Bruno bei seiner Ermüdung doch bald in Schlaf verfallen. Unter diesen Verhältnissen war das freilich unmöglich.

Es mochte etwas nach Mitternacht sein, als Bruno ein Gedanke kam. Ihm, einem Vollblut-Holländer, die, wenn sie zur Welt kommen, eher nach einer Pfeife als nach der Amme verlangen, hätte derselbe wohl weit eher kommen sollen. Er wollte anfangen zu rauchen, den feindlichen Einfall der Stechmücken mit Tabakswolken abzuschlagen. Warum hatte er daran nicht früher gedacht? Wenn sie auch noch der nikotinschwangeren Atmosphäre widerstanden, mit der er das Cabriolet erfüllen wollte, so mußten diese Insecten schon durch die Dünste der Donausümpfe gewaltig abgehärtet sein.

Bruno holte also seine Porzellanpfeife mit Emailblumen hervor – eine Schwester derjenigen, welche ihm in Constantinopel so frech geraubt worden war.

Er stopfte sie, wie er ein auf einen Trupp Feinde abzufeuerndes Gewehr geladen hätte; dann schlug er mit dem Stahle Feuer, zündete den Kopf an und saugte in vollen Zügen den Duft eines vortrefflichen holländischen Tabaks ein, den er in gewaltigen Wolken wieder ausblies.

Der Schwarm summte zuerst mit doppelt schnellem Flügelschlage, zerstreute sich dann aber allmählich in die entferntesten Winkel des Cabriolets.

Bruno konnte sich wegen seines Manövers nur Glück wünschen. Die von ihm demaskirte Batterie that Wunder; die Angreifer wichen in Unordnung zurück; da er aber keine Gefangenen zu machen, sondern ganz das Gegentheil erstrebte, öffnete er schnell das Fenster, um den Insecten im Innern einen Ausgang zu bieten, wohl wissend, daß der ausströmende Tabaksrauch den Insecten draußen das Eindringen schon verleiden würde.

So geschah es denn auch. Befreit von dieser quälerischen Legion von Insecten konnte Bruno sogar wagen, sich nach rechts und links umzusehen.

Die Nacht war noch immer schwarz. Zuweilen erhoben sich scharfe Windstöße, welche den Wagen erschütterten; dieser hing ja aber fest, leider zu fest im Boden. Es war also an ein Umfallen desselben nicht zu denken.

Bruno suchte nach vorn, nach dem nördlichen Horizonte zu, zu erkennen, ob sich nicht ein Lichtschein zeigte, der die Rückkehr des Postillons mit den frischen Pferden verkündete – überall völlige Dunkelheit, eine Finsterniß, die in der Ferne noch tiefer erschien, weil der Vordertheil des Wagens sich in dem leuchtenden Kreisabschnitte des Laternenscheines scharf abhob. Indeß glaubte [76] Bruno, als er nach der Seite hin auslugte, in der Entfernung von etwa sechzig Schritten einige leuchtende Punkte wahrzunehmen, die im Finstern ihre Stelle änderten und geräuschlos, schnell wechselnd bald am Erdboden, bald zwei oder drei Fuß über demselben erschienen.

Bruno fragte sich anfänglich, ob das nicht der phosphorescirende Schein von Irrlichtern wäre, die aus dem sumpfigen, des Kohlenwasserstoffes gewiß nicht entbehrenden Boden aufstiegen.

Wenn er, als vernunftbegabtes Wesen, sich hierüber auch täuschen konnte, so lag das doch anders bei den vorgespannten Pferden, welche ihr Instinct bezüglich der Ursache jener Erscheinung gewiß nicht täuschte. Diese singen aber an, Zeichen von Aufregung zu geben und schnaubten, mit weit aufgeblähten Nüstern, in ganz ungewohnter Weise.

»Na, was ist denn das? fragte sich Bruno. Gewiß eine neue Verschlimmerung unserer Lage! Sollten das Wölfe sein?

Daß es eine, von dem Pferdegeruche herbeigelockte Rotte Wölfe wäre, war gar nicht unmöglich. Diese alle Zeit hungrigen Bestien sind im Donau-Delta ziemlich häufig.

»Zum Teufel! murmelte Bruno, das könnte noch etwas schlimmer werden, als der Besuch der Muskitos oder der Stechmücken unseres Dickkopfs! Da möchte der Tabaksqualm doch nicht viel ausrichten!«

Die Pferde empfanden offenbar eine lebhafte Beunruhigung, welche man nicht mißverstehen konnte. Sie versuchten in dem Moraste auszuschlagen, bäumten sich und zerrten wiederholt heftig an dem Wagen. Die leuchtenden Punkte schienen sich etwas genähert zu haben. Ein dumpfes Grunzen vermengte sich mit dem Pfeifen des Windes.

»Ich denke, sagte sich Bruno, es wäre rathsam, dem Seigneur Keraban und meinem Herrn die Sache mitzutheilen.«

Das erschien wirklich drängend. Bruno glitt also vorsichtig zu Erde nieder, klappte den Kutschentritt herunter, öffnete die Thür und schloß sie wieder, als er in das Coupé eingetreten war, wo die beiden Freunde noch ruhig Einer neben dem Andern schliefen.

»Mynheer!... rief Bruno leise, während er die Hand auf die Schulter Van Mitten's legte.

– Wer untersteht sich, mich zu wecken? knurrte der Holländer, sich die Augen reibend. Zum Teufel mit dem Kerl!

[77] – Hier ist nicht davon die Rede, die Leute zum Teufel zu schicken, vorzüglich wenn der Teufel vielleicht in höchst eigener Person da ist, antwortete Bruno.

– Aber wer spricht denn da?...

– Ich, Mynheer, Ihr Diener.

– Ah, Bruno, Du bist's?... Hast wahrlich einen gescheidten Streich gespielt, mich zu wecken. Sapperment, ich träumte eben von der Frau Van Mitten...

– Die mit Ihnen Zank anfangen wollte!... erwiderte Bruno. Nun, darum handelt es sich jetzt gerade nicht.

– Was ist denn los?

– Würden Sie nicht so freundlich sein, auch den Seigneur Keraban zu wecken?

– Ich ihn wecken?

– Ja, es ist die höchste Zeit!«

Ohne noch weitere Fragen zu stellen, schüttelte der selbst noch halb schlaftrunkene Holländer seinen Gefährten.

Ueber einen Türkenschlaf geht aber bekanntlich nichts, wenigstens sobald der betreffende Türke einen guten Magen und ein ruhiges Gewissen hat. Das war der Fall mit dem Gefährten Van Mitten's. Dieser mußte seine Versuche mehrmals wiederholen.

Ohne die Augenlider zu heben, knurrte und brummte der Seigneur Keraban wie Einer, der nicht Luft hat, einer Aufforderung nachzukommen. Wenn er in schlafendem Zustande ebenso hartnäckig war, wie in wachendem, so hätte man zuletzt wohl darauf verzichten müssen, ihn zu erwecken.

Van Mitten und Bruno wiederholten jedoch ihre Bemühungen so hartnäckig, daß der Seigneur Keraban doch nicht umhin konnte, sich aus seinem kostbaren Schlummer aufzuraffen. Endlich streckte er wirklich die Arme aus, öffnete die Augen und fragte mit noch immer von Betäubung verschleierter, aber doch etwas zorniger Stimme:

»Hm! Die Vorspannpferde sind wohl mit Nizib und dem Esel von Postillon eingetroffen?

– Noch nicht, antwortete Van Mitten.

– Warum bin ich dann geweckt worden?

– Weil – wenn auch die Pferde noch nicht gekommen sind – bemerkte Bruno, doch andere verdächtige Thiere da sind, die den Wagen umringen und einen Angriff vorzubereiten scheinen.

[78] – Was für Thiere?

– Sehen Sie selbst!«

Das Glasfenster wurde herabgelassen und Keraban beugte sich hinaus.

»Allah, schütze uns!« rief er. Das ist eine ganze Bande wilder Eber!«

Von einer Täuschung konnte keine Rede sein; das waren in der That wilde Eber; diese Thiere sind überhaupt in der Umgebung der Donaumündungen ungemein häufig; ihr Angriff ist oft furchtbar, und sie können eigentlich mit Recht den Raubthieren zugezählt werden.

»Was sollen wir nun beginnen? fragte der Holländer.

– Ganz still bleiben, wenn sie nicht angreifen, antwortete Keraban, uns vertheidigen, wenn sie über uns herfallen.

– Warum sollten die Wildschweine uns angreifen? erwiderte Van Mitten. Sie sind, so viel ich weiß, doch keine Fleischfresser!

– Mag sein, entgegnete Keraban; doch wenn wir nicht Gefahr laufen sollten, aufgefressen zu werden, so steht uns wenigstens bevor, den Leib aufgeschlitzt zu bekommen.

– Nun, das hebt sich, bemerkte Bruno trocken.

– Halten wir uns also für jeden Fall bereit!«

Seigneur Keraban ließ sofort die Waffen in Stand setzen. Van Mitten und Bruno hatten jeder einen sechsläufigen Revolver nebst reichlichen Patronen. Er, der Alttürke und erklärte Feind jeder neuen Erfindung, besaß nur zwei Pistolen ottomanischen Fabrikats mit damascirtem Laufe und mit Schildpatt und kostbaren Steinen eingelegtem Schaft, aber freilich mehr geeignet, den Gürtel eines Agha zu zieren, als im ernsten Kampfe zu dienen. Van Mitten und Bruno mußten sich also mit diesen einzigen Waffen begnügen und dieselben möglichst erfolgreich zu gebrauchen suchen.


Karte des Schwarzen Meeres.

Inzwischen hatten sich die Eber, etwa zwanzig an der Zahl, nach und nach genähert und umringten nun den Wagen. Beim Schein der Laternen, der sie offenbar herbeigelockt hatte, konnte man erkennen, wie sie wild durcheinander sprangen und den Boden mit den Hauern aufwühlten. Es waren ganz gewaltige Thiere von der Größe eines Esels und von furchtbarer Kraft, gewiß jedes allein hinreichend, eine ganze Meute zu zerfleischen. Die in ihren Wagen eingeschlossenen Reisenden befanden sich also in ziemlich beunruhigender Lage, wenn sie vor Tagesanbruch von der einen oder anderen Seite angegriffen wurden.

[79] [82]Die Pferde witterten auch Gefahr. Bei dem schrecklichen Grunzen der Heerde schnaubten sie auf und drängten sich zur Seite, so daß man fürchten konnte, sie würden das Riemenzeug zerreißen oder die Deichsel zerbrechen.

Plötzlich krachten zwei Schüsse. Van Mitten und Bruno hatten zwei Revolverschüsse abgegeben auf diejenigen der Eber, welche zum Angriff übergehen zu wollen schienen. Die mehr oder weniger verwundeten Thiere brüllten vor Wuth, während sie auf der Erde kollerten. Die Anderen waren dadurch aber noch wilder geworden und stürzten sich nun auf den Wagen, den sie mit den Fangzähnen angriffen. Die Wandfüllung wurde an vielen Stellen durchstoßen, und es lag auf der Hand, daß die Insassen bald den Boden unter den Füßen verlieren würden.

»Zum Teufel! murmelte Bruno.

– Feuer! Feuer!« wiederholte Seigneur Keraban, seine Pistolen abschießend, die doch gewöhnlich einmal unter vier Schüssen versagten, obwohl er das nicht zugeben wollte.

Die Revolver Brunos und Van Mitten's verwundeten noch eine Anzahl der furchtbaren Angreifer, von denen einige sich direct auf die Spannpferde stürzten.

Natürlich bemächtigte sich der Pferde ein gewaltiger Schrecken, als sie sich von den Fangzähnen der Eber bedroht sahen und sich nicht anders als durch Ausschlagen mit den Beinen vertheidigen konnten, ohne die Freiheit der Bewegung zu haben. Wären sie frei gewesen, so würden sie durch das Land entflohen sein, und Alles wäre auf eine Frage der Schnelligkeit zwischen ihnen und der wilden Horde hinausgekommen. Mit aller Macht suchten sie die Stränge zu zerreißen, um zu entfliehen; diese, welche aus gedrehter Litze gefertigt waren, gaben jedoch nicht nach. Entweder mußte also das Vordergestell des Wagens zerbrechen, oder dieser selbst unter der äußersten Anspannung der Kräfte der Pferde aus dem Boden gezerrt werden.

Seigneur Keraban, Van Mitten und Bruno begriffen das recht wohl; was ihnen am meisten zu fürchten schien, war ein etwaiges Umschlagen des Gefährts. Die Eber, welche in diesem Falle nicht mehr durch Schüsse abzuhalten gewesen wären, hätten sich dann bestimmt auf denselben geworfen, und es wäre um seine Insassen geschehen gewesen. Was sollte man jedoch thun, einem solchen Ereigniß vorzubeugen? War die Reisegesellschaft nicht völlig der wüthenden Heerde preisgegeben? Ihre Kaltblütigkeit verließ sie übrigens nicht, und sie feuerten mit den Revolvern tüchtig darauf hinein.

[82] Plötzlich erschütterte ein besonders heftiger Stoß den Wagen, als ob das Vordergestell desselben sich abgelöst hätte.

»Desto besser! rief Keraban. Mögen unsere Pferde durch die Steppe davon laufen, so werden die Eber diese verfolgen und wenigstens uns in Ruhe lassen!«

Das Vordergestell hatte indeß ausgehalten und machte diesem veralteten Erzeugniß englischer Wagenbaukunst alle Ehre – es wich nicht vom Flecke – dagegen gab der ganze Wagen nach. Die Stöße wiederholten sich so, daß er aus den tiefen Gleisen, in denen er bis zu den Federn saß, herausgerissen wurde.

Noch eine letzte Anstrengung der vor Wuth fast tollen Pferde brachte ihn auf den festeren Boden und augenblicklich flog er in rasender Eile davon, indem die führerlosen Thiere durch die finstere Nacht davonjagten.

Die Eber gaben damit den Kampf jedoch noch nicht auf. Sie stürmten zu beiden Seiten mit fort und griffen die einen die Pferde, die anderen den Wagen an, der ihnen zunächst noch keinen Vorsprung abgewinnen konnte.

Seigneur Keraban, Van Mitten und Bruno hatten sich in den Hintergrund des Coupés zurückgezogen.

»Ob wir nun umwerfen... sagte Van Mitten.

– Oder ob wir nicht umwerfen, antwortete Keraban.

– Wir müssen versuchen, die Zügel wieder zu erlangen!« bemerkte Bruno mit Sachkenntniß.

Er ließ also die vorderen Fenster herab und tastete hinaus, um womöglich die Zügel zu erfassen; diese hatten die Pferde jedoch, als sie wie toll ausschlugen, zerrissen, und man war nun bei der tollen Fahrt durch sumpfiges Land völlig dem Zufall anheimgegeben. Die Pferde zum Stehen zu bringen, hieß überhaupt nichts anderes, als auch die wüthende Heerde aufzuhalten. Die vorhandenen Feuerwaffen hätten jedoch gegenüber der in Bewegung befindlichen Masse auch nichts ausgerichtet.

Der Eine auf den Anderen geschleudert oder bei jedem Stoße von einer Ecke des Coupés in die andere geworfen, sprachen die Reisenden – von denen der Eine sich als guter Türke ruhig in sein Schicksal ergab, und die Anderen als Holländer ihre phlegmatische Natur auch jetzt noch nicht verleugneten – kein einziges Wort.

So ging es eine lange Stunde dahin. Der Wagen rollte noch immer fort und auch die Wildschweine hatten ihn noch nicht verlassen.

[83] »Freund Van Mitten, sagte endlich Keraban, ich habe mir erzählen lassen, daß ein Reisender in ähnlicher Lage, der durch die russische Steppe von einer Bande Wölfe verfolgt wurde, durch die edle Aufopferung seines Dieners gerettet worden sei.

– Und wie? fragte Van Mitten.

– O ganz einfach, erwiderte Keraban. Der Diener umarmte seinen Herrn, empfahl Gott seine Seele, sprang aus dem Schlitten, und während die Wölfe darüber herfielen, ihn zu verzehren, konnte sein Herr einen großen Vorsprung gewinnen und sich retten.

– Da ist's ja recht bedauerlich, daß Nizib nicht hier ist!« antwortete Bruno sehr gelassen.

Nach dieser kleinen Unterbrechung fielen Alle wieder in tiefes Schweigen.

Inzwischen schritt die Nacht voran. Die Pferde verloren nichts an ihrer entsetzlichen Schnelligkeit, und es gelang den Ebern schon nicht mehr, sie unmittelbar anzugreifen.

Wenn nun kein Unfall dazu kam und etwa ein Radbruch oder gar ein zu heftiger Stoß den Wagen zum Umfallen brachte, konnten Keraban und Van Mitten doch einige Hoffnung hegen, auch ohne jene Aufopferungsfähigkeit, deren Bruno nicht fähig war, noch Rettung zu finden.

Die Pferde hatten sich übrigens, durch ihren Instinct geleitet, stets in der Richtung der Steppe gehalten, welche sie gewöhnlich durchliefen, und zwar war es in ziemlich gerader Linie nach dem Posthause, in der sie dahinjagten.

Als der erste Schimmer des Tages am östlichen Horizont erschien, waren sie von jenem Hause nur noch wenige Werst entfernt.

Die Wildschweine mühten sich noch eine halbe Stunde ab, dann blieben sie mehr und mehr zurück; die Pferde unterbrachen ihren Lauf deshalb jedoch keinen Augenblick, bis sie – wenige hundert Schritt von der Poststation – keuchend und rauchend zusammenbrachen.

Der Seigneur Keraban und seine beiden Gefährten waren gerettet. Da erhielt der Gott der Christen ein nicht weniger warmes Dankgebet, als der Gott der Ungläubigen, für den Schutz, den sie den beiden holländischen Reisenden und dem Türken während dieser gefahrvollen Nacht gewährt hatten.

Eben als der Wagen unweit der Station anhielt, wollten Nizib und der Postillon, welche wegen der dunklen Nacht nicht eher fortgekonnt hatten, mit den Vorspannpferden aufbrechen. Diese traten nun an die Stelle des abgehetzten [84] Gespanns, für das Seigneur Keraban natürlich eine tüchtige Summe bezahlen mußte; ohne sich eine Stunde Rast zu gönnen, setzte sich der Wagen, nach oberflächlicher Reparatur der Zugriemen und der Deichsel, wieder in Bewegung und fuhr auf Kilia zu.

Diese kleine Stadt, deren Befestigungen die Russen vor ihrer Uebergabe an Rumänien geschleift haben, ist auch ein Hafen der Donau und liegt an dem Arme derselben, der ihren Namen trägt.

Ohne neuen Zwischenfall erreichte die Chaise die Stadt am Abend des 25. August. Höchst ermattet begaben sich die Reisenden nach einem der ersten Hôtels derselben und erholten sich hier durch zwölfstündigen Schlaf von den Anstrengungen der vergangenen Nacht.

Am folgenden Morgen brachen sie mit Sonnenaufgang wieder auf und gelangten nun bald an die russische Grenze.

Hier gab's wieder einige Schwierigkeiten. Die etwas lästigen Formalitäten der russischen Zollbehandlung setzten die Geduld des Seigneur Keraban wieder ganz gewaltig auf die Probe. In Folge seiner Geschäftsverbindungen verstand er – zum Glück oder Unglück, wie man will – so viel von der Landessprache, um sich verständlich zu machen. Einmal konnte man fast fürchten, daß man bei seinem Widerspruche gegen das Auftreten der Zollbeamten vielleicht gar nicht dazu gelangen würde, die Grenze zu überschreiten.

Nur mit Mühe gelang es Van Mitten, ihn zu beruhigen. Keraban stimmte endlich zu, den gesetzlichen Forderungen nachzugeben und seine Koffer untersuchen zu lassen; dann bezahlte er auch den verlangten Zoll, freilich nicht, ohne wiederholt das ganz gerechtfertigte Urtheil ausgesprochen zu haben:

»Wahrlich, die Regierungen sind doch überall gleich und kaum so viel werth, wie die Rinde einer Pastete!«

Endlich wurde nun die rumänische Grenze überschritten und der Wagen bewegte sich durch denjenigen Theil Bessarabiens, der die nordöstliche Küste des Schwarzen Meeres bildet.

Seigneur Keraban und Van Mitten waren nunmehr noch etwa zwanzig Lieues von Odessa entfernt.

[85]
8. Capitel
Achtes Capitel.
Worin der Leser gern die Bekanntschaft der jungen Amasia und ihres Verlobten Ahmet machen wird.

Die junge Amasia, die einzige Tochter des Banquiers Selim, von türkischer Herkunft, und ihre Begleiterin Nedjeb lustwandelten plaudernd in der Gallerie einer reizenden Wohnung, deren Gärten sich in Terrassenstufen bis zum Ufer des Schwarzen Meeres ausdehnten.

Von der letzten Terrasse, deren Stufen sich in den heute ruhigen, aber, oft auch durch die heftigen Ostwinde des alten Pontus Euxinus gepeitschten Wassern badeten, zeigte sich Odessa, in der Entfernung einer halben Lieue, in seinem ganzen Glanze.

Die Stadt – eine Oase inmitten der ungeheueren, sie umgebenden Steppe – bildet ein prächtiges Panorama von Palästen, Kirchen, Hôtels und Häusern, welche das terrassenförmige Ufer bedecken, dessen unterster Theil senkrecht in's Meer abfällt. Von der Wohnung des Banquiers Selim aus konnte man selbst den großen mit Bäumen geschmückten Platz sehen, ebenso die Monumentaltreppe, welche die Statue Richelieu's beherrscht.

Genannter großer Staatsmann war der Gründer die ser Stadt und verwaltete dieselbe als oberster Beamter bis zur Stunde, wo er an der Befreiung des von dem coalirten Europa bedrohten Gebietes Frankreichs mithelfen mußte.

Wenn das Klima der Stadt sehr trocken ist, was häufige Nord- und Ostwinde bedingen, wenn die reichen Bewohner der Hauptstadt des neuen Rußlands während der heißesten Jahreszeit gezwungen sind, den kühlen Schatten der »Khutors« aufzusuchen, so erklärt das, warum derartige Villen sich am Seestrande so stark vermehrt haben, da sie Denen einen Erholungspunkt bieten, welchen ihre Geschäfte versagen, einige Monate Aufenthalt unter dem milderen Himmel der südlichen Krim zu nehmen.

Unter diesen verschiedenen Villen hätte man auch die des Banquiers Selim gesehen, deren Lage ihr die Unannehmlichkeiten allzugroßer Lufttrockenheit ersparte.

[86] Fragt man, warum einem Flecken, der zur Zeit Potemkin's noch ebenso wie die dabei gelegene Festung Hadji-Beg hieß, der Name Odessa, d. h. Stadt des Odysseus, gegeben wurde, so erfährt man, daß die, durch die der neuen Stadt bewilligten Handelsvortheile herbeigezogenen Colonisten die Kaiserin Katharina II. um einen neuen Namen angingen. Die Kaiserin befragte darauf die Akademie von St. Petersburg; die Akademiker durchwühlten viele Bände über die Geschichte des trojanischen Krieges; diese Nachforschungen führten auf die mehr oder weniger problematische Existenz einer Stadt des Odysseus zurück, welche in der Vorzeit einmal etwa an diesem Küstenpunkte gelegen haben sollte – und dadurch entstand der Name Odessa, der zuerst im zweiten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts vorkommt.

Odessa war von jeher eine Handelsstadt, ist es bis jetzt geblieben und wird es voraussichtlich immer bleiben. Ihre 150.000 Einwohner bestehen nicht allein aus Russen, sondern auch aus Türken, Griechen, Armeniern, neben einer kosmopolitischen Menge von Leuten, welche gern Geschäfte treiben. Wenn nun der Handel, vorzüglich der Ausfuhrhandel, nicht ohne Kaufleute denkbar ist, so kann derselbe auch der Banquiers nicht entrathen. So sind denn auch schon seit Gründung der neuen Stadt verschiedene Bankhäuser entstanden und unter diesen das bei seinem Anfange bescheidene, jetzt aber im höchsten Ansehen stehende Wechselgeschäft des Banquiers Selim.

Der Mann ist hinreichend gekennzeichnet, wenn man von ihm meldet, daß er zu der, übrigens mehr als man glaubt, zahlreichen Kategorie monogamischer Türken gehörte; daß er Witwer der einzigen Frau war, die er gehabt; daß er eine einzige Tochter, Amasia, die Verlobte des jungen Ahmet, des Neffen unseres Seigneur Keraban, hatte; endlich, daß er der Correspondent und Freund des starrsinnigsten der Osmanli war, dessen Kopf sich jemals unter den Falten des traditionellen Turbans verbarg.


Plötzlich krachten zwei Schüsse. (S. 82.)

Die Hochzeit Ahmets und Amasias sollte, wie der Leser weiß, in Odessa gefeiert werden. Des Banquiers Selim Tochter war nicht bestimmt, etwa die erste Frau in einem Harem zu werden, wo sie das Gynäceum (d. i. Weiberzimmer) eines selbstsüchtigen und launischen Türken mit mehr oder weniger Rivalinnen zu theilen gehabt hätte. Nein! sie sollte allein mit Ahmet nach Constantinopel in das Haus seines Onkels Keraban zurückkehren. Allein und ungetheilt sollte sie an der Seite des Gatten leben, der sie liebte, ebenso wie sie ihm seit seiner Kindheit zugeneigt war. Erschien eine solche Zukunft auch für eine [87] junge türkische Frau im Lande Mohammed's eigenthümlich, so änderte das doch nichts, und Ahmet war nicht der Mann dazu, von den einmal eingeführten Sitten seiner Familie abzuweichen.

Wir wissen übrigens, daß eine Tante Amasias, eine Schwester ihres Vaters, ihr auf dem Sterbebette die enorme Summe von hunderttausend Pfund unter der Bedingung vermacht hatte, daß sie vor Ablauf ihres sechzehnten Lebensjahres verheiratet sei – eine Laune der alten Jungfrau, welche nie einen Mann gehabt hatte und sich wohl sagte, daß ihre Nichte so schnell auch keinen finden [88] werde – und wir wissen außerdem, daß diese Frist in sechs Wochen ablief. Wurde jene Bedingung nicht eingehalten, so fiel jene Erbschaft, welche den größten Theil des Vermögens der jungen Dame bildete, an entferntere Seitenverwandte.

Amasia wäre übrigens eine reizende Erscheinung für jeden Europäer gewesen.


Der Hafen von Odessa. (S. 87.)

Wenn ihr »Jachmak«, ein Schleier aus weißem Musselin, wenn das Häubchen aus golddurchwirktem Stoffe, das ihren Kopf bedeckte, und wenn die dreifache Zechinenschnur ihrer Stirn entfernt worden wären, hätte man einen [89] prächtigen Haarwuchs mit pechschwarzen Locken sehen müssen. Amasia nahm die Mode ihrer Heimat nicht in Anspruch, um ihre Schönheit zu erhöhen. Weder gebrauchte sie »Hanum«, um die Augenbrauen schärfer zu zeichnen, noch »Khol«, die Wimpern zu färben, oder »Henne«, um die Lider zu pudern. Kein Wismuthweiß oder Carminroth kam auf ihr Gesicht; kein flüssiger Kermes, um die Lippen zu röthen. Eine Dame aus dem Abendlande, welche der kläglichen Sitte des Tages huldigte, wäre mehr »angemalt« gewesen, als sie. Aber ihre natürliche Eleganz, ihre Behendigkeit, die Grazie ihres Ganges verriethen sich noch unter dem »Feredje«, einem weiten Cachemirmantel, der sie vom Hals bis zu den Füßen gleich einer Dalmatica verhüllte.

Heute trug Amasia auf der nach dem Garten zu offenen Gallerie ein langes Seidenhemd aus Brussa, welches der faltige »Chalwar« bedeckte, der sich an eine kleine gestickte Weste anschloß, und eine »Entari« aus langen Seidenstreifen, die an den Aermeln geschlitzt und mit »Oya«, das ist eine speciell in der Türkei hergestellte Spitzensorte, verziert war. Eine Schärpe aus Cachemir hielt die langen Enden der Schleppe, um das Gehen zu erleichtern. Ohrgehänge und ein Armring bildeten den einzigen Schmuck, den sie trug, und elegante »Padjubs« aus weichem Sammet bedeckten den unteren Theil des Beines und ihre Füßchen verschwanden in goldbenähten Pantoffeln.

Ihre Dienerin Nedjeb, ein lebhaftes, heiteres junges Mädchen und ihre ergebenste Begleiterin – man hätte fast sagen können, ihre Freundin – befand sich bei ihr, lief auf und ab, plauderte, lachte und erhellte die ganze Umgebung durch ihre herzliche und ansteckende Heiterkeit.

Nedjeb, eine geborne Zigeunerin, war keineswegs Sclavin. Wenn man auch noch Aethiopier oder Schwarze aus dem Sudan an etlichen Plätzen des Reiches zum Verkauf gestellt sieht, ist die Sclaverei doch, mindestens im Princip, abgeschafft. Ist auch die Anzahl Dienstleute für die Bedürfnisse eines großen türkischen Haushaltes eine sehr bedeutende und eine Zahl, welche in Constantinopel den dritten Theil der Bevölkerung ausmacht, so sind doch die Obliegenheiten solcher Leute ordentlich geregelt, und da Jedem nur eine gewisse Aufgabe zufällt, haben sie in der That nicht viel zu thun.

Das Haus des Banquiers Selim befand sich etwa auf dieser Stufe; trotzdem nahm Nedjeb, welche nur Amasia zu bedienen hatte, nachdem sie schon als Kind aufgenommen worden war, eine ganz besondere Stellung ein, welche sie zu keinen anderen Dienstleistungen verpflichtete.

[90] Halb auf einem, mit reichen persischen Stoffen bedeckten Divan ausgestreckt, ließ Amasia die Blicke über die Bai von Odessa schweifen.

»Theure Herrin, sagte Nedjeb, während sie sich auf ein Kissen zu Füßen des jungen Mädchens niedersetzte, der Seigneur Ahmet ist noch nicht hier? Was macht denn Seigneur Ahmet?

– Er ist nach der Stadt gegangen, antwortete Amasia, und vielleicht bringt er uns einen Brief von seinem Onkel Keraban mit heim.

– Einen Brief! Einen Brief! rief die junge Dienerin. Ein Brief ist es nicht, was wir brauchen, sondern den Onkel selbst, und wahrlich, der Onkel läßt recht lange auf sich warten.

– O Geduld, Nedjeb!

– Sie sprechen da, wie es Ihnen gefällt, meine theure Herrin; wären Sie an meiner Stelle, würden sie auch nicht so geduldig sein!

– Thörin! antwortete Amasia. Sollte man nicht glauben, es handelte sich um Deine Hochzeit und nicht um die meinige?

– Und glauben Sie denn nicht, daß es eine sehr ernsthafte Sache ist, in den Dienst einer Dame überzugehen, nachdem man bisher bei einem jungen Mädchen war?

– Ich werde Dich deshalb nicht minder lieb haben, Nedjeb.

– Ebenso wie ich Sie, theure Herrin! Doch wahrhaftig, ich werde Sie sehr glücklich sehen, so glücklich, wenn Sie erst die Gattin des Seigneur Ahmet sind, daß auch auf mich ein wenig von Ihrem Glücke zurückstrahlen wird.

– Mein liebster Ahmet, murmelte das junge Mädchen, deren schöne Augen sich einen Moment verschleierten, als sie lebhafter an den Verlobten dachte.

– Da haben wir's! Sie müssen gar die Augen schließen, um ihn zu sehen, meine theure Herrin! rief Nedjeb boshaft, während es, wenn er hier wäre, genügte, sie zu öffnen.

– Ich wiederhole Dir, Nedjeb, daß er ausgegangen, um sich im Bankhause nach einem Courier zu erkundigen, und daß er uns ohne Zweifel einen Brief von seinem Onkel mitbringt.

– Ja!... Einen Brief des Seigneur Keraban, worin Seigneur Keraban wiederholen wird, daß ihn, ganz wie wir's wissen, seine Geschäfte in Constantinopel zurückhalten, daß er sein Comptoir noch nicht verlassen kann, daß der Tabak im Preise steigt, wenn er nicht etwa gar sinkt, daß er jedenfalls binnen acht Tagen eintrifft, wenn nicht vierzehn daraus werden!... Und die Sache [91] hat doch Eile! Wir haben nur noch sechs Wochen übrig, und Sie müssen da verheiratet sein, wenn nicht Ihr ganzes Vermögen...

– Um meines Vermögens willen liebt mich Ahmet nicht.

– Zugegeben... doch darf dasselbe nicht durch Verzögerung auf's Spiel gesetzt werden. O, dieser Seigneur Keraban... wenn der mein Onkel wäre!

– Und was thätest Du, wenn er Dein Onkel wäre?

– Ja, ich würde wohl auch nichts thun, da es scheint, als ob hier überhaupt nichts zu thun sei... Und doch, wenn er hier wäre, wenn er heute ankäme... morgen spätestens würden wir den Ehecontract beim Richter abschließen, und übermorgen, wenn der Iman das erste Gebet gesprochen, wären wir verheiratet und gut verheiratet, dann gäb's auf der Villa Festlichkeiten vierzehn Tage lang, und endlich reiste Seigneur Keraban wieder ab, wenn es ihm Vergnügen machte, dahinunter zurückzukehren!«

Gewiß hätte Alles so geschehen können unter der Bedingung, daß der Onkel Keraban nicht mehr zögerte, Constantinopel zu verlassen. Die Registrirung des Contracts durch den »Mollah«, der gewissermaßen den Standesbeamten darstellt – ein Contract übrigens, durch welchen sich der zukünftige Gatte verpflichtet, seiner Frau Mobiliar, Kleidung und Küchenausstattung zu beschaffen – dann die religiöse Feierlichkeit, alle diese Formalitäten hätten in der kurzen Zeit, welche Nedjeb angab, erfüllt sein können. Freilich gehörte dazu noch, daß der Seigneur Keraban, dessen Anwesenheit zur rechtlichen Giltigkeit der Ehe unentbehrlich war, da er als Vormund des Verlobten seine Zustimmung geben mußte, sich die wenigen Tage, welche die ungeduldige Zigeunerin verlangte, von seinem Geschäfte abmüßigte.

In diesem Augenblick rief die junge Begleiterin:

»Ah, sehen Sie da, sehen Sie dort doch das hübsche Schiff, welches unten nahe dem Garten vor Anker gegangen ist!

– Wahrhaftig!« antwortete Amasia.

Und die beiden jungen Mädchen wandten sich zu der nach dem Meere hinabführenden Treppe, um das leichte, graziös schwankende Fahrzeug betrachten zu können.

Es war eine Tartane, deren Segelwerk jetzt lose herabhing. Eine leichte Brise hatte es ihr ermöglicht, die Bai von Odessa zu durchsegeln. Jetzt hielt die Ankerkette dieselbe kaum ein Kabel lang vom Ufer fest, und sie schaukelte auf den auslaufenden Wellen, welche am Fuße der Wohnung erstarben. Die türkische Flagge – ein rother Stander mit silbernem Halbmond – wehte am Ende ihrer Raa.

[92] »Kannst Du den Namen lesen? fragte Amasia ihre Nedjeb.

– Ja, erwiderte das junge Mädchen. Sehen Sie, er steht am Hintertheile, der Name lautet »Guidare«.

Wirklich hatte sich eben die »Guidare«, Capitän Yarhud, auf diesem Theile der Bai festgelegt, es schien aber nicht, als sollte sie hier lange verweilen, denn ihre Segel wurden gar nicht gerefft, und ein Seemann würde erklärt haben, daß sie immer bereit war, in See zu gehen.

»O, sagte Nedjeb, das müßte herrlich sein, auf dieser hübschen Tartane dahinzufahren auf ruhigem Meere bei schwachem Winde, der sie unter ihren weißen Segeln schaukeln machte.«

In Folge ihrer geistigen Beweglichkeit bemerkte die junge Zigeunerin ein Kästchen, das auf einem kleinen lackirten Tischchen nahe dem Divan stand, öffnete es und nahm einige Kostbarkeiten aus demselben heraus.

»Und diese schönen Sachen, welche Seigneur Ahmet für Sie hat herbringen lassen! rief sie. Mir scheint, es ist schon eine gute Stunde her, daß wir sie gar nicht bewundert haben.

– Glaubst Du? murmelte Amasia, während sie ein Halsgeschmeide und ein paar Armspangen ergriff, welche unter ihren seinen Fingern glitzerten.

– Mit diesem Schmucke hofft Seigneur Ahmet Sie noch schöner zu machen, doch das wird ihm nicht gelingen.

– Was sagst Du, Nedjeb? entgegnete Amasia. Welche Frau würde nicht gewinnen, wenn sie sich mit so prächtigen Juwelen schmückte? Sieh' diese Diamanten von Visabur! Es sind reine Feuerquellen, und sie scheinen mich anzublicken, wie die Augen meines Verlobten!

– O, meine theure Herrin, wenn die Ihrigen ihn wieder ansehen, machen Sie ihm da nicht ein Geschenk, welches das seinige aufwiegt?

– Thörin! wiederholte Amasia. Und dieser Saphir von Ormuz und diese Perlen von Ophir und Türkisen von Macedonien...

– Türkis für Türkis, antwortete Nedjeb mit schlauem Lächeln, er verliert doch nicht etwa dabei, der Seigneur Ahmet?

– Glücklicherweise ist er nicht da, um Dich zu hören, Nedjeb!

– Schön, wenn er aber da wäre, theuerste Herrin, so würde er selbst Ihnen alle diese Wahrheiten sagen, und von seinem Munde möchten sie freilich eine höheren Werth haben, als von dem meinigen.«

Darauf entnahm Nedjeb dem Kästchen ein paar Pantoffeln und sagte:

[93] »Und diese reizenden Babuschen, über und über besetzt und bestickt und mit Quasten von Schwan, gearbeitet für zwei kleine Füßchen, die ich kenne! – Bitte, lassen Sie mich sie Ihnen anziehen!

– Probire sie doch selbst, Nedjeb.

– Ich?

– Es wäre doch nicht das erste Mal, daß Du, um mir ein Vergnügen zu machen...

– Gewiß, gewiß! meinte Nedjeb. Ja, ich habe ja schon Ihre schönen Kleider anprobirt... und als ich dann auf der Terrasse der Villa erschien... wäre ich bald für Sie gehalten geworden, liebste Herrin! Doch nein, das darf nicht sein, und heute noch weniger als je. – Bitte, probiren Sie die Pantöffelchen an!

– Du willst es?«

Amasia gab freundlich der Laune Nedjebs nach, die ihr die Pantoffeln anzog, welche werth gewesen wären, hinter einem Schaufenster mit kostbaren Schmucksachen ausgestellt zu werden.

»O, wie kann man nur wagen, mit solchem Schuhwerk zu gehen! rief die junge Zigeunerin. Und wer wird nun eifersüchtig werden? Ihr Kopf, theure Herrin, eifersüchtig auf Ihre Füßchen!

– Du machst mich lachen, Nedjeb, antwortete Amasia, und doch...

– Und diese Arme, diese schönen Arme, welche Sie so ganz bloß tragen! Was haben sie Ihnen denn gethan? Seigneur Ahmet hat sie ja nicht vergessen, er nicht. Ich sehe da Armspangen, die Ihnen vortrefflich stehen müssen. Arme kleine Arme, wie ihr vernachlässigt werdet! Zum Glück bin ich wenigstens da!«

Und lächelnd schob Nedjeb dem jungen Mädchen zwei prächtige Armspangen über die Handgelenke, welche auf der weißen warmen Haut lebhafter glänzten, als auf dem Sammet des Schmuckkastens.

Amasia ließ sie gewähren. Alle diese Gegenstände sprachen ihr von Ahmet, und während ihre Augen unter dem Geplauder Nedjebs hier und dort hin irrten, antwortete sie ihm ohne Worte.

»Meine geliebte Amasia!«

Beim Klange dieser Stimme erhob sich plötzlich das junge Mädchen.

Ein junger Mann, dessen zweiundzwanzig Jahre gut zu den sechzehn Jahren seiner Verlobten paßten, stand neben ihr. Er war von etwas über mittelgroßem Wuchse, zeigte eine elegante, gleichzeitig stolze graziöse Haltung, hatte [94] schwarze, doch sehr sanfte Augen, welche nur die Leidenschaft mit Blitzen erfüllen konnte, braunes Haar, dessen Locken unter dem seidenen »Puckul« hervorquollen, der von seinem Fez herabhing, dazu trug er einen seinen Schnurrbart nach albanischer Mode, hatte weiße Zähne – und endlich überhaupt ein aristokratisches Aussehen, wenn dieses Eigenschaftswort in einem Lande gebraucht werden könnte, in dem, da der Name nicht übersetzbar ist, auch eine eigentliche Aristokratie nicht existirt.

Ahmet ging gewissenhaft in türkischer Tracht gekleidet, und konnte das wohl anders sein bei dem Neffen eines Onkels, der sich entehrt gefühlt hätte, wenn er sich gleich einem gewöhnlichen Beamten europäisirte? Seine goldgestickte Weste, sein »Chalwar« von untadelhaftem Schnitt, der keine Stickerei von schlechtem Geschmacke trug, seine in graziöse Falten gewundene Schärpe, das von einem »Saryk« aus Brussabaumwolle umhüllte Fez und endlich die Maroquinstiefeln bildeten ein Costüm, das ihm vortrefflich stand.

Ahmet war auf das junge Mädchen zugegangen, hatte diese an den Händen gefaßt und sanft zum Niedersitzen genöthigt, während Nedjeb rief:

»Nun, Seigneur Ahmet, erhalten wir heute einen Brief aus Constantinopel?

– Nein, erwiderte Ahmet, nicht einmal einen Geschäftsbrief von meinem Onkel Keraban.

– O, der entsetzliche Mann! rief die junge Zigeunerin.

– Ich finde es auch unerklärlich, fuhr Ahmet fort, daß der Courier nicht einmal eine Correspondenz aus seinem Comptoir gebracht hat. Es war heute der von ihm nie versäumte gewöhnliche Tag, an dem er die Geschäfte mit seinem Banquier in Odessa zu ordnen pflegte, und Dein Vater hat auch nichts erhalten.

– Wirklich, lieber Ahmet, von Seite eines so ordnungsliebenden Kaufmanns, wie Dein Onkel Keraban, ist das zu verwundern. Vielleicht eine Depesche?...

– Er eine Depesche senden? – Du weißt doch, beste Amasia, daß er ebensowenig durch den Telegraphen correspondirt, wie er nicht mit der Eisenbahn reist. Moderne Erfindungen selbst für geschäftliche Beziehungen zu benützen! Er würde, glaube ich, lieber in einem Briefe eine schlechte Nachricht, als eine gute in einer Depesche empfangen. Ah, der Onkel Keraban!...

– Du hattest ihm aber doch geschrieben, lieber Ahmet? fragte das junge Mädchen, deren Augen liebevoll zu ihrem Verlobten aufblickten.

– Ich hab' ihm zehnmal geschrieben, um sein Eintreffen in Odessa zu beschleunigen, ihn zu bitten, einen näheren Termin für die Feier unserer


»Theure Herrin,« sagte Nedjeb. (S. 91.)

Hochzeit festzusetzen. Ich sagte ihm wiederholt, daß er ein barbarischer Onkel sei....

– Ah, sehr schön! rief Nedjeb.

– Ein Onkel ohne Herz, wenn er auch sonst der beste Mensch wäre!

[95]

– Oho! unterbrach ihn Nedjeb, den Kopf schüttelnd.

– Ja, ein herzloser Onkel, obwohl er seinem Neffen fast mehr als ein Vater war!... Aber er hat mir nur geantwortet, daß man von ihm, wenn er nur binnen sechs Wochen eintreffe, nichts weiter verlangen könne.


Ahmet ging gewissenhaft in türkischer Tracht gekleidet (S. 95.)

[96]

– Wir werden also warten müssen, bis es ihm beliebt, zu kommen, Ahmet.

– Warten, Amasia, warten!... entgegnete Ahmet. Das sind eben so viele Tage des Glücks, die er uns stiehlt!

– Und Diebe werden verhaftet, ja, Diebe, die doch niemals etwas Schlimmeres verbrochen haben! rief Nedjeb, mit dem Fuße stampfend.

– Was meinst Du? sagte Ahmet. Ich werde noch einmal versuchen meinen Onkel Keraban zu erweichen. Wenn er bis morgen nicht geantwortet hat, reife ich selbst nach Constantinopel, und...

[97] – Nein, liebster Ahmet, antwortete Amasia, die Hand des jungen Mannes ergreifend, als wollte sie ihn zurückhalten. Ich würde durch Deine Abwesenheit mehr leiden, als mir die für unsere Vermählung gewonnenen wenigen Tage Freude machen könnten. Nein, bleib' hier! Wer weiß, ob nicht irgend ein Umstand Deinen Onkel zu anderen Entschlüssen bestimmt.

– Er von seinen Entschlüssen abgehen? erwiderte Ahmet. Da könnte man wohl ebensogut versuchen, den Lauf der Gestirne zu verändern, den Mond an Stelle der Sonne zu setzen und die Gesetze des Himmels umzustoßen.

– Ach, wenn ich seine Nichte wäre! rief Nedjeb.

– Und wenn Du es wärest, was würdest Du thun? fragte Ahmet.

– Ich!... Ich würde ihn am Kaftan packen, erklärte die junge Zigeunerin, daß...

– Daß ihm der Kaftan zerrisse, Nedjeb, weiter nichts.

– Nun, dann zög' ich ihn mit aller Gewalt am Barte...

– Damit sein Bart Dir in der Hand bliebe!

– Und trotzdem ist Seigneur Keraban doch der beste aller Menschen!

– Ohne Zweifel, ohne Zweifel, stimmte Ahmet zu, aber so starrköpfig, daß, wenn er mit einem Maulthiere um den Preis des Starrsinns stritte, ich nicht auf das Maulthier wetten möchte!«

9. Capitel
Neuntes Capitel.
Worin dem Gelingen des Planes des Cäpitan Yarhud nur sehr wenig fehlte.

In diesem Augenblicke erschien ein Diener des Hauses – derjenige, welcher nach türkischer Sitte nur die Bestimmung hat, die Besucher anzumelden – in einer der Seitenthüren der Gallerie.

»Seigneur Ahmet, sagte er, es ist ein Fremder da, der Sie zu sprechen wünscht.

– Wer ist es? fragte Ahmet.

[98] – Ein maltesischer Capitän. Er besteht darauf, daß Sie ihn doch ja empfangen möchten.

– Meinetwegen. Ich komme... antwortete Ahmet.

– Lieber Ahmet, sagte da Amasia, empfange doch den Capitän, wenn er Dir nichts Besonderes mitzutheilen hat, gleich hier.

– Vielleicht ist es der, welcher die reizende Tartane da unten führt? bemerkte Nedjeb, nach dem kleinen Schiffe zeigend, das unmittelbar vor dem Garten vor Anker lag.

– Vielleicht! antwortete Ahmet. Lass' ihn eintreten.«

Der Diener zog sich zurück und gleich darauf zeigte sich der Fremde in der Thür der Gallerie.

Es war in der That der Capitän Yarhud, der Befehlshaber der Tartane »Guidare«, eines schnellen Schiffes von etwa hundert Tonnen, das eben so geeignet schien zur Küstenschifffahrt auf dem Schwarzen Meere, wie zur Fahrt nach den Stapelplätzen der Levante.

Zu seinem großen Leidwesen hatte Yarhud etwas warten müssen, ehe er in geringer Entfernung der Villa des Banquiers Selim Anker werfen konnte.

Ohne eine Stunde zu verlieren, war er nach dem Gespräch mit Scarpante, dem Intendanten des Seigneur Saffar, mit Benützung der bulgarischen und rumänischen Eisenbahnen von Constantinopel nach Odessa gefahren – damit kam Capitän Yarhud jedenfalls einige Tage vor dem Seigneur Keraban an, der sich mit echt alttürkischer Langsamkeit binnen vierundzwanzig Stunden nur fünfzehn bis sechzehn Lieues vorwärtsbewegte. In Odessa fand er aber die Witterung so schlecht, daß er mit der »Guidare« nicht aus dem Hafen zu gehen wagte, sondern warten mußte, bis der Nordostwind nach Westen umschlug. Erst heute morgen hatte er in der Nähe der Villa anlegen können. Diese Verzögerung raubte ihm nun einen großen Theil des Vorsprungs vor Seigneur Keraban, ein Umstand, der sein Vorhaben natürlich nicht begünstigen konnte.

Yarhud mußte also handeln, ohne einen Tag zu verlieren. Sein Plan stand fest: Erst List, dann Gewalt, wenn's mit der List mißglückte. Es war auch nothwendig, daß die »Guidare« mit Amasia an Bord noch am nämlichen Abende von der Rhede von Odessa wegsegelte. Ehe ihr Verschwinden dann bemerkt und eine Verfolgung eingeleitet werden konnte, mußte die Tartane bei günstigem Nordwestwinde schon so gut wie in Sicherheit sein.

[99] Entführungen dieser Art finden noch immer, und häufiger als man glauben sollte, an verschiedenen Küstenpunkten statt. Wenn sie in den türkischen Gewässern, in der Nähe der Küsten Anatoliens ziemlich oft vorkommen, so sind dieselben doch auch noch an solchen Küsten zu fürchten, welche direct unter russischer Herrschaft stehen.

Vor kaum einigen Jahren wurde gerade Odessa von einer ganzen Reihe solcher Räubereien heimgesucht, deren Urheber unbekannt geblieben sind. Es verschwanden damals mehrere junge Mädchen aus der besten Gesellschaft Odessas, und ohne jeden Zweifel wurden sie an Bord solcher Fahrzeuge geschleppt, welche an den Küsten Kleinasiens noch immer den abscheulichen Sclavenhandel treiben.

Was jene Schurken in der Hauptstadt Südrußlands ausgeführt, das wollte Yarhud zu Gunsten des Seigneur Saffar auch vollbringen. Die »Guidare« machte damit nicht einmal den ersten Versuch, und ihr Capitän hätte gewiß nicht für vieles Geld sich den großen Nutzen entgehen lassen, den er aus diesem »Geschäfte« zu ziehen hoffte.

Yarhud's Plan ging auf Folgendes hinaus: Er wollte das junge Mädchen an Bord der »Guidare« zu locken suchen unter dem Vorwande, ihr verschiedene kostbare Stoffe, die er in den ersten Fabriken eingekauft, zu zeigen. Sehr wahrscheinlich begleitete Ahmet das junge Mädchen bei dem ersten Besuche; vielleicht aber kam sie noch einmal allein mit Nedjeb wieder. Sollte es dann nicht möglich sein, in See zu gehen, bevor ihr Jemand zu Hilfe kommen konnte? Ließe sich Amasia aber wider Erwarten nicht durch das Angebot Yarhud's überreden, schlug sie es ab, an Bord zu kommen, so wollte der maltesische Capitän sie mit Gewalt entführen. Die Wohnung des Banquiers Selim lag ziemlich vereinzelt an einer Bucht, und die Dienerschaft wäre gewiß nicht im Stande gewesen, den Leuten von der Tartane Widerstand zu leisten; jedenfalls ging es dann freilich nicht ohne Kampf ab und es würde sofort bekannt, unter welchen Verhältnissen die Entführung stattgefunden hatte.

Im Interesse des Räubers lag es also, die Sache womöglich ohne Aufsehen durchzuführen.

»Der Seigneur Ahmet? sagte Capitän Yarhud sich vorstellend, und nur begleitet von einem seiner Matrosen, der unter dem Arme mehrere Stoffstücke trug.

– Der bin ich, antwortete Ahmet. Sie sind...

[100] – Der Capitän Yarhud, Befehlshaber der Tartane »Guidare«, welche hier, dicht vor der Wohnung des Banquiers Selim, vor Anker liegt.

– Und was wünschen Sie?

– Seigneur Ahmet, antwortete Yarhud, ich habe von Ihrer bevorstehenden Hochzeit gehört...

– Da haben Sie, Capitän, von einer Sache gehört, die mir mehr als alles Andere am Herzen liegt.

– Das begreif' ich, Seigneur Ahmet, erwiderte Yarhud, sich nach Amasia umwendend. Dabei bin ich auf den Gedanken gekommen, Ihnen all' die Schätze, welche meine Tartane enthält, zur Verfügung zu stellen.

– O, Capitän Yarhud, da haben Sie wahrlich einen nicht üblen Gedanken gehabt, erklärte Ahmet.

– Aber, lieber Ahmet, sagte das junge Mädchen, was sollte mir noch fehlen?

– Wer weiß? erwiderte Ahmet. Die levantinischen Capitäne haben oft eine Auswahl prächtiger Gegenstände, und man muß eben sehen...

– Ja, ja, sehen und kaufen, rief Nedjeb, und wenn wir auch Seigneur Keraban zu Grunde richten sollten, zur Strafe für sein Zögern.

– Und woraus besteht ihre Ladung, Capitän? fragte Ahmet.

– Aus vorzüglichen Stoffen, die ich an den Erzeugungsstellen eingekauft habe, erwiderte Yarhud, und mit denen ich gewöhnlich handle.

– Nun, das müssen die jungen Damen sehen! Sie verstehen sich darauf weit besser als ich, und ich werde mich glücklich schätzen, liebste Amasia, wenn der Capitän der »Guidare« unter seiner Ladung einige Stoffe hat, welche Deinen Beifall finden.

– Daran zweifle ich nicht, antwortete Yarhud; übrigens hab' ich Sorge getragen, verschiedene Proben mit hierher bringen zu lassen, welche ich Sie zu prüfen bitte, bevor Sie an Bord kommen.

– Lassen Sie sehen, lassen Sie sehen! rief Nedjeb. Aber ich sage Ihnen, Capitän, daß für meine Herrin nichts zu schön sein kann.

– Wirklich nichts!« wiederholte Ahmet.

Auf ein Zeichen Yarhud's breitete der Matrose verschiedene Stoffe aus, welche der Capitän der Tartane dem jungen Mädchen vorlegte.

»Hier, silberdurchwirkte Seide von Brussa, sagte er, welche eben erst in den Bazaren von Constantinopel eingetroffen war.

[101] – Wahrlich, eine schöne Arbeit, meinte Amasia, die Stoffe musternd, welche unter den beweglichen Fingern Nedjebs glitzerten, als wären sie nur aus Lichtstrahlen gewebt.

– Da sehen Sie, sehen Sie! rief die junge Zigeunerin. Etwas Schöneres hätten wir in den Kaufläden Odessas gewiß nicht gefunden!

– In der That, das scheint mir eigens für Dich her gestellt zu sein, meine Amasia, sagte Ahmet.

– Ich mache Sie auch, nahm Yarhud wieder das Wort, besonders auf diese Musseline von Scutari und Turnova aufmerksam. Sie werden schon an diesem Stücke die Vollkommenheit der Arbeit erkennen, bei mir an Bord würden Sie aber sicherlich über die äußerst mannigfaltigen Dessins und den Glanz der Farben dieser Gewebe erstaunt sein.

– Nun, das ist abgemacht, Capitän, wir werden der »Guidare« einen Besuch abstatten, rief Nedjeb.

– Und Sie werden denselben nicht zu bereuen haben, versicherte Yarhud. Doch erlauben Sie mir, Ihnen noch einige Artikel vorzulegen. Hier sind hochglänzende Brocate, Seidenhemden mit durchscheinenden Streifen, Stoffe zu Ferredjes, Musseline zu Jachmaks, persische Shawls zu Schärpen, Taffete zu Beinkleidern«...

Amasia bewunderte mit Interesse die prächtigen Stoffe, welche der maltesische Capitän mit vollendetem Kunstgriffe vor ihren Augen schimmern ließ. Wenn er ein eben so guter Seemann wie gewandter Kaufmann war, dann konnte es der »Guidare« an glücklichen Fahrten nicht fehlen. Jedes weibliche Wesen – und die jungen türkischen Damen machen davon keine Ausnahme – hätte sich von diesen, aus den besten Fabriken des Orients stammenden Geweben leicht in Versuchung führen lassen.

Ahmet bemerkte mit Vergnügen, mit welcher Bewunderung seine Verlobte dieselben betrachtete. Sicherlich konnten, wie Nedjeb gesagt hatte, weder die Bazare Odessas, noch die von Constantinopel, ja nicht einmal die Magazine von Ludovies, dem berühmten armenischen Händler, eine kostbarere Auswahl aufweisen.

»Liebe Amasia, meinte Ahmet, Du wirst doch nicht wollen, daß dieser brave Capitän sich für uns umsonst bemüht hat? Da er Dir so herrliche Stoffe zeigt, und seine Tartane davon noch schönere birgt, so werden wir einen Besuch auf der Tartane machen.

[102] – Ja, ja, rief Nedjeb, die sich gar nicht mehr halten konnte und schon nach dem Meere zu lief.

– Und wir werden auch, setzte Ahmet hinzu, irgend ein Seidenzeug finden, das dieser Närrin Nedjeb gefällt.

– Nun, ist's denn nicht auch nöthig, daß sie ihrer Herrin Ehre macht, antwortete Nedjeb, vorzüglich an einem Tage, wo deren Vermählung mit einem so freigebigen Gatten wie Seigneur Ahmet gefeiert wird?

– Und eines so guten, fügte das junge Mädchen hinzu, indem sie die Hand ihrem Verlobten entgegenstreckte.

– Es ist also abgemacht, Capitän, sagte Ahmet, Sie werden uns an Bord Ihrer Tartane empfangen.

– Zu welcher Stunde, fragte Yarhud, denn ich möchte selbst da sein, um Ihnen alle meine Schätze zu zeigen?

– Nun gut... also am Nachmittage.

– Warum nicht gleich jetzt? rief Nedjeb.

– O, Du Ungeduldige! antwortete Amasia. Sie hat es noch eiliger als ich, jenen schwimmenden Bazar zu besuchen! Man merkt es, daß Ahmet ihr ein Geschenk versprochen hat, das sie nur noch coquetter machen wird.

– Coquett! rief Nedjeb schmeichelnd. Ich putze mich aber nur für Sie, meine geliebte Herrin.

– Es steht ganz bei Ihnen, Seigneur Ahmet, sagte der Capitän, nach der Tartane zu kommen, wann Sie wollen. Ich kann ein Boot aussetzen, welches Sie hier an der Terrasse abholt, und nach wenigen Ruderschlägen werden Sie an Bord gelangt sein.

– So thun Sie es, erklärte Ahmet.

– Ja... an Bord! jubelte Nedjeb.

– An Bord, weil Nedjeb es will!« setzte das junge Mädchen hinzu.

Capitän Yarhud befahl seinem Matrosen, die mitgebrachten Stoffe wieder einzupacken.

Inzwischen begab er selbst sich nach der Balustrade am Ende der Terrasse und ließ einen lang gedehnten Pfiff ertönen.

Man konnte sehen, daß darauf auf dem Deck der Tartane einige Bewegung entstand. Das an den Backborddävids hängende Boot sank langsam zum Meere nieder, und nach Verlauf von fünf Minuten stieß ein scharf gebautes, leichtes Fahrzeug, getrieben von vier Ruderern, an die Stufen der Terrasse.


»Vielleicht ist es der, welcher die reizende Tartane da unten führt?« (S. 99.)

Capitän Yarhud gab Seigneur Ahmet ein Zeichen, daß das Boot zu seiner Verfügung stehe.

[103]

Trotz der Herrschaft, die er über sich besaß, konnte Yarhud doch eine gewisse Erregung nicht ganz unterdrücken. Bot sich jetzt nicht eine Gelegenheit, die Entführung in's Werk zu setzen?


Amasia bewunderte mit Interesse die prächtigen Stoffe. (S. 102.)

Die Zeit drängte, denn der Seigneur Keraban konnte nun jede Stunde eintreffen. Nichts deutete darauf hin, daß er vor Vollendung dieser fast unsinnigen Reise um das Schwarze Meer nicht werde so schnell als möglich die Hochzeit Ahmets und Amasias feiern wollen.

[104] Als Gattin Ahmets war Amasia aber nicht mehr das junge Mädchen, welches der Palast des Seigneur Saffar erwartete.

Ja, der Capitän Yarhud sah sich plötzlich zu einem Gewaltstreich getrieben. Es entsprach ganz seiner brutalen Natur, keine Schonung zu kennen. Ueberdies waren die Umstände besonders günstig und ebenso der Wind, um schnell in's offene Wasser zu gelangen. Die Tartane mußte auf offener See sein, bevor man daran denken konnte, dieselbe zu verfolgen, im Fall das Verschwinden des jungen Mädchens sofort Aufsehen erregte. Gewiß hätte Yarhud, wenn Ahmet [105] nicht mit zugegen gewesen wäre und Amasia nebst Nedjeb allein die »Guidare« besucht hätten, nicht einen Augenblick gezögert, die Anker zu lichten und in See zu gehen, während noch die beiden jungen Mädchen damit beschäftigt waren, ihre Auswahl zu treffen. Es wäre dann so leicht gewesen, sie im Zwischendeck gefangen zu halten und ihr Geschrei zu ersticken, bis das Schiff die Bai hinter sich hatte. In Gegenwart Ahmets war das freilich schwieriger, wenn auch nicht unmöglich. Sich dieses jungen Mannes, so entschlossen derselbe auch war, später, und wäre es durch Mord, zu entledigen, darüber machte sich der Capitän der »Guidare« keinerlei Bedenken. Der Mord wäre einfach mit auf Rechnung gesetzt worden und die Entführung kam dem Seigneur Saffar bedeutend theurer zu stehen. Das war Alles.

Yarhud wartete also auf den Stufen der Terrasse, noch unentschlossen, was er thun sollte, als Ahmet mit seinen Begleiterinnen das Canot der »Guidare« bestiegen hatte.

Das leichte Fahrzeug schwankte graziös auf den flachen, von schwacher Brise getriebenen Wellen in der Entfernung von kaum einer Kabellänge.

Ahmet befand sich noch auf der letzten Stufe, nachdem er Amasia geholfen, auf der Bank im Hintertheile des Bootes Platz zu nehmen, als die Thür der Gallerie sich aufthat. In derselben erschien ein Mann von höchstens fünfzig Jahren, dessen türkische Tracht sich der europäischen Kleidung näherte, und rief:

»Ahmet! Amasia!«

Es war der Banquier Selim, der Vater der jungen Braut, der Correspondent und Freund des Seigneur Keraban.

»Meine Tochter!... Ahmet!« wiederholte Selim.

Amasia erfaßte die Hand, die ihr Ahmet entgegenhielt, verließ das Boot und eilte nach der Terrasse.

»Was gibt es denn, mein Vater? fragte sie. Was führt Dich so schnell aus der Stadt zurück?

– Eine große Neuigkeit!

– Eine gute? fragte Ahmet.

– Eine ganz ausgezeichnete, antwortete Selim. Eben ist ein von meinem Freund Keraban abgesandter Eilbote im Comptoir eingetroffen.

– Wär's möglich? rief Nedjeb.

– Ein Eilbote, der mir seine Ankunft anzeigt, erwiderte Selim, und der ihm selbst nur um sehr wenig voraus ist.

[106] – Mein Onkel Keraban! rief Ahmet.... Mein Onkel Keraban ist nicht mehr in Constantinopel?...

– Nein, ich erwarte ihn hier!«

Zum Glück für den Capitän der »Guidare »sah Niemand den Ausdruck von Ingrimm, den er nicht zu unterdrücken vermochte. Die unmittelbare Ankunft des Onkels Ahmets war das ernsthafteste Hinderniß, das er bei der Ausführung seines Vorhabens zu fürchten hatte.

»Ach, der gute Seigneur Keraban! rief Nedjeb.

– Doch weshalb kommt er? fragte das junge Mädchen.

– Nun wegen Ihrer Vermählung, theure Herrin! antwortete Nedjeb. Was sollte er sonst in Odessa zu suchen haben?

– Das muß der Grund sein, meinte auch Selim.

– Ich denke es, sagte Ahmet. Warum sollte er Constantinopel ohne diesen Grund jetzt verlassen haben? Er wird sich eines Besseren besonnen haben, der würdige Onkel! Er hat sein Constantinopel, seine Geschäfte, ohne uns davon zu benachrichtigen, verlassen.... Das ist eine Ueberraschung, die er uns bereiten wollte.

– Ah, wie werden wir ihn willkommen heißen! rief Nedjeb. Und welch' guten Empfang soll er hier finden!

– Und der Bote hat Dir nichts gesagt, was ihn nun so plötzlich hierher geführt, Vater? fragte Amasia.

– Nichts, antwortete Selim. Dieser Mann hat in Majaki, wo der Wagen des Freundes Keraban anhielt, um die Pferde zu wechseln, ein Postpferd genommen. Er ist nur nach meinem Comptoir gekommen, um anzuzeigen, daß mein Freund Keraban direct hierher kommen werde, ohne sich in Odessa aufzuhalten, und so muß also mein Freund Keraban von einer Minute zur anderen erscheinen!«

Daß der Freund Keraban vom Banquier Selim, der Onkel Keraban von Amasia und Ahmet, und der Seigneur Keraban von Nedjeb jetzt in contumaciam mit den liebenswürdigsten Titeln belegt wurde, bedarf wohl nicht der Erwähnung. Diese Ankunft bedeutete ja die unmittelbar bevorstehende Feier der Hochzeit. Den Verlobten winkte das Glück aus nächster Nähe. Die so erwünschte Verbindung brauchte nicht bis zu dem entscheidenden Termin – entscheidend wegen jener Vermögensfrage – hinausgeschoben zu werden. O, wenn Seigneur Keraban der starrsinnigste aller Menschen war, so war er doch auch der gütigste.

[107] Ungeduldig sah Yarhud dieser Familienscene zu. Sein Boot hatte er indeß noch nicht zurückgesendet. Es kam ihm viel darauf an, zu erfahren, was der Seigneur Keraban zunächst vorhatte. Konnte er in der That nicht fürchten, daß dieser die Vermählung Amasias und Ahmets feiern wolle, ehe er seine Fahrt um das Schwarze Meer fortsetzte?

Da ließen sich schon verschiedene Stimmen, unter welchen eine besonders befehlerisch hervorklang, von draußen vernehmen. Die Thür öffnete sich, und gefolgt von Van Mitten, Bruno und Nizib erschien der Seigneur Keraban.

10. Capitel
Zehntes Capitel.
In welchem Ahmet einen energischen, übrigens durch die Umstände gebotenen Entschluß faßt.

»Guten Tag, Freund Selim! Guten Tag! Schütze Dich Allah, Dich und Dein ganzes Haus!«

Bei diesen Worten drückte Keraban kräftig die Hand seines Correspondenten in Odessa.

»Guten Tag, Neffe Ahmet!«

Und mit großer Innigkeit preßte Seigneur Keraban seinen Neffen Ahmet an's Herz.

»Guten Tag, meine kleine Amasia!«

Und Seigneur Keraban legte beide Hände auf die Wangen des jungen Mädchens, das bald seine Nichte werden sollte.

Alles das geschah so schnell, daß noch Keiner Zeit gefunden hatte, zu antworten.

»Und nun auf Wiedersehen und vorwärts!« setzte Seigneur Keraban hinzu, sich gegen Van Mitten zurückwendend.

Der phlegmatische Holländer, der nicht einmal vorgestellt worden war, erschien mit seinem unveränderlichen Gesicht wie eine fremde Persönlichkeit, die nur für die Hauptscene eines Schauspieles heraufbeschworen war.

[108] Alle glaubten, als sie den Seigneur Keraban mit solcher Freigebigkeit seine Küsse und Händedrücke austheilen sahen, er sei nur gekommen, um die Vermählung zu beschleunigen; als sie ihn aber rufen hörten: »Vorwärts!« fielen sie nicht wenig aus den Wolken.

Ahmet war der Erste, der das Schweigen der Verwunderung brach.

»Wie, vorwärts sagst Du?

– Ja, vorwärts, lieber Neffe.

– Du willst wieder abreisen, lieber Onkel?

– Noch diesen Augenblick!«

Neues allgemeines Erstaunen, während Van Mitten seinem Bruno heimlich in's Ohr flüsterte:

»Wahrhaftig, das sieht dem Charakter meines Freundes Keraban sehr ähnlich!

– Gar zu sehr!« bestätigte Bruno.

Inzwischen sah Amasia Ahmet an, der selbst Selim anstarrte, während Nedjeb nur Augen hatte für diesen unerforschlichen Onkel – für den Mann, der im Stande war, abzureisen, ehe er richtig ankam.

»Nun vorwärts, Van. Mitten! wiederholte Seigneur Keraban, sich zur Thür wendend.

– Können Sie mir wohl sagen, mein Herr?... fragte Ahmet Van Mitten.

– Was sollt' ich sagen können?« erwiderte der Holländer, der seinem Freunde schon auf den Fersen folgte.

Eben als er hinaustreten wollte, blieb Seigneur Keraban noch einmal stehen und wendete sich an den Banquier:

»Ah, Freund Selim, begann er, Du wirst so gut sein, mir einige Tausend Piaster in Rubel umzutauschen.

– Einige Tausend Piaster?... antwortete Selim, der sich gar keine Mühe gab, den Sonderling zu begreifen.

– Ja,... Selim... in russisches Geld, das ich bei meiner Fahrt durch moskowitisches Territorium brauche.

– Aber, lieber Onkel, wirst Du uns endlich erklären?... begann Ahmet, an den das junge Mädchen sich anschmiegte.

– Zu welchem Wechselcourse heute? fragte Seigneur Keraban.

– Dreieinhalb Percent, antwortete Selim, bei dem der Banquier einen Augenblick zum Vorschein kam.

[109] – Was! Dreieinhalb?

– Die Rubel sind im Steigen, erwiderte Selim, sie werden auf dem Geldmarkte gesucht....

– Nun für mich, Freund Selim, werden Dreieinviertel auch genug sein. Du verstehst mich... Dreieinviertel!

– Für Dich, ja! Für Dich, Freund Keraban, und sogar ohne jede Commissionsgebühr!«

Der Banquier Selim wußte offenbar nicht mehr, was er sagte und was er that.

Selbstverständlich beobachtete Yarhud von dem unteren Theile der Gallerie, wo er sich verborgen hielt, diese ganze Scene mit gespanntester Aufmerksamkeit. Was würde aus derselben für seine Pläne Günstiges oder Ungünstiges hervorgehen?

Da nahm Ahmet seinen Onkel am Arm, hielt ihn noch auf der Schwelle der Thür, die er eben überschreiten wollte, und zwang ihn, was bei dessen starrköpfigem Charakter nicht leicht war, noch einmal umzukehren.

»Lieber Onkel, Du hast uns Alle im Augenblicke Deiner Ankunft umarmt...

– Nein doch, nein, lieber Neffe, entgegnete Keraban, im Augenblick meiner Weiterreise!

– Zugegeben, lieber Onkel... ich will Dir nicht widersprechen... aber sag' uns wenigstens, was Dich hieher nach Odessa geführt hat.

– Ich bin nur nach Odessa gekommen, erklärte Keraban, weil Odessa auf meinem Wege lag. Wenn das nicht der Fall gewesen wäre, wär' ich eben nicht hierher gekommen, nicht wahr, Van Mitten?«

Der Holländer begnügte sich mit einem zustimmenden Zeichen, indem er langsam den Kopf senkte.

»Ah, da fällt mir ein, Sie sind ja nicht einmal vorgestellt worden, das muß ich doch noch nachholen!« sagte der Seigneur Keraban.

Dann wandte er sich an Selim.

»Mein Freund Van Mitten, sagte er, mein Correspondent in Rotterdam, den ich zum Abendessen nach Scutari mitnehme.

– Nach Scutari? rief der Banquier.

– Es scheint so!... bestätigte Van Mitten.

– Und sein Diener Bruno, fuhr Keraban fort, ein wackerer junger Mann, der sich von seinem Herrn nicht hat trennen wollen.

[110] – Es scheint so!... antwortete Bruno als getreues Echo.

– Und nun vorwärts!«

– Noch einmal nahm Ahmet das Wort.

»Alles zugestanden, lieber Onkel; glaube auch nicht, daß es mir in den Sinn kommen könnte, Dir zu widersprechen. Doch, wenn Du nur nach Odessa gekommen bist, weil das auf Deinem Wege liegt, welchen Weg willst Du dann einschlagen, um von Constantinopel nach Scutari zu kommen?

– Den Weg, der um das Schwarze Meer führt.

– Eine Reise um das Schwarze Meer!« rief Ahmet fast betäubt.

Einen Augenblick herrschte allgemeines Stillschweigen.

»Nun, begann endlich Keraban wieder, ist denn daran etwas so Staunenswerthes, so Außerordentliches, daß ich mich von Constantinopel nach Scutari auf dem Wege um das Schwarze Meer begebe?«

Der Banquier Selim und Ahmet sahen sich an. War der reiche Kaufmann aus Galata vielleicht übergeschnappt?

»Freund Keraban, ließ sich da Selim vernehmen, wir denken natürlich nicht daran, Dir entgegenzutreten«...

Das war die gewöhnliche Redensart, mit der man klugerweise jedes Gespräch mit dem Starrkopf einzuleiten pflegte.

»Wir wollen Dir nicht entgegentreten, es scheint uns jedoch, daß man, um von Constantinopel direct nach Scutari zu kommen, nur über den Bosporus zu fahren braucht.

– Es gibt keinen Bosporus mehr!

– Keinen Bosporus mehr? wiederholte Ahmet.

– Wenigstens nicht mehr für mich! Dieser existirt nur noch für Die, welche sich einer ungerechten Steuer unterwerfen wollen, einer Steuer von zehn Paras die Person, einer Steuer, mit der die Regierung der Jungtürken das bis zum heutigen Tage freie Gewässer schändet!

– Wie?... Eine neue Steuer! rief Ahmet, der sofort durchschaute, in welches Abenteuer ein Trotz ohne Gleichen seinen Onkel eben stürzte.

– Ja, erwiderte Seigneur Keraban lebhafter werdend. Gerade als ich in meinen Kajik steigen wollte,... um nach Scutari zum Essen zu fahren... mit meinem Freund Van Mitten, wurde diese Steuer von zehn Paras verkündigt. Natürlich weigerte ich mich, sie zu bezahlen... man wollte mich deshalb nicht passiren lassen... da sagte ich, ich würde schon nach Scutari zu kommen wissen,


»Guten Tag, Freund Selim!« (S. 108.)

ohne über den Bosporus zu gehen. Man gab mir zur [111] Antwort, das werde nicht angehen!... Ich erwiderte, es werde doch gehen... und es wird auch gehen. Bei Allah, ich hätte mir lieber die Hand abhauen lassen, als sie nach meiner Tasche zu führen, um daraus zehn Paras herauszuholen. Nein, bei Mohammed! Bei Mohammed!«

Offenbar kannten die Leute Keraban nicht. Sein Freund Selim aber und sein Neffe Ahmet, Van Mitten und Amasia kannten ihn und begriffen, daß es nach dem Vorgefallenen unmöglich sein werde, ihn von seinem Entschluß abzubringen.

[112] Hier galt es also, nicht zu verhandeln, was die Sache nur verschlimmert hätte, sondern sie einfach anzunehmen, wie sie lag. – Ohne weitere Verständigung war doch die allgemeine Zustimmung dasjenige, was am gerathensten erschien.

»Alles in Allem, lieber Onkel, hast Da eigentlich recht, sagte Ahmet.

– Vollkommen recht, fügte Selim hinzu.

– Immer recht! erklärte Keraban.

– Ungerechten Ansprüchen muß man entgegentreten, fuhr Ahmet fort entgegentreten, und wenn man dabei sein Vermögen auf's Spiel setzte.

[113] – Und selbst das Leben! vervollständigte Keraban diese Ansicht.

– Du hast sehr wohl daran gethan, die Zahlung dieser Steuer zu verweigern, den Beweis zu liefern, daß Du von Constantinopel nach Scutari gelangen kannst, ohne den Bosporus zu überschreiten.


»Können Sie mir wohl sagen, mein Herr?« fragte Ahmet. (S. 109.)

– Und ohne dafür zehn Paras auszugeben, setzte Keraban hinzu, und sollte es mich fünfmalhunderttausend kosten.

– Doch hast Du es, mein' ich, wohl nicht so eilig mit der Weiterreise? fragte Ahmet.

– Sehr eilig, lieber Neffe, antwortete Keraban. Ich muß, Du weißt, vor Ablauf von sechs Wochen zurück sein.

– Guter, lieber Onkel, Du kannst uns doch acht Tage in Odessa schenken?...

– Nicht fünf Tage, nicht vier, nicht einen, erwiderte Keraban, nicht einmal eine Stunde!«

Ahmet sah, daß seine widerstrebende Natur ihn wieder übermannte. Er gab Amasia ein Zeichen, ein Wort einzulegen.

»Und unsere Hochzeit, Herr Keraban? sagte das junge Mädchen, ihn an der Hand fassend.

– Deine Hochzeit, Amasia? erwiderte Keraban. Diese wird keineswegs weiter hinausgeschoben werden; sie muß vor Ende des nächsten Monats stattfinden! – Nun, das soll auch der Fall sein. Meine Reise wird sich nicht um einen Tag verzögern... unter der Bedingung, daß ich abreise, ohne einen Augenblick zu verlieren!«

So fiel denn der ganze Berg froher Hoffnungen zusammen, den Alle auf die unerwartete Ankunft des Seigneur Keraban gebaut hatten. Die Hochzeit würde nicht beschleunigt, aber sie würde auch nicht verzögert werden! sagte er. Doch, wer konnte dafür einstehen? Wie hätte Jemand die Zufälligkeiten einer so langen und anstrengenden Reise, die sich unter solchen Verhältnissen vollzog, sicher vorher berechnen können?

Ahmet konnte eine etwas verächtliche Bewegung nicht unterdrücken, die sein Onkel zum Glück nicht bemerkte, ebensowenig die Wolke, welche Amasias Stirn verfinsterte, und ebensowenig wie er Nedjeb murmeln hörte:

»O, dieser Unmensch von Onkel!

– Uebrigens setzte dieser noch hinzu, im Tone eines Mannes, der einen Vorschlag macht, der jeden Einwurf ausschließt, rechne ich darauf, daß Ahmet mich begleiten wird.

[114] – Teufel, das war ein Hauptschlag, der schwer zu pariren sein wird! sagte Van Mitten halblaut für sich.

– Es wird ihn auch Niemand pariren!« flüsterte Bruno ihm zu.

Ahmet hatte dieser Schlag wirklich in's Herz getroffen. Amasia ihrerseits blieb gegenüber der drohenden Aussicht, auch ihren Verlobten wegreisen zu sehen, regungslos neben Nedjeb, welche dem Seigneur Keraban am liebsten die Augen ausgerissen hätte.

Am Ende der Gallerie verlor der Capitän der »Guidare« kein Wort von diesem Gespräche. Offenbar nahm die Sache eine für seine Projecte günstige Wendung.

Selim glaubte, trotz ganz geringer Hoffnung, etwas an dem Entschlusse seines Freundes zu ändern, doch noch ein Wort einlegen zu sollen.

»Ist es denn nothwendig, Keraban, daß Ihr Neffe die Reise um das Schwarze Meer mitmacht?

– Nothwendig, nein! erwiderte Keraban. Aber ich denke, Ahmet wird gar nicht zaudern, mich zu begleiten.

– Indeß... stammelte Selim.

– Nun indeß?«... wiederholte Keraban, der schon die Lippen zusammenbiß, wie er das allemal beim Beginn eines Wortwechsels that.

Eine Minute Stillschweigen, welche endlos schien, folgte dem letzten Worte Keraban's. Ahmet hatte sich inzwischen zu einem Entschlusse aufgerafft. Er sprach leise mit dem jungen Mädchen. Er machte ihr begreiflich, daß es, wie sehr sie beide auch diese plötzliche Trennung beklagen mochten, doch besser sei, nachzugeben; daß jene Reise ohne ihn sich leicht noch mehr verzögern könnte, während sie mit ihm schneller von Statten gehen werde; daß er bei seiner gründlichen Kenntniß der russischen Sprache weder einen Tag noch eine Stunde versäumen lassen werde; daß er seinen Onkel schon dazu bringen werde, doppelte Schritte zu machen, und sollte es auch dreifache Unkosten verursachen, und daß er endlich vor Ablauf des nächsten Monats, d. h. vor dem Zeitpunkte, an dem Amasia vermählt sein mußte, um sich ein beträchtliches Vermögen zu sichern, den Onkel Keraban wieder nach dem linken Ufer des Bosporus hinübergebracht haben werde.

Amasia hatte zwar nicht die Kraft gefunden, ja zu sagen, sie sah aber ein, daß ihre Interessen damit voraussichtlich am besten gewahrt seien.

»Nun gut, es gilt, lieber Onkel, sagte Ahmet, ich werde Dich begleiten, und bin bereit abzureisen... aber...

[115] – O, keine Bedingungen, Herr Neffe!

– Meinetwegen, ohne jede Bedingung!« sagte Ahmet.

Für sich setzte er aber hinzu:

»Ich werde Dich schon im Trabe halten, und wenn Du dabei außer Athem kommst, Du starrköpfigster aller Onkel!

– Also vorwärts!« rief Keraban.

Nochmals wendete er sich an Selim.

»Nun, und die Rubel im Austausch für meine Piaster?

– Gebe ich Dir in Odessa; ich werde Dich nach der Stadt begleiten, antwortete Selim.

– Sind Sie bereit, Van Mitten? fragte Keraban.

– Ich bin stets bereit.

– Nun also, Ahmet, sagte Keraban, umarme Deine Braut, umarme sie recht herzlich, denn wir wollen fort!«

Ahmet drückte das junge Mädchen in die Arme. Amasia konnte einige Thränen nicht unterdrücken.

»Ahmet, mein geliebter Ahmet!... schluchzte sie.

– Weine nicht, meine Amasia! tröstete sie Ahmet. Wenn unsere Hochzeit nicht beschleunigt wird, so wird sie auch nicht verschoben werden, das verspreche ich Dir!... Es handelt sich nur um eine Trennung von wenigen Wochen!...

– Ach, beste Herrin, ließ sich da Nedjeb vernehmen, wenn der Seigneur Keraban doch ein Bein oder lieber zwei brechen wollte, ehe er aus dem Hause kommt. Wollen Sie, daß ich das herbeizuführen suche?«

Ahmet bedeutete der jungen Zigeunerin, sich ruhig zu verhalten, und er that wohl daran. Nedjeb wäre wahrlich im Stande gewesen, Alles zu versuchen, um diesen unfügsamen Onkel zurückzuhalten.

Nun war Lebewohl gesagt, waren die letzten Küsse gewechselt. Alle fühlten sich seltsam erregt. Selbst der Holländer empfand etwas wie einen Druck am Herzen. Nur der Seigneur Keraban allein sah nichts, oder wollte von der allgemeinen Traurigkeit nichts sehen.

»Ist der Wagen bereit? fragte er Nizib, der eben in die Gallerie trat.

– Der Wagen erwartet Sie, antwortete Nizib.

– Vorwärts! trieb nun Keraban. Ah, meine modernen Herren Ottomanen, die sich europäisch kleiden! Ah, meine Herren Jungtürken, die nicht einmal verstehen, ordentlich fett zu werden!...«

[116] Das war augenscheinlich ein unverzeihlicher Fehler in den Augen des Seigneur Keraban.

»Ah, meine Herren Renegaten, die ihr Euch den Vorschriften Mahmud's fügt, ich werde Euch zeigen, daß es noch Altgläubige gibt, mit denen Ihr niemals fertig werdet!«

Niemand widersprach ja dem Seigneur Keraban, und doch wurde dieser immer hitziger.

»Ah, Ihr vermeßt Euch, den Bosporus zu monopolisiren zu eigenen Gunsten, nun, ich werde Euren Bosporus nicht brauchen! Ich verlache Euren Bosporus – Sie sagen, Van Mitten?

– Ich sage nichts, antwortete Van Mitten, der wirklich nicht den Mund aufgethan, und sich davor wohl gehütet hätte.

– Euer Bosporus! Ihr Bosporus! rief Seigneur Keraban fort, mit der Hand nach Süden weisend. Zum Glück ist noch das Schwarze Meer da. Es hat auch ein Ufer, das Schwarze Meer, und das ist nicht ausschließlich für Karavanenführer geschaffen. Ich werde ihm folgen, werde es umkreisen! Hallo! Meine Freunde, seht Ihr nicht schon von hier das Gesicht der Regierungsbeamten, wenn sie mich werden auf den Höhen von Scutari erscheinen sehen, ohne nur einen halben Para in den Klingelbeutel der großherrlichen Bettler geworfen zu haben?«

Man muß zugeben, daß der Seigneur Keraban, als er mit dieser letzten verächtlichen Bezeichnung seinem Innern Luft machte, sich ganz vorzüglich ausnahm.

»Nun vorwärts, Ahmet! Vorwärts, Van Mitten, rief er, wir müssen fort, fort, fort!«

Schon befand er sich an der Thür, als Selim ihn mit einem Worte aufhielt.

»Freund Keraban, sagte dieser, noch ein Bedenken...

– Kein Bedenken!

– Nun gut, eine einfache Bemerkung, die ich Dir noch machen wollte, lenkte der Banquier ein.

– Haben wir dazu noch Zeit?...

– Höre mich, Freund Keraban. Wenn Du nach Vollendung der Fahrt um das Schwarze Meer nun nach Scutari kommst, was gedenkst Du dann zu thun?

– Ich?... Nun, ich... ich...

– Du wirst Dich, mein' ich, doch nicht in Scutari festsetzen wollen, ohne je nach Constantinopel zurückzukehren, wo doch der Sitz Deines Handelshauses ist?

[117] – Nein, antwortete Keraban etwas zögernd.

– Und dann, lieber Onkel, begann Ahmet, wenn Du nun darauf beharrst, nicht wieder über den Bosporus zu gehen, wie wird's dann mit unserer Hochzeit?...

– Freund Selim, das ist ganz einfach! erklärte Keraban, die erste Frage, welche ihn etwas in Verlegenheit setzte, übergehend. Was hindert Dich, mit Amasia nach Scutari zu kommen? Es wird Dir freilich zehn Paras für die Person kosten, den Bosporus zu überschreiten, bei der Sache kommt aber Deine Ehre nicht ebenso in's Spiel wie die meinige.

– Ja, ja, kommt nach Scutari, in einem Monat! rief Ahmet. Du erwartest uns da, meine theure Amasia, und wir werden schon dafür sorgen, Euch nicht zu lange warten zu lassen.

– Einverstanden! Also auf Wiedersehen in Scutari! antwortete Selim. So werden wir die Hochzeit dort feiern! – Aber wenn das nun vorbei ist, Freund Keraban, wirst Du dann nicht nach Constantinopel hinüber gehen?

– Ich werde hinübergehen, rief Keraban sicherlich, ich komme hinüber!

– Doch wie?

– Wenn die ungerechte Steuer abgeschafft ist, werd' ich eben über den Bosporus fahren... ohne etwas zu zahlen....

– Und wenn das noch nicht der Fall wäre?

– Wenn's nicht der Fall ist? antwortete Seigneur Keraban mit trotziger Bewegung. Bei Allah, dann nehm' ich denselben Weg und fahre noch einmal um das Schwarze Meer!«

11. Capitel
Elftes Capitel.
In welchem sich dieser phanatischen Fahrt etwas dramatische Würze beimischt.

Alle waren davon gefahren. Der Seigneur Keraban hatte die Villa verlassen, um seine Reise fortzusetzen, Van Mitten um seinen Freund zu begleiten, Ahmet um seinem Onkel zu folgen, Nizib und Bruno, weil sie nichts Anderes [118] thun konnten. Die Wohnung war jetzt leer bis auf fünf oder sechs Diener, welche in den Nebengebäuden ihre Arbeiten verrichteten. Selbst der Banquier Selim hatte sich nach Odessa begeben, um den Reisenden für ihr türkisches Geld russische Rubel einzuhändigen.

Die Villa hatte an eigentlichen Insassen jetzt weiter Niemand als Amasia und Nedjeb.

Der Maltesercapitän wußte das recht gut. Mit leicht begreiflichem Interesse hatte er alle Auftritte dieser Abschiedsscene beobachtet. Würde der Seigneur Keraban die Hochzeit Amasias und Ahmets bis zu seiner Rückkehr verschieben? – Ja! – Er hatte sie aufgeschoben – die erste gute Karte in seinem Spiel. Würde Ahmet zustimmen, seinen Onkel zu begleiten?... Er hatte zugestimmt – die zweite gute Karte im Spiele Yarhud's.

Dazu hatte der Malteser jetzt gar noch eine dritte: Amasia und Nedjeb befanden sich allein in der Villa, oder mindestens in der nach dem Meere gelegenen Gallerie. Da lag, in halber Kabellänge, seine Tartane. Das Boot erwartete ihn unten an den Stufen... seine Matrosen waren Leute, die ihm blindlings gehorchten... er brauchte nur zu wollen!

Der Capitän fühlte sich lebhaft versucht, Gewalt anzuwenden, um sich Amasias zu bemächtigen. Da er im Grunde aber ein kluger Mann war, nichts dem Zufall überließ und vorzüglich auch keine Spur von der Entführung hinterlassen wollte, begann er die Sache doch erst zu überlegen.

Jetzt war's heller Tag. Trat er gewaltthätig auf, so würde Amasia um Hilfe rufen und Nedjeb sie dabei unterstützen. Vielleicht hörte das der oder jener Diener; vielleicht sah man dann die »Guidare« in aller Eile aus der Bai von Odessa hinaussegeln, das wäre verrätherisch, der Anfang eines Beweises... Nein, es empfahl sich mehr mit Vorsicht zu handeln und die Nacht dazu abzuwarten. Das wichtigste war ja, daß sich Ahmet nicht mehr hier befinde, und er war in der That nun fort.

Der Malteser hielt sich also bei Seite und saß ruhig im Hintertheile seines Bootes, welches die Balustrade zum Theil verdeckte. Von hier aus beobachtete er die beiden jungen Mädchen. Diese dachten gar nicht an die Nähe dieser gefährlichen Persönlichkeit.

Wenn Amasia und Nedjeb in Folge des versprochenen Besuches an Bord der Tartane kamen, um die Stoffe zu prüfen, welche sie zu sehen wünschten, oder aus irgend einem anderen Grunde – und Yarhud hatte eine dahin zielende


Odessa. Die große Treppe. (S. 116.)

Idee – so würde er ja sehen, ob es gerathen schien, sich sofort zu entscheiden, ohne erst die Nacht abzu [119] warten.

Nach der Abfahrt Ahmets war Amasia, betäubt von dem unerwarteten Schlage, schweigend und nachdenkend sitzen geblieben, während sie den fernen, sich nach Norden ausdehnenden Horizont betrachtete. Dort blinkte die Uferlinie, deren Kreise die Reisenden unentwegt folgen sollten; dort jene Straße, wo Hindernisse, vielleicht Gefahren den Seigneur Keraban und die, welche er wider ihren Willen mit sich fortführte, schwer auf die Probe zu stellen drohten. Wäre[120] ihre Hochzeit vorüber gewesen, so würde sie gar nicht gezögert haben, Ahmet zu begleiten Was hätte der Onkel dagegen einwenden sollen? Er hätte es gewiß gar nicht versucht. Nein, wenn sie erst seine Nichte wäre, hätte sie vorausgesetzt, etwas mehr Einfluß auf ihn zu gewinnen, gehofft, ihn von dem gefährlichen schiefen Wege abdrängen zu können, auf den seine Starrsinnigkeit ihn führte Und jetzt war sie allein, sie mußte warten, lange warten, ehe sie sich mit Ahmet wieder zusammenfinden konnte in jener Villa zu Scutari, wo ihre Hochzeit statthaben sollte.

[121] Wenn Amasia betäubt war, so war Nedjeb dagegen wüthend, wüthend gegen den Eisenkopf, die Ursache aller Enttäuschungen. Ja, hätte es sich um ihre eigene Hochzeit gehandelt, so würde die junge Zigeunerin ihren Verlobten nicht auf diese Weise entführen lassen! Sie hätte dem Starrkopf Trotz geboten. Nein! Das wäre Alles anders gekommen!


Die Villa war jetzt verlassen. (S. 119.)

Nedjeb näherte sich dem jungen Mädchen. Sie nahm dieselbe bei der Hand und führte sie nach dem Divan, zwang sie, sich darauf niederzulassen, und holte sich selbst ein Kissen, auf das sie sich zu ihren Füßen niedersetzte.

»Theure Herrin, sagte sie, an Ihrer Stelle würd' ich, statt an Seigneur Ahmet zu denken, lieber an den Seigneur Keraban denken, um ihn recht zu verwünschen.

– Wozu sollte das dienen? antwortete Amasia.

– Es scheint mir weniger traurig zu sein, erklärte Nedjeb. Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir diesen Onkel mit allen Verwünschungen überhäufen! Er verdient sie, und ich versichere Ihnen, daß ich das Meinige thun werde.

– Nein, Nedjeb, sprechen wir lieber von Ahmet, an ihn allein hab' ich zu denken und seiner allein gedenke ich!

– Nun, so reden wir von ihm, theure Herrin, sagte Nedjeb. In der That, er ist der liebenswürdigste Bräutigam, den sich ein junges Mädchen nur träumen kann, aber was für einen Onkel hat er! Dieser Despot, dieser Egoist, dieser schändliche Mann, der kein Wort zu sagen hatte und keines gesagt hat, der uns nur wenige Tage zu schenken brauchte und das abgeschlagen hat! Wahrhaftig, er verdiente...

– Wir wollten von. Ahmet sprechen, erinnerte sie Amasia.

– Ja, theure Herrin, wie er Sie liebt! Wie glücklich Sie mit ihm sein werden! O, er wäre vollkommen, wenn er nicht einen solchen Onkel hätte! Wissen Sie, daß er wohl daran gethan hat, keine Frau zu nehmen, weder die eine noch die andere? Mit seinem unbeugsamen Kopfe hätte er Alles rebellisch gemacht, bis auf die Sclavin in seinem Harem.

– Da sprichst Du doch wieder von ihm, Nedjeb, sagte Amasia, deren Gedanken eine ganz andere Richtung verfolgten.

– Nein!... Nein!... Wie Sie, so denke auch ich nur an Seigneur Ahmet Doch ich an seiner Stelle hätte nicht nachgegeben. Ich hätte auch den Kopf aufgesetzt... ja, ich hätte ihm mehr Energie zugetraut.

[122] – Wer sagt Dir, Nedjeb, daß er mit der Nachgiebigkeit gegen seinen Onkel nicht mehr Energie bewiesen hat, als wenn er sich jenem widersetzte? Siehst Du nicht, daß er trotz des Schmerzes, den ich leide, die Reise nur mitmacht, um dieselbe mit allen möglichen Mitteln zu beschleunigen und vielleicht Gefahren abzuwenden, in welche Seigneur Keraban bei seinem gewohnten Starrsinn leicht gerathen könnte? Nein, Nedjeb, nein! Gerade dadurch, daß er mitreiste, hat Ahmet einen Beweis seines Muthes geliefert; eben damit hat er mir auf's Neue seine Liebe bewiesen.

– Sie müssen schon Recht behalten, theure Herrin, antwortete Nedjeb, welche sich bei ihrem lebhaften Zigeunerblute noch immer nicht ergeben konnte. Ja, ja, Seigneur Ahmet hat sich durch seine Abreise als energisch erwiesen; wäre es indeß nicht mehr werth gewesen, wenn er überhaupt seinen Onkel ganz aufhielt?

– War das möglich, Nedjeb, erwiderte Amasia. Ich frage Dich, war das möglich?

– Ja... nein... vielleicht! antwortete Nedjeb. Es gibt keine Eisenstange, die man im Nothfalle nicht biegen oder brechen könnte. Oh, dieser Onkel Keraban! Nur auf ihn soll unser Zorn sich ergießen! Wenn sich ein Unfall ereignet, wird er allein dafür verantwortlich sein. Und wenn ich bedenke, daß das Alles geschieht, um zehn Paras nicht zu zahlen, er damit Seigneur Ahmet unglücklich macht, und Sie... und in Folge dessen auch mich! Ich möchte... Ja, ich möchte das Schwarze Meer träte aus bis zu den Grenzen der Welt, nur um zu sehen, ob er noch darauf bestehen würde, um dasselbe herumzufahren.

– Er thäte es doch! erklärte Amasia mit dem Tone vollster Ueberzeugung. Doch sprechen wir von Ahmet, Nedjeb, und nur allein von ihm!«

In diesem Augenblicke verließ Yarhud sein Boot und näherte sich ungesehen den beiden jungen Mädchen. Beim Geräusch seiner Schritte drehten sich beide um. Ihr mit etwas Furcht gemischtes Erstaunen war nicht klein, als sie denselben neben sich sahen.

Nedjeb hatte sich zuerst erhoben.

»Sie, Capitän? sagte sie. Was haben Sie hier vor? Was wollen Sie denn?...

– Ich will nichts, antwortete Yarhud, einiges Erstaunen über den nicht eben freundlichen Empfang heuchelnd, ich will gar nichts, als mich Ihnen zur Verfügung stellen, um...

[123] – Nun, um? wiederholte Nedjeb.

– Um Sie an Bord der Tartane zu geleiten, antwortete der Capitän. Hatten Sie nicht die Absicht, deren Fracht zu besichtigen und aus dem, was Ihren Beifall fände, eine Auswahl zu treffen?

– Das ist wahr, theure Herrin, rief Nedjeb. Wir hatten dem Capitän allerdings versprochen...

– Wir hatten das versprochen, als Ahmet noch hier war, unterbrach sie das junge Mädchen, nun ist Ahmet aber abgereist und für uns jede Veranlassung weggefallen, uns an Bord der »Guidare« zu begeben.«

Die Brauen des Capitäns runzelten sich einen Augenblick; dann nahm er wieder in sanftem Tone das Wort:

»Die »Guidare«, sagte er, kann nicht lange in der Bai von Odessa liegen bleiben, und es ist möglich, daß ich schon morgen, spätestens übermorgen absegle. Wenn die Braut des Seigneur Ahmet also etwas von Stoffen zu erwerben wünscht, deren Muster ihr doch zu gefallen schienen, so gilt es, diese Gelegenheit zu benützen; mein Boot ist zur Hand und in wenigen Minuten können wir an Bord sein.

– Wir danken Ihnen, Capitän, sagte Amasia kalt, ich habe aber wenig Neigung, mich in Abwesenheit des Seigneur Ahmet mit solchen Dingen zu befassen. Er sollte uns bei diesem Besuche auf der »Guidare« begleiten, sollte uns mit seinem Rathe unterstützen... jetzt ist er nicht mehr da, und ohne ihn kann und will ich nichts thun.

– Das bedauere ich, antwortete Yarhud, und desto mehr, weil der Seigneur Ahmet, daran zweifle ich nicht, bei seiner Rückkehr sehr angenehm überrascht gewesen sein würde, wenn Sie sich etwas ausgewählt hätten. Hier bietet sich eine Gelegenheit, welche nicht so bald wiederkehrt und die Sie noch bereuen werden, nicht benützt zu haben.

– Das kann sein, meinte Nedjeb, für jetzt aber, glaub' ich, würden Sie besser thun, nicht in uns zu dringen.

– Wie Sie wünschen, erwiderte Yarhud sich verbeugend. Lassen Sie mich nur hoffen, daß Sie, wenn der Zufall die »Guidare« in einigen Wochen wieder nach Odessa führen sollte, nicht vergessen wollen, ihr den zugesagten Besuch abzustatten.

– Wir werden's nicht vergessen, Capitän.« versicherte Amasia, während sie dem Malteser ein Zeichen machte, daß er sich zurückziehen könne.

[124] Yarhud empfahl sich von den beiden jungen Mädchen, that einige Schritte nach der Terrasse zu, blieb dann stehen, als ob ihm etwas eingefallen wäre, und kehrte zu Amasia zurück, als das junge Mädchen eben die Gallerie verlassen wollte.

»Noch ein Wort, sagte er, oder vielmehr ein Vorschlag, welcher der Verlobten des Seigneur Ahmet nur angenehm sein kann.

– Was meinen Sie? fragte Amasia etwas ungeduldig über diese Hartnäckigkeit des maltesischen Capitäns, ihnen seine Gegenwart und dieses Gespräch in der Villa aufzunöthigen.

– Der Zufall hat mich zum Zeugen der Scene gemacht, welche der Abreise des Seigneur Ahmet vorherging.

– Der Zufall? antwortete Amasia, welche, wie durch ein Vorgefühl, etwas mißtrauisch wurde.

– Der Zufall allein! versicherte Yarhud. Ich war in der Nähe, in meinem Boote, welches hier zu Ihrer Verfügung lag....

– Welchen Vorschlag haben Sie uns zu machen, Capitän? fragte das junge Mädchen.

– O, einen sehr natürlichen, antwortete Yarhud. Ich habe beobachtet, wie sehr diese plötzliche Abreise die Tochter des Banquiers Selim angriff, und wenn es ihr nun beliebte, den Seigneur Ahmet noch einmal wiederzusehen....

– Noch einmal wiedersehen! Was wollen Sie damit sagen? fiel ihm Amasia, deren Herz bei diesem Gedanken schneller schlug, in's Wort.

– Ganz einfach, fuhr Yarhud fort, daß der Wagen des Seigneur Keraban binnen einer Stunde unbedingt an der Spitze des kleinen Caps vorüberkommen muß, das Sie da unten sehen!«

Amasia war etwas vorgetreten und blickte nach der leichten Krümmung der Küste in der von dem Capitän angedeuteten Richtung hin.

»Dort?... Dort? sagte sie.

– Ja.

– Theure Herrin, wenn wir uns nach jener Landspitze begeben könnten...

– Nichts leichter als das, erklärte Yarhud. Bei dem jetzt günstigen Winde könnte die »Guidare« jene Stelle in einer halben Stunde erreicht haben, und wenn Sie sich einschiffen wollen, können wir sofort absegeln.

– Ja... ja!«... rief Nedjeb jubelnd, da sie in dieser Meerespromenade nichts sah, als eine Gelegenheit für Amasia, ihren Verlobten noch einmal zu sehen.

[125] Amasia dagegen überlegte sich die Sache. Gegenüber ihrem Zögern konnte der Capitän eine ungeduldige Bewegung nicht unterdrücken, welche ihr nicht entging. Es schien sogar, als ob der Gesichtsausdruck Yarhud's auf nichts Gutes deutete. Ihr Mißtrauen nahm also nur noch mehr zu.

Vom Geländer zurücktretend, auf das sie sich gestützt hatte, um jene Verlängerung des Ufers besser zu sehen, kam Amasia wieder nach dem Innern der Gallerie, und beeilte sich, Nedjebs Hand zu ergreifen.

»Ich erwarte Ihre Befehle, sagte der Capitän.

– Nein, Capitän, erwiderte Amasia. Meinen Verlobten in dieser Art wiederzusehen, würde ihm mehr Schmerz als Vergnügen bereiten.«

Yarhud sah ein, daß nichts das junge Mädchen vermögen werde, ihre Weigerung aufzugeben, und zog sich frostig zurück.

Gleich darauf stieß das Boot vom Lande, das den Capitän und seine Leute trug.

Dann legte es an der Tartane an und blieb an einem Taue an der Backbordseite des Schiffes liegen.

Die beiden jungen Mädchen blieben noch eine Stunde lang allein in der Gallerie. Amasia lehnte sich wieder auf das Geländer. Sie blickte unverwandt nach dem von Yarhud bezeichneten Punkte der Küste hinaus, an dem der Wagen des Seigneur Keraban vorüberkommen sollte.

Nedjeb besichtigte wie sie diesen Vorsprung der Küste, der sich etwa eine Lieue im Osten vorschob.

Endlich nach einer Stunde rief die junge Zigeunerin:

»Ach, theure Herrin, sehen Sie! Sehen Sie nur! Bemerken Sie nicht einen Wagen auf der Straße, da unten, auf der Höhe des Ufers?

– Ja, ja, antwortete Amasia, das sind sie! Das ist er, er!

– Er kann Sie nicht sehen.

– Das thut nichts. Ich fühl' es, daß er nach mir sieht

– Das dürfen Sie glauben, theure Herrin, sagte Nedjeb. Seine Augen werden gewiß die Villa inmitten der Bäume am Grunde der Bai gefunden haben und vielleicht gar...

– Auf Wiedersehen, mein Ahmet, auf Wiedersehen!« sagte zum letzten Male das junge Mädchen, als wenn dieser Abschiedsgruß ihren Verlobten hätte erreichen können.

Nachdem der Wagen hinter einer Biegung der Straße am äußersten Abhang des hohen Ufers verschwunden war, verließen Amasia und Nedjeb die Gallerie und kehrten ins Innere der Wohnung zurück.

[126] Vom Verdeck der Tartane aus sah Yarhud sie verschwinden und gab seinen Leuten, die eben Wache hatten, den Befehl, aufzupassen, ob sie etwa bei einbrechender Nacht wieder erschienen. Dann wollte er, da es ihm mit List nicht geglückt war, Gewalt anwenden.

Seit der Abreise Ahmets und mit dem glücklichen Umstand, daß die Hochzeit erst nach sechs Wochen stattfinden sollte, drängte es mit der Entführung des jungen Mädchens zwar nicht allzusehr. Dagegen mußte er auch die Geduld des Seigneur Saffar in Rechnung ziehen, dessen Rückkehr nach Trapezunt vielleicht nahe bevorstand. Bei der Unsicherheit der Schifffahrt auf dem Schwarzen Meere konnte ein gewöhnliches Segelschiff recht leicht eine Verzögerung von vierzehn bis zwanzig Tagen erleiden. Es war also nöthig, so bald als möglich in See zu gehen, wenn er noch zu der, in seiner Verhandlung mit Scarpante festgesetzten Zeit eintreffen sollte. Ohne Zweifel war Yarhud ein Schurke, aber ein Schurke, der seinen Verpflichtungen nachzukommen liebte. Deshalb entschloß er sich auch, ohne Zögern zu handeln.

Die Umstände begünstigten ihn ganz ausnehmend. Gegen Abend, noch ehe ihr Vater aus dem Bankgeschäfte heimgekommen war, betrat Amasia wieder die Gallerie. Dieses Mal war sie allein. Ehe es völlig dunkel wurde, wollte das junge Mädchen ihr Auge noch einmal über das ferne Panorama des Ufers schweifen lassen, das den Horizont im Norden abschloß. Dorthin drängte sie ja ihr ganzes Herz. Sie nahm also den Platz wieder ein, nach dem sie gewiß noch oft wiederkehren würde, stützte sich auf's Geländer und blieb nachsinnend stehen, mit einem Blicke im Auge, der gleichsam in unendliche Ferne dringt und den nichts aufzuhalten vermag.

In ihre Gedanken versunken, bemerkte Amasia auch ein Boot nicht, das von der im Halbdunkel kaum noch sichtbaren »Guidare« abstieß. Sie sah nicht, wie es geräuschlos näher kam, längs der Terrassenstufen hinglitt und schweigend unter ihr hielt, wo das Wasser der Bai die Grenze des väterlichen Besitzthums umspülte.

Inzwischen war Yarhud mit vier Matrosen lautlos die Absätze emporgeschlichen.


Amasia blickte unverwandt nach der Küste hinaus. (S. 126.)

Vertieft in ihre Träumereien, hatte das junge Mädchen ihn nicht bemerkt.

Plötzlich sprang Yarhud auf sie zu und ergriff sie fest und so überraschend, daß ihr jede Gegenwehr ab geschnitten war.

»Zu Hilfe! Zu Hilfe!« konnte das unglückliche Kind allein noch rufen.

[127] Ihr Angstschrei wurde sofort erstickt; Nedjeb, welche ihre Herrin suchte, hatte sie aber doch gehört.

Kaum trat die junge Zigeunerin in die Thür der Gallerie, als schon zwei Matrosen sich auf sie stürzten, um ihr alle Bewegungen und Hilferufe zu hemmen.

»An Bord!« befahl Yarhud.

Unwiderstehlich fortgeschleppt, wurden die beiden jungen Mädchen in das Boot gebracht, welches vom Lande stieß und nach der Tartane zuhielt. Die [128] »Guidare«, deren Anker schon gelichtet und deren Segelwerk gehißt war, brauchte nur von den Tauen gelöst zu werden, um abzusegeln.

Das geschah denn auch, seitdem Amasia und Nedjeb an Bord in einer Cabine des Hintertheils eingeschlossen waren, wo sie nichts mehr sehen und sich nicht vernehmbar machen konnten.

Inzwischen neigte sich die Tartane, welche jetzt den Wind abfing, unter dem Drucke ihres Großsegels, um aus der kleinen Bucht zu laufen, welche die Ufermauern der Villa umschlossen.

[129] So schnell aber auch dieser Handstreich ausgeführt worden war, hatte er doch die Aufmerksamkeit einiger, in dem Garten arbeitender Diener erregt.

Einer derselben vernahm auch den Hilferuf Amasias und schlug sofort Lärm.


»An Bord!« befahl Yarhud. (S. 128.)

Da kehrte auch der Banquier Selim nach seiner Wohnung zurück und erfuhr schnell, was eben vorgegangen war. Mit einer Angst, welche er kaum selbst zu fassen vermochte, sachte er nach seiner Tochter... seine Tochter war verschwunden.

Als er jedoch die Tartane manövriren sah, welche die äußerste Südspitze der kleinen Bucht zu umschiffen suchte, war Selim Alles klar. Er stürmte durch den Garten nach einer Spitze, an der die »Guidare« vorbeikommen mußte, um den letzten Uferfelsen auszuweichen.

»Elende! rief er. Man entführt meine Tochter! Meine Tochter! Amasia! Haltet sie auf! Verlegt ihnen den Weg!«

Ein Gewehrschuß von der »Guidare« war die einzige Antwort auf seine Rufe.

Selim fiel, von einer Kugel in die Schulter getroffen, zu Boden.

Einen Augenblick später war die Tartane, deren Segel frische Abendwinde schwellten, seewärts von der Villa verschwunden.

12. Capitel
Zwölftes Capitel.
In welchem Van Mitten eine Tulpengeschichte erzählt, die den Leser vielleicht interssieren dürfte.

Mit zwei frischen Pferden bespannt, hatte der Wagen zu Mittag gegen ein Uhr Odessa verlassen. Der Seigneur Keraban nahm die linke, Van Mitten die rechte Ecke des Coupés ein, während Ahmet in der Mitte saß. Bruno und Nizib hatten wieder das Cabriolet bestiegen, wo sie sich die Zeit mehr mit Schlafen, als mit Plaudern vertrieben.

Hell glänzte die Sonne über der schönen Landschaft, und dunkelblau hoben sich die Gewässer des Meeres von dem grauen Farbentone des hohen Ufers ab.

[130] Im Coupé herrschte bald das nämliche Schweigen, wie im Cabriolet, nur mit dem Unterschiede, daß, wenn die Insassen des letzteren schliefen, die des ersteren in tiefes Nachsinnen versanken waren. – Der Seigneur Keraban versenkte sich mit Wohlbehagen in seine starrsinnigen Träumereien und dachte einzig an den »gelungenen Streich«, den er den ottomanischen Behörden eben spielte. Van Mitten grübelte über die ganze unerwartete Reise und hörte nicht auf, sich zu fragen, wie er, ein Bürger des Bataverlandes, dazu komme, hier auf die Uferstraßen des Schwarzen Meeres verschlagen zu sein, während er doch ruhig in Pera, der Vorstadt Constantinopels, hätte bleiben können.

Ahmet allein hatte sich freiwillig zur Abreise entschlossen, aber sich auch fest vorgenommen, die Börse seines Onkels nicht zu schonen, wo durch Geld nur irgend eine Verzögerung vermieden, irgend ein Hinderniß beseitigt werden könnte. Die Reise sollte nicht nur so schnell wie möglich zurückgelegt, sondern auch der Weg so kurz als möglich gewählt werden.

Der junge Mann trug sich noch mit diesem Gedanken, als er bei einer Wendung der Straße die Villa des Banquiers Selim im Hintergrunde der Bai aus den Bäumen hinter einem kleinen Cap schimmern sah. Seine Augen hefteten sich auf diesen Punkt, gewiß zu derselben Zeit, wo auch die Amasias nach ihm hingerichtet waren, und wahrscheinlich kreuzten sich die Blicke der jungen Leute, ohne von ihnen wahrgenommen werden zu können.

Da wendete sich Ahmet, entschlossen, eine höchst delicate Frage zu berühren, an seinen Onkel und erkundigte sich, ob dieser schon alle Einzelheiten bezüglich des einzuhaltenden Weges festgestellt habe.

»Ja, lieber Neffe, erklärte Keraban; wir folgen einfach, ohne jemals davon abzuweichen, der Straße, die längs der Küste hinführt.

– Und fahren in dieser Minute?...

– In der Richtung auf Kablewo, etwa zwölf Lieues von Odessa, wo ich gegen Abend einzutreffen hoffe.

– Und einmal in Kablewo?... fragte Ahmet weiter.

– Reisen wir die ganze Nacht hindurch, lieber Neffe, um morgen, gegen Mittag, in Nikolajeff zu sein, nachdem wir die achtzehn Lieues, welche jenen Flecken von der Stadt trennen, zurückgelegt haben.

– Sehr schön, Onkel Keraban; schnell vorwärts ist ja unsere Losung... Doch wenn wir in Nikolajeff sind, denkst Du dann nicht binnen weniger Tage das Gebiet des Kaukasus zu erreichen?

[131] – Wie wäre das möglich?

– Ei, durch Benützung der Eisenbahnen Südrußlands, die es uns, über Alexandroff und Rostow, ermöglichen, gut ein Drittel unserer Reise mit großer Schnelligkeit zurückzulegen.

– Die Eisenbahnen soll ich benützen?« heulte fast Keraban.

Da stieß Van Mitten seinen jungen Gefährten leicht mit dem Ellbogen.

»Unnütz! flüsterte er ihm zu... Vergebliches Bemühen!... Er verabscheut die Eisenbahnen.«

Ahmet kannte recht wohl die Anschauungen seines Onkels über diese, für einen getreuen Anhänger des Alttürkenthums viel zu modernen Transportmittel; er meinte jedoch, daß Seigneur Keraban in Erwägung der Umstände ein einziges Mal von seinen beklagenswerthen Vorurtheilen ablassen könnte.

Nachgeben – nur einen Augenblick – in irgend welchem Punkte?... Da wäre Keraban ja nicht mehr Keraban gewesen!

»Du erwähntest der Eisenbahn, glaub' ich?... sagte er.

– Ja wohl, lieber Onkel.

– Und willst, daß ich, Keraban, zustimmen soll zu thun, was ich bisher noch nie gethan?

– Es schien mir, daß...

– Du willst, daß ich, Keraban, mich durch eine Dampfmaschine sinnlos fortschleppen lasse?

– Wenn Du einmal den Versuch gemacht hättest...

– Ahmet, mir scheint, Du überlegtest Dir nicht, was Du mir zuzumuthen die Kühnheit hattest.

– Aber, liebster Onkel!...

– Ich sage Dir, daß Du nicht bedacht hast, welchen Vorschlag Du mir zu machen wagtest.

– Ich versichere Dir, lieber Onkel, daß man in diesen Waggons...

– Waggons!... sagte Keraban, indem er dieses aus fremder Sprache übernommene Wort mit schwer wiederzugebendem Tonfalle wiederholte.

– Ja, in diesen Waggons, welche auf den Schienen rollen...

– Schienen! stieß Keraban hervor. Was sind das für entsetzliche Worte, und welche Sprache, bitte, reden wir eigentlich?

– Nun, die Sprache von Reisenden der Neuzeit.

[132] – Sage mir, Herr Neffe, antwortete die starrsinnige Persönlichkeit wärmer werdend, habe ich, der niemals zustimmt, einen Waggon zu besteigen und sich von einem leblosen Mechanismus fortziehen zu lassen, etwa das Aussehen eines neuzeitlichen Reisenden? Hab' ich es nöthig, auf Schienen hinzurollen, wenn ich auf einer Landstraße fahren kann?

– Wenn man aber Eile hat, lieber Onkel...

– Ahmet, sieh mich richtig an und merke Dir, daß, wenn es keine Wagen mehr gäbe, führ' ich auf einem Karren; ohne einen Karren zu finden, bestiege ich ein Pferd; in Ermanglung eines solchen, zur Noth einen Esel; hätt' ich auch diesen nicht, so ging ich zu Fuße; fehlten mir die Füße, so rutschte ich auf den Knieen hin; hätt' ich keine Kniee mehr...

– Freund Keraban, um Gottes willen, halten Sie ein! unterbrach ihn Van Mitten, die Hand seines Gefährten ergreifend.

– Dann kollert' ich auf dem Bauche! platzte Keraban heraus, ja, auf dem Bauche!«

Dann packte er Ahmet am Arme.

»Hast Du je gehört, daß Mohammed sich der Eisenbahn bedient habe, um nach Mekka zu kommen?«

Auf dieses letzte Argument war natürlich nichts zu erwidern. Obwohl er dagegen hätte geltend machen können, daß Mohammed gewiß nicht ermangelt hätte, sich der Eisenbahnen zu bedienen, wenn damals nur solche vorhanden gewesen wären, schwieg er doch still, während der Seigneur Keraban in seiner Ecke weiter knurrte und alle Worte der Eisenbahnsprache zwischen den Zähnen zermalmte.

Wenn die Chaise nun auch mit einem Dampfwagenzug an Schnelligkeit nicht wetteifern konnte, so kam sie doch erträglich vorwärts. Auf der ziemlich guten Straße hielt das Gespann einen kurzen Galopp ein, so daß keine Ursache zu Klagen vorlag. An Pferden zum Wechseln fehlte es nicht. Ahmet, der die Besorgung aller Ausgaben übernommen hatte – was ihm sein Onkel heimlich gern überließ – bezahlte ohne zu mäkeln und vertheilte »Bakhschischs« oder Trinkgelder an die Rosselenker mit wahrhaft fürstlicher Freigebigkeit. Die Rubelscheine flogen nur so aus seiner Tasche, und er glich einem vornehmen Herrn, der sich den Weg mit Rubeln pflasterte.

So rollte denn der Wagen an eben jenem Tage ohne Aufenthalt längs der Küste hin durch die Flecken Schumirka und Alexandrowka and erreichte am Abend den Flecken Kablewo.

[133] Während der Nacht lenkten sie dann etwas in das Land hinein, um den Bug, in der Höhe von Nikolajeff im Gouvernement von Cherson, zu übersteigen, und kamen, wie berechnet, am 28. August gegen Mittag in genannter Stadt an.

Während dreistündiger Rast hielt der Wagen vor einem leidlichen Hôtel, welches ein Frühstück von derselben Qualität lieferte, das Bruno wenigstens sich sehr wohl schmecken ließ. Ahmet benützte diese Frist, um dem Banquier Selim zu schreiben, daß die Reise unter erträglichen Verhältnissen vor sich gehe, wobei er einige Süßigkeiten für Amasia einfließen ließ. Der Seigneur Keraban selbst glaubte den Aufenthalt hier nicht besser verwerthen zu können, als daß er den Nachtisch zwischen einem Schluck kräftigen Kaffees und einem Zuge aus seinem aromatisch duftenden Nargileh verlängerte.

Van Mitten, der in Uebereinstimmung mit Bruno der Ansicht war, diese ihnen aufgenöthigte Reise wenigstens so viel als möglich zur Vermehrung ihrer Kenntniß von Land und Leuten auszunützen, durchstreifte das Städtchen Nikolajeff, welches sich auf Kosten Chersons eines zunehmenden Gedeihens erfreut und sogar seinen Namen an Stelle des letzteren noch in der geographischen Bezeichnung des Gouvernements zu setzen droht.

Ahmet war der Erste, der zur Weiterreise drängte. Der Holländer hütete sich wohl, ihn warten zu lassen.

Der Seigneur Keraban blies die letzte Rauchwolke aus seinem Nargileh vor sich hin, als der Postillon sich schon in den Sattel schwang, und wieder setzte der Wagen seinen Weg, der jetzt nach Cherson hinabführte, in mäßiger Schnelligkeit fort.

Nun ging es gegen siebzehn Lieues weit durch eine fruchtbare Landschaft, welche sich da und dort mit Maulbeerbäumen, Pappeln und Weiden bestanden zeigte. In der Nachbarschaft des Dniepr, der nach fast vierhundert Lieues langem Laufe bei Cherson mündet, dehnten sich weite Rohrdickichte aus, welche von Blaumeisen bevölkert schienen; durch das Geräusch des Wagens aufgescheucht, entflohen aber die Vögel mit schwerem Flügelschlage – es waren bläuliche Elstern, deren häßliches Geschrei die Ohren mehr beleidigte, als ihr schimmerndes Gefieder die Augen ergötzte.

Am frühen Morgen des 29. August kamen der Seigneur Keraban und seine Gefährten, nach einer ohne Zwischenfall verlaufenen Nacht, in Cherson, der Gouvernements-Hauptstadt an, deren Gründung Potemkin zu verdanken ist. Die Reisenden konnten sich wegen dieser Schöpfung des kaiserlichen Günstlings [134] Katharinas II. beglückwünschen. Hier fanden sie ein vortreffliches Hôtel, in dem sie mehrere Stunden rasteten, und reichhaltig ausgestattete Kaufläden, um die Proviantvorräthe des Wagens bequem zu ergänzen – eine Aufgabe, der sich Bruno, welcher sich hierin viel anstelliger erwies als Nizib, zur allgemeinen Zufriedenheit entledigte.

Einige Stunden später wechselten sie die Pferde in dem nicht unbedeutenden Flecken Aleschki und wendeten sich nun bergabwärts nach der Landenge von Perekop, welche die Krim mit der Küste Südrußlands verbindet.

Ahmet hatte nicht unterlassen, von Aleschki aus einen Brief nach Odessa abzusenden. Als sie wieder im Wagen Platz genommen hatten, und die Pferde schon im vollen Laufe auf der Straße nach Perekop waren, fragte der Seigneur Keraban seinen Neffen, ob er wohl so aufmerksam gewesen sei, gleichzeitig mit den eigenen dem Banquier Selim auch seine besten »Allahs« zu übermitteln.

»Ohne Zweifel, lieber Onkel, antwortete Ahmet, das habe ich nicht vergessen und außerdem hinzugefügt, daß wir nichts unterließen, um Scutari so schnell als möglich zu erreichen.

– Recht so, lieber Neffe, wir dürfen niemals vernachlässigen, von uns Nachricht zu geben, sobald ein Postbureau dazu Gelegenheit bietet.

– Unglücklicher Weise müssen unsere Briefe, da wir niemals vorher bestimmen können, wo wir uns einige Zeit verweilen, stets ohne Antwort bleiben.

– Freilich, meinte Van Mitten.

– Was übrigens das Briefwechseln betrifft, wendete sich da Keraban an seinen Freund aus Rotterdam, so scheinen Sie es bezüglich der Frau Van Mitten nicht besonders eilig haben.


Selim fiel, von einer Kugel in die Schulter getroffen, zu Boden. (S. 130.)

– Frau Van Mitten?... antworte der Holländer gedehnt.

– Ja.

– Frau Van Mitten ist unbestreitbar eine höchst ehrenwerthe Dame. Als Weib hab ich gewiß niemals Ursache gehabt, ihr irgend welchen Vorwurf zu machen, als Gefährtin meines Lebens dagegen... Doch, Freund Keraban, warum sprechen wir überhaupt von Frau Van Mitten?

– Nun, weil sie, soweit ich mich ihrer entsinne, eine sehr liebenswürdige Persönlichkeit war.

– Wirklich?... stieß Van Mitten hervor, als habe er eine ganz besondere Neuigkeit erfahren.

[135] – Hab' ich Dir nicht von ihr ein höchst schmeichelhaftes Bild entworfen, Ahmet, als ich von Rotterdam zurückkehrte?

– Gewiß, lieber Onkel.

– Und hat sie bei meiner damaligen Reise durch den mir bereiteten Empfang nicht einen sehr guten Eindruck auf mich gemacht?

– Wirklich?... wiederholte Van Mitten.

– Doch das will ich zugestehen, fuhr Keraban fort, sie hatte zuweilen etwas eigenartige Gedanken, kleine Launen... Vapeurs!... So etwas ist [136] übrigens von dem Charakter der Frauen unzertrennlich, und wer sich damit nicht abzufinden versteht, der sollte eben keine nehmen. Das ist genau mein Fall.

– Und Sie haben damit sehr wohl gethan, versicherte Van Mitten.

– Als richtige Holländerin liebt sie natürlich leidenschaftlich die Tulpen? fragte Keraban.


An Pferden zum Wechseln fehlte es nicht. (S. 133.)

– Leidenschaftlich!

– So sprechen Sie doch frei von der Leber weg, Van Mitten! Sie kommen mir, was Ihre Gattin betrifft, sehr zugeknöpft und kühl vor.

[137] – Kühl wäre für die Empfindung, die ich für sie hege, noch ein zu warmer Ausdruck.

– Was sagen Sie?... rief Keraban verwundert.

– Ich sage, antwortete der Holländer, daß ich Ihnen gegenüber der Frau Van Mitten niemals Erwähnung gethan hätte; da Sie jedoch von ihr sprechen, und weil es die Gelegenheit einmal mit sich bringt, will ich Ihnen ein Geständniß ablegen.

– Ein Geständniß?

– Ja, Freund Keraban! Frau Van Mitten und ich, wir leben jetzt von einander getrennt.

– Getrennt? rief Keraban; mit beiderseitiger Zustimmung?

– Mit beiderseitiger Zustimmung.

– Und für immer?

– Für immer!

– Erzählen Sie mir den Hergang, wenn Sie dabei nicht Ihre Erregung...

– Erregung? unterbrach ihn der Holländer. Warum glauben Sie, daß ich deshalb eine besondere Erregung empfinden sollte?

– Nun, so sprechen Sie, sprechen Sie, Van Mitten! drängte Keraban. In meiner Eigenschaft als Türke liebe ich die Geschichten überhaupt, und in meiner Eigenschaft als alter Junggeselle interessiren mich vor Allem eheliche Erlebnisse.

– So hören Sie, Freund Keraban, begann der Holländer, als ob er die Abenteuer eines Andern zu schildern dächte. Das Leben zwischen Frau Van Mitten und mir war allgemach unerträglich geworden. Wir hatten unaufhörliche Streitigkeiten über All' und Jedes, über die Stunde, wo aufgestanden, und über die Stunde, wo zu Bett gegangen werden sollte, ebenso über die Zeit des Mittagessens, über das, was wir essen, und über das, was wir nicht essen würden, über das, was getrunken, und über das, was nicht getrunken werden sollte, über das Wetter, welches eben herrschte, wie über das, welches zu erwarten war, ebenso wie über das, welches gewesen wäre; über die Möbel, welche hier- oder dorthin zu stellen seien; über das Feuer, welches sie eher in dem einen als in dem anderen Zimmer angezündet wissen wollte; über das Fenster, welches sie gerade geöffnet, wie über die Thür, welche sie geschlossen wünschte; über die Pflanzen, welche im Garten gezogen, und über diejenigen, welche daraus entfernt werden sollten, endlich...

[138] – Das wäre ja eine hübsche Litanei, meinte Keraban.

– Ja, und das wurde von Tag zu Tag schlimmer, obwohl ich gewiß von sanftem Charakter bin und gern von Anderen Lehren annehme. So gab ich auch meist nach, nur um nicht über jede Kleinigkeit einen Streit zu haben.

– Das war jedenfalls, das Klügste, bemerkte Ahmet.

– Nein, das war das Verkehrteste, behauptete Keraban, schon bereit, über diesen Gegenstand selbst einen Streit anzufangen.

– Ich weiß es selbst nicht, fuhr Van Mitten fort; doch, wie dem auch sei, bei unserem letzten Streite beschloß ich, ihr zu widersprechen... ich that es auch, ja, ganz wie ein leibhaftiger Keraban.

– Beim Barte des Propheten, das war nicht möglich! rief Ahmets Onkel, der sich wohl besser kannte.

– Mehr als ein Keraban! setzte Van Mitten hinzu.

– Mohammed beschirme mich! erwiderte Keraban. Aber zu behaupten, daß Sie noch starrköpfiger wären, als ich...

– Das ist einfach unglaublich! entfuhr es Ahmet mit einem so überzeugten Tone, daß es seinem Onkel ordentlich zu Herzen ging.

– Sie werden's ja sehen, wehrte sich Van Mitten ruhig, und...

– Wir werden eben nichts sehen! polterte Keraban heraus.

– Wollen Sie mich gefälligst ausreden lassen. Der Streit, welcher sich damals zwischen Frau Van Mitten und mir entspann, betraf nämlich Tulpen, jene schönen, von den Liebhabern besonders geschätzten Tulpen, die »Genners«, welche einen schnurgeraden Blumenstengel emportreiben und von denen man über hundert Varietäten kennt. Ich besaß kein Exemplar, dessen Zwiebel mir weniger als tausend Gulden gekostet hätte.

– Achttausend Piaster, sagte Keraban, der sich jede Geldsumme gern in türkische Münze übertrug.

– Jawohl, etwa achttausend Piaster! antwortete der Holländer. Nun, so fiel es denn eines Tages der Frau Van Mitten ein, eine »Valentia« ausreißen zu lassen, um eine »Oeil de Soleil« an deren Stelle zu setzen. Das ging mir über alle erlaubten Grenzen. Ich widersetze mich... sie besteht auf ihrem Kopfe... ich will sie ergreifen... sie entwischt mir;... sie stürzt sich auf eine »Valentia«... reißt dieselbe aus...

– Macht achttausend Piaster! sagte Keraban.

[139] – Da spring' ich, fuhr Van Mitten fort, nun meinerseits nach ihrer »Oeil de Soleil« und reiße diese aus der Erde...

– Macht sechzehntausend Piaster, rechnete Keraban nach.

– Sie fällt über eine zweite »Valentia« her...

– Macht vierundzwanzigtausend Piaster! meldete Keraban, als ob er Notizen in seinem Taschenbuche nachrechnete.

– Ich antwortete ihr durch eine zweite »Oeil de Soleil«...

– Macht zweiunddreißigtausend Piaster.

– Nun war die Schlacht einmal angefangen, fuhr Van Mitten fort. Die Frau Van Mitten kannte sich gar nicht mehr. Ich bekomme zwei prachtvolle Brutzwiebeln an den Kopf...

– Macht achtundvierzigtausend Piaster!

– Sie treffen dafür drei andere mitten auf die Brust!...

– Macht zweiundsiebzigtausend Piaster!

– Es war ein richtiger Platzregen von Tulpenzwiebeln, wie man gewiß noch keinen erlebt hatte. Das dauerte wohl eine halbe Stunde an. Der ganze Garten ging dabei d'rauf, und nach dem Garten auch noch das Treibhaus. Von meiner schönen Sammlung war rein nichts mehr übrig.

– Und schließlich hat Ihnen das gekostet?... fragte Keraban.

– Weit mehr, als wenn wir uns nur Injurien an den Kopf geworfen hätten, wie die haushälterischen Helden Homers – so gegen fünfundzwanzigtausend Gulden.

– Zweimalhunderttausend Piaster! 1 rief Keraban.

– Aber ich hatte mich doch gezeigt!

– Das war nicht zu theuer bezahlt!

– Und daraufhin, fuhr Van Mitten fort, bin ich abgereist mit Hinterlassung des Befehles, meinen Vermögensantheil flüssig zu machen und der ottomanischen Bank in Constantinopel zuzuführen. So entfloh ich aus Rotterdam mit meinem getreuen Bruno, fest entschlossen, nicht eher in mein Haus zurückzukehren, als bis Frau Van Mitten dasselbe mit einer besseren Welt vertauscht hätte...

– Wo eben keine Tulpen wachsen! ließ sich Ahmet vernehmen.

[140] – Nun, Freund Keraban, nahm Van Mitten wieder das Wort, haben Sie schon einfach aus Trotz etwas gethan, was Ihnen zweimalhunderttausend Piaster gekostet hat?

– Ich? erwiderte Keraban, leicht verletzt durch diese Bemerkung seines Geschäftsfreundes.

– O sicher, fiel Ahmet ein, mein Onkel hat dazu Gelegenheit gehabt; ich für meine Person kenne wenigstens eine solche.

– Und welche, bitte? fragte der Holländer.

– Nun, sein Starrsinn, welcher ihn veranlaßt, wegen einer Ersparniß von zehn Paras eine Reise um das Schwarze Meer auszuführen! Das wird ihm mehr kosten, als Ihr Tulpenhagelwetter.

– Das wird eben kosten, was es kostet! mischte sich Seigneur Keraban sehr trockenen Tones wieder ein. Aber ich finde, daß Freund Van Mitten seine Freiheit nicht zu theuer zu stehen gekommen ist. Da sieht man ja, was es bedeutet, auf nur eine Frau beschränkt zu sein. Mohammed kannte das bezaubernde Geschlecht gewiß ganz gut, als er seinen Anhängern erlaubte, daraus in beliebiger Zahl zu wählen.

– Sicherlich! stimmte Van Mitten zu. Ich bin überzeugt, zehn Frauen sind nicht so schwer zu regieren als eine einzige!

– Und am leichtesten, setzte Keraban moralisirend hinzu, gar keine!«

Mit dieser Bemerkung schloß das Gespräch.

Der Wagen rollte bei einem Posthause vor. Nach Auswechslung der Pferde wurde die Reise die ganze Nacht hindurch fortgesetzt, und am Mittag des folgenden Tages trafen die Reisenden höchst abgespannt, aber den Bitten Ahmets, ja keine Stunde zu verlieren, nachgebend, nachdem sie Bolschoi-Kopani und Kalantschak passirt, in dem Städtchen Perekop, am Hintergrunde des gleichnamigen Golfes ein, der die Landenge noch verschmälert, welche die Krim an das südliche Rußland knüpft.

[141]
Fußnoten

1 Etwa 20.000 Gulden Oe. W. = 40.000 Reichsmark.

13. Capitel
Dreizehntes Capitel.
Quer durch das alte Tauris.

Die Krim! Dieser taurische Chersones der Alten, ein Rechteck, oder mehr ein verschobenes Viereck, welches der reizvollsten Uferstrecke Italiens entnommen zu sein scheint, eine Halbinsel, aus welcher Ferdinand von Lesseps mit zwei Taschenmesserschnitten eine Insel machen würde, ein Erdenwinkel, auf welchen alle Völker die Hand legten, welche im Morgenlande um die Oberherrschaft rangen; ein ehemaliges Königreich des Bosporus, welches nacheinander die Herakliden, sechs Jahrhunderte vor der christlichen Zeitrechnung, dann Mithridates, die Alanen, die Gothen, die Hunnen, die Ungarn, die Türken und die Genuesen sich unterwarfen; später durch Mohammed II. eine reiche Provinz des ottomanischen Kaiserthums, welche endlich Katharina II. im Jahre 1791 mit Rußland vereinigte.

Wie hätte dieses von den Göttern gesegnete und von den Menschen so umworbene Land dem Auftreten mythologischer Sagen entgehen können? Hat man nicht in den Sumpfregionen von Sivach Spuren gigantischer Arbeiten jenes problematischen Volkes der Atlanten wieder finden wollen? Verlegten die Dichter des Alterthums nicht einen Eingang zur Unterwelt in die Nähe des Cap Kerberian, dessen drei Vorsprünge die drei Köpfe des Cerberus bilden sollten? War Iphigenia, die Tochter Agamemnons und Klytemnästras, nachdem sie in Tauris Priesterin der Diana geworden, nicht nahe daran, ihren durch den Sturm an das Ufer des Vorgebirges Parthenium geschleuderten Bruder Orestes der keuschen Göttin zum Opfer zu bringen?

Und ist jetzt die Krim in ihrem südlichen Theile, der mehr werth ist, als alle kahlen Inseln des Archipels, mit ihrem Tchadir-Dagh, der in der Höhe von 1500 Metern über dem Meere einen tischflächenartigen Gipfel zeigt, auf dem man ein Festmahl für alle Götter des Olymps ausrichten könnte, mit seinen Amphitheatern von Wäldern, deren üppiggrüner Mantel sich bis zum Meere hinab erstreckt, mit seinen Hainen von wilden Maronen, Cypressen, Oliven, Judenkirsch-, Mandel- und Bohnenbäumen, mit ihren von Puschkin [142] besungenen Wasserfällen nicht der herrlichste Edelstein in jener Krone von Provinzen, welche sich vom Schwarzen Meere bis zum Eismeer erstrecken? Suchen nicht in ihrem belebenden, gemäßigten Klima ebenso die Russen aus dem Norden, wie die aus dem Süden willkommene Zuflucht, die Einen, um sich gegen die Strenge des hyperboräischen Winters, die Anderen, um sich gegen die ausdörrende Hitze des Sommers zu schützen? Finden sich nicht hier, rund um das Cap Aja, diesem Widderkopfe, der an der äußersten Spitze des südlichen Tauris den Stürmen des Pontus Euxinus die Stirn bietet, jene Colonien von Schlössern, Villen und Landhäusern, Yalta Alupka, welches dem Fürsten Woronzow gehört, äußerlich eine Ritterburg, im Innern die Verwirklichung eines Traumes von orientalischer Pracht bildet; Kisil-Tasch, Eigenthum des Grafen Poniatowski; Artek, im Besitze des Fürsten Andreas Galitzin; Marsanda, Orianda, Eriklik, alle drei kaiserliche Sommersitze, ebenso wie Livadia, ein bewundernswerther Prachtbau, umgeben von murmelnden Quellen, launischen Bergströmen und Wintergärten, der Lieblingsaufenthalt der Kaiserin aller Reußen?

Es hat den Anschein, als ob der wißbegierigste, der sentimentalste, der künstlerischste wie der romantischste Geist in diesem Erdenwinkel reelle Befriedigung gerade hier finden müßten, in dieser Welt im Kleinen, wo Europa und Asien sich ein Stelldichein geben. Hier vermischten sich tatarische Dörfer, griechische Ansiedelungen, orientalische Städte mit Moscheen, Minarets, Muezzins und Derwischen und Klöstern des russischen Ritus mit den Serails von Khans, der Thebaïden, an welche sich zahlreiche Abenteuer knüpfen; mit heiligen Orten, nach denen unzählige Pilger von allen Seiten her wallfahrten; einem jüdischen Berge, der dem Stamme der Karaïten angehört, und mit einem Thale Josaphats, das dem weitberühmten Thale von Kidron ähnelt, wo einst beim Schalle der Posaunen des Jüngsten Gerichts Milliarden von Denen zusammenströmen sollen, welche Rechenschaft abzulegen haben vor dem Throne Jehovas.


Es war ein richtiger Platzregen von Tulpenzwiebeln. (S. 140.)

Welches Wunderland sollte Van Mitten also besuchen! Wie viele Erinnerungen würde er zu verzeichnen haben an dieses Fleckchen Erde, durch welches ein merkwürdiges Schicksal ihn führte! Sein Freund Keraban reiste freilich nicht, um etwas zu sehen, und Ahmet, der alle Schönheiten der Krim schon längst kannte hätte nicht eine Stunde Frist gegönnt, dieselben näher in Augenschein zu nehmen.

»Vielleicht – unter Berücksichtigung unserer Verhältnisse, freilich nur vielleicht, sagte sich Van Mitten, werd' ich doch im Fluge einen oberflächlichen[143] Eindruck von diesem, mit Recht hochgepriesenen alten Chersones erhaschen können.«

Es sollte nicht so kommen. Der Wagen suchte nur den allerkürzesten Weg und folgte einer schrägen Linie von Nord nach Südost, ohne weder den mittleren Theil, noch die Südküste des alten Tauris zu berühren.

Die Reiseroute, so wie sie eingehalten wurde, war durch eine Verhandlung festgesetzt worden, bei der der Holländer nicht einmal eine berathende Stimme gehabt hatte. Wenn man mit dem Wege über die Krim eine Rundfahrt um das Asow'sche Meer ersparte – welche die Reise selbst um mindestens 150 Lieues verlängert hätte – so verkürzte sich die Tour noch weiter, wenn man sich von Perekop aus direct nach der Halbinsel von Kertsch begab. Auf der entgegengesetzten Seite der Straße von Kertsch (oder der Meerenge von Jenikaleh) bot dann die Halbinsel von Taman einen bequemen Weg bis zum Küstenlande des Kaukasus.


Yalta (Krim) (S. 143.)

Der Wagen rollte also auf dem schmalen Isthmus hin, vor dem die Krim gleich einer herrlichen Orange am Zweige eines Orangenbaumes hängt. An der [144] [146]einen Seite desselben dehnt sich die Bai von Perekop aus, an der anderen das Sumpfland von Sivach (oder Siwasch), welches mehr unter dem Namen des Faulen Meeres bekannt ist, ein ungeheuerer Teich von zwei Milliarden Quadratmeter, der durch die Gewässer von Tauris und durch die des Asow'schen Meeres ernährt wird, denen der Durchbruch von Ghenitsche als Canal dient.

Im Vorbeikommen konnten die Reisenden dieses sumpfige Gewässer von Sivach wahrnehmen, dessen Salzgehalt sehr nahe dem Sättigungspunkte liegt.

Daher entstehen auch an verschiedenen Stellen freiwillige Auskrystallisirungen von Salz, so daß man dieses Faule Meer leicht als die ergiebigste Saline der Erde ausbeuten könnte.

Für den Geruchssinn ist es freilich kein Vergnügen, längs dieses Salzmorastes hinzufahren. Die Atmosphäre enthält hier eine merkbare Menge von Schwefelwasserstoffgas, und die Fische, welche sich in diesen See verirren, finden darin fast sofort den Tod. Dieses Gewässer entspräche also etwa dem bekannten Asphaltsee in Palästina. – Inmitten dieses Sumpfes verläuft die Eisenbahn, welche von Alexandrow nach Sebastopol hinabführt. Zu seinem Schreck hörte der Seigneur Keraban auch das betäubende Pfeifen der durch die Finsterniß dahinkeuchenden Locomotiven, welche über die Schienen brausen, auf die sich nicht so selten die schwerfälligen Wogen des Faulen Meeres stürzen.

Am folgenden Tage, dem 31. August, führte der Weg während des Tages durch fruchtbare Gefilde. Da zeigten sich zuweilen Gruppen von Olivenbäumen, deren Blätter, wenn der Wind sie umkehrt, wie ein Quecksilberregen flimmern; Cypressen, von einem bis nahe an Schwarz streifenden Grün; prachtvolle Eichenriesen und hochragende Maulbeerbäume. Ueberall auf den Hügelgeländen zogen sich Rebenreihen hin, welche ein, dem der besten Weinlagen Südfrankreichs kaum untergeordnetes Gewächs liefern.

In Folge von Ahmets Vorsorge, der die Rubel gleich haufenweise ausstreute, waren frische Vorspannpferde überall sofort zur Hand, und die reichlich bestochenen Postillone trieben sie zum schnellsten Laufe an.

Gegen Abend wurde der Flecken Dorti passirt, und einige Lieues weiter erreichte man das Gestade des Faulen Meeres.

Hier ist diese merkwürdige Lagune von dem Asow'schen Meere nur durch eine niedrige, auf einem Untergrunde von aufgehäuften Muscheln ruhende Sandzunge – man kann sie eben kaum Landzunge nennen – getrennt, deren mittlere Breite auf etwa eine Viertellieue geschätzt wird.

[146] Dieser Sandstreifen heißt der Pfeil von Arabat. Er erstreckt sich von dem Dorfe gleichen Namens im Süden bis nach Ghenitsche im Norden auf dem Festlande, und ist an eben dieser Stelle nur von einer dreihundert Fuß breiten Furth durchschnitten, durch welche wie oben erwähnt, das Wasser des Asow'schen Meeres eintritt.

Bei Tagesanbruch wurden der Seigneur Keraban und seine Gefährten von feuchten, dicken, ungesunden Dünsten umlagert, welche erst nach und nach vor den Sonnenstrahlen verschwanden.

Das Land war hier minder bewaldet und auch öder; hier weideten große Dromedare in voller Freiheit, was der Gegend den Anschein eines Zubehörs der arabischen Wüste verlieh. Die vorüberkommenden, ganz aus Holz ohne jede Benützung von Eisen erbauten Karren machten ein betäubendes Geräusch mit ihren von darauf spritzendem Erdpech knirschenden Achsen. Alles sieht noch sehr ursprünglich aus; in den Landhäusern, den einzelnen liegenden Farmen aber trifft man noch die alte tatarische Gastfreundschaft. Dort kann Jedermann einkehren, sich an den Tisch des Hausherrn setzen, aus den sofort vorgesetzten Schüsseln zulangen, essen, was ihm beliebt, trinken so viel er mag, um, wenn er fortgeht, sich mit einem einfachen Danke für die Erquickung abzufinden.

Es versteht sich von selbst, daß die Reisenden die Einfachheit dieser alten Sitten, welche ja mit der Zeit verschwinden werden, niemals mißbrauchten; sie ließen immer und überall in Form von Rubeln greifbare Zeichen ihrer kurzen Anwesenheit zurück. Gegen Abend hielt das von langem Laufe erschöpfte Gespann in dem Flecken Arabat am südlichen Ende des Pfeiles.

Hier erhebt sich auf dem Sande eine kleine Festung, an deren Fuße sich die Häuser bunt aneinander schmiegen. Ueberall grünten dicke Gebüsche von Fenchel, die Brutstätten von Nattern, und Wassermelonenfelder, von denen die Leute sehr reiche Ernten beziehen.

Es war neun Uhr Abends, als der Wagen vor einer Herberge von ziemlich dürftigem Aussehen Halt machte, und doch war das noch das beste Gasthaus des Ortes. In diesen weltverlassenen Theilen des Chersones durfte man sich eben nicht wählerisch zeigen.

»Höre, Ahmet, begann da der Seigneur Keraban, wir sind nun mehrere Nächte und Tage hindurch gefahren, ohne anderswo zu ruhen, als bei den Poststationen. Ich würde jetzt nicht bös sein, mich ein paar Stunden in einem Bette auszustrecken, und wenn's auch nur ein Gasthofsbett wäre.

[147] – Und ich wäre entzückt darüber, setzte Van Mitten hinzu, der sich mühsam reckte und die Glieder dehnte.

– Wie! Zwölf Stunden verlieren! rief Ahmet. Zwölf Stunden bei einer Reise von sechs Wochen!

– Wünschest Du, daß wir darüber eine Verhandlung anfangen? erwiderte Keraban mit dem etwas gereizten Tone, der ihm so gut anstand.

– Nein, lieber Onkel, nein! versicherte Ahmet. Sobald Du ein Bedürfniß nach Ruhe fühlst...

– Ja, das fühle ich allerdings; Van Mitten auch, so gut wie Bruno und selbst Nizib, der sich gar nichts Besseres wünschen wird.

– Seigneur Keraban, sagte Bruno, da sein Name erwähnt worden war, ich halte diese Idee für eine der besten, die Sie seit langer Zeit gehabt haben, vorzüglich wenn ein gutes Abendbrod uns in den Stand gesetzt hat, auch gut zu schlafen.«

Diese Bemerkung Brunos kam ganz zur rechten Zeit. Die Vorräthe des Wagens waren nahezu erschöpft. Was davon in den Kutschkästen noch übrig geblieben, war der Rede kaum werth und durfte nicht verbraucht werden, ehe man nach Kertsch kam, der bedeutendsten Stadt der Halbinsel dieses Namens, wo dieselben nach allen Seiten erneut werden konnten.

Wenn die Betten des Gasthofes in Arabat nun, selbst für Reisende dieser Art, so erträglich zu nennen waren, so ließ leider die Küche sehr viel zu wünschen übrig. Touristen gibt es hier, gleichviel zu welcher Jahreszeit, nicht viele, welche bis nach der äußersten Grenze von Tauris vordringen. Einige Kaufleute oder Salzhändler, deren Pferde oder Karren auf der Straße von Kertsch nach Perekop hinziehen, bilden die Hauptgäste des Gasthofes in Arabat, und diese sind nicht verwöhnt, schlafen nöthigenfalls auf der harten Diele und essen, was sich eben findet.

Der Seigneur Keraban und seine Begleiter mußten sich also mit einer sehr mageren Tafel begnügen, das heißt mit einer Schüssel Pilaw, das gewöhnliche Nationalgericht, aber mit mehr Reis als Huhn und mehr Rumpfknochen als Flügeln, so alt und deshalb so hart, daß es fast Keraban selbst widerstanden hätte; die soliden Backzähne des Starrkopfes trugen jedoch über seine Zähigkeit den Sieg davon, und auch bei dieser Gelegenheit gab er nicht mehr nach als gewöhnlich.

Diesem vorschriftsmäßigen Gericht folgte eine wirkliche Schüssel Yaourtz oder geronnene Milch, welche zum Hinunterschlucken des Pilaw sehr passend [148] gefunden wurde; dann erschienen ziemlich appetitliche kleine Kuchen, die im Lande unter dem Namen »Katlamas« bekannt sind.

Bruno und Nizib kamen bei der Tafel etwas weniger gut oder weniger schlecht weg, wie man will. Ihre Kinnladen wären gewiß mit dem ledernsten aller Hühner fertig geworden, doch fanden sie keine Gelegenheit, diesen Beweis zu liefern. Die Stelle des Pilaw vertrat auf ihrem Tische eine schwärzliche Substanz, welche eingeräuchert aussah wie die Platten eines Kochheerdes, unter dem schon lange gefeuert worden ist.

– Was ist das? fragte Bruno.

– Ich weiß es nicht.

– Was, das wissen Sie nicht, der Sie hier aus dem Lande sind?

– Ich bin nicht aus diesem Lande.

– Doch beinahe, da Sie Türke sind! erwiderte Bruno. Wohlan, Kamerad, kosten Sie erst diese vertrocknete Schuhsohle, und sagen Sie mir dann, was Sie davon denken.«

Nizib, nachgiebig wie immer, biß kräftig in das Stück genannter Schuhsohle.

»Nun?«... fragte Bruno.

– Na, eine Delicatesse ist es gerade nicht; aber es läßt sich zur Noth essen.

– Ja freilich, Nizib, wenn man vor Hunger umkommt und nichts Weiteres zu beißen hat!«

Bruno kostete nun auch selbst, entschlossen Alles für Alles zu wagen.

Unter Zuhilfenahme mehrerer Gläser einer Art alkoholisirten Bieres, dessen sie sich denn auch bedienten, mochte das Gericht so hingehen.

Plötzlich rief aber Nizib:

»Ah, sei mir Allah gnädig!

– Was ficht Sie denn an, Nizib?

– Ah, ich glaube, ich habe Schweinefleisch gegessen?...

– Schweinefleisch! wiederholte Bruno. Ah, richtig, Nizib, ein echter Muselmann darf sich nicht von diesem vortrefflichen aber unreinen Thiere nähren! Nun wohl, wenn dieses unbekannte Gericht vom Schweine herrührt, so haben Sie nur Eines zu thun.

– Und das wäre?

– Sie verdauen es eben ganz still, Ihr Schweinefleisch, nachdem es doch einmal verschluckt ist!«

[149] Die Sache beunruhigte Nizib, der die Gesetze des Propheten streng beobachtete, aber doch sehr, und da er sein Gewissen so stark belastet fühlte, mußte Bruno sich beim Wirthe des Gasthauses erkundigen.

Da beruhigte sich denn Nizib wieder und konnte seine Verdauung ungestört vor sich gehen lassen. Das räucherige Gericht war überhaupt kein Fleisch, sondern bestand aus Fisch, aus dem »Schebac«, der gleich dem Kabeljau in zwei Hälften getheilt, an der Sonne getrocknet, durch Aufhängen im Schornstein geräuchert und roh oder fast roh verzehrt wird.

Aus Rostow, einem am Grunde der Nordspitze des Asow'schen Meeres gelegenen Hafen, wird hiermit nach allen Punkten der Küste ein lebhafter Ausfuhrhandel getrieben.

Herren und Diener mußten sich also mit dem etwas mageren Abendbrot des Gasthofs von Arabat begnügen. Die Betten erschienen ihnen härter als die Kissen des Wagens; immerhin blieben sie darin von den unausbleiblichen Stößen der Landstraße verschont, und der Schlaf, den sie in den dürftig ausgestatteten Zimmern fanden, reichte doch hin, ihre Erschöpfung von den ausgestandenen Strapazen auszugleichen.

Am nächsten Tage, dem 2. September, war Ahmet schon mit Sonnenaufgang auf den Füßen und suchte das Posthaus auf, um frische Pferde zu miethen. Das Gespann vom Vortage, das eine lange anstrengende Strecke zurückgelegt hatte, hätte ohne mindestens vierundzwanzig Stunden Ruhe nicht weiter benützt werden können.

Ahmet hoffte den Reisewagen ganz fertig vor die Thür führen zu können, so daß sein Onkel und Van Mitten nur einzusteigen brauchten, um auf dem Wege durch die Halbinsel Kertsch dahin zu fahren.

Am Ende des Ortes lag das Posthaus mit seinem, mit hölzernen Krummstäben, ähnlich dem Halse einer Baßgeige, geschmückten Dache; von frischen Pferden war aber nichts zu finden. Der Stall stand leer, und selbst um vieles Geld konnte der Posthalter kein Gespann liefern.

Sehr verstimmt über diese Enttäuschung, kehrte Ahmet nach dem Gasthause zurück.

Zum Aufbruch bereit, warteten der Seigneur Keraban, Van Mitten, Bruno und Nizib, daß der Wagen vorfahre. Einer derselben – wir brauchen ihn wohl nicht namhaft zu machen – fing schon an, deutliche Zeichen der Ungeduld merken zu lassen.

[150] »Nun, Ahmet, rief er, Du kommst allein zurück? Müssen wir denn den Wagen an der Poststation aufsuchen?

– Das wäre leider auch nutzlos, lieber Onkel, antwortete Ahmet, es ist hier kein einziges Pferd zu haben.

– Kein Pferd?... sagte Keraban.

– Nein, vor morgen können wir keine erhalten.

– Vor morgen nicht?

– Ja, und damit verlieren wir volle vierundzwanzig Stunden!

– Vierundzwanzig Stunden verlieren, schrie Keraban, aber ich bin nicht gewillt, deren zehn, nicht fünf, nicht eine zu verlieren!

– Wenn es indeß, bemerkte der Holländer gegen seinen Freund, der schon auffahren wollte, wenn es eben keine Pferde gibt?...

– Es wird schon welche geben!« antwortete der Seigneur Keraban.

Auf ein gegebenes Zeichen folgten ihm Alle nach.

Eine Viertelstunde später erreichten sie die Poststation und machten vor der Thür derselben Halt.

Der Postverwalter stand auf der Schwelle in der ungenirten Haltung eines Mannes, der sehr wohl weiß, daß Niemand ihn zwingen kann, zu liefern, was er nicht hat.

»Sie haben keine Pferde mehr? sagte Keraban schon in etwas gereiztem Tone.


Alupka (Krim). (S. 143.)

– Keine anderen als die, welche Sie gestern mit hierher gebracht haben, antwortete der Posthalter, und die können jetzt nicht weiter.

– Und wie kommt es, daß Sie in Ihren Ställen nicht einmal Pferde zum Wechseln stehen haben?

– Weil diese ein vornehmer Türke genommen hat, der sich nach Kertsch begibt, von wo er, nach Ueberschreitung des Kaukasus, nach Poti will.

– Ein vornehmer Türke, rief Keraban; ohne Zweifel einer jener europäischen Ottomanen! Wahrhaftig, sie begnügen sich nicht, einen in den Straßen Constantinopels zu belästigen, nein, selbst auf den Straßen der Krim muß man ihnen begegnen! – Wer war es denn?

– Ich weiß nur, daß er sich Seigneur Saffar nannte, weiter nichts, erwiderte der Posthalter gelassen.

– Nun, und wer hat Ihnen erlaubt, diesem Seigneur Saffar zu überlassen was sie noch an Pferden besaßen? fragte Keraban, dem der Zorn schon aus den Augen blitzte.

[151] – Wer? Ei, dieser Reisende meldete sich auf der Station gestern morgens, also zwölf Stunden vor Ihnen, und da ich Pferde zur Verfügung hatte, konnte ich ihm dieselben gar nicht vorenthalten.

– Doch hätten Sie das thun sollen!...

– Wie? Und warum denn? fragte erstaunt der Posthalter.

– Nun, weil ich doch später ankommen mußte!«

Was konnte Jemand auf Argumente dieser Art erwidern? Van Mitten wollte vermitteln – er zog sich nur eine Zurechtweisung von seinem Freunde [152] zu. Der Posthalter selbst wollte sich, nachdem er dem Seigneur Keraban noch einen spöttischen Blick zugeworfen, schon in sein Haus zurückziehen, als dieser ihn mit den Worten aufhielt:


Der Postverwalter stand auf der Schwelle. (S. 151.)

»Gleich Pferde! Ob Sie nun Pferde haben oder nicht; jedenfalls müssen wir sofort weiter reisen können.

– Sofort?... wiederholte der Posthalter. Ich wiederhole Ihnen, daß ich keine Pferde habe.

– So suchen Sie, welche zu finden!

[153] – In Arabat gibt es keine!

– Treiben Sie zwei, treiben Sie nur eins auf, antwortete Keraban, der schon fast die Selbstbeherrschung verlor, treiben Sie die Hälfte von einem auf... aber finden müssen Sie etwas!

– Wenn es aber nirgends ein Pferd gibt?... mischte sich Van Mitten, um ihn zu besänftigen, ein.

– Es muß eines geben!

– Vielleicht könnten Sie uns ein Gespann von Maulthieren oder Mauleseln verschaffen? fragte Ahmet den Posthalter.

– Meinetwegen Maulthiere oder Maulesel! stimmte der Seigneur Keraban zu. Wir werden damit zufrieden sein!

– In der ganzen Provinz hat es niemals Maulthiere oder Maulesel gegeben, erklärte der Posthalter.

– Nun, heute sieht er ein Geschöpf dieser Sorte, flüsterte Bruno auf Keraban deutend, seinem Herrn in's Ohr, und noch dazu ein ganz vorzügliches.

– Nun dann gewöhnliche Esel?... fragte Ahmet.

– Ebensowenig Esel wie Maulthiere!

– Nicht einmal Esel!... polterte Keraban heraus. Ah, Sie treiben wohl Ihren Spott mit uns, Herr Posthalter! Wie, es sollte im Lande keine Esel geben? Nichts, sei es was es ist, womit man einen Wagen frisch bespannen könnte?«

Der starrköpfige Mann warf dabei wüthende Blicke nach rechts und nach links auf ein Dutzend Einwohner des Ortes, die sich an der Thür der Poststation gesammelt hatten.

»Er wäre im Stande, die Leute selbst vor seinen Wagen spannen zu lassen! sagte Bruno.

– Ja, sie oder uns!« antwortete Nizib als erfahrener Kenner seines Herrn.

Da es nun weder Pferde, noch Maulthiere oder Esel gab, lag es auf der Hand, daß an eine Abreise nicht zu denken war. Die ganze Gesellschaft mußte sich wohl oder übel entschließen, vierundzwanzig Stunden zu warten. Ahmet, der hierüber gewiß eben so ungehalten war, wie sein Onkel, wollte ihm doch gegenüber der Unmöglichkeit Vernunft beizubringen suchen, als der Seigneur Keraban laut rief:

»Hundert Rubel, wer mir ein Gespann verschafft!«

Unter den Einwohnern von Arabat entstand ein leises Gemurmel. Einer derselben trat entschlossen vor.

[154] »Herr Türke, sagte er, ich habe zwei Dromedare zu verkaufen.

– Ich kaufe sie!« antwortete Keraban.

Dromedare vor einen Reisewagen zu spannen, war zwar noch nicht dagewesen; jetzt sollte es geschehen.

In weniger als einer Stunde war der Handel zu gutem Preise abgemacht. Was fragte er nach dem Gelde; der Seigneur Keraban hätte auch das Doppelte bezahlt. Die beiden Thiere wurden also so gut als möglich gezäumt, an die Deichsel gespannt und auf's Versprechen eines außerordentlichen Trinkgeldes hin nahm deren früherer Eigenthümer, der nun den Kutscher spielte, vor dem Höcker eines dieser Wiederkäuer Platz; dann rollte der Wagen zum größten Erstaunen der Bewohner von Arabat, aber zur großen Befriedigung der Reisenden im gestreckten Trabe seines merkwürdigen Gespanns die Straße nach Kertsch zu hinab.

Am Abend kam man ohne Unfall in dem Dorfe Argin, zwölf Lieues von Arabat, an.

Auf der Post gab es, wieder in Folge des vorausfahrenden Seigneur Saffar, ebenfalls keine neuen Pferde. Man mußte sich entschließen in Argin zu übernachten, um den Dromedaren einige Ruhe zu gönnen. Am folgenden Tage, dem 3. September, änderte sich an den bisherigen Verhältnissen auch nichts, und der Wagen gelangte nach Zurücklegung von siebzehn Lieues von Argin aus nach dem Dorfe Marienthal, wo die Nacht verbracht wurde.

Mit dem Morgenrothe ging es wieder weiter, und nach einer Etape von zwölf Lieues erreichte man ohne Unfall, aber tüchtig durchgeschüttelt, woran die an solchen Dienst nicht gewöhnten kräftigen Thiere die meiste Schuld trugen, endlich Kertsch.

Der Seigneur Keraban und seine Gefährten hatten, da sie am 17. August abgereist waren, binnen neunzehn Tagen drei Siebentel ihres Weges zurückgelegt – etwa dreihundert Lieues von siebenhundert. Sie hielten also eine mittlere Geschwindigkeit ein, und wenn das noch sechsundzwanzig Tage so weiter ging, mußten sie bis zum 30. September ihre Fahrt um das Schwarze Meer in der berechneten Zeit vollendet haben.

»Und dennoch befürchte ich, bemerkte Bruno öfter seinem Herrn, daß die ganze Geschichte ein schlechtes Ende nimmt!

– Für meinen Freund Keraban?

– Für Ihren Freund Keraban... oder für Die, die ihn begleiten!«

[155]
14. Capitel
Vierzehntes Capitel.
Worin der Seigneur Keraban sich in der Geographie mehr bewandert zeigt, als sein Neffe Ahmet geglaubt hätte.

Die Stadt Kertsch liegt auf der Halbinsel, welche ihren Namen trägt, am östlichen Ende von Tauris. Sie dehnt sich halbmondförmig auf der Nordseite dieser Landzunge aus. Ein Berg, auf dem einst die Citadelle stand, ragt majestätisch über derselben empor. Das ist der Berg Mithridates. Der Name dieses furchtbaren und unversöhnlichen Feindes der Römer, der diese bald aus Asien vertrieben hätte, dieses kühnen Heerführers, dieses ausgezeichneten Polyglotten und sagenhaften Toxikologen ziemt einer Stadt, welche einst die Hauptstadt des Königreichs des Bosporus gewesen war. Hier war es, wo der König von Pontus, der schreckliche Eupator, sich von dem Schwerte eines gallischen Soldaten durchbohren ließ, nachdem er vergeblich versucht, seinen eisernen Körper, der schon an Gifte gewöhnt war, durch ein solches zu vernichten.

So lautete die kleine Geschichtslection, welche Van Mitten während einer halbstündigen Rast seinen Begleitern zu Theil werden ließ. Er erhielt darauf von seinem Freunde Keraban nur die Antwort:

»Mithridates war ein Dummkopf!

– Und weshalb? fragte Van Mitten.

– Wenn er sich hätte vergiften wollen, brauchte er nur in unserem Gasthofe zu Arabat zu speisen.«

Auf eine solche Bemerkung hin glaubte der Holländer seine Gedächnißrede auf den Gemahl der schönen Monime nicht fortsetzen zu sollen, wohl aber nahm er sich vor, dessen Hauptstadt während der wenigen Stunden ihrer Rast in Augenschein zu nehmen.

Der Wagen rollte durch die Stadt mit seiner eigenthümlichen Bespannung zum großen Erstaunen der hybridischen (d. i. gemischten) Bevölkerung, welche in der Hauptsache aus Juden, aber auch aus Tataren, Griechen und selbst Russen – zusammen etwa 72.000 Einwohnern – bestand.

Nach der Ankunft im Hôtel Constantin war es Ahmets erste Sorge, sich zu erkundigen, ob für den folgenden Morgen Pferde zu haben seien. Zu seiner[156] großen Befriedigung fehlte es diesmal in den Ställen der Posthalterei an solchen nicht.

»Es ist ein wahres Glück, bemerkte der Seigneur Keraban, daß jener Seigneur Saffar doch nicht Alles aus dieser Station weggenommen hat.«

Der wenig duldsame Onkel Ahmets bewahrte aber trotzdem einen gewissen Ingrimm gegen den Unverschämten, der sich erlaubte, ihm auf seinem Wege vorauszufahren und die Postpferde vorwegzunehmen.

Da er die Dromedare jetzt nicht mehr brauchte, verkaufte er sie wieder an einen Karavanenführer, der sich über die Meerenge von Jenikaleh begab; freilich veräußerte er sie lebend nur für den Preis, der sonst für dergleichen todte Thiere bezahlt wird. Er erlitt also einen nicht unbedeutenden Verlust, den der einmal grollende Keraban natürlich dem Seigneur Saffar auf das Schuldconto schrieb.

Es versteht sich von selbst, daß jener Saffar nicht mehr in Kertsch war, wodurch er einer sehr ernsthaften Auseinandersetzung mit seinem Concurrenten entging. Seit zwei Tagen schon hatte er die Stadt verlassen, um den Weg nach dem Kaukasus einzuschlagen. Das war für die Reisenden wenigstens insofern vortheilhaft, als er ihnen nicht mehr auf der Straße längs der Küste vorausfuhr.

Ein gutes Abendbrot im Hôtel Constantin und eine ruhige Nacht in den ziemlich hübschen Gastzimmern ließ Herren und Diener die früheren Mühseligkeiten bald vergessen.

Ein von Ahmet nach Odessa gerichteter Brief enthielt denn auch die Nachricht, daß die Reise nach Wunsch von Statten gehe.

Da die Abreise am Morgen des 5. September erst auf zehn Uhr Vormittags angesetzt war, erhob sich der gewissenhafte Van Mitten gleichzeitig mit der Sonne, um die Stadt zu besichtigen. Diesmal fand er auch Ahmet bereit, ihn zu begleiten.

Beide gingen also durch die breiten Straßen von Kertsch mit Fußstegen und Steinplatten an den Seiten, wo eine Menge wilder Hunde umherirrten, welche ein Zigeuner, dem dieses niedrige Geschäft zufiel, mit Stockschlägen zu vertreiben hat. Jedenfalls hatte der Henker aber einen Theil der Nacht in der Schänke zugebracht, denn Ahmet und der Holländer hatten einige Mühe, den Spitzzähnen der gefährlichen Köter zu entgehen.

Der steinerne Quai am Meere im Hintergrunde der durch eine Einziehung des Ufers gebildeten Bucht, der bis zum Strande der Meerenge reicht, bot ihnen[157] dann bequemeren Weg. Hier erhoben sich der Palast des Gouverneurs und das Zollhaus. Ein gutes Stück draußen und unsern des Lazareths liegen, wegen mangelnder Tiefe des Wassers, die Schiffe verankert, denen Kertsch recht sicheren Schutz bietet. Seit Abtretung der Stadt an Rußland im Jahre 1771 hat sich hier ein ausgedehnter Handel entwickelt, und vorzüglich findet man ein bedeutendes Lager von dem Salze, welches die Salinen von Perekop liefern.

»Haben wir Zeit, da hinauf zu steigen? sagte Van Mitten, indem er nach dem Berge Mithridates wies, auf dem sich jetzt ein griechischer Tempel erhebt, der mit den Funden der gerade hier sehr zahlreichen alten Gräber ausgestattet ist – ein Tempel, welcher die Stelle der alten Akropolis einnimmt.

– Hm! antwortete Ahmet, wir dürfen nur nicht wagen, den Onkel Keraban warten zu lassen.

– So wenig wie seinen Neffen, antwortete Van Mitten lächelnd.

– Ich muß freilich zugestehen, antwortete Ahmet, daß mir bei unserer ganzen Reise kein anderer Gedanke vorschwebt, als der, möglichst bald nach Scutari zu kommen. – Sie verstehen mich wohl, Herr Van Mitten?

– Ja, ich verstehe, junger Freund, versicherte der Holländer, obwohl der Gatte der Frau Van Mitten wohl das Recht hätte, Sie nicht zu verstehen!«

Nach diesen, durch die uns bekannten Vorgänge in Rotterdam sehr gerechtfertigten Bemerkungen stiegen Beide den Berg Mithridates hinauf, da ihnen bis zur Weiterfahrt noch zwei Stunden übrig blieben.

Von der Höhe aus bietet sich ein herrlicher Blick über die Bai von Kertsch. Im Süden zeigte sich die äußerste Spitze der Halbinsel; gegen Osten streckten sich die beiden Landzungen aus, welche jenseits der Straße von Jenikaleh die Bai von Taman bilden. Die heute besonders klare Luft machte es möglich, die vielen Hügelbildungen der Umgegend und jene »Khourghans« oder alten Gräber zu erblicken, mit denen das Land bis zu den niedrigsten, aus Steinkorallen bestehenden Hügeln bedeckt ist.

Als Ahmet den Zeitpunkt zur Rückkehr in's Hôtel gekommen glaubte, zeigte er Van Mitten eine monumentale Treppe mit Balustraden, welche vom Berge Mithridates nach der Stadt hinabführte und auf dem Marktplatze endigte. Eine Viertelstunde später trafen sie wieder mit dem Seigneur Keraban zusammen, der vergeblich versuchte, den Wirth, einen höchst friedliebenden Tataren, in einen Streit zu verwickeln. Es war hohe Zeit, daß sie kamen, denn der Onkel war nahe daran, böse zu werden, weil er keine Gelegenheit hatte, wüthend zu werden.

[158] Mit kräftigen persischen Pferden, die in Kertsch vielfach verkauft werden, bespannt, stand der Wagen bereit. Jeder nahm seinen Platz ein und man fuhr in gestrecktem Galopp ab, der den ermüdenden Trab der Dromedare nicht beklagen ließ.

Ahmet fühlte freilich eine gewisse Unruhe, als man sich der Meerenge näherte. Der Leser erinnert sich dessen, was damals vorging, als die Reiseroute in Cherson geändert wurde. Nur auf die Bitten seines Neffen hatte Seigneur Keraban zugestimmt, nicht auch um das Asow'sche Meer zu fahren, sondern den kürzesten Weg durch die Krim einzuschlagen. Er gestand das freilich nur in der Erwartung zu, daß er an jedem Punkte des Weges Land unter den Füßen habe, und Ahmet hatte nichts gethan, diesen Irrthum zu zerstreuen.

Man kann ein guter Türke, ein ausgezeichneter Tabakhändler sein und braucht von Geographie nicht viel zu verstehen. Der Onkel Ahmets wußte nun wahrscheinlich nicht, daß das Asow'sche in das Schwarze Meer sich durch einen breiten Sund ergießt, durch den alten kimmerischen Bosporus, den man die Meerenge von Jenikaleh nennt, und daß man also zwischen der Halbinsel von Kertsch und der von Taman gezwungen war, über diese Wasserstraße zu setzen.

Der Seigneur Keraban empfand aber gegen das Meer einen Widerwillen, den sein Neffe schon seit längerer Zeit kannte. Was würde er also sagen, wenn er sich vor dieser Wasserstraße befand, und es vielleicht, in Folge der Strömung und der mangelnden Tiefe, nöthig wurde, dieselbe in ihrer größten, auf zwanzig Seemeilen geschätzten Breite zu übersegeln? Und wenn er sich nun weigerte, dieses Wagstück zu unternehmen? Wenn er darauf bestand, längs der ganzen Ostküste der Krim zurück und um das Ufer des Asow'schen Meeres bis zu den ersten Abhängen des Kaukasus zu fahren? Welche Verzögerung der Reise! Welcher Zeitverlust! Wie wichtige Interessen wurden damit gefährdet, und wie konnte man am 30. September in Scutari zurück sein?

Derlei Gedanken beschäftigten Ahmet, während der Wagen über die Halbinsel dahinjagte. Vor Ablauf von zwei Stunden mußte er die Meerenge erreicht haben und mußte der Onkel wissen, woran er war. Empfahl es sich vielleicht, ihn schon jetzt auf das, was ihm bevorstand, vorzubereiten?


Im gestreckten Trabe seines merkwürdigen Gespanns. (S. 155.)

Aber wie geschickt hätte der junge Mann da verfahren müssen, um das Gespräch nicht in eine gereizte [159] Verhandlung, und die Verhandlung nicht in einen Streit umschlagen zu lassen! Wenn der Seigneur Keraban den Kopf aufsetzte, hätte ihn doch nichts von seiner Idee wieder abgebracht, und wohl oder übel hätte der Wagen die Straße nach Kertsch wieder einschlagen müssen.

Ahmet wußte nicht, was er beginnen sollte. Gestand er seine List ein, so riskirte er, seinen Onkel ganz außer sich zu bringen. War es nicht besser, sich selbst unwissend hinzustellen und das größte Erstaunen zu heucheln, wenn sich da eine Meerenge zeigte, wo man Festland zu treffen gehofft hatte?

[160] »Möge Allah mir zu Hilfe kommen!« dachte Ahmet.

Und er wartete mit Ergebung, daß der Gott der Moslims ihn aus der fatalen Lage befreien werde.

Die Halbinsel von Kertsch ist durch einen breiten Graben getrennt, der noch aus dem Alterthum herrührt und der Wallgraben Akos' genannt wird. Die ihm folgende Straße ist bis zum Lazareth hin sehr gut, wird dann aber mühsamer und, wo sie den Abhang nach dem Ufer hinabführt, manchmal schlüpfrig und steil.

[161] Die Pferde konnten also im Laufe des Vormittags nicht so schnell vorwärts kommen, was Van Mitten Gelegenheit gab, diesen Theil des Chersones etwas genauer in Augenschein zu nehmen.


Kertsch. (S. 156.)

Im Ganzen ähnelte derselbe der russischen Steppe in ihrer Nacktheit. Einige Karavanen zogen darüber hin und suchten längs des Wallgrabens Schutz, wo sie lagerten und einen malerischen Anblick gewährten.

Unzählige Khourghans bedeckten das Land und verliehen ihm das wenig anziehende Aussehen eines ungeheuren Kirchhofs. Es waren da wirklich ebensoviele Gräber, welche die Alterthumsforscher bis zum Grund durchwühlt haben, und deren Schätze an etrurischen Vasen, Inschriften und alten Kleinodien jetzt die Mauern des Tempels und die Säle des Museums von Kertsch zieren.

Gegen Mittag tauchte am Horizont ein großer viereckiger Thurm auf, den vier kleinere Thürme umgaben; es war das Fort, welches sich nördlich des Städtchens Jenikaleh erhebt. Im Süden, am Ende der Bai von Kertsch, erhob sich das, die Küste des Schwarzen Meeres weit überragende Cap Au-Burum. Weiterhin dehnte sich die Meerenge mit den beiden Spitzen aus, welche den »Liman« oder die Bai von Taman bilden. Ganz in der Ferne umschlossen die ersten Höhen des Kaukasus auf der asiatischen Seite den kimmerischen Bosporus gleich einem riesenhaften Rahmen.

Auf den ersten Blick erscheint die Straße hier wie ein Meeresarm, und Van Mitten, der die Antipathie seines Freundes Keraban kannte, sah deshalb Ahmet etwas erstaunt an.

Ahmet bedeutete ihm zu schweigen. Zum Glück schlief der Onkel noch und gewahrte also nichts von den Gewässern des Schwarzen und des Asow'schen Meeres, die sich in jenem Sunde vereinigen, dessen schmalste Stelle immer noch fünf bis sechs Seemeilen breit ist.

»Alle Teufel!« sagte Van Mitten für sich.

Es war wirklich zu beklagen, daß Keraban nicht einige hundert Jahre später das Licht der Welt erblickt hatte. Wäre er zu der Zeit hier gereist, so brauchte es Ahmet nicht in solche Verlegenheit zu setzen, wie es jetzt der Fall war.

Die Meerenge versandet nämlich mehr und mehr und wird schließlich durch Anhäufung muschelführenden Sandes nur noch einen schmalen Canal mit heftiger Strömung darstellen. Wenn vor hundertfünfzig Jahren die Schiffe Peters des Großen durch dieselbe segeln konnten, um Asow zu belagern, so [162] sind jetzt schon Handelsschiffe gezwungen zu warten, bis das vom Südwind aufgestaute Wasser eine Tiefe von zehn bis zwölf Fuß erreicht.

Der Türke reiste aber im Jahre 1882 und nicht 2000, und man mußte schon die hydrographischen Bedingungen mit in den Kauf nehmen, wie sie sich eben darboten.

Inzwischen war der Wagen die Abhänge, welche bis Jenikaleh reichen, hinabgekommen, wobei ganze Schaaren von Trappen mit betäubendem Geschrei aufflogen, welche vorher in dem hohen Grase geweidet hatten.

Da hielt der Wagen vor dem ersten Gasthofe des Städtchens und der Seigneur Keraban erwachte.

»Sind wir an einer Poststation? fragte er.

– Ja, an der Poststation Jenikaleh,« antwortete Ahmet einfach.

Alle stiegen aus und betraten das Gasthaus, während der Wagen nach der Poststation fuhr. Von hier aus sollte er nach dem Einschiffungsplatz geleitet werden, wo sich eine zum Uebersetzen von Reisenden zu Fuß, zu Pferde und im Wagen bestimmte Fähre vorfand, welche selbst ganze Karavanen befördert, die von Europa nach Asien oder umgekehrt ziehen.

Jenikaleh ist ein Städtchen, in dem lohnender Handel mit Salz, Caviar, Seife und Wolle getrieben wird. Die Stör- und Steinbuttfischereien beschäftigen auch einen Theil der fast ausschließlich griechischen Einwohnerschaft, die Seeleute des Ortes treiben fast ohne Ausnahme Küstenschifffahrt auf leichten, mit zwei lateinischen Segeln ausgestatteten Fahrzeugen. Jenikaleh hat auch eine wichtige strategische Lage, woraus es sich erklärt, daß die Russen dessen Forts befestigten, als sie es im Jahre 1771 den Türken abgenommen hatten. Es bildet eine Thür zum Schwarzen Meere, welche zwei Sicherheitsschlüssel hat, den von Jenikaleh auf der einen, und den von Taman auf der anderen Seite.

Nach etwa einhalbstündigem Aufenthalte veranlaßte der Seigneur Keraban seine Begleiter zum Aufbruche, und sie begaben sich nach dem Quai, wo die Fähre sie erwartete.

Da richteten sich aber die Blicke Keraban's nach rechts und links und es entfuhr ihm ein unwillkürlicher Ausruf.

»Was hast Du, lieber Onkel? fragte Ahmet, der sich dabei nicht besonders wohl fühlte.

– Ist das ein Strom da? fragte Keraban, nach der Meerenge zeigend.

– Ein Strom, ja, das ist es, erklärte Ahmet, der es für des Richtigste hielt, seinen Oheim in diesem Irrthum zu lassen.

[163] – Ein Strom!« rief Bruno.

Ein Zeichen seines Herrn gab ihm zu verstehen, daß er hierüber nichts weiter sagen sollte.

»Aber nein, das ist ja ein...« begann da Nizib.

Er konnte den Satz nicht ganz aussprechen. Ein kräftiger Stoß seitens seines Kameraden Bruno schnitt ihm das Wort ab, als er das vor ihnen liegende Gewässer so bezeichnen wollte, wie dieses es verdiente.

Inzwischen starrte der Seigneur Keraban immer noch auf den Strom, der ihm den Weg abschnitt.

»Er ist gehörig breit! sagte er.

– Ja, freilich... recht breit... wahrscheinlich in Folge einer Ueberschwemmung, meinte Ahmet.

– Einer Ueberschwemmung, die von dem Schmelzen des Schnees herrührt, fügte Van Mitten zur Unterstützung seines jungen Freundes hinzu.

– Vom Schmelzen des Schnees... im Monat September? sagte Keraban, sich gegen den Holländer umkehrend.

– Gewiß, vom Schmelzen des Schnees... des alten Schnees... des Schnees vom Kaukasus! antwortete Van Mitten, der schon nicht mehr wußte, was er herausbrachte.

– Ich sehe aber keine Brücke, auf der man über diesen Strom gelangen könnte! fuhr Keraban fort.

– Leider, lieber Onkel, ist eine solche nicht da! antwortete Ahmet, der aus beiden geschlossenen Händen eine Art Fernrohr bildete, so, als wolle er die vermuthete Brücke über den vermeintlichen Strom besser wahrnehmen können.

– Aber es sollte eine Brücke hier sein... sagte Van Mitten. Mein Reiseführer erwähnt die Existenz einer Brücke....

– So? Ihr Reiseführer erwähnt einer Brücke?... entgegnete Keraban, der die Stirn runzelnd seinen Freund Van Mitten anstarrte.

– Ja... jene berühmte Brücke... stotterte der Holländer. Sie wissen ja den Pont-Euxin... Pontus Euxinos der Alten.

– Ja, und so alt, versetzte Keraban, dem die Worte mehr pfeifend zwischen den geschlossenen Lippen hervordrangen, daß dieselbe nicht einmal der Ueberschwemmung in Folge des Schmelzens des Schnees... des alten Schnees hat Widerstand leisten können.

[164] – Des Schnees vom Kaukasus«, hätte Van Mitten noch einmal erklären können, aber er war mit seinem Latein zu Ende.

Ahmet hielt sich etwas bei Seite. Er wußte nicht, was er seinem Onkel hätte antworten sollen, und er wollte keine Verhandlung hervorrufen, die gar so leicht schlimm abgelaufen wäre.

»Nun, Herr Neffe, sagte Keraban trockenen Tones, wie werden wir dann über den Strom kommen, da eine Brücke doch nicht mehr vorhanden ist?

– O, wir werden wohl eine Furth finden, sagte Ahmet nachlässig; es ist ja so wenig Wasser darin....

– Man taucht kaum mit den Stiefelabsätzen hinein! fügte der Holländer bei, der freilich besser gethan hätte, zu schweigen.

– O, dann, Van Mitten, rief Keraban, dann streifen Sie einmal das Beinkleid auf, treten Sie hinein in den Strom, wir werden Ihnen nachfolgen...

– Ja... aber... ich...

– Schnell! Schnell! Streifen Sie nur auf!«

Der getreue Bruno glaubte nun sich einmischen zu müssen, um seinen Herrn aus der fatalen Lage zu befreien.

»Das wäre unnütz, Seigneur Keraban, sagte er. Wir werden darüber kommen, ohne uns den Fuß naß zu machen. Es gibt hier eine Fähre.

– Ah, es gibt eine Fähre? antwortete Keraban. 'S ist ein wahres Glück, daß man auf den Gedanken gekommen ist, auf diesem Strome eine Fähre einzurichten... um die weggerissene Brücke zu ersetzen, jenen berühmten Pont-Euxin! – Warum hat Er nicht vorher gesagt, daß es hier eine Fähre gibt?... Und wo ist sie denn, diese Fähre?

– Hier, lieber Onkel, sagte Ahmet, indem er auf die am Quai festgelegte Fähre hinwies. Unser Wagen ist schon darauf.

– Wirklich! Unser Wagen ist schon darauf?

– Ja! Mit der vollen Bespannung!

– Völlig bespannt? – Und wer hat das angeordnet?

– Niemand, lieber Onkel, antwortete Ahmet. Der Posthalter hat ihn selbst dahingebracht, wie das stets zu geschehen pflegt...

– Seitdem keine Brücke mehr vorhanden ist, nicht wahr?

– Uebrigens, lieber Onkel, gab es gar kein anderes Mittel, unsere Reise fortzusetzen.

[165] – Es gäbe gewiß ein Anderes, Herr Neffe! Wir brauchten nur umzukehren und höher im Norden um das Asow'sche Meer zu fahren.

– Noch zweihundert Lieues weiter, liebster Onkel! Und meine Hochzeit und das Datum des 30. Ramazan? Hast Du denn den 30. Ramazan ganz vergessen?

– Nein, Herr Neffe! Und vor diesem Zeitpunkte werde ich schon zurück zu sein wissen. Brechen wir auf!«

Einen Augenblick schwebte Ahmet in peinigender Ungewißheit. Würde sein Onkel dem unsinnigen Gedanken nachgeben, wieder über die Halbinsel umzukehren oder würde er in der Fähre Platz nehmen, um die Meerenge von Jenikaleh zu überschiffen?

Der Seigneur Keraban hatte sich nach der Fähre begeben. Van Mitten, Ahmet, Bruno und Nizib folgten ihm und wollten ja keinen Vorwand zu der stürmischen Auseinandersetzung geben, welche auszubrechen drohte.

Auf dem Quai blieb Keraban ziemlich lange stehen, um sich überall umzusehen.

Seine Begleiter hielten an.

Keraban betrat die Fähre.

Seine Gefährten thaten dasselbe.

Keraban stieg in den Wagen.

Die Anderen kletterten augenblicklich hinter ihm drein.

Dann wurde die Fähre von ihren Tauen gelöst, sie stieß ab, und die Strömung trieb sie nach der entgegengesetzten Seite.

Keraban sprach kein Wort und Jedermann ahmte sein Stillschweigen nach.

Das Wasser war zum Glück sehr ruhig und die Fährleute hatten keine Mühe, das Fahrzeug in gewünschter Richtung fortzubewegen, einmal mit Hilfe langer Stangen und dann wieder mit breiten Schaufelrudern, je nachdem die Tiefenverhältnisse es erheischten. Dennoch war ein Unfall dabei ziemlich nahe.

Eine übrigens leichte, durch den südlichen Theil der Bai von Taman abgelenkte Strömung hatte die Fähre schräg erfaßt. Statt an der Landspitze anzulegen, drohte damit die Nothwendigkeit, bis zum Grunde der Bai zu fahren, oder mit anderen Worten fünf Seemeilen statt einer zurückzulegen, und der Seigneur Keraban, dessen Ungeduld immer deutlicher wurde, konnte vielleicht gar den Befehl geben, wieder nach rückwärts zu fahren.

[166] Die Bootsleute aber, denen Ahmet vor der Einschiffung einige Worte zugeflüstert – in denen der Lockruf Rubel wiederholt vorkam – manövrirten so geschickt, daß sie noch Herren der Fähre blieben.

So landeten denn, eine Stunde nach der Abfahrt aus Jenikaleh, Reisende, Pferde und Wagen an jenem südlichen Pfeil, der russisch Jujnaïa-Kossa genannt wird.

Der Wagen gelangte ohne Schwierigkeit auf festen Grund und Boden und die Fährleute erhielten eine beträchtliche Summe Rubel ausgehändigt.

Früher bildete dieser Pfeil, diese Landzunge, zwei Inseln und eine Halbinsel, er war an zwei Stellen von einem Canal durchbrochen, und es wäre unmöglich gewesen, denselben mittelst Wagen zu passiren. Diese Durchschnitte haben sich inzwischen selbst ausgefüllt; so konnte das Gespann also die vier Werst, welche die Landspitze von dem Städtchen Taman trennen, in einem Zuge zurücklegen.

Eine Stunde später erfolgte der Einzug in genanntes Städtchen und der Seigneur Keraban begnügte sich, gegen seinen Neffen gewendet, zu sagen:

»Zum Glück vertragen sich die Gewässer des Asow'schen und des Schwarzen Meeres gut in der Straße von Jenikaleh.«

Das war Alles, und niemals wieder war von dem Strome Ahmets oder von dem Pont-Euxin des Freundes Van Mitten die Rede.

15. Capitel
Fünfzehntes Capitel.
In welchem der Seigneur Keraban, Ahmet, Van Mitten und deren Diener die Rolle von Salamandern spielen.

Mit seinen unschönen Häusern, den durch die Zeit entfärbten Strohdächern, mit seiner hölzernen Kirche, deren Thurm unaufhörlich von dichten Falkenschwärmen umhüllt ist, bietet das Städtchen Jenikaleh einen wirklich traurigen Anblick.

[167] Der Wagen sollte hier auch nicht anhalten. Van Mitten konnte also weder den ziemlich bedeutenden Militärposten, noch die Festung Phanazoria oder die Ruinen von Tmutarakan besuchen.

Wenn Kertsch nach Bevölkerung und Sitten griechisch, ist Taman dagegen kosakisch – ein Contrast, den der Holländer freilich nur im Vorüberfliegen bemerken konnte.

Immer die kürzesten Wege wählend, folgte der Wagen eine Stunde lang dem südlichen Ufer der Bai von Taman. Das genügte aber, um die Reisenden [168] zu überzeugen, daß das Land hier ein ganz vortreffliches Jagdgebiet darstellt, wie man ein gleiches vielleicht nirgends auf Erden wieder trifft.


Einige Karavanen zogen darüber hin. (S. 162)

In der That bewohnten hier Pelikane, Seeraben und Silbertaucher, große Schaaren von Trappen gar nicht zu zählen, die Sümpfe in wahrhaft unglaublichen Mengen.

»In meinem Leben habe ich noch nicht so vieles Wasserwild gesehen! bemerkte Van Mitten ganz richtig. Hier könnte man ja nach den Sümpfen hinschießen ohne zu zielen – kein Schrotkörnchen ginge dabei verloren!«

[169] Diese Bemerkung des Holländers führte zu keiner weiteren Verhandlung. Der Seigneur Keraban war nicht Jäger und im Grunde dachte Ahmet auch an ganz andere Dinge.


Die Bootsleute manövrirten so geschickt... (S. 167.)

Aussicht zu einem kleinen Streite gab es nur über ein starkes Volk von Enten, welche durch das Gespann aufgejagt wurden, eben als dieses das Ufer zur linken Hand liegen ließ, um schräg nach Südosten abzuweichen.

»Ei, eine hübsche Compagnie! rief Van Mitten. Man könnte fast ein Regiment sagen!

– Ein Regiment? Sie wollen wohl sagen, ein Armeecorps! entgegnete Keraban mit den Achseln zuckend.

– Meiner Treu, Sie haben Recht! antwortete Van Mitten. Das mögen wohl an die hunderttausend Enten sein.

– Hunderttausend Enten! rief Keraban. Wenn Sie wenigstens zweihunderttausend sagten.

– Freilich, gegen zweihunderttausend.

– Ich würde lieber dreihunderttausend sagen, Van Mitten, und bliebe damit immer noch hinter der Wahrheit zurück.

– Ja, freilich, Sie haben Recht, Freund Keraban,« antwortete klüglich der Holländer, der seinen Begleiter nicht reizen wollte, ihm noch eine Million Enten an den Kopf zu werfen.

Im Grunde hatte er jedoch Recht. Hunderttausend Enten! Das ist schon ein gewaltiges Volk, aber die ungeheure Wolke von Geflügel, die vor der Sonne vorüberziehend einen großen Schatten auf die Bai warf, mochte nicht weniger zählen.

Das Wetter war noch sehr schön, die Straße erträglich fahrbar. Die Pferde griffen tüchtig aus, und an den Posthäusern brauchte man nicht lange auf frische Pferde zu warten. Jetzt zog den Reisenden kein Seigneur Saffar mehr auf dem Wege über die Halbinsel voraus.

Es versteht sich von selbst, daß die Fahrt während der kommenden Nacht nicht unterbrochen wurde. In undeutlichen Umrissen stiegen schon die ersten Höhen des Kaukasus am Horizonte empor. Da Alle im Hôtel von Kertsch tüchtig ausgeschlafen hatten, dachte gar Niemand daran, den Wagen vor Ablauf von sechsunddreißig Stunden zu verlassen.

Gegen Abend jedoch, zur Essenszeit, hielten die Reisenden an einer Poststation, welche gleichzeitig als Gasthof diente. Da sie nicht genau wußten, was [170] an der kaukasischen Küste zu haben sein möchte und wie es dort mit der Verpflegung stand, so empfahl es sich, den in Kertsch eingekauften Vorrath möglichst zu sparen.

Das Unterkommen hier erwies sich als mittelmäßig, an Lebensmitteln fehlte es dagegen nicht. Hierüber hatte sich also Niemand zu beklagen.

Charakteristisch erschien nur, daß der Wirth, sei es aus Mißtrauen oder in Folge der Landessitte, Alles, je nachdem es verzehrt wurde, bezahlt haben wollte.

So brachte er zum Beispiel Brod herein.

»Macht zehn Kopeken!« 1 sagte er.

Ahmet mußte ihm zehn Kopeken aushändigen.

Als dann Eier aufgetragen worden waren, rief er:

»Macht vierundzwanzig Kopeken!«

Und Ahmet mußte die verlangten vierundzwanzig Kopeken bezahlen.

So ging's für den Kwas, ebenso für den Braten, für das Salz, ja sogar für das Salz auf dem Tische.

Ahmet konnte nichts dagegen ausrichten.

Nun sollte aber auch für das Tischzeug bis zu den Servietten, bis auf die Sitze besonders und im Voraus bezahlt werden, sogar Messer, Gläser, Löffel, Gabeln und Teller – Alles kostete extra.

Begreiflicher Weise brachte das den Seigneur Keraban bald in die Hitze, so daß er, um dem Feilschen ein Ende zu machen, gleich alle zum Essen nothwendigen Utensilien selbst kaufte, natürlich mit ziemlich lauten Verwünschungen, welche der Gastwirth aber mit einem Gleichmuth hinnahm, der sogar Van Mitten alle Ehre gemacht hätte.

Nach vollendeter Mahlzeit trat Keraban die Gegenstände dem Wirthe wieder ab, der sie mit fünfzig Percent Verlust annahm.

»S'ist doch ein wahres Glück, daß er uns nicht auch noch das Verdauen bezahlen läßt! sagte er. Das ist ein Kerl! Wahrlich, er paßte zum Finanzminister des ottomanischen Reiches. Er würde auf jeden Ruderschlag der Kajiks auf dem Bosporus eine besondere Steuer legen.«

Alles in Allem hatte die Gesellschaft doch ziemlich gut zu Abend gegessen, und das, meinte Bruno, wäre ja die Hauptsache. Darauf brach man auf, da es schon Nacht, eine dunkle mondlose Nacht geworden war.

[171] Es machte einen eigenthümlichen, doch nicht jeden Reizes entbehrenden Eindruck, sich im flotten Trabe in finstrer Nacht dahingezogen zu fühlen, mitten in tiefer Dunkelheit durch ein unbekanntes Land, wo die Dörfer sehr weit von einander liegen und die seltenen Farmen in der Steppe weit zerstreut erscheinen.

Das Schellengeklingel der Pferde, ihr regelmäßiger Hufschlag auf dem Boden, das Knirschen der Räder in sandigem Lande, ihr Stoßen durch die, vom Regen oft noch vergrößerten Geleise, das Klatschen der Peitsche des Kutschers, der Schein der Laternen, der sich bei ebener Straße verliert oder sich an Bäumen, an einzelnen Steinen, an den Wegweisern auf dem Damme der Straße bricht, alles das bildet ein Gemisch verschiedener Geräusche und flüchtiger Bilder, gegen das nur wenige Reisende unempfindlich sind. Man hört sie, diese Geräusche, man sieht sie, diese Bilder, womöglich in einem Halbschlaf, der ihrer Erscheinung noch einen besonderen phantastischen Beigeschmack verleiht.

Der Seigneur Keraban und seine Gefährten konnten sich dieser Empfindung nicht erwehren, deren Intensität gelegentlich ziemlich groß ist. Durch die Vorderscheiben des Wagens betrachteten sie mit halbgeschlossenen Augen die langen Schatten des Gespanns, welche launenhaft und immer in Bewegung vor ihnen auf der spärlich beleuchteten Straße dahinschwebten.

Es mochte gegen elf Uhr Abends sein, als ein eigenthümliches Geräusch sie aus ihren Träumereien riß. Es war eine Art Pfeifen, vergleichbar dem des Selterswassers, wenn die Flasche geöffnet wird, nur zehnmal stärker, man hätte eher sagen können, daß irgend ein Kessel den gespannten Dampf durch das Ablaßrohr entleerte.

Die Pferde wurden angehalten. Der Kutscher hatte Mühe, die Pferde zu bändigen. Ahmet ließ, um zu erfahren was vorliege, sofort die Fenster herab und beugte sich nach außen.

»Was giebt es denn? Warum fahren wir nicht weiter? fragte er. Woher kommt jenes Geräusch?

– Das sind die Schlammvulcane, erklärte der Kutscher.

– Schlammvulcane? rief Keraban. Wer hat je schon von Schlammvulcanen ein Wort gehört? Wahrhaftig, das ist eine nette Straße, auf die Du uns geführt hast, Neffe Ahmet.

– Seigneur Keraban, Sie und ihre Begleiter würden besser thun, hier auszusteigen, sagte der Kutscher.

– Aussteigen! Aussteigen!

[172] – Ja!... Ich ersuche Sie, dem Wagen zu Fuß zu folgen, so lange wir uns in dieser Gegend befinden, denn ich kann nicht für die Pferde stehen, sie könnten hier durchgehen wollen.

– Nun denn, meinte Ahmet, der Mann hat Recht. Steigen wir aus.

– Es handelt sich um fünf bis sechs Werst, fügte der Kutscher hinzu, vielleicht, auch acht, mehr aber nicht.

– Was denkst Du zu thun, lieber Onkel? redete diesen Ahmet an.

– Steigen wir aus, Freund Keraban, drängte ihn Van Mitten.

– Schlammvulcane?.... Wir müssen doch sehen, was daran sein kann!«

Nicht ohne Widerspruch fügte sich endlich auch der Seigneur Keraban. Alle sprangen hinaus und gingen hinter der, nur im Schritt weiterfahrenden Chaise her, deren Laternen den Weg etwas erhellten.

Die Nacht war ungemein dunkel. Wenn der Holländer die von dem Kutscher angemeldeten Naturerscheinungen zu sehen hoffte, so täuschte er sich; das scharfe Pfeifen dagegen, welches zuweilen die Luft mit wahrhaft betäubendem Lärm erfüllte, mußte Jeder hören, wenn er nicht geradezu taub war.

Bei Tage hätte man nämlich folgendes wahrgenommen: Eine, auf weite Strecken von kleinen Eruptionshügeln durchsetzte Steppe, vergleichbar den ungeheuren Ameisenbauten, welche sich in manchen Gegenden des äquatorialen Afrika finden. Aus diesen Hügeln brechen Gas- und Asphaltquellen hervor, welche man speciell »Schlammvulcane« nennt, obwohl eine vulcanische Wirkung bei dem Zustandekommen dieses Phänomens ganz ausgeschlossen ist. Nur ein Gemisch von Schlamm, Gyps, Kalk, Feuerstein nebst Petroleum ist es, was hier unter dem Druck von Kohlenwasserstoff- zuweilen auch von Phosphorwasserstoffgas, mit einer gewissen Heftigkeit emporgetrieben wird. Diese Bodenerhebungen steigen allmählich auf, verlieren ihre Spitze, um das Eruptionsmaterial ausbrechen zu lassen, und verschwinden, wenn der Tertiärboden der Halbinsel sich seines Inhalts entleert hat, in mehr oder minder langer Zeit wieder gänzlich.

Das Wasserstoffgas, welches unter diesen Verhältnissen entsteht, rührt von der langsamen aber unaufhörlichen Zersetzung mit verschiedenen Substanzen vermischten Petroleums her, das Felsgestein, in welchem es vorher eingeschlossen ist, lockert sich endlich unter der Einwirkung des Wassers, des Regen-und Quellwassers, welches unaufhörlich daran nagt.

[173] Dann kommt es zum Ausbruche, der, wie man sehr richtig gesagt hat, sich ebenso vollzieht, wie aus einer mit moussirender Flüssigkeit gefüllten Flasche, welche die Elasticität des Gases vollständig entleert.

Solche Auswurfshügel giebt es auf der Insel Taman in großer Menge. Man trifft dieselben auch auf ganz ähnlichem Boden auf der Halbinsel von Kertsch, aber nicht in der Nähe des Weges, welchen der Wagen eingehalten hatte – woraus es sich erklärt, daß die Reisenden noch nichts davon wahrgenommen hatten.

Inzwischen schritten sie zwischen diesen großen, von Dampfwolken bekrönten Beulen hin, inmitten aufsteigender Strahlen flüssigen Schlammes, dessen Natur ihnen der Kutscher nach bestem Wissen erklärt hatte. Zuweilen kamen sie denselben so nahe, daß sie im Gesicht den Strom des Gases fühlten, das einen charakteristischen Geruch besaß, als käme es aus dem Gasometer einer Anstalt.

»Ah, sagte Van Mitten, als er das Vorhandensein von Leuchtgas erkannte, da befinden wir uns ja auf nicht gefahrlosem Wege. Wenn es nur zu keiner Explosion kommt!

– Sie haben Recht, sagte Ahmet, es wäre wohl rathsam wir löschten...«

Der Gedanke, welchen Ahmet eben aussprach, mußte wohl auch dem Kutscher, welcher ja schon gewohnt war, diese Gegenden zu passiren, gekommen sein, denn plötzlich erloschen die Laternen des Wagens.

»Hütet Euch, zu rauchen, Ihr Anderen! rief Ahmet, sich an Bruno und Nizib wendend.

– Beruhigen Sie sich, Herr Ahmet, antwortete Bruno, wir haben keine Lust in die Luft zu springen.

– Was, rief Keraban, nun wäre es hier wohl gar noch verboten, zu rauchen?

– Nein, lieber Onkel, nein, versicherte Ahmet eifrig,... höchstens auf der Strecke von wenigen Werst...

– Nicht einmal eine Cigarrette? fuhr der Starrkopf fort, der schon mit der Gewandtheit eines alten Rauchers eine tüchtige Fingerspitze vom Tombeki zusammendrehte.

– Nachher, Freund Keraban, nachher... im Interesse Aller! bat ihn Van Mitten. In dieser Steppe zu rauchen, kann ebenso gefährlich werden, wie in einer Pulvermühle.

– Ein nettes Land! murmelte Keraban. Es sollte mich sehr wundern, wenn die hiesigen Tabakhändler reiche Leute würden. O, Herr Neffe, selbst auf [174] die Gefahr der Verzögerung um einige Tage wäre es besser gewesen, um das Schwarze Meer zu fahren.«

Ahmet gab keine Antwort. Er wollte über diesen Gegenstand keine Auseinandersetzung anfangen. Grollend schob sein Onkel die Prise Tombeki wieder in die Tasche, und Alle folgten dem Wagen nach, dessen unförmige Masse in der tiefen Dunkelheit kaum noch zu erkennen war.

Um nicht zu stürzen, mußte man hier auch mit großer Vorsicht hingehen. Die da und dort sehr unebene Straße bot dem Fuße keinen sicheren Stützpunkt. Nach Osten zu stieg sie allmählich an. Zum Glücke wurde die gasgeschwängerte Atmosphäre von keinem Windhauch bewegt. So stiegen die Dünste gerade in die Höhe, statt auf die Reisenden herabzufallen, und diese wurden weit weniger belästigt.

Sie gingen immer in kurzen Schritten wohl eine halbe Stunde weiter. Voran wieherten die Pferde und schlugen häufig aus; der Kutscher hatte Mühe, sie zu halten. Die Radachsen knarrten, wenn die Räder sich in einem ausgefahrenen Geleise bewegten. Der Wagen war jedoch solid gebaut, wie der Leser weiß, und hatte schon in den Sümpfen der unteren Donau hinreichende Proben abgelegt.

Noch eine Viertelstunde, und die Gegend der Eruptionshügel mußte überschritten sein.

Plötzlich leuchtete es zur Linken des Wagens hell auf. Einer der Hügel hatte sich entzündet und es schoß eine intensive Flamme in die Höhe. Die Steppe wurde davon auf die Entfernung einer Werst erleuchtet.

»Es raucht also doch Jemand!« rief Ahmet, der ein wenig vor den Anderen ging, und jetzt besorgt umkehrte.

Niemand rauchte.

Da hörte man von weiter Ferne den Kutscher laut rufen; er klatschte dazu laut mit der Peitsche. Das Gespann war nicht mehr zu regieren. Erschrocken gingen die Pferde durch und der Wagen wurde mit rasender Schnelligkeit mit fortgerissen.


Alle gingen hinter der im Schritt weiterfahrenden Chaise her. (S. 173.)

Alle waren stehen geblieben. Die Steppe bot bei der tiefdunklen Nacht einen entsetzenerregenden Anblick.

Die aus dem ersten Hügel hervorbrechenden Flammen hatten sich schon andern in ihrer Nachbarschaft mitgetheilt. Nun entstand eine Explosion nach der andern und es krachte durcheinander wie die Batterie eines Feuerwerks, dessen funkelnde Garben sich kreuzen.

[175] Jetzt lag die ganze Gegend in glänzender Illumination und man erkannte Hunderte großer feuerspeiender Bodenerhebungen, deren Gase inmitten des Auswurfs von schlammigen Massen brannten, die einen mit dem düsteren Schein des Petroleums, die anderen verschieden gefärbt durch die Gegenwart von Schwefel, Feuerstein und kohlensaurem Eisen.

Gleichzeitig hörte man ein dumpfes Grollen im Mergel des Erdbodens. Würde sich vielleicht gar die Erde aufthun und unter dem Hochdrucke eruptiver Stoffe sich in einen Krater verwandeln?

[176] Hier drohte eine entsetzliche Gefahr. Unwillkürlich hatten Seigneur Keraban und seine Gefährten sich von einander entfernt, um wenigstens nicht Alle zusammen verschlungen zu werden, aber es durfte Niemand stehen bleiben, sondern Alle mußten schnell weiter eilen, da es von Wichtigkeit war, diese gefährliche Zone bald im Rücken zu haben Die jetzt gut erleuchtete Straße schien leicht gangbar und verlief in mannigfachen Windungen durch die in Brand stehende Steppe.


Die Straße verlief durch die in Brand stehende Steppe. (S. 177.)

»Vorwärts! Vorwärts!« drängte Ahmet.

[177] Niemand antwortete, aber Alle gehorchten dem Rufe. Jeder eilte in der Richtung des vorausgefahrenen Wagens diesem nach, obgleich man ihn nicht mehr sehen konnte. Jenseits des Horizonts schien auf der Steppe wieder nächtliches Dunkel zu herrschen. Dort lag offenbar die Grenze der Hügelregion, über welche man hinauskommen mußte.

Plötzlich donnerte eine heftige Explosion auf der Straße selbst auf. Aus einem sehr großen Hügel schoß ein Feuerstrahl empor, unter dem der Erdboden einen Augenblick lebhaft zitterte.

Keraban wurde umgeworfen und man sah, wie er sich durch die Flammen arbeitete. Wenn er sich nicht erheben konnte, war's um ihn geschehen.

Mit einem Schrei eilte Ahmet seinem Onkel zu Hilfe. Er packte ihn, noch ehe das lodernde Gas ihn hatte fassen können. Halb erstickt durch die Ausströmung von Wasserstoffgas, schleppte er ihn mit sich fort.

»O, lieber Onkel!« rief er.

Nachdem sie ihn an einen sicheren Ort gebracht, versuchten Van Mitten, Bruno und Nizib ihm etwas Luft in die Lungen zu treiben.

Endlich ließ sich ein Brum! Brum! von guter Vorbedeutung vernehmen. Die Brust des soliden Keraban begann sich in beschleunigtem Tempo zu senken und zu heben, um das verderbliche Gas auszutreiben.

Dann athmete er tief auf, kam wieder zur Besinnung und zum Leben, und seine ersten Worte lauteten:

»Wagst Du es noch immer zu behaupten, Ahmet, daß es nicht besser gewesen wäre, um das Asow'sche Meer zu fahren?

– Du hast Recht, lieber Onkel!

– Wie immer, mein Herr Neffe, wie immer!«

Kaum hatte Seigneur Keraban seine Phrase beendigt, als tiefe Finsterniß an Stelle des blendenden Glanzes trat, der die Steppe noch erhellt hatte. Die Hügel erloschen alle plötzlich und gleichzeitig. Es sah aus, als hätte der Maschinist eines Theaters den Haupthahn der Gasleitung zugedreht. Alles wurde schwarz und erschien desto schwärzer, als die Augen auf der Netzhaut noch den Eindruck des grellen Lichtes bewahrten, dessen Quell so unerwartet versiegt war.

Was mochte die Ursache sein? Warum hatten die Hügel überhaupt Feuer gefangen, obgleich sich ihrer Ausflußöffnung kein Licht genähert hatte?

Hier die Erklärung: Unter dem Einflusse eines durch die Berührung mit der Luft sich selbst entzündenden Gases lag hier eine ganz gleiche Erscheinung[178] vor, wie die, welche im Jahre 1840 die Umgebung von Taman entzündet hatte. Das betreffende Gas ist der Phosphorwasserstoff, der sich durch Zersetzung von im Mergelboden liegenden Seethierleichen entwickelt. Er entzündet sich, wie gesagt, von selbst und überträgt das Feuer auf das Kohlenwasserstoffgas, welches ganz unserem Leuchtgase entspricht. Solche Erscheinungen freiwilliger Entzündungen können sich, wahrscheinlich unter Mitwirkung klimatischer Bedingungen, jeden Augenblick wiederholen, ohne daß Jemand dieselben vorherzusagen vermag.

Nach dieser Hinsicht bieten die Straßen über die Halbinseln Kertsch und Taman also ernstliche Gefahren, die man schwer abwenden kann, weil sie ungemein plötzlich eintreten können.

Der Seigneur Keraban hatte also nicht ganz Unrecht, wenn er sagte, daß jede beliebige andere Straße derjenigen vorzuziehen gewesen wäre, nach welcher die Ungeduld Ahmets sie verleitet hatte.

Indeß, es waren ja Alle der Gefahr entgangen, der Onkel wie der Neffe etwas angesengt, ihre Begleiter dagegen, ohne die geringste Brandwunde erhalten zu haben.

Drei Werst von hier hielt der Kutscher, der endlich wieder der Pferde Herr geworden war. Sofort nach Erlöschen der Flammen hatte er die Wagenlaternen wieder angesteckt, und geleitet durch den Schein konnten die Reisenden ihr Gefährt ohne Gefahr, wenn auch nicht ohne Anstrengung, auffinden.

Jeder nahm seinen Platz wieder ein. Man fuhr weiter und die Nacht ging nun ruhig dahin. Van Mitten aber bewahrte eine lebhafte Erinnerung an dieses Schauspiel. Er wäre gewiß nicht erstaunter gewesen, wenn der Zufall ihn zu der Zeit nach gewissen Gegenden Neuseelands verschlagen hätte, wo sich die auf den Terrassen von dessen eruptiven Hügeln gelegenen Quellen entflammen.

Am folgenden Tage, dem 6. September, gelangte die Chaise achtzehn Lieues von Taman, nachdem sie die Bai von Kisiltasch umkreist, in das Städtchen Anapa und hielt am Abend gegen acht Uhr in dem Städtchen Rajewskaja, an der Grenze des Kaukasusgebiets an.

[179]
Fußnoten

1 Eine Kopeke ist eine Kupfermünze im ungefähren Werthe von 2 Kreuzer = 31/4 Pfennig.

16. Capitel
Sechsechzehntes Capitel.
Worin es sich um die ausgezeichneten des Tabaks von Persien und von Kleinasien handelt.

Der Kaukasus ist ein Theil Südrußlands, aus hohen Bergen und ungeheuren Plateaus bestehend, dessen orographisches System sich ziemlich genau von Westen nach Osten entwickelt und eine Länge von dreihundertfünfzig Kilometern einnimmt. Im Norden liegt das Gebiet der Don'schen Kosaken, das Gouvernement von Stavropol mit den Steppen der Kalmüken und der nomadischen Nogaïs; südlich liegen die Gouvernements von Tiflis, der Hauptstadt Georgiens, von Koutaïs, von Baku, von Elisabethpol und Frivan. Ferner die Provinzen Mingrelien, Imeretien, Abchasien und Gurial. Im Westen des Kaukasus dehnt sich das Schwarze Meer, im Osten desselben der Kaspisee aus.

Das ganze südlich der Hauptkette des Kaukasus gelegene Gebiet wird auch Transkaukasien genannt und hat keine andern Grenzen, als die der Türkei und Persiens, und zwar beim Berge Ararat, demselben, auf dem nach der Bibel die Arche Noah nach der Sintfluth gelandet sein soll.

Zahlreiche Stämme bewohnen oder durchstreifen dieses Gebiet. Sie gehören dem kaztewelischen, armenischen, tscherkessischen, tschetschinischen und lesghischen Stamme an. Im Norden siedeln Kalmüken, Nogaïs und Tataren mongolischer Abkunft; im Süden Tataren türkischer Race, Kurden und Kosaken.

Wenn man in diesen Dingen anerkannten Gelehrten Glauben schenken darf, so wäre die weiße Race, welche jetzt Europa und Asien bevölkert, aus diesem halb europäischen und halb asiatischen Lande hervorgegangen. Bekanntlich wurde dieselbe deshalb ja auch die kaukasische Race genannt.

Drei große Straßen überschreiten diesen ungeheuren Bergwall, den die Gipfel des Chat-Elbrus von viertausend Meter, des Kazbek von viertausendfünfhundert Meter – der Höhe des Mont-Blanc – und des Elbrus, von fünftausendsechshundert Meter, beherrschen.

Die erste dieser, in strategischer und commercieller Hinsicht doppelt wichtigen Straßen verläuft von Taman nach Poti längs der Küste des Schwarzen[180] Meeres; die zweite von Mosdok nach Tiflis über den Pas des Darial; die dritte von Kizliar nach Baku über Derbend.

Es versteht sich von selbst, daß der Seigneur Keraban in Uebereinstimmung mit seinem Neffen von diesen drei Straßen die erste wählte. Was hätte es genützt, sich in die Irrgänge des Kaukasus zu begeben und große Schwierigkeiten, in deren Folge aber Verzögerungen zu erfahren? Ein Weg führt bis zum Hafen von Poti, und Städtchen und; Dörfer fehlen am Ufer des Schwarzen Meeres nirgends.

Wohl gab es auch die Eisenbahn von Rostow nach Vladi, ferner die von Tiflis nach Poti, welche man nach einander hätte benützen können, da ihre Endpunkte höchstens hundert Werst auseinanderliegen. Ahmet vermied aber vorsorglich, diese Beförderungsweise in Vorschlag zu bringen, auf die sein Onkel bekanntlich nicht gut zu sprechen war, als es sich vorher um die Eisenbahnen von Tauris und die vom Chersones handelte.

Da also Alles übereinstimmte, verließ der Wagen, der unzerstörbare Wagen, an dem nur wenige leichte Reparaturen vorgenommen wurden, am Morgen des 7. September die Stadt Rajewskaja und rollte auf der Straße längs des Ufers hin.

Ahmet war entschlossen, mit größter Schnelligkeit zu reisen. Nur vierundzwanzig Tage blieben ihm noch für die ganze weitere Wegstrecke übrig, wenn er Scutari zur festgesetzten Zeit erreichen wollte. In diesem Punkte stimmte auch sein Onkel mit ihm überein. Van Mitten hätte es jedenfalls vorgezogen, gemächlich zu reisen, dauernde Eindrücke in sich aufzunehmen und nicht gezwungen zu sein, schon nach so kurzer Zeit einzutreffen. Van Mitten wurde aber um seine Meinung nicht gefragt. Er war nur als Tischgenosse zu seinem Freunde Keraban eingeladen, nichts weiter, und man führte ihn eben nach Scutari. Was konnte er mehr verlangen?

Zur Beruhigung seines Gewissens glaubte Bruno jedoch, als sie das russische Kaukasien betraten, ihm einige Vorstellungen machen zu sollen.

Nachdem der Holländer ihn angehört, fragte er, was dabei eigentlich seine Gedanken seien.

»Nun. Mynheer, sagte Bruno, warum sollten wir den Seigneur Keraban und den Seigneur Ahmet nicht ohne Ruh' und Rast längs der Küste des Schwarzen Meeres allein reisen lassen?

– Sie verlassen, Bruno? hatte Van Mitten geantwortet.

[181] – Ja, sie verlassen, Mynheer; sie verlassen, nachdem wir ihnen glücklich Reise gewünscht haben.

– Und hier bleiben?

– Ja, freilich, hier bleiben, um mit Gemüthlichkeit den Kaukasus zu besuchen, da ein Unstern uns einmal hierher geführt hat. Ich denke, wir sind hier nicht weniger als in Constantinopel sicher davor, von Madame Van...

– Sprich diesen Namen nicht aus, Bruno!

– Ich werde ihn verschweigen, Mynheer, um Ihnen gefällig zu sein. Doch ihr allein danken wir, in ein solches Abenteuer gerissen zu sein. Tag und Nacht im Postwagen fahren, auf die Gefahr hin, im Sumpfe stecken zu bleiben oder in brennenden Feldern geröstet zu werden, offen gestanden, das ist zu viel, das ist zu viel! Ich schlage Ihnen keineswegs vor, sich darüber mit Seigneur Keraban in eine Unterhandlung einzulassen – denn Sie müssen ihm doch unterliegen – aber ihn ganz ruhig seines Weges ziehen zu lassen und ihm nur in aller Freundschaft anzukündigen, daß Sie ihn in Constantinopel wieder treffen würden, so bald es Ihnen einmal beliebte, dahin zurückzukehren.

– Das wäre nicht passend, erwiderte Van Mitten.

– Es wäre aber weise, versetzte Bruno.

– Du hast Dich wohl so schwer zu beklagen?

– Nun ich dächte! Und überdies – ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist – fange ich an abzumagern.

– Nicht besonders, Bruno, nicht auffallend!

– Doch, ich fühl' es ja! Wenn ich eine solche Lebensweise weiter führe, bin ich nächstens zum Skelet heruntergekommen.

– Hast Du Dich gewogen, Bruno?

– Ich wollte mich in Constantinopol wiegen lassen, antwortete Bruno, aber da gab es nur eine Briefwage...

Und die reichte nicht hin? meinte Van Mitten lächelnd.

– Nein, Mynheer, versicherte Bruno ernsthaft, doch binnen Kurzem dürfte sie zureichen, Ihren Diener zu wägen. Noch einmal, lassen wir den Seigneur Keraban seines Weges ziehen.«

Gewiß konnte diese Art zu reisen Van Mitten, einen Mann von phlegmatischem Temperamente, der nichts übereilte, keineswegs gefallen. Der Gedanke aber, seinem Freunde Keraban dadurch, daß er ihn verließ, zu nahe zu treten, war ihm so unangenehm, daß er einen solchen Entschluß unmöglich fassen konnte.

[182] »Nein, Bruno, nein, ich bin sein Gast...

– Sein Gast, rief Bruno fast höhnisch, ein Gast, der gezwungen wird, siebenhundert Lieues statt einer zurückzulegen.

– Das ändert an der Hauptsache nichts!

– Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß Sie Unrecht haben, Mynheer, erwiderte Bruno. Ich wiederhole Ihnen zum zehnten Male: wir sind nicht am Ende unserer Leiden, und ich habe ein gewisses Vorgefühl, daß Sie, vielleicht noch mehr als wir Anderen, Ihr gutes Theil empfangen werden.«

Sollten sich Brunos Ahnungen bewahrheiten? Das konnte nur die Zukunft lehren. Jedenfalls hatte er mit dieser an seinen Herrn gerichteten Warnung seiner Pflicht als treuer Diener Genüge gethan, und wenn Van Mitten dennoch diese ebenso thörichte, wie anstrengende Reise fortsetzen wollte, so hatte er ihm einfach zu folgen.

Die Uferstraße verlief fast stets parallel dem Umrisse des Schwarzen Meeres. Wenn sie sich davon entfernte, um ein Terrainhinderniß zu umgehen oder ein landeinwärts liegendes Dorf zu streifen, so war das stets nur um einige Werst. Die letzten Zweige der Kette des Kaukasus, welche hier ebenfalls die Küstenlinie begleiten, verschwinden allmählich an dem wenig besuchten Gestade. Am östlichen Horizont aber erhob sich, gleich einem Kamm mit verschiedenen Zinken, die gen Himmel emporstarren, der gewaltige, mit ewigem Schnee bedeckte Bergrücken.

Um ein Uhr Mittags fuhr man um die kleine Bucht von Jemas, sieben Lieues von Rajewskaja, und erreichte, acht Lieues weiter, das Dorf Gelendschik.

Diese Orte liegen, wie man sieht, alle nicht weit auseinander. In den Küstendistricten des Schwarzen Meeres zählt man fast regelmäßig einen in jener mittleren Entfernung; außer den kleinen Anhäufungen von Häusern aber, welche oft nicht bedeutender sind, als ein Dorf oder ein Weiler, ist das Land fast ganz öde und der Verkehr wird nur durch Küstenfahrer unterhalten.

Der Landstreifen zwischen der Bergkette und dem Meere bietet einen bezaubernden Anblick. Der Boden desselben ist stark bewaldet. Hier trifft man dichte Gruppen von Eichen, Birken, Nußbäumen, Kastanien und Platanen, welche die zahlreichen Ranken des wilden Weinstockes, gleich Lianen des tropischen Urwaldes, umschlingen. Zwitschernd flattern überall Nachtigallen und Grasmücken aus den Azaleenfeldern empor, welche die Natur selbst in diesen fruchtbaren Gefilden hat aufwuchern lassen.


Ahmet rettet Keraban. (S 178.)

Gegen Mittag begegneten die Reisenden einem [183] ganzen Clan nomadischer Kalmüken der Sippe, welche in »Alusses«, jede von mehreren »Khotonnes«, zerfällt. Diese »Khotonnes« sind wirklich wandelnde Dörfer und bestehen aus einer Anzahl »Kibitkas« oder Zelten, welche da oder dort errichtet werden, bald in der Steppe, bald in den grünenden Thälern, bald, je nach dem Belieben der Häuptlinge, auch an einem Wasserlaufe. Bekanntlich sind die Kalmüken mongolischen Ursprungs. Früher waren sie in der Gegend des Kaukasus sehr zahlreich. Die Anforderungen, um nicht zu sagen, die Quälereien der [184] russischen Regierung haben jedoch eine starke Auswanderung nach Asien hervorgerufen.

Die Kalmüken haben ihre eigenthümlichen Sitten und ihre nationale Tracht beibehalten. Van Mitten konnte in sein Notizbuch eintragen, daß die Männer mit sehr weiten Hosen, Maroquinstiefeln mit einer »Khalate«, einer Art weitem Burnus, und einer viereckigen Mütze mit Schafpelzrand bekleidet einhergingen. Die Frauen trugen sich fast ebenso. Nur benützen sie keinen Gürtel und haben eine Mütze, unter der die mit farbigen Bändern umschlungenen Haare hervorsehen. Die [185] Kinder laufen fast ganz nackt umher, hocken im Winter, um sich zu erwärmen, in der Kibitka dicht beisammen und schlafen unter warmer Asche.

Klein von Gestalt, aber kräftig, vortreffliche Reiter, lebhaft, gewandt und muthig, zufrieden mit ein wenig Mehl, welches mit ein paar Stücken Pferdefleisch abgekocht wird, unverbesserliche Trinker, abgefeimte Diebe, unwissend, daß sie nicht einmal lesen können, abergläubisch über alle Maßen, leidenschaftliche Spieler – das sind die Nomaden, welche unaufhörlich die Kette des Kaukasus durchziehen.


Der Boden ist stark bewaldet. (S. 183.)

Der Reisewagen passirte direct einen ihrer Khotonnes, ohne besondere Aufmerksamkeit zu erregen. Die Leute rührten sich kaum von der Stelle, um sich nach den Reisenden umzusehen, von denen wenigstens Einer sie mit großem Interesse betrachtete. Vielleicht verfolgten sie aber doch mit neidischen Blicken das Fuhrwerk, welches im Galopp die Straße dahinflog. Zum Glück für den Seigneur Keraban verhielten sie sich aber ruhig, und die Pferde konnten die nächste Poststation erreichen, ohne die Krippe ihres Stalles mit der Weide eines Kalmükenlagers vertauscht zu haben.

Nachdem der Wagen die Bai von Zemes hinter sich hatte, fand er eine enge, zwischen die letzten Ausläufer der Bergkette und die Küste eingezwängte Straße; weiterhin verbreiterte sich dieselbe aber bedeutend und wurde auch bequemer fahrbar.

Um acht Uhr Abends wurde das Städtchen Gelendschik erreicht. Dort wechselte man die Pferde, aß ein wenig, fuhr um neun Uhr weiter, die ganze Nacht hindurch bei manchmal wolkigem, manchmal gestirntem Himmel, während die Brandung jetzt bei annähernder Tag- und Nachtgleiche heftig gegen das Ufer schlug; erreichte am nächsten Morgen gegen sieben Uhr den Flecken Beregowaja, zu Mittag Dschuba, um sechs Uhr Abends das Städtchen Tenginsk, um Mitternacht Nebugsk, am folgenden Morgen um acht Uhr Golowinsk, um elf Uhr den Flecken Lachowsk und zwei Stunden später das Städtchen Ducha.

Ahmet hatte keine Ursache, sich zu beklagen. Die Reise verlief ohne Unfall, was ihm ja zu Statten kam, auch ohne jedes bemerkenswerthe Ereigniß, was Van Mitten doch verdroß. Seine Notizblätter füllten sich ja nur mit langweiligen geographischen Namen; keine interessante Bemerkung, keine nennenswerthe Erinnerung hatte er zu verzeichnen.

In Ducha sollte der Wagen zwei Stunden lang halten, während der Postmeister seine Pferde holte, welche weit draußen auf der Weide waren.

»Nun, so wollen wir so gut und so lange essen, wie die Umstände es gestatten, sagte Keraban.

[186] – Ja, wir wollen essen, stimmte Van Mitten zu.

– Und wo möglich recht gut essen! murmelte Bruno, indem er sein eingefallenes Bäuchlein betrachtete.

– Vielleicht bietet uns dieser Aufenthalt, fuhr der Holländer fort, eine unvorhergesehene Abwechslung, an der es unserer Fahrt gar sehr mangelt. Ich hoffe, mein junger Freund Ahmet wird gestatten, daß wir einmal Athem schöpfen?...

– Bis zum Eintreffen der Pferde, erwiderte Ahmet. Wir haben schon den siebenten dieses Monats!...

– Das ist eine Antwort, wie sie mir gefällt, sagte Keraban. Wir wollen also sehen, was die Küche bietet.«

Der Gasthof von Ducha bietet nur eine sehr mittelmäßige Unterkunft. Er erhebt sich am Ufer der Mdsymta, welche rauschend von den benachbarten Abhängen herabstürzt.

Der Ort ähnelt sehr jenen Kosakendörfern, welche den Namen »Stamisti« führen, und zwar durch seine Palissaden und Thore, über die ein viereckiger Thurm emporragt, auf dem sich Tag und Nacht eine Wache befindet. Die Häuser mit hohen Strohdächern, mit lehmübertünchten Mauern, welche meist unter dem Schutze hoher Bäume liegen, beherbergen eine, wenn nicht begüterte, so doch auch nicht nothleidende Bevölkerung.

Durch die unaufhörliche Berührung mit den Landleuten des orientalischen Rußland haben die Kosaken ihre Originalität übrigens fast gänzlich eingebüßt.

Muthig, gewandt, aufmerksam, ausgezeichnete Wächter der ihrer Sorgfalt anvertrauten Militärlinie sind sie jedoch geblieben und gelten mit Recht für die besten Reiter der Welt, sowohl im ernstlichen Kampfe gegen die Bergbewohner, welche sich in einem schon chronisch gewordenen Zustand der Rebellion befinden, wie bei gelegentlichen Tournieren, wo sie sich als ausnehmend sattelfest erweisen.

Sie gehören einer recht schönen Race an und man erkennt sie leicht an einer gewissen Eleganz ihrer Bewegung und Gestalt, weniger am Costüm, welches mit dem der kaukasischen Bergbewohner zusammenfällt. Immerhin ist es leicht, unter der großen Pelzmütze das energische Gesicht zu erkennen, welches ein dichter Bart bis hoch hinauf verdeckt.

Als der Seigneur Keraban, Ahmet und Van Mitten an der Gasthofstafel Platz genommen hatten, trug man ihnen eine Mahlzeit auf, deren Bestandtheile [187] erst aus dem benachbarten »Dukhan«, das ist eine Art Laden, entnommen waren, in dem Delicatessen-, Fleisch- und Specereihandel meist von einer und derselben Person betrieben wird. Da gab es gebratenen Truthahn, einen jener Maismehlkuchen mit Stückchen von Büffelkäse, welche man »Gatschapuri« nennt, das unvermeidliche Nationalgericht, den »Blini«, eine Art Gebäck mit saurer Milch; ferner als Getränk ein paar Flaschen dickes Bier und einige Caraffen mit »Vadka«, einem sehr starken Branntwein, von dem die Russen unglaubliche Mengen vertilgen können.

Ehrlich gestanden, konnte man von dem Gasthofe eines kleinen, an den äußersten Grenzen des Schwarzen Meeres verlorenen Städtchens wirklich nicht mehr verlangen, und bei dem guten Appetite, den sie dazu mitbrachten, thaten die Tischgäste der Mahlzeit, welche ihr gewöhnliches Reisemenu recht angenehm unterbrach, alle Ehre an.

Nach dem Essen verließ Ahmet die Tafel, während Bruno und Nizib sich reichlich an dem Truthahn ein Gütchen thaten und das landesübliche Gebäck verzehrten. Seiner Gewohnheit nach ging Ahmet selbst zur Poststation, um das Herbeiführen der Pferde zu beschleunigen, gern bereit, die für Werst und Pferd zu zahlenden fünf Kopeken zu verdoppeln, welche die Posthalter zu verlangen haben, ohne des Trinkgeldes zu erwähnen.

Inzwischen begaben sich der Seigneur Keraban und Van Mitten nach einem kleinen grünbewachsenen Ausbau des Hauses, dessen übermooste Pfeiler der Fluß murmelnd benetzte.

Jetzt oder nie bot sich die Gelegenheit zum Genusse jenes süßen far niente, zu dem wundervollen Träumen, dem die Orientalen den Namen »Kief« gegeben haben.

Es verstand sich außerdem von selbst, daß die Nargilehs in Benützung genommen wurden, als Vervollständigung einer Mahlzeit, welche werth war, mit Ruhe verdaut zu werden. Die beiden Geräthschaften wurden denn aus dem Wagen herbeigeholt und den beiden Herren gebracht, welche sich mit Vergnügen dem Genusse jenes Zeitvertreibs hingaben, dem sie ja Beide ihr Vermögen verdankten.

Der Kopf des Nargilehs wurde mit Tabak gefüllt; natürlich ließ der Seigneur Keraban den seinen mit Tombeki aus Persien stopfen, wie er es stets zu thun pflegte, während Van Mitten sich an seine Sorte, den Latakie von Kleinasien, hielt.

[188] Jetzt wurden die Köpfe in Brand gesteckt; die Raucher streckten sich, einer neben dem anderen, auf einer Bank aus; der lange, mit Goldfäden umschlungene Schlauch mit dem Mundstück aus baltischem Bernstein fand zwischen den Lippen der beiden Freunde seinen Platz.

Bald war die Luft mit dem wohlriechenden Rauche gefüllt, der nach dem Munde erst kam, nachdem er durch das klare Wasser im Nargileh köstlich erfrischt war.

Einige Zeit blieben der Seigneur Keraban und Van Mitten, ganz versunken im Genusse des Nargilehs, das dem Tschibuk, der Cigarre und der Cigarette weit vorzuziehen ist, mit halbgeschlossenen Augen schweigend liegen und stützten, sich gleichsam auf die Rauchwolken, welche ein lustiges Eiderdunenkissen zu bilden schienen.

»O, das ist doch ein wahrer Hochgenuß, sagte endlich Seigneur Keraban, und ich kenne wahrlich nichts Schöneres, als so ein Stündchen vertraute Plauderei mit seinem Nargileh.

– Eine Plauderei ohne Streit, erwiderte Van Mitten, das macht doch die Sache noch angenehmer.

– Die türkische Regierung, fuhr Keraban fort, war wie immer sehr falsch berathen gewesen, als sie den Tabak mit einem Zoll belegte, der seinen Preis verdoppelte. In Folge dieser hirnverbrannten Idee wird das Nargileh immer seltener und dürfte dereinst ganz verschwinden.

– Das wäre wirklich zu bedauern, Freund Keraban.

– Was mich betrifft, Freund Van Mitten, so habe ich eine solche Vorliebe für den Tabak, daß ich lieber sterben als darauf verzichten würde. Ja, sterben! Und hätte ich zur Zeit Amurat's IV., jenes Despoten, gelebt, der den Gebrauch des Tabaks mit der Todesstrafe belegen wollte, so würde man eher den Kopf haben von meinen Schultern, als die Pfeife von meinen Lippen fallen sehen!

– Ich bin ganz Ihrer Meinung, antwortete der Holländer, indem er schnell hintereinander einige tüchtige Züge that.

– Nicht so schnell, Van Mitten, wenn ich bitten darf, ziehen Sie nicht so schnell! Auf diese Weise können Sie das seine Aroma des Rauches nicht schmecken und machen auf mich den Eindruck eines Gefräßigen, der die Bissen verschluckt, ohne sie zu kauen.

– Sie haben Recht, wie immer, Freund Keraban, erwiderte Van Mitten, der um nichts in der Welt eine so erquickende Ruhepause durch das Wortgeplänkel einer Discussion zu stören gewünscht hätte.

[189] – Immer Recht, Freund Van Mitten!

– Was mich jedoch von jeher in Erstaunen gesetzt hat, Freund Keraban, ist, daß wir als Tabakshändler selbst so großes Vergnügen daran finden, die eigene Waare zu consumiren.

– Und wie kommen Sie dazu? fragte Keraban, der sich jeden Augenblick »klar zum Gefecht« hielt.

– Nun, weil es mir gegenüber der allgemein bestätigten Erfahrung, daß der Pastetenbäcker nichts von Pasteten, der Conditor nichts von Zuckernaschwerk wissen will, eigentlich vorkommt, als müßte der Tabakshändler gerade einen gewissen Abscheu...

– Nur eine Bemerkung, Van Mitten, unterbrach ihn Keraban, erlauben Sie mir einen Einwurf.

– Und der wäre?...

– Haben Sie je von einem Weinhändler gehört, der das Getränk, welches er verkauft, verachtet hätte?

– Nein, das freilich nicht.

– Nun sehen Sie, Weinhändler oder Tabakshändler, das kommt ganz auf Eines hinaus.

– Ich füge mich, erwiderte der Holländer. Die von Ihnen beigebrachte Erklärung scheint mir vortrefflich.

– Gewiß, versicherte Keraban, doch da Sie gewillt scheinen, über diese Frage Händel anzufangen...

– Es liegt mir gänzlich fern, Händel zu suchen, Freund Keraban! beeilte sich Van Mitten zu erklären.

– Doch!

– Nein, ich versichere Ihnen...

– Da Sie eine etwas verletzende Bemerkung über meine Vorliebe für den Tabak laut werden ließen...

– Aber, so glauben Sie doch....

– Ja, ja... antwortete Keraban, sich allmählich erwärmend, ich verstehe schon diese versteckten Anspielungen...

– Auf meiner Seite kann von keinen Anspielungen die Rede sein, entgegnete Van Mitten, der – ohne zu wissen wodurch – vielleicht unter dem Einflusse des reichlich verzehrten Mahles, über diese fortgesetzten Behauptungen etwas die Geduld verlor.

[190] – Und doch! beharrte Keraban. Jetzt ist nun die Reihe an mir, Ihnen eine Bemerkung zu machen.

– Thun Sie sich keinen Zwang an!

– Ich begreif' es nicht, nein, ich begreif' es wirklich nicht, wie Sie sich so vergessen können, Latakie aus einem Nargileh zu rauchen! Das ist des Geschmacks eines Rauchers, der sich selbst achtet, unwürdig.

– Ich glaube doch das Recht zu haben, es zu thun, erwiderte Van Mitten, da ich einmal den Tabak Kleinasiens vorziehe...

– Kleinasien, wahrhaftig, Kleinasien fehlt viel, um Persien die Wage zu halten, wenn es sich um Rauchtabak handelt.

– Das kommt darauf an!

– Der Tombeki, selbst wenn er einer doppelten Auswässerung unterworfen wurde, behält immer noch eine eigenthümliche Wirkung, die dem des Latakie weit überlegen ist.

– Das bestreite ich nicht! rief der Holländer, er äußert in Folge seines Gehaltes an Belladonna sogar sehr energische Wirkungen.

– In geeigneter Quantität kann Belladonna die Güte eines Tabaks nur erhöhen.

– Gewiß; für Leute, die sich langsam vergiften wollen, bemerkte Van Mitten.

– Das ist kein Gift!

– Es ist doch ein solches, und noch dazu ein sehr wirksames.

– Bin ich denn daran gestorben? rief Keraban, der im Interesse der von ihm vertretenen Sache gleich einen tüchtigen Zug verschluckte.

– Nein, Sie werden aber daran noch sterben!

– Meinetwegen! Doch selbst in der Todesstunde, wiederholte Keraban, dessen Stimme eine beunruhigende Schärfe annahm, werd' ich noch bei der Behauptung verbleiben, daß der Tombeki jenem ausgedörrten Grase, welches sich Latakie nennt, weit vorzuziehen ist!

– Es ist unmöglich, einen solchen Irrthum, ohne Einspruch zu erheben, hingehen zu lassen! erwiderte Van Mitten, der auch seinerseits etwas in die Wolle kam.

– Er wird doch bestehen bleiben!

– Und Sie wagen das Gegentheil einem Manne gegenüber zu behaupten, der dreißig Jahre lang Tabak jeder Art verkauft hat?

– Zwanzig Jahre!


Diese »Kholonnes« sind wirklich wandelnde Dörfer. (S. 184.)

– Dreißig Jahre!«

Bei dieser neuen Phase ihres Wortwechsels angelangt, hatten sich beide Gegner ganz gleichzeitig auf [191] gerichtet. Bei dem lebhaften Gesticuliren aber glitten Beiden gleichzeitig die Bernsteinmundstücke aus den Lippen und die Schläuche fielen zu Boden. Sofort bückten sie sich danach und stritten immer weiter, wobei nun die unliebenswürdigsten Anzüglichkeiten zutage kamen.


»Sie haben recht, wie immer, Freund Keraban.« (S. 189.)

»Wahrlich, Van Mitten, sagte Keraban, Sie sind doch der schlimmste Erzstarrköpf, den ich kenne!

[192] – Nach Ihnen, Keraban, nach Ihnen!

– Ich?

– Ja, Sie! rief der Holländer, der sich nicht mehr bemeistern konnte. Sehen Sie doch den Latakierauch, wie er von meinen Lippen quillt.

– Und Sie, erwiderte Keraban, den Tombekirauch, den ich als wohlriechende Wolken ausblase.«

Beide saugten an den Pfeifenmundstücken, daß ihnen fast der Athem ausging, und bliesen einander die Rauchwolken in's Gesicht.

[193] »Riechen Sie nur ordentlich den Duft meines Tabaks! sagte der Eine.

– Und riechen Sie nur den meinigen! antwortete der Andere.

– Ich werde Sie schon noch zwingen einzugestehen, daß Sie bezüglich des Tabaks nichts verstehen.

– Und ich Sie, versetzte Keraban, daß Sie noch weit unter dem unerfahrensten Raucher stehen!«

Einmal erzürnt, sprachen Beide so laut, daß man sie schon von draußen hörte. Schon waren Sie unzweifelhaft auf dem Punkte angelangt, wo zwischen ihnen bald gröbliche Injurien hin und her fliegen mußten, wie Kanonenkugeln auf dem Schlachtfelde...

Gerade da erschien Ahmet wieder. Von dem Lärm herbeigelockt, folgten Nizib und Bruno ihm nach. Alle Drei blieben auf der Schwelle des Vorbaues stehen.

»Da seh' Einer, rief Ahmet laut auflachend, da raucht mein Onkel Keraban das Nargileh des Herrn Van Mitten, und Herr Van Mitten raucht aus dem Nargileh meines Onkels Keraban!«

Nizib und Bruno stimmten schüchtern in das Gelächter ein.

Und wirklich, als die Kampfhähne die Mundstücke aufhoben, hatten sie die Schläuche vertauscht und priesen, ohne das gewahr zu werden, die überlegenen vorzüglichen Eigenschaften ihrer Lieblingstabakssorte, während doch Keraban Latakie und Van Mitten Tombeki schmauchte.

Am Ende mußten sie selbst mitlachen und reichten sich gutmüthig die Hand, wie zwei Freunde, deren gegenseitige Zuneigung keine Erörterung – selbst wenn sie einen so wichtigen Gegenstand betraf – zu erschüttern vermochte.

»Die Pferde sind angespannt, meldete dann Ahmet, wir können jeden Augenblick weiter reisen.

– So reisen wir ab!« antwortete Keraban.

Van Mitten und er übergaben Nizib und Bruno die beiden Rauch-Utensilien, welche beinahe zu Kriegsgeräthen geworden wären, und bald hatten Alle wieder ihre Plätze im Reisewagen eingenommen.

Beim Einsteigen konnte Keraban aber doch nicht umhin, seinem Freunde zuzuflüstern:

»Da Sie ihn nun gekostet haben, Van Mitten, werden Sie wohl zugeben, daß der Tombeki dem Latakie weit vorzuziehen ist.

– Ich will's lieber zugeben, antwortete der Holländer, der es schon bereute, seinem Freunde einmal Widerpart gehalten zu haben.

[194] – Ich danke, Freund Van Mitten, erwiderte Keraban, gerührt durch solche Nachgiebigkeit, das ist ein Zugeständniß, dessen ich mich stets erinnern werde.«

Beide besiegelten durch einen kräftigen Händedruck den neuen Freundschaftsbund, der nie zerrissen werden sollte.

Inzwischen rollte die Chaise, von den Pferden im Galopp dahingezogen, schnell auf der Straße längs der Küste weiter.

Um acht Uhr Abends wurde die Grenze von Abchasien erreicht, und die Reisenden machten Halt an der ersten Poststation, wo sie bis zum folgenden Morgen ruhig schliefen.

17. Capitel
Siebzehntes Capitel.
In dem es zu einem sehr ernsthaften Abenteuer kommt, welches den ersten Theil dieser Erzählung abschließt.

Abchasien bildet inmitten des kaukasischen Gebietes eine eigenartige Provinz, in der noch keine Civilverwaltung eingerichtet und die also nur den Militärbehörden unterworfen ist. Im Süden derselben verläuft der Fluß Ingur, dessen Gewässer die Grenze Mingreliens, eines der Hauptkreise des Gouvernements von Kutaïs, bildet.

Es ist eine reiche, vielleicht eine der reichsten Provinzen des Kaukasus, nur verhindert das hier herrschende Regierungssystem eine vernünftige Verwerthung ihrer Schätze. Kaum können die Bewohner heutzutage rechtliche Eigenthümer von Grund und Boden werden, der bisher allein den regierenden Fürsten, Abkömmlingen einer persischen Dynastie, zugehörte. Die eigentlichen Eingeborenen sind noch heute Halbwilde, haben keinen Begriff von der Zeit, besitzen keine Schriftsprache und reden eine Art Kauderwälsch, das nicht einmal ihre Nachbarn verstehen – einen so armseligen Dialekt, daß ihm die Worte für Bezeichnung der elementarsten Begriffe abgehen.

[195] Van Mitten bemerkte auch bei der Durchreise sehr wohl den einschneidenden Unterschied zwischen dieser Landschaft und den in der Civilisation schon etwas fortgeschritteneren Gebieten, durch die er vorher gekommen war.

Zur Linken von der Straße dehnen sich meist Maispflanzungen, seltener Kornfelder aus. Scharf gehütete Ziegen und Schafe, frei auf den Weiden sich herumtummelnde Büffel, Pferde und Kühe, schöne Bäume, wie Silberpappeln, Feigen- und Nußbäume, Eichen, Weiden und Platanen, ferner hohe Gebüsche von Buchsbaum und Stechpalmen – das sind die Einzeltöne des Bildes, welches Abchasien bietet. Eine unerschrockene Reisende, Frau Carla Serena, sagt ganz richtig: »Vergleicht man die drei mit ihren Grenzen aneinanderstoßenden Provinzen Mingrelien, Samurzakan und Abchasien unter sich, so kommt man zu der Ueberzeugung, daß deren respective Civilisation auf derselben Stufe steht, wie die Cultur der sie einschließenden Gebirge. Mingrelien, das in socialer Hinsicht an der Spitze marschirt, hat bewaldete und nutzbringend bewirthschaftete Höhen; Samurzakan, welches schon zurücksteht, zeigt noch halbwilde Bodenerhebungen; Abchasien endlich, das fast noch im Urzustande beharrt, besitzt nur ganz uncultivirte Berge, welche die Hand des Menschen noch nicht berührt hat. Von allen kaukasischen Bezirken wird es auch Abchasien sein, das am spätesten in den Genuß der Wohlthat persönlicher Freiheit eintritt.«

Den ersten Halt nach Ueberschreitung der Grenze machten die Reisenden in Gagri, einem hübschen Dorfe mit schöner Kirche der heiligen Hypata, deren Sacristei augenblicklich als Speisegewölbe diente, einem Fort, welches auch das Militärkrankenhaus enthält, einem zu dieser Jahreszeit trockenen Bergstrom, der Gagrinska, und mit dem Meere auf der einen und furchtbaren Landstrichen auf der anderen Seite, wo viele Akazienbäume wachsen und da und dort Gebüsche von süßduftenden Rosen blühen. In der Ferne, aber mindestens fünfzig Werft von hier, ragt der Grenzgebirgskamm zwischen Abchasien und Cirkassien empor, dessen im blutigen Feldzuge von 1858 von den Russen hart mitgenommene Bewohner den schönen Küstenstrich fast gänzlich verlassen haben.

Um neun Uhr Abends angelangt, hielt der Wagen hier die Nacht über still. Der Seigneur Keraban und seine Begleiter ruhten in einem der Dukhans des Ortes aus und reisten am folgenden Morgen weiter.

Zu Mittag lieferte ihnen Pizunda, sechs Lieues von hier, frische Pferde. Van Mitten gewann dadurch eine halbe Stunde Zeit, um die Kirche zu bewundern, in der einst die alten Patriarchen des westlichen Kaukasus residirten.

[196] Es verdient übrigens dieses Bauwerk mit seiner aus Backsteinen aufgeführten, früher mit Kupfer bedeckten Kuppel, mit der Anordnung der, ein griechisches Kreuz nachahmenden Schiffe, den schönen Wandmalereien und seiner, von Jahrhunderte alten Ulmen beschatteten Façade unter die hervorragendsten Denkmäler der byzantinischen Baukunst des sechsten Jahrhunderts gezählt zu werden.

Am nämlichen Tage fuhren die Reisenden noch durch die Ortschaften Guduati und Gunista, und gegen Mitternacht gönnten sie sich, nach schneller Zurücklegung einer Wegstrecke von achtzehn Lieues, einige Stunden Ruhe in dem Städtchen Sukhum-Kale, das an einer langen, offenen, nach Süden zu bis zum Cap Kodor reichenden Bai erbaut ist.

Sukhum-Kale bildet den Haupthafen Abchasiens. Der letzte Krieg im Kaukasus zerstörte freilich theilweise diese Stadt, in der sich eine, der Mehrzahl nach aus Griechen, Armeniern, Türken und Russen mit wenigeren Abchasiern gemischte Bevölkerung zusammendrängte. Jetzt überwiegen hier kriegerische Elemente, und die Dampfer von Odessa oder Poti bringen immer neue Insassen für die, neben den alten Festungswerken errichteten Kasernen. Jene alten Werke wurden übrigens im sechzehnten Jahrhunderte unter der Regierung Amurah's zu einer Zeit erbaut, wo die Türkei noch die Vormacht dieser Ländergebiete war.

Ein Imbiß von echt georgischer Art, bestehend aus einer etwas scharfen Suppe von Hühnerbouillon, einem Ragout von farcirtem Fleisch und saurer, mit Safran gewürzter Milch – ein Essen, das bei zwei Türken und einem Holländer nur sehr mittelmäßige Anerkennung fand – ging noch der, um neun Uhr des Morgens erfolgten Abreise vorher.

Nachdem sie den hübschen Flecken Kelasuri, der in dem schattigen Thale Kelasuri liegt, hinter sich gelassen, kamen die Reisenden, siebenundzwanzig Werst von Sukhum-Kale, über Kodor. Der Wagen rollte alsdann durch ungeheure Gehölze, die man mit Recht wirklichen Urwäldern vergleichen konnte, mit unentwirrbaren Lianen und dichtem Buschwerk, das nur mit der Axt oder mit Feuer zu überwinden war und dem es weder an Wölfen und Schlangen, noch an Bären und Schakals fehlte – ein Stück an der Küste des Schwarzen Meeres verlorenes tropisches Amerika. Schon dringt aber die Axt der Holzfäller durch die Jahrhunderte lang völlig unberührten Wälder, und die schönen Bäume derselben werden von den Bedürfnissen der Industrie, als Nutzholz für den Häuser- und Schiffsbau, in nicht ferner Zeit verschlungen werden.

[197] Otchemchiri, der Hauptort des Bezirks, der Kodor und Samurzakan umfaßt, ein nicht unwichtiger Seeplatz an zwei Flüssen; ferner Ilori, dessen byzantinischer Tempel wohl einen Besuch verdiente, unter den gegebenen Verhältnissen aber nicht besichtigt werden konnte, und endlich Gajida und Anaklisa wurden an diesem Tage passirt, an dem man die größte Anzahl Stunden gefahren war, aber bei andauerndem Galopp des Gespanns auch die größte Strecke zurückgelegt hatte. Zu Anfang der Nacht, gegen elf Uhr, erreichten die Reisenden die andere Grenze Abchasiens, setzten durch eine Furt über den Fluß Ingur und hielten, fünfundzwanzig Werst weiter, in Redut-Kale, dem Hauptorte Mingreliens, einer der Provinzen des Gouvernements Kutaïs.

Die wenigen, noch übrigen Stunden der Nacht wurden dem Schlafe gewidmet. Trotz seiner Müdigkeit erhob sich Van Mitten doch sehr frühzeitig, um vor der Abfahrt noch einen nützlichen Ausflug zu machen. Er fand indeß Ahmet schon ebenso früh auf den Füßen, während der Seigneur Keraban in einem ziemlich guten Zimmer des Gasthauses noch weiterschlummerte.

»Ah, schon aus dem Bette? sagte Van Mitten, als er Ahmet, der eben ausgehen wollte, wahrnahm. Hat mein junger Freund etwa die Absicht, mich bei einem Morgenspaziergange zu begleiten?

– Hab' ich denn Zeit dazu? erwiderte Ahmet. Muß ich nicht für Wiederersatz des Reiseproviants Sorge tragen? Sehr bald überschreiten wir nun die russisch-türkische Grenze, und es möchte nicht leicht sein, sich in den Wüsteneien von Lasistan und Anatolien neue Lebensmittel zu verschaffen. Sie sehen also ein, daß ich keine Minute zu verlieren habe.

– Doch würden Sie, fragte der Holländer weiter, nicht nachher über einige Stunden verfügen können?

– Wenn ich fertig bin, Herr Van Mitten, muß ich nach dem Wagen sehen und mich mit einem Stellmacher in's Einvernehmen setzen, damit dieser einige Schraubenmuttern anzieht, die Achsen schmiert, nachsieht, ob Zaum und Zügel nicht zu abgenützt sind, und die Hemmschuhkette auswechselt. Jenseits der Grenze müssen wir sicher sein, keiner Reparaturen zu bedürfen. Ich hoffe den Wagen in ganz tadellosen Zustand gesetzt zu sehen, und rechne darauf, daß er uns dann bis zum Ende dieser wunderlichen Reise Dienste thut.

– Schön! Aber wenn das geschehen ist?... wiederholte Van Mitten.

– Dann hab' ich mich nach Wechselpferden umzuthun und werde mich nach der Post begeben, um das Nöthige zu ordnen.

[198] – Sehr schön, aber dann?... sagte noch einmal Van Mitten, der von seiner Idee nicht abging.

– Dann wird es Zeit sein, abzufahren, erwiderte Ahmet, und wir werden abfahren. Ich verlasse Sie also...

– Noch einen Augenblick, mein junger Freund, fuhr der Holländer fort, und gestatten Sie mir eine Frage.

– Sprechen Sie; aber schnell, Herr Van Mitten.

– Sie wissen ohne Zweifel, daß dieses Land die merkwürdige Provinz Mingrelien ist?

– Ja, so beiläufig.

– Es ist das Gebiet, welches der poetische Phasis bewässert, dessen Goldflittern sich einst an die Stufen des Marmorpalastes an seinen Ufern hefteten.

– Richtig.

– Hier liegt vor uns das sagenhafte Kolchis, wo Jason und seine Argonauten, mit Unterstützung der Zauberin Medea, um das kostbare Vließ kämpften, welches ein furchtbarer Drache bewachte, ohne von den schrecklichen Stieren zu reden, die Feuer und Flammen spieen.

– Ich widerstreite dem nicht.

– Hier endlich, in jenen am Horizont aufstrebenden Bergen, an dem Felsen von Khoneli, der die neuzeitliche Stadt Kutaïs beherrscht, war es, wo Prometheus, der Sohn des Japethos und der Klymene, nachdem er kühn aus dem Himmel das Feuer geraubt, auf Befehl des Jupiter angeschmiedet wurde und ihm ein Geier alltäglich die Leber, den Sitz der bösen Begierden, abnagte.

– Alles völlig wahr, Herr Van Mitten; aber ich wiederhole Ihnen, ich hab' es eilig. Was bezwecken Sie mit diesen Reminiscenzen?

– Sehr einfach, mein junger Freund, antwortete Van Mitten, den liebenswürdigsten Ausdruck annehmend, ich wollte damit zeigen, daß ein Aufenthalt von wenigen Tagen in diesem Theile Mingreliens und bis nach Kutaïs hin uns recht nutzbringend sein würde, und daß...


Der Wagen rollte alsdann durch ungeheure Gehölze. (S. 197.)
– Sie schlagen damit also vor, unterbrach ihn Ahmet, einige Zeit in Redut-Kale zu verweilen?
– O, vier bis fünf Tage würden hinreichen....
– Würden Sie das auch meinem Onkel Keraban vorschlagen? fragte Ahmet nicht ohne einige Bosheit.

»Machen Sie Platz!« rief Keraban den Reitern zu. (S. 205.)

– Ich?... Niemals, mein junger Freund, erklärte der Holländer; das gäbe Veranlassung zu einem Wortwechsel, und seit dem beklagenswerthen Auftritte mit [199] den Nargilehs wird es mir, das versichere ich Ihnen, nie wieder in den Sinn kommen, mich mit diesem vortrefflichen Manne in irgend welche Erörterung einzulassen.

– Woran Sie sehr wohl thun dürften.

– Augenblicklich wende ich mich hiermit aber nicht an den schrecklichen Keraban, sondern an meinen jungen Freund Ahmet.

[200] – Darin irren Sie doch, lieber Herr Van Mitten, antwortete Ahmet diesen an der Hand fassend. Es ist nicht Ihr junger Freund, mit dem Sie eben reden.

– Und wer denn sonst?

– Nun, der Verlobte Amasias, Herr Van Mitten, und Sie wissen doch, daß dieser keine Stunde zu verlieren hat.«

Damit empfahl sich Ahmet, um die Vorbereitungen zur Weiterreise zu treffen.

[201] Ganz enttäuscht, sah Van Mitten sich darauf beschränkt, in Gesellschaft des treuen, aber ziemlich niedergeschlagenen Bruno eine wenig belehrende, kurze Promenade durch das Städtchen Redut-Kale zu unternehmen.

Zu Mittag waren alle Reisenden zum Aufbruch bereit. Der sorgfältig untersuchte, an einzelnen Stellen ausgebesserte Wagen versprach unter wünschenswerthesten Verhältnissen noch für eine lange Wegstrecke auszuhalten. Bei der Fülle von Lebensmitteln in den Kutschkästen hatte man in dieser Hinsicht nichts zu fürchten, wenn es auch eine große Anzahl Werst oder vielmehr »Agatchs« zurückzulegen galt, denn auf diesem zweiten Theile der Rundfahrt durchzogen die Reisenden ja Provinzen der asiatischen Türkei; Ahmet, als vorsorglicher Mann, konnte sich gewiß nur Glück wünschen, alle Zufälligkeiten bezüglich der Nahrung und der Weiterbeförderung in Rechnung gezogen zu haben.

Zur größten Befriedigung sah der Seigneur Keraban die Fahrt sich ohne Unfälle wie ohne Zwischenfälle vollenden. Wie er sich als Alttürke in seiner Eigenliebe geschmeichelt fühlen würde, wenn er am linken Ufer des Bosporus erschien und die ottomanischen Behörden und die Erfinder jenes ungerechten Personalzolles verspotten konnte, das brauchen wir wohl nicht weiter auszumalen.

Da Redut-Kale übrigens nur vierundzwanzig Werft von der türkischen Grenze lag, so rechnete der starrsinnigste aller Osmanlis darauf, vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden den Fuß wieder auf ottomanischen Boden zu setzen. Dann erst würde er wieder zu Hause sein.

»Vorwärts, lieber Neffe, und möge Allah uns auch ferner schützen! rief er in bester Laune.

– Vorwärts denn, lieber Onkel!« antwortete Ahmet.

Beide nahmen Platz im Coupé; ihnen folgte Van Mitten, noch immer vergeblich bemüht, jenen mythologischen Gipfel des Kaukasus zu erkennen, auf dem Prometheus sein himmelschänderisches Unterfangen büßte.

Unter dem Peitschenknall des Jeneschik und dem Wiehern eines muthigen Rossepaares ging die Reise weiter.

Nach einer Stunde überschritt der Wagen die Grenze von Guriel, das seit 1801 mit Mingrelien verbunden ist. Sein Hauptort ist Poti, ein ziemlich wichtiger Hafen des Schwarzen Meeres, den ein Schienenstrang mit Tiflis, der Hauptstadt von Georgien, verbindet.

Die Straße bog jetzt nach dem Innern einer fruchtbaren Landschaft ab. Da und dort zeigten sich Dörfer, deren Häuser nicht nebeneinander, sondern [202] weit in Maisfeldern zerstreut errichtet sind. Diese Bauwerke bieten einen höchst merkwürdigen Anblick, da sie nicht aus Holz, sondern aus geflochtenem Stroh, ähnlich den Erzeugnissen der Korbmacherei, hergestellt sind. Van Mitten versäumte nicht, diese Eigenthümlichkeit in sein Notizbuch aufzuzeichnen. Und doch waren es keineswegs solche immerhin unbedeutende Einzelheiten, welche er gelegentlich der Fahrt durch das alte Kolchis schriftlich aufzubewahren erwartete. Nun, vielleicht lächelte ihm das Glück mehr, wenn er nach den Ufern des Rion kam, jenes Flusses bei Poti, der kein geringerer, als der berühmte Phasis des Alterthums, und wenn man verschiedenen Geographen glauben darf, einer der vier Ströme des Paradieses ist.

Nach einer weiteren Stunde hielten die Reisenden vor den Geleisen der Poti-Tifliser Eisenbahn an einer Stelle, wo die Straße den Schienenweg kreuzt, etwa eine Werst unterhalb der Station Sakario.

Hier befand sich ein Niveauübergang, den man benutzen mußte, um unter Abkürzung des Weges am linken Flußufer nach Poti zu gelangen.

Die Pferde standen also vor der eben geschlossenen Bahnbarrière still.

Die Wagenfenster waren herabgelassen worden, so daß der Seigneur Keraban und seine zwei Begleiter bequem sehen konnten, was draußen vorging.

Der Kutscher klatschte und rief nach dem Bahnwärter, der doch zunächst gar nicht erschien.

Keraban steckte den Kopf durch die Thüre.

»Untersteht sich diese verwünschte Eisenbahngesellschaft, rief er, auch noch, uns die kostbare Zeit zu stehlen? Warum ist dieser Schlagbaum herabgelassen, wenn ein Wagen kommt?

– Wahrscheinlich, weil binnen Kurzem ein Zug zu erwarten ist, bemerkte Van Mitten gelassen.

– Ja, weshalb soll denn ein Zug kommen?« versetzte Keraban.

Noch immer wiederholte der Kutscher vergeblich seine Rufe. Kein lebendes Wesen erschien in der Thür des Wächterhäuschens.

»Mög' ihm Allah den Hals umdrehen! rief Keraban. Wenn er nicht kommt, werd' ich schon selbst zu öffnen wissen!...

– Etwas Geduld, lieber Onkel! bat Ahmet, indem er Keraban der schon aussteigen wollte, zurückhielt.

– Geduld?...

– Ja; da ist schon der Bahnwärter!«

[203] Wirklich trat der Mann eben aus seinem Häuschen und kam langsamen Schrittes auf das Gespann zu.

»Können wir hinüber fahren? Ja oder nein? fragte Keraban kurz angebunden.

– Ja, es geht noch, erklärte der Wärter. Unter zehn Minuten kann der Zug von Poti noch nicht hier sein.

– So öffnen Sie die Barriere und halten Sie uns nicht unnütz auf. Wir haben Eile.

– Ich werde sogleich öffnen,« antwortete der Bahnwärter.

Mit diesen Worten begab er sich zunächst nach der jenseitigen Barriere, die er beseitigte, und dann erst nach der, vor welcher der Wagen hielt; Alles ging aber so gemächlich, wie es nur ein Mann ausführen kann, der gegen die Anforderungen von Reisenden mit vollkommener Gleichgiltigkeit gepanzert ist.

Der Seigneur Keraban kochte schon vor Ungeduld.

Endlich lag der Weg nach allen vier Seiten frei und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung.

Da tauchte auf der anderen Seite eine Gruppe Reisender auf. Ein vornehmer Türke auf stolzem Rosse, gefolgt von vier Reitern, die ihn wie eine Leibwache begleiteten, wollte eben den Niveauübergang passiren.

Es war das offenbar eine hervorragende Persönlichkeit. Etwa dreißig Jahre alt, zeigte seine hohe Gestalt jenen der asiatischen Race eigenthümlichen edlen Anstand. Dazu besaß er ein hübsches Gesicht, mit Augen, die sich gewiß am Feuer der Leidenschaft entzünden konnten, eine glanzlose Stirn und schwarzen, bis halb auf die Brust niederwallenden Vollbart, einen Mund mit blendend weißen Zähnen, und Lippen, welche nicht zu lächeln verstanden; kurz er machte den Eindruck eines befehlerischen Mannes, dem Lebensstellung und Vermögen eine gewisse Machtfülle verliehen und der an die Erfüllung seiner Wünsche, wie an die Beachtung jeder Willensäußerung gewöhnt war, während jeder Widerstand ihn zu schrankenlosen Gewaltmitteln trieb. In dieser Natur, deren türkischer Typus noch Verwandtschaft mit arabischem Typus zeigte, steckte noch ein guter Theil Wildheit.

Der vornehme Herr trug einfache Reisekleidung nach der Mode derjenigen Osmanlis, welche mehr Asiaten als Europäer sind. Unter einem dunkelfarbigen Kaftan suchte er offenbar seine wichtige Persönlichkeit nur vor Anderer Augen zu verbergen.

[204] Der Wagen hatte angesichts der ebenfalls die Pferde parirenden Reiter wieder gehalten; es schien aber nicht, als ob der Fremde Lust habe, dem Seigneur Keraban den Weg zu überlassen.

»Machen Sie Platz! rief Keraban den Reitern zu, deren Pferde denen des Wagens Kopf an Kopf gegenüberstanden.

– Machen Sie selbst Platz! antwortete der Neuangekommene, der entschlossen schien, keinen Schritt zurückzuweichen.

– Ich war zuerst hier!

– So werden Sie zu Zweit' hinüberkommen!

– Ich weiche aber nicht vom Flecke!

– Ich auch nicht!«

Bei dieser Tonart angelangt, schien der Wortwechsel eine recht üble Wendung zu nehmen.

»Lieber Onkel, bat Ahmet, was kann es uns denn schaden?...

– Herr Neffe, es schadet wohl sehr viel!

– Lieber Freund... mischte sich auch Van Mitten ein.

– Laßt mich in Ruhe!« polterte Keraban in einem Tone hervor, der den Holländer gleich wieder in seine Ecke zurückschreckte.

Jetzt gab auch der Bahnwärter sein Wort dazu und rief:

»Schnell, schnell! Beeilen Sie sich!... Der Zug von Poti muß jede Minute kommen. Beeilen Sie sich!«

Der Seigneur Keraban freilich hörte kaum noch. Nachdem er den Wagenschlag aufgestoßen, war er auf den Strang hinaus gesprungen und Ahmet wie Van Mitten thaten desgleichen, während Nizib und Bruno eiligst aus dem Cabriolet flüchteten.

Der Seigneur Keraban trat gerade auf den Reiter zu, dessen Pferd er am Zügel packte.

»Wollen Sie mich vorbeilassen? rief er mit einer Heftigkeit, die er nicht zu beherrschen vermochte.

– Niemals!

– Wir werden ja sehen!

– Sehen?

– Sie kennen den Seigneur Keraban nicht!

– Und Sie nicht den Seigneur Saffar!«

Es war in der That der Seigneur Saffar, der sich, nach einem schnell erledigten Ausflug durch die Gebiete des südlichen Kaukasus eben nach Poti begab.

[205] Der Name Saffar aber, der Name des Mannes, der ihm in Kertsch die Wechselpferde vor der Nase weggenommen, war nur zu sehr geeignet, den Zorn des Seigneur Keraban noch weiter zu steigern. Diesem Manne, den er schon auf dem Kerbholz hatte, sollte er weichen? – Nimmermehr! Er hätte sich eher unter den Hufen seines Pferdes zermalmen lassen!

»Ah, Sie sind also jener Seigneur Saffar? rief er. Nun denn, zurück, Seigneur Saffar!

– Vorwärts!« sagte Saffar, indem er den Reitern ein Zeichen gab, den Uebergang mit Gewalt zu nehmen.

In der Ueberzeugung, daß nichts den Seigneur Keraban werde zum Nachgeben vermögen, beeilten sich Ahmet und Van Mitten, ihm zu Hilfe zu kommen.

»So fahren oder reiten Sie doch vor- oder rückwärts, rief der Bahnwärter etwas ängstlich, aber räumen Sie das Geleise! Da kommt der Zug!«

Wirklich hörte man schon das Pfeifen der Locomotive, welche eine scharfe Curve noch verbarg.

»Rückwärts! rief Keraban seinem Gegner zu.

– Rückwärts!« befahl auch Saffar.

Schon war das Keuchen der Locomotive ganz deutlich zu vernehmen. Der Wärter wußte sich kaum noch Rath und schwang seinen Hut, um den Zug womöglich zum Stehen zu bringen... Es war zu spät... die Wagenschlange donnerte hinter der Curve hervor...

Der Seigneur Saffar, welcher einsah, daß er unmöglich noch über den Schienenstrang kommen konnte, riß sein Pferd zurück. Bruno und Nizib hatten sich zur Seite geworfen. Ahmet und Van Mitten packten Keraban und zerrten ihn mit sich weg, während der Kutscher auf die Pferde einhieb und über die Barriere hinüberzugelangen suchte.

Da sauste der Zug mit furchtbarer Schnelligkeit vorüber. Dabei stieß er jedoch noch an den hinteren Theil des Wagens, der noch nicht über das Geleise hinausgekommen war, zertrümmerte denselben vollständig und brauste davon, ohne daß die Passagiere desselben von dem geringfügigen Hinderniß auch nur einen leichten Stoß empfunden hätten.

Ganz außer sich, wollte Keraban auf seinen Gegner losstürzen; dieser aber trieb sein Pferd an, ritt verächtlich und ohne ihn eines Blickes zu würdigen über den Schienenstrang und verschwand mit den vier Reitern im Galopp auf der andern Straße, welche neben dem rechten Ufer des Flusses sich hinzieht.

[206] »Der Schurke! Der Elende!... rief Keraban, den sein Freund Van Mitten noch zurückhielt, wenn ich ihm je wieder begegne!...

– Ja wohl, aber vorläufig haben wir keinen Reisewagen mehr, antwortete Ahmet, der traurig die formlosen, über den Strang hinausgeschleuderten Reste des Gefährtes betrachtete.

– Zugegeben, lieber Neffe; aber ich bin doch, und zwar als der Erste über die Bahn gekommen!

Daraus sprach wieder der waschechte Keraban.

Da nahten sich einige Kosaken von denen, welchen in Rußland die Bewachung der Landstraßen und Schienenstränge obliegt. Sie hatten Alles mit angesehen, was eben an der Bahnbarrière vorgefallen war.

Ihre erste Bewegung bestand darin, zu dem Seigneur Keraban heranzureiten und ihn am Kragen zu nehmen. Das veranlaßte natürlich einen Protest des genannten Keraban, eine unnütze Intervention seines Neffen und seines Freundes, damit noch heftigeren Widerstand des größten Trotzkopfs der Menschheit, der nach einer Zuwiderhandlung gegen bahnpolizeiliche Vorschriften seine Lage durch Widersetzlichkeit gegen die Befehle der Obrigkeit noch zu verschlimmern drohte.

Kosaken widerspricht man am besten ebenso wenig wie Gendarmen; noch weniger leistet man ihnen Widerstand. Wie er sich auch geberdete, wurde der letzt vor Wuth schäumende Keraban nach der Station Sakario hineintransportirt, während Ahmet, Van Mitten, Bruno und Nizib höchst bestürzt neben dem zertrümmerten Wagen zurückblieben.

»Da sitzen wir hübsch in der Klemme! sagte der Holländer.

– Und nun gar mein Onkel! antwortete Ahmet. Verlassen dürfen wir ihn auf keinen Fall!«

Zehn Minuten später brauste der von Tiflis nach Poti hinabgehende Zug an ihnen vorüber. Sie sahen sich denselben an...

Da, am Fenster eines der Waggons erschien – der Kopf Keraban's mit verwirrtem Haar, roth vor Wuth, mit blutgefüllten Augen und ganz außer Fassung, nicht allein wegen der Thatsache, verhaftet worden zu sein, sondern vorzüglich auch, weil diese wilden Kosaken ihn zum ersten Male in seinem Leben gezwungen hatten, auf einer Eisenbahn zu fahren.


Der Seigneur Keraban trat gerade auf den Reiter zu, dessen Pferd er beim Zügel packte. (S. 205.)

Es schien jedoch von Wichtigkeit, ihn in dieser Lage nicht sich allein zu überlassen. Es galt, ihn aus der Klemme zu ziehen, in welche ihn allein sein harter Kopf gebracht, und nicht durch eine Verzögerung, welche sich möglicherweise in die Länge ziehen konnte, die richtige Ankunft in Scutari auf's Spiel zu setzen.

[207] Die Trümmer des Wagens, der nun doch nicht mehr zu gebrauchen war, liegen lassend, mietheten Ahmet und seine Begleiter einen Bauernkarren; der Kutscher spannte seine Pferde vor, und mit größtmöglicher Schnelligkeit fuhren sie auf der Straße nach Poti hin.

Die sechs Lieues bis zur Stadt wurden binnen zwei Stunden zurückgelegt.

[208] Gleich nach der Ankunft daselbst begaben sich Ahmet und Van Mitten nach dem Polizeigebäude, um den unglücklichen Keraban zu reclamiren und ihn wieder in Freiheit setzen zu lassen.

Hier erhielten sie jedoch einen Bescheid, der sie, wenigstens in gewisser Hinsicht, ebenso bezüglich des, des Uebelthäters harrenden Schicksals, wie etwa gefürchteter unliebsamer Verzögerungen beruhigte.

Nachdem der Seigneur Keraban eine tüchtige Geldstrafe für jene Contravention und wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt erlegt, war [209] er den Kosaken wieder übergeben und von diesen zur Grenze geschafft worden.

Jetzt handelte es sich darum, ihn baldmöglichst wieder zu treffen und zu dem Ende ein Fortschaffungsmittel zu erwerben.

Ahmet wünschte auch zu wissen, was aus dem Seigneur Saffar geworden sei.


»Da sitzen wir hübsch in der Klemme! (S. 207.)

Der Seigneur Saffar hatte Poti schon verlassen und sich sofort auf dem Dampfer eingeschifft, der die verschiedenen Küstenplätze Kleinasiens anläuft; Ahmet konnte aber nicht erfahren, wohin sich jene wichtigthuende Persönlichkeit begab, und sah am Horizont nichts weiter, als die sich lang hinziehende Rauchsäule des Schiffes, das ihn nach Trapezunt beförderte.


Ende des ersten Theiles. [210]

2. Theil

1. Capitel
Erstes Capitel.
In dem man den Seigneur Keraban, aber wüthend, mit einer Eisenbahn gefahren zu sein, wiederfindet.

Der Leser erinnert sich wohl, daß Van Mitten in seinem Unmuthe, an der Besichtigung der Ruinen des alten Kolchis behindert zu sein, um sich schadlos zu halten, beabsichtigt hatte, den sagenhaften Phasis in Augenschein zu nehmen, der unter dem heutigen, minder wohlklingenden Namen des Rion bei Poti mündet und dessen kleinen Hafen am Schwarzen Meere bildet.

Leider sah der würdige Holländer seine Hoffnungen noch einmal getäuscht. Wenn die hauptlose Gesellschaft auch den Spuren Jason's und der Argonauten nachging, die weltberühmten Gegenden durchzog, in welchen der kühne Sohn Aeson's um das goldene Vließ kämpfte, so hatte sie doch jetzt nichts Eiligeres zu thun, als Poti wieder zu verlassen und die Fährte des Seigneur Keraban aufzusuchen, um diesen an der russisch-türkischen Grenze wieder zu treffen.

Also nochmals eine Enttäuschung für Van Mitten. Es war schon um fünf Uhr Nachmittags, früh Morgens am 13. September sollte aufgebrochen werden Van Mitten bekam von Poti also nichts zu sehen, als den öffentlichen Garten mit den Resten einer alten Befestigung, die auf Pfählen errichteten Häuser, welche eine Bevölkerung von sechs- bis siebentausend Seelen bergen, die breiten Straßen mit Gräben an den Seiten, aus welchen ein ununterbrochenes Froschconcert ertönt, und den ziemlich belebten Hafen, den ein Leuchtthurm erster Ordnung überragt.

[211] Van Mitten tröstete sich über die wenige, ihm zu Gebote stehende Zeit nur durch die Erwägung, daß, wenn er diese inmitten der Sümpfe des Rion und der Kapatcha gelegene Stadt so schnell verließe, damit auch die Gefahr der Erkrankung an einem verderblichen Fieber beseitigt würde, was in den ungesunden Gegenden dieses Küstenstriches immer zu fürchten ist.

Während der Holländer sich solcherlei Gedanken hingab, suchte Ahmet Ersatz zu finden für den Postwagen, der ohne die unqualificirbare Unklugheit seines Eigenthümers gewiß noch lange Zeit gute Dienste geleistet hätte. In der so kleinen Stadt Poti aber einen neuen oder gebrauchten Reisewagen aufzutreiben, darauf war sicherlich nicht zu rechnen. Eine »Perceladnaïa« oder russische »Araba« gab es vielleicht eher, und die Börse des Seigneur Keraban war ja vorhanden, um jeden dafür geforderten Preis zu bezahlen. Die genannten Fuhrwerke erheben sich indeß nicht über mehr oder weniger primitive Karren, denen es an jeder Bequemlichkeit fehlt und die mit einer Reise-Berline nicht das Geringste gemein haben. Bespannt man sie auch mit noch so kräftigen Pferden, so können sie an Schnelligkeit der Bewegung eine Postchaise doch niemals erreichen. Welche Verzögerungen waren also nun bis zur Beendigung der Reise zu fürchten!

Ahmet hatte überdies jetzt gar keine Ursache, wegen der Wahl eines Fuhrwerkes in Verlegenheit zu kommen. Für den Augenblick war nichts, weder Wagen noch Karren, verfügbar. Da es ihm jedoch vor Allem darauf ankam, seinen Onkel aufzufinden, um diesen sich nicht etwa durch seine Starrsinnigkeit noch in schlimmere Lage bringen zu lassen, entschied er sich dahin, die etwa zwanzig Lieues betragende Strecke zwischen Poti und der russisch-türkischen Grenze zu Pferde zurückzulegen. Er war selbstverständlich ein tüchtiger Reiter, und Nizib hatte ihn häufig genug auf seinen Lustritten begleitet. Van Mitten erklärte auf Befragen, wenigstens mit den Elementarbegriffen der edlen Reitkunst vertraut zu sein, und versprach, ohne für Brunos Geschicklichkeit eintreten zu können, zu Pferde zu folgen.

Der Aufbruch sollte am nächsten Morgen erfolgen, um die Grenze noch denselben Abend zu erreichen.

Nun schrieb Ahmet einen langen Brief unter der Adresse des Banquiers Selim, der natürlich mit den Worten: »Meine innigstgeliebte Amasia!« anfing. Er schilderte darin Alles, was sich neuerdings zugetragen, den Unfall bei Poti, wie er vom Onkel getrennt worden und wie er ihn wieder zu finden hoffe. Daran schloß er die Versicherung, daß die Rückkehr deshalb nicht verzögert [212] und er Mittel finden würde, Menschen und Thiere in Athem zu halten, um in der noch übrigen mittleren Zeit täglich die entsprechende Wegstrecke zurückzulegen. Sie solle sich also, bat er inständigst, ja mit ihrem Vater und Nedjeb in der Villa zu Scutari zur rechten Zeit und womöglich noch ein wenig eher einfinden, um ihm bei der Heimkehr nicht die Freude des heißersehnten Wiedersehens zu verkümmern.

Diesen Brief voll zärtlicher Grüße an das junge Mädchen sollte das Packetboot, welches den regelmäßigen Dienst zwischen Poti und Odessa versieht, am folgenden Morgen mitnehmen. Vor Ablauf von achtundvierzig Stunden würde er dann an seinem Ziele angelangt, geöffnet, eifrig gelesen und vielleicht an ein Herz gedrückt worden sein, dessen Schläge Ahmet am anderen Ende des Schwarzen Meeres zu vernehmen glaubte. Die beiden Verlobten befanden sich jetzt am weitesten von einander, an den Enden der großen Achse einer Ellipse nämlich, deren Umfang zu folgen Ahmet der unbeugsame Starrsinn seines Onkels gezwungen hatte.

Und während er so schrieb, um Amasia zu beruhigen und zu trösten, was begann da Van Mitten?

Nachdem er im Hôtel gespeist, durchstreifte der Holländer neugierig die Straßen von Poti, lustwandelte unter den Bäumen des Stadtparkes, längs der Quais des Hafens oder der ihrer Vollendung nahen Molen. Aber er war allein; Bruno hatte ihn diesmal nicht begleitet.

Und weshalb gieng Bruno nicht mit seinem Herrn, bereit, ihm ehrerbietige, aber richtige Bemerkungen über die jetzige fatale Lage, wie über die noch bedrohlichere Zukunft zu machen?

Bruno hatte einen Gedanken gehabt. Fände sich in Poti auch weder Berline noch Postchaise, so gab es hier doch wohl eine Wage. Für den abgemagerten Holländer bot sich demnach hier oder nirgends Gelegenheit, sich wägen, sein heutiges Gewicht mit dem ursprünglichen vergleichen zu lassen.

Der Diener hatte also das Hôtel verlassen, auch, ohne davon etwas zu sagen, den Reiseführer seines Herrn mitgenommen, mit dessen Hilfe er sich das ihm seinem Werthe nach unbekannte russische in holländisches Gewicht zu übersetzen hoffte.

Auf dem Quai eines Hafens, in dem Zollabfertigung stattfindet, trifft man stets einige so große Wagen, daß ein Mensch auf ihren Schalen bequem abgewogen werden kann.

[213] Nach dieser Seite befand sich Bruno also nicht in Verlegenheit. Die Spendung einiger Kopeken bestimmte die Beamten, seiner Laune zu willfahren. Auf eine der großen Wagschalen wurde also ein beträchtliches Gewicht gelegt, und nicht ohne eine gewisse Unruhe bestieg Bruno die andere.

Zu seinem großen Mißvergnügen blieb die mit dem Gewichtsstücke beschwerte Schale am Boden haften. Wie Bruno sich auch selbst schwerer zu machen sachte – vielleicht glaubte er das durch Aufblähen zu erreichen – es gelang ihm nicht, dieselbe zum Steigen zu bringen.

»Alle Teufel, sagte er, das fürchtete ich eben!«

An Stelle des ersten kam jetzt ein leichteres Gewicht auf die Wage, aber auch jetzt rührte die Schale sich nicht von der Stelle.

»Ist es möglich?« rief Bruno, der sein ganzes Blut sich im Herzen zusammendrängen fühlte.

Da fiel sein Blick auf eine behäbige Persönlichkeit, deren Gesicht die wohlwollendste Theilnahme für ihn verrieth.

»Mynheer!« rief er erfreut und verwundert.

Wirklich war es Van Mitten, den bei seinem Spaziergange der Zufall nach dem Quai geführt hatte und auch genau dahin, wo die Beamten sich eben mit Feststellung des Gewichtes seines Dieners beschäftigten.

»Mynheer, wiederholte Bruno, Sie hier?

– Ich selbst, antwortete Van Mitten. Ich sehe mit Vergnügen, daß Du eben dabei bist...

– Mich wiegen zu lassen... ja.

– Und das Ergebniß?

– Das Ergebniß ist ein so trauriges, daß ich nicht weiß, ob es ein so geringes Gewicht giebt, welches anzeigen könnte, wie wenig ich zur Stunde wiege!«

Bruno gab diese Antwort mit einem so schmerzlichen Gesichtsausdruck, daß der darin liegende Vorwurf Van Mitten wirklich zu Herzen ging.

»Wie, rief er, seit unserer Abreise wärest Du so abgemagert, mein armer Bruno?

– Urtheilen Sie nur selbst, Mynheer!«

In der That wurde eben ein drittes, noch leichteres Gewicht als die beiden vorigen auf die Wagschale gelegt.

Diesmal hob Brunos Körperlast es nach und nach empor, so daß die beiden Wagschalen in eine horizontale Linie zu stehen kamen.

[214] »Endlich! rief Bruno, doch was für ein Gewicht ist das?

– Ja, was ist das für ein Gewicht?« wiederholte Van Mitten.

Dasselbe betrug nach russischem Gewicht genau vier Pud, nicht mehr und nicht weniger.

Sofort ergriff Van Mitten den Reiseführer, den Bruno ihm überreichte, und schlug die Gewichtsvergleichungstabelle für verschiedene Länder auf.

»Nun, Mynheer, fragte Bruno, eine Beute mit Angst gemischter Neugier, wieviel macht ein russisches Pud?

– Ungefähr sechszehneinhalb Pond holländisch, belehrte ihn Van Mitten nach kurzem Kopfrechnen.

– Und das macht?

– Das macht genau fünfundsiebenzigeinhalb Pond oder hunderteinundfünfzig Pfund!«

Bruno stieß einen Verzweiflungsschrei aus, sprang von seiner Wagschale, während die andere mit Gewalt auf die Erde schlug, und sank halb ohnmächtig auf einer Bank nieder.

»Hunderteinundfünfzig Pfund!« wiederholte er, als ob er nahezu ein Neuntel seines Lebens eingebüßt hätte.

Wirklich wog Bruno bei der Abreise seine vierundachtzig Ponds, oder hundertachtundsechzig Pfund, jetzt aber nur noch fünfundsiebzig und einhalb Pond oder hunderteinundfünfzig Pfund. Er war also um siebzehn Pfund abgemagert! Und das während sechsundzwanzig Tagen einer verhältnißmäßig bequemen Reise, ohne eigentliche Entbehrungen und größere Anstrengungen. Jetzt aber, wo das Unglück angefangen hatte, wo würde dasselbe aufhören? Was würde aus dem Bäuchlein werden, das Bruno sich selbst zugelegt und an dessen hübscher Abrundung er, unter Einhaltung eines wohl abgemessenen Regimes, fast zwanzig Jahre gearbeitet hatte? Wie, sollte er noch unter das ehrbare Mittelgewicht sinken, in dem er sich bisher gehalten – vorzüglich jetzt, wo sich wegen Mangels eines Wagens diese sinnlose Fahrt durch Gegenden ohne Hilfsquellen, bei fortwährenden Anstrengungen und Gefahren unter neuen Bedingungen abspielen sollte?

Diese Fragen stellte sich der besorgte Diener Van Mitten's. Dabei trat ihm eine flüchtige Vision schrecklicher Zufälle vor das geistige Auge, inmitten derer sich ein ganz unerkennbarer, zum wandelnden Skelet herabgekommener Bruno zeigte.

[215] Das ließ ihm keine Ruhe, und schnell war sein Entschluß gefaßt. Er erhob sich, zog den Holländer, der nicht die Kraft besessen hätte, ihm zu widerstehen, mit sich fort und sagte, vor dem Wiedereintritt in's Hôtel auf dem Quai stehen bleibend:

»Mynheer, es hat Alles seine Grenzen, selbst die menschliche Thorheit! Wir gehen nicht mehr weiter mit!«

Van Mitten nahm diese Erklärung mit gewohnter Ruhe entgegen, aus der ihn eben nichts aufzurütteln vermochte.


»Mynheer!« rief Bruno. (S. 214.)

»Wie, Bruno, erwiderte er, hier in diesem weltverlorenen Winkel des Kaukasus willst Du, daß wir bleiben sollen?

– Nein, Mynheer, nein! Ich schlage Ihnen nur einfach vor, den Seigneur Keraban nach Constantinopel zurückkehren zu lassen, wie es ihm beliebt, während wir uns gemächlich mit einem der Dampfer von Poti [216] dahin begeben. Sie leiden nicht von der Seekrankheit, ich auch nicht, und ich laufe nicht Gefahr, noch mehr abzumagern, was unfehlbar der Fall sein müßte, wenn ich unter solchen Umständen noch weiter reiste.


Nur Ahmet hatte ein muthiges Thier (S. 220)

– Von Deinem Gesichtspunkt aus ist das vielleicht klug und weise, Bruno, antwortete Van Mitten, von meinem aus gesehen, liegt die Sache aber anders Mei [217] nen Freund Keraban jetzt, wo drei Viertel der Fahrt überstanden sind, zu verlassen, verlangt einige Ueberlegung.

– Der Seigneur Keraban ist nicht Ihr Freund, antwortete Bruno. Er ist der Freund des Seigneur Keraban, nichts weiter. Der meinige kann er natürlich nicht sein, und ich habe nicht Lust, den mir übrig gebliebenen Rest von Embonpoint zur Befriedigung der Launen seiner Selbstliebe zu opfern. Drei Viertel der Reise wären vollendet, sagen Sie, das ist wohl wahr; das letzte Viertel scheint mir aber, in Hinblick auf das halbwilde Land, ganz andere Schwierigkeiten zu bieten. Wenn Ihnen persönlich auch kein Unfall zugestoßen ist, so wiederhole ich Ihnen doch, Mynheer, daß Sie sich in Acht nehmen mögen... Es wird Ihnen noch ein Unglück begegnen!«

Die Beharrlichkeit Brunos, ihm einen Unfall zu prophezeihen, aus dem er nicht heil und gesund hervorgehen werde, quälte Van Mitten doch nicht wenig; diese Warnungen eines treuen Dieners übten auf ihn ihren mächtigen Einfluß.

In der That verlohnte es sich, bezüglich dieser Fahrt jenseits der russischen Grenze durch die verkehrsarmen Gegenden der Paschaliks von Trapezunt und des nördlichen Anatoliens, welche sich der Ueberwachung durch türkische Behörden fast gänzlich entziehen, wohl der Mühe, zweimal zu überlegen, ehe man dieselbe unternahm. Gerade bei seinem etwas schwachen Charakter fühlte sich Van Mitten ganz erschüttert, was Bruno deutlich genug bemerkte. Er verdoppelte seine Bitten, brachte all' und jedes Argument zur Unterstützung seiner Sache vor, zeigte ihm seine, in der Taille um ein von Tag zu Tag mehr verschwindendes Bäuchlein schlotternden Kleider und brachte in Folge der Beredtsamkeit, die er über diesen, ihn tief berührenden Gegenstand entwickelte, seinen Herrn schon dahin, seine Ansichten über die Nothwendigkeit einer Trennung von seinem Freunde Keraban zu theilen.

Van Mitten dachte nach. Er hörte aufmerksam zu und zuckte manchmal mit den Achseln. Nach dem Schlusse dieser sehr ernsthaften Unterredung plagte ihn nur noch die Furcht, mit seinem unverbesserlichen Reisegesellschafter darüber eine Verhandlung führen zu müssen.

»Nun gut, meinte Bruno, der auf Alles eine Antwort wußte, die Umstände sind uns günstig. Da der Seigneur Keraban nicht da ist, verlassen wir [218] ihn ohne Abschied, und sein Neffe Ahmet mag ihn allein an der Grenze aufsuchen.«

Van Mitten schüttelte verneinend den Kopf.

»Es liegt da nur noch ein Hinderniß vor, sagte er.

– Welches? fragte Bruno.

– Nun, ich habe Constantinopel fast ohne Geld verlassen, und jetzt ist meine Börse geradezu leer.

– Können Sie, Mynheer, sich nicht eine hinreichende Summe aus der ottomanischen Bank schicken lassen?

– Nein, Bruno, das geht nicht an. Mein Depot von Rotterdam kann da noch nicht eingezahlt sein...

– Um also Mittel zur Rückkehr zu erhalten?... fragte Bruno.

– Bleibt mir nichts übrig, als mich an meinen Freund Keraban zu wenden,« erklärte Van Mitten.

Das diente Bruno freilich nicht zur Beruhigung. Sah sein Herr den Seigneur Keraban erst wieder und kam er diesem mit dem bewußten Vorschlage, so mußte das zu einer Erörterung führen, und Van Mitten war dabei gewiß nicht der Stärkere. Doch was konnte sonst geschehen? Sich direct an den jungen Ahmet wenden? Nein, das nützte nichts. Ahmet würde es nimmermehr auf sich nehmen, Van Mitten das Geld zu gewähren, um seinen Onkel zu verlassen. Daran war also gar nicht zu denken.

Zwischen dem Herrn und dem Diener wurde endlich nach langem Hin- und Herreden Folgendes abgemacht. Sie wollten Poti in Gesellschaft Ahmets verlassen und den Seigneur Keraban an der türkisch-russischen Grenze aufsuchen. Dort wollte Van Mitten unter dem Vorwande von Gesundheitsrücksichten, die ihm schlimme Strapazen verböten, erklären, daß es ihm unmöglich sei, eine derartige Reise fortzusetzen. Unter solchen Umständen würde sein Freund Keraban nichts einwenden und nicht umhin können, ihm das nöthige Geld vorzustrecken, um über See nach Constantinopel zurückzugelangen.

»Gleichviel, dachte Bruno, eine Verhandlung über diesen Gegenstand zwischen meinem Herrn und dem Seigneur Keraban wird ein sehr heikles Ding werden!«

Beide kamen nach dem Hôtel zurück, wo Ahmet ihrer wartete. Sie erwähnten gegen diesen nichts von ihren Projecten, welche er doch zu bekämpfen gesucht hätte. Man aß, schlief und Van Mitten träumte, daß Keraban ihn wie [219] Pastetenfleisch kurz und klein hackte. Früh am Morgen wachten Alle auf und fanden an der Thür vier Pferde, bereit mit ihnen davon zu jagen.

Es war merkwürdig zu sehen, was Bruno für ein Gesicht machte, als er rittlings auf das Pferd zu sitzen kam. Da gab es neue Vorwürfe auf Rechnung des Seigneur Keraban. Ein anderes Beförderungsmittel war aber nicht zur Hand, und Bruno mußte sich also fügen. Zum Glück gehörte sein Pferd zu den frommen Lämmern, welche sich überhaupt nicht aufbäumen können und mit denen Jeder leicht fertig wird. Auch die beiden Pferde Van Mitten's und Nizibs brauchten diesen keine Angst einzujagen. Nur Ahmet hatte ein muthiges Thier; als guter Reiter machte ihm das aber keine andere Sorge als die, seine Geschwindigkeit zu mäßigen, um die Anderen nicht zu weit zu überholen.

Man verließ Poti um fünf Uhr Morgens. Um acht Uhr, nach einem Ritt von zwanzig Werst, wurde in Nikolaja ein Frühstück eingenommen, ein zweites in Kintryschi, fünfzehn Werst weiter, gegen elf Uhr, und etwa um zwei Uhr Nachmittags machte Ahmet nach Zurücklegung einer Strecke von weiteren fünfundzwanzig Werst in Batum Halt, in jenem Theil des nördlichen Lasistan, der noch zum russischen Reiche gehört.

Dieser früher türkische Hafen liegt sehr günstig an der Mündung des Tschorock, des Bathys der Alten. Es ist bedauerlich, daß die Türkei ihn verloren hat, denn dieser geräumige Hafen mit vortrefflichem Ankergrund kann eine große Zahl Schiffe, selbst solche von großem Tiefgang, aufnehmen. Die Stadt selbst bildet eigentlich nur einen großen Bazar aus Holz, den eine lange Hauptstraße durchzieht. Die Hand Rußlands streckt sich aber stets weiter über diese transkaukasischen Gebiete aus, sie hat Batum ebenso weggerafft, wie sie einst die noch übrigen Theile von Lasistan umklammern wird.

Ahmet war also hier noch nicht zu Hause, wie er es einige Jahre früher gewesen wäre. Er mußte dazu erst Gümich an der Mündung des Tschorock passiren und zwanzig Werst von Batum das Dorf Makriatos, um dann, zehn Werst weiter, endlich die Grenze zu erreichen.

An diesem Punkte wartete an der Seite der Straße unter den wenig freundlichen Blicken eines Kosakendetachements ein Mann, der mit beiden Füßen auf türkischem Boden stand, aber erfüllt von einer Wuth, die sich eher begreifen als schildern läßt.

Das war der Seigneur Keraban.

[220] Es war jetzt gegen sechs Uhr Abends, und seit Mitternacht des Vortages – das heißt genau seit dem Augenblick, wo er außerhalb des russischen Gebietes wieder in Freiheit gesetzt worden war – hatte Keraban's Wuth sich noch immer nicht gelegt.

Eine armselige Hütte neben der Landstraße mit höchst dürftigen Bewohnern, schlechtem Dache und losen Fenstern, die noch weniger an Lebensunterhalt bot, hatte ihm als Obdach oder vielmehr als Zufluchtsort gedient.

Schon in der Entfernung einer halben Werst hatten Ahmet und Van Mitten, als der Eine seinen Onkel, der Andere seinen Freund erkannte, ihre Pferde zu schnellerem Laufe getrieben, und stiegen nur wenige Schritte von ihm ab.

Der Seigneur Keraban, der hin- und herlief, und lebhafte Gesten machte, der mit sich selbst sprach oder vielmehr stritt, weil Niemand da war, der ihm hätte entgegnen können, schien seine Gefährten nicht bemerkt zu haben.

»Liebster Onkel! rief Ahmet, ihm die Arme entgegenstreckend, während Nizib und Bruno sein Pferd und das des Holländers hielten, liebster Onkel!

– Mein lieber Freund!« setzte Van Mitten hinzu.

Keraban ergriff Beider Hände und rief, indem er nach den Kosaken zeigte, die längs der Grenze auf und ab ritten:

»In der Eisenbahn! Diese Elenden haben mich gezwungen, einen Dampfwagen zu besteigen! Mich!... Mich!«...

Zu dieser Art der Personenbeförderung erniedrigt worden zu sein, die ihm eines wahren Türken unwürdig schien, das hatte offenbar den Seigneur Keraban am meisten aufgebracht. Nein, das konnte er nicht verdauen! Sein Zusammenstoß mit dem Seigneur Saffar, sein Streit mit dem unverschämten Manne, und was dem folgte, die Zertrümmerung des Reisewagens, die Verlegenheit, in der er sich wegen Fortsetzung der Fahrt befand, Alles vergaß er gegenüber der Ungeheuerlichkeit, auf einer Eisenbahn gewesen zu sein! Er, ein Altgläubiger!

»O, das ist unwürdig! antwortete Ahmet, der es hiebei ganz besonders für angezeigt hielt, seinem Oheim nicht zu widersprechen.

– Ja, unwürdig, stimmte Van Mitten ein, aber Alles in Allem, Freund Keraban, ist Ihnen doch nichts Ernsthaftes zugestoßen...

– Nehmen Sie Ihre Zunge in Acht, Herr Van Mitten! rief Keraban. Nichts Ernsthaftes, sagten Sie?«

[221] Ein Zeichen Ahmets bedeutete den Holländer, daß er auf falschem Wege sei. Sein alter Freund behandelte ihn schon als »Herr Van Mitten« und fuhr fort, ihn in gleicher Weise zu interpelliren.

»Wollen Sie mir wohl sagen, was Sie mit den unqualificirbaren Worten »nichts Ernsthaftes« eigentlich meinen?

– Freund Keraban, ich hatte die auf den Bahnen so gewöhnlichen Unfälle im Sinn, eine Entgleisung, einen Zusammenstoß...

– Herr Van Mitten, eine Entgleisung wäre vorzuziehen gewesen! rief Keraban. Ja, bei Allah, es wäre besser gewesen, zu entgleisen, Arme, Beine und den Kopf zu verlieren, als eine solche Schande zu überleben!

– Glauben Sie doch, Freund Keraban... fuhr Van Mitten fort, der nicht wußte, wie er seine unvorsichtigen Worte wieder gut machen sollte.

– Es handelt sich hier gar nicht darum, was ich glauben könnte, antwortete Keraban, auf den Holländer losfahrend, sondern darum, was Sie glauben! Es handelt sich um die Art und Weise, wie Sie diese Mißhandlung eines Mannes betrachten, der sich seit dreißig Jahren für Ihren Freund hielt!«

Ahmet wollte ein Gespräch ablenken, dessen deutlich vorherzusehendes Resultat nur eine Verschlimmerung der Sache sein konnte.

»Lieber Onkel, sagte er, ich glaube versichern zu können, daß Du Herrn Van Mitten falsch verstanden hast...

– Gewiß, gewiß!

– Oder daß Herr Van Mitten vielmehr sich falsch ausgedrückt hat. Ganz wie ich, fühlt er eine tiefe Indignation über die Behandlung, welche jene verwünschten Kosaken Dir haben angedeihen lassen.«

Glücklicher Weise wurde das Alles türkisch gesprochen, so daß die »verwünschten Kosaken« nichts verstehen konnten.

»Im Grunde, lieber Onkel, ist auch ein Anderer an all' diesem Unheil schuld, und ein Anderer für das verantwortlich, was Dir widerfahren ist. Jener unverschämte Mann, der uns den Uebergang bei der Eisenbahn von Poti versperrte. Jener Saffar ist es.

– Ja, Saffar! rief Keraban, der sehr zur rechten Zeit von seinem Neffen auf eine andere Fährte gelenkt worden war.

– Ja, tausendmal ja, der Saffar! beeilte sich Van Mitten hinzuzufügen, das wollte ich eben sagen, Freund Keraban.

[222] – Der infame Saffar! sagte Keraban.

– Der infame Saffar!« wiederholte Van Mitten, der sich schnell zum Echo seines Widersachers verwandelte.

Er hätte gern einen noch derberen Ausdruck gebraucht, fand aber keinen.

»Wenn wir den je wieder treffen!... sagte Ahmet.

– Und nun nicht nach Poti zurückkehren zu können, rief Keraban, um ihn für seine Unverschämtheit büßen zu lassen, ihn zu beleidigen, ihm die Seele aus dem Leibe zu reißen und ihn den Händen des Henkers zu überliefern!...

– Ihn pfählen zu lassen!«glaubte Van Mitten hinzufügen zu müssen, der sich jetzt desto wilder gesinnt zeigte, um die gefährdete Freundschaft wieder zu sichern.

Dieser echt türkische Vorschlag – wie man gern zugeben wird – brachte ihm einen Händedruck von seinem Freunde Keraban ein.

»Lieber Onkel, sagte da Ahmet, augenblicklich wäre es wohl unnütz, nach dem Seigneur Saffar zu forschen.

– Und warum, lieber Neffe?

– Der Mann ist nicht mehr in Poti, belehrte ihn Ahmet. Als wir dorthin kamen, hatte er sich eben auf einem Dampfer eingeschifft, der den Küstendienst längs Kleinasien versieht.

– Den Küstendienst Kleinasiens? rief Keraban. Folgt unsere Reise nicht demselben Küstengebiet?

– Ganz recht, lieber Onkel.

– Nun, dieser Schurke Saffar, antwortete Keraban, wird mir also noch einmal in den Weg kommen, Vallah-billah tielah! Weh' ihm!«


Das war der Seigneur Keraban (S. 220.)

Nachdem er diese Formel, welche »der Eid Gottes« ist, ausgesprochen, konnte der Seigneur Keraban wohl nichts Schrecklicheres mehr sagen; er schwieg.

Wie sollte aber nun, da kein Wagen mehr zur Hand war, die Reise fortgesetzt werden? Den ganzen Weg zu Pferde zurückzulegen, das konnte dem Seigneur Keraban nicht im Ernste vorgeschlagen werden. Seine Corpulenz, machte das unausführbar.


Keraban wendete sich zurück und ballte die Faust gegen die Kosaken. (S. 225.)

Wenn er von einem Pferde hätte leiden müssen, so mußte gewiß das Pferd noch mehr von ihm leiden. Es wurde also beschlossen, sich nach Choppa, dem nächstgelegenen Dorfe, zu begeben. Bis dahin waren[223] es nur wenige Werst, die Keraban zu Fuße überwinden wollte – Bruno aber auch, denn er war von dem Ritt so gerädert, daß er sein Thier unmöglich wieder besteigen konnte.

»Nun, und das Geldanlehen, welches Sie anbringen wollten?... sagte er zu seinem Herrn, den er etwas zur Seite genommen hatte.

– In Choppa!« tröstete ihn Van Mitten.

Dieser sah nicht ohne einige Unruhe den Augenblick herannahen, wo er fast gezwungen war, diese delicate Frage zu berühren.

[224] Wenige Minuten später begaben sich die Reisenden die Straße hinab, welche neben dem Ufer von Lasistan verläuft.

Zum letzten Male wendete sich der Seigneur Keraban, ihnen die Faust zeigend, zurück zu den Kosaken, die ihn so unhöflich in den Wagen gesteckt – ihn... in einen Eisenbahnwagen, und bei einer Wendung der Küste verlor er die Grenze des russischen Reiches aus den Augen.

[225]
2. Capitel
Zweites Capitel.
In welchem Van Mitten sich entschließt, dem Drängen Brunos nachzugeben, und was daraus entsteht.

»Ein sonderbares Land! schrieb Van Mitten in sein Notizbuch, in dem er einige flüchtig aufgefaßte Eindrücke notirte. Die Frauen bestellen das Land und schleppen Lasten, während die Männer Hanf hecheln und Wolle spinnen!«

Der gute Holländer täuschte sich damit nicht. So ist es noch heute Sitte in der entlegenen Provinz Lasistan, mit welcher der zweite Theil der Reise anging.

Es ist ein noch wenig bekanntes Land, jenes Gebiet, welches mit der kaukasischen Grenze beginnt, der Theil des türkischen Armeniens, der zwischen dem Charchut- und Tschorockthale einerseits, und der Küste des Schwarzen Meeres andererseits liegt. Seit Th. Deyrottes haben nur wenige Reisende jene Districte des Paschaliks Trapezunt besucht und sich in deren mittelhohen Gebirgen verirrt, deren Kämme sich bis zum See von Van vielfach verschlingen und die Hauptstadt Armeniens, Erzerum, den größten Ort des Vilajets, das über eine Million Einwohner zählt, einschließen.

Dieser Landstrich hat wichtige geschichtliche Ereignisse erlebt. Von den Höhen herab, auf denen beide Zweige des Euphrat ihre Quellen haben, zog Xenophon mit seinen Zehntausend gegen die Heersäulen des Artaxerxes Mnemon bis zum Ufer des Phasis. Dieser Phasis ist nicht der Rion, welcher in Poti mündet; das ist vielmehr der Kur, der aus kaukasischem Gebiete herabrinnt, und er verläuft nur unsern jenem Lasistan, durch welches der Seigneur Keraban eben mit seinen Leuten ziehen wollte.

O, wenn Van Mitten Zeit gehabt hätte, welch' kostbare Beobachtungen würde er ohne Zweifel gemacht haben, wo Xenophon der Heerführer, Geschichtsschreiber und Philosoph den Taoquen und Chalyben beim Hervorbrechen aus dem Lande der Karduquen eine Schlacht lieferte, und wo der Berg Chenium liegt, von dem aus die Griechen die so oft ersehnten Flotten des Pontus Euxinus mit Jubelruf begrüßten!

[226] Van Mitten fand aber keine Zeit, etwas zu sehen, keine Muße zu Studien, oder vielmehr man ließ ihm keine dazu. Und da kam auch Bruno auf sein Anliegen zurück und stachelte seinen Herrn an, von Keraban so viel zu leihen, als sie brauchten, um sich von ihm trennen zu können.

»In Choppa!« erwiderte Van Mitten vertröstend.

Man begab sich also auf Choppa zu. Würde sich aber dort ein Beförderungsmittel finden, ein Gefährt, welches nur einigermaßen im Stande war, den an der Eisenbahn von Poti zertrümmerten Reisewagen zu ersetzen?

Das war denn doch ein sehr ernsthaftes Ding. Noch hatte man gegen zweihundertfünfzig Lieues zurückzulegen und nur siebzehn Tage bis zum 30. desselben Monats übrig, und mit diesem Datum mußte der Seigneur Keraban unbedingt zurück sein! An diesem Tage hoffte Ahmet in der Villa zu Scutari die junge Amasia zu treffen, die ihn zur Feier ihrer Hochzeit erwartete. Es begreift sich also unschwer, daß Onkel und Neffe gleichmäßig ungeduldig waren, und daß die Verlegenheit, wie dieser zweite Theil der Reise durchgeführt werden sollte, eine nicht geringe Beunruhigung erregte.

Einen Reisewagen oder nur ein einfaches Gefährt in diesem dürftigen, in Kleinasien verlorenen Dorfe zu finden, darauf war gar nicht zu rechnen. Man mußte sich wohl oder übel mit einem der hier landesüblichen Fuhrwerke begnügen, welche natürlich sehr primitiver Art waren.

Besorgt und nachdenklich ging so der Seigneur Keraban zu Fuß auf der Straße längs der Küste hin; Bruno zog sein Pferd nach sich, ebenso wie das seines Herrn, der jetzt lieber an der Seite seines Freundes dahinwanderte, während Nizib zu Pferde blieb und die Spitze der kleinen Karawane bildete. Ahmet nur war schon vorausgeeilt, um in Choppa Quartier zu besorgen und wenn möglich ein Fuhrwerk zu erwerben, um mit dem Morgenrothe weiterreisen zu können.

Langsam und still schritten sie dahin. Der Seigneur Keraban verbiß nach Kräften seinen Zorn, der sich nur in den oft wiederholten Worten: »Kosaken, Eisenbahn, Waggon, Saffar!« Luft machte. Van Mitten lauerte auf eine passende Gelegenheit, ihm sein Vorhaben einer Trennung mitzutheilen, doch fand er keinen günstigen Augenblick und wagte es nicht bei dem Gemüthszustande seines Freundes, der bei dem geringsten Worte in hellen Zorne aufzulodern drohte.

Um neun Uhr Abends kam man nach Choppa; die Fußwanderung erforderte eine ganze Nacht Ruhe. Der Gasthof war nur mittelmäßig, bei ihrer [227] Müdigkeit aber schliefen Alle volle zehn Stunden, während Ahmet noch denselben Abend auf's Land hinausging, um ein Transportmittel zu entdecken.

Am folgenden Tage, am 14. September, stand eine Araba fertig bespannt vor der Thür des Gasthofes.

Ah, wie bedauerten jetzt Alle den altmodischen Reisewagen, der nun durch einen plumpen zweirädrigen Karren ersetzt war, in dem kaum drei Personen Platz finden konnten. Zwei Pferde an seiner Deichsel waren auch nicht gerade zuviel, um die schwerfällige Maschine in Bewegung zu setzen. Zum Glück hatte Ahmet die Araba mit einer undurchlässigen Plache, welche über Holzreifen gespannt wurde, überdecken lassen, um Schutz gegen Regen und Wind zu gewähren. Man mußte also fürlieb nehmen, und es war kaum zu erwarten, daß vor Trapezunt ein bequemeres und schnelleres Gefährt aufgefunden würde.

Leicht begreiflicher Weise zogen Van Mitten, trotz seines Phlegmas, und Bruno, der am Ende der Kräfte war, beim Anblick dieser Araba ein enttäuschtes Gesicht, das freilich ein einziger strenger Blick des Seigneur Keraban wieder zu verwandeln wußte.

»Das ist Alles, was ich finden konnte, lieber Onkel, sagte Ahmet, auf die Araba zeigend.

– Und auch Alles, was wir brauchen, antwortete Keraban, der um Alles in der Welt nicht den Schatten eines Bedauerns seines vorzüglichen Reisewagens hätte sichtbar werden lassen.

– Ja, fuhr Ahmet fort, mit einer tüchtigen Schütte Stroh in dieser Araba...

– Werden wir uns wie Flürsten fühlen, lieber Neffe.

– Wie Theaterfürsten! murmelte Bruno.

– Was? knurrte Keraban.

– Uebrigens, erklärte Ahmet, sind wir nicht weiter als hundertsechzig Agatchs (etwa sechzig Lieues) von Trapezunt entfernt und dort, hoffe ich, können wir uns ein besseres Gefährt verschaffen.

– Ich wiederhole, daß auch das hier genügt!« versicherte Keraban, der mit gerunzelten Augenbrauen spähte, ob das Gesicht seiner Begleiter Widerspruch ausdrücken möchte.

Zerschmettert von diesem furchtbaren Blick, bemühten sich jedoch Alle möglichst freundlich zu erscheinen.

[228] Man kam dahin überein, daß der Seigneur Keraban, Van Mitten und Bruno in der Araba Platz nehmen sollten. Auf einem der Pferde ritt der Kutscher, der an jeder Station für den Wechsel der Pferde sorgen sollte; Ahmet und Nizib dagegen, welche mehr an das Reiten gewöhnt waren, sollten zu Pferde folgen. So hoffte man bis Trapezunt keine besondere Verzögerung zu erleiden. In jener bedeutenden Stadt aber wollte man Mittel und Wege finden, die Reise auf bequemere Art zu vollenden.

Der Seigneur Keraban gab das Zeichen zum Aufbruch, nachdem die Araba mit einigen Vorräthen an Lebensmitteln und Geräthen versehen war, ohne die beiden Nargilehs zu rechnen, welche bei der Collision glücklich gerettet und nun zur Verfügung der Eigenthümer gestellt wurden. An diesem Theile der Küste liegen die Dörfer alle ziemlich nahe bei einander; nur selten trennen sie vier bis fünf Lieues. Man konnte also stets leicht ausruhen und sich mit dem Nöthigsten versorgen, wenn der ungeduldige Ahmet einige Standen der Ruhe bewilligte und vorzüglich, wenn die Dukhans der Dörfer hinreichend mit Nahrungsmitteln versehen waren.

»Nun vorwärts!« wiederholte Ahmet nach seinem Onkel, der schon in der Araba Platz genommen hatte.

Da trat Bruno an Van Mitten heran und sagte mit ernstem, fast befehlerischem Tone:

»Mynheer, wie stehts mit dem Vorschlage, den Sie dem Seigneur Keraban machen wollten?

– Ich fand noch keine Gelegenheit dazu, antwortete Van Mitten ausweichend, er scheint mir eben nicht zum besten aufgelegt zu sein...

– Also sollen wir da hinein kriechen? fragte Bruno, in möglichst verächtlicher Weise nach der Araba zeigend.

– Ja... vorläufig!

– Aber wann werden Sie sich entschließen, jene Frage wegen des Geldes zu stellen, von der unsere Befreiung abhängt?

– Im nächsten Dorfe, antwortete Van Mitten.

– Im nächsten Dorfe?

– Ja, in Archawa!«

Bruno warf als Zeichen der Mißbilligung den Kopf zurück und begab sich hinter seinem Herrn in's Innere der Araba. Das schwerfällige Fuhrwerk polterte doch in ziemlich gutem Trott die abhängige Straße hinunter.

[229] Das Wetter ließ zu wünschen übrig. Im Westen ballten sich gewitterdrohende Wolken zusammen. Dieser Theil der Küste, welcher mit voller Wucht von der Geißel der atmosphärischen Strömungen der offenen See getroffen wurde, sollte wahrscheinlich manche Schwierigkeiten bieten. Dem Wetter macht man indeß keine Vorschriften, und die fatalistischen Getreuen Mohammed's verstehen besser als Andere, es zu nehmen, wie es gerade kommt. Jedenfalls war zu befürchten, daß das Schwarze Meer nicht mehr lange seinem griechischen Namen des Pontus Euxinus, das ist »das gastfreundliche« Ehre machen sollte, sondern weit eher seinem türkischen Namen Kara Dequits, der von minder guter Vorbedeutung ist.

Zum Glück war es nicht die hohe und bergige Partie von Lasistan, welche die gewählte Reiseroute durchschnitt. Hier mangelt es an Straßen gänzlich, und man muß quer durch Wälder ziehen, welche oft noch keine Axt gelichtet hat. Die Araba hätte hier unmöglich durchkommen können. Die Küste ist besser fahrbar, und hier fehlt es nie an einem Wege von Dorf zu Dorf. Er wendet sich durch Gehege von Fruchtbäumen, unter dem Schatten von Nußbäumen und Kastanienbäumen und zwischen Lorbeergebüschen und Alpenrosen hin, welche unentwirrbare Ranken von wildem Wein mit einander verschlingen.

Wenn der Küstensaum von Lasistan also den Reisenden ziemlich bequemes Fortkommen bietet, so ist er dafür in seinen tiefen Theilen ungesund. Hier dehnen sich fieberausathmende Sümpfe aus und vom Mai bis August herrscht der Typhus endemisch. Zum Glück für den Seigneur Keraban und die Seinigen befand man sich im Monat September, und ihre Gesundheit war nicht von Gefahren bedroht. Strapazen – ja! Krankheiten... nein! Und wenn man nicht allemal von einer Krankheit wiedergenest, so kann man sich doch mit Sicherheit ausruhen. Wenn der starrsinnigste aller Türken so sprach, konnten seine Begleiter nicht wohl etwas darauf antworten.

Die Araba hielt bei dem Dorfe Archawa gegen neun Uhr Morgens. Man richtete sich ein, in einer Stunde wieder aufbrechen zu können, ohne daß Van Mitten einen Anknüpfungspunkt gefunden hätte, das bekannte Anleiheproject gegen seinen Freund Keraban zu erwähnen.

Das veranlaßte Bruno zu der Frage:

»Nun, Mynheer, ist es geschehen?...

– Nein, Bruno, noch nicht.

– Aber, es wäre wohl Zeit...

[230] – Im nächsten Dorfe.

– Im nächsten Dorfe?

– Ja, in Witse.«

Bruno, der ja in Geldangelegenheiten von seinem Herrn abhing, wie sein Herr von dem Seigneur Keraban, nahm in der Araba Platz, ohne dieses Mal seine üble Laune zu verbergen.

»Was hat denn der Bursche? fragte Keraban.

– Nichts, beeilte sich Van Mitten zu antworten, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. Er ist vielleicht etwas erschöpft.

– Er? versetzte Keraban. Er sieht ja vortrefflich aus! Mir kommt's selbst vor, als ob er fetter würde!

– Ich? rief Bruno tief innerlich verletzt.

– Ja! Er hat Anlagen, ein echter Türke mit ansehnlicher Corpulenz zu werden!«

Van Mitten ergriff den Arm Brunos, der schon gegen diese sehr zur Unzeit angebrachte Corpulenz ankämpfen wollte, und Bruno schwieg still. Die Araba kam inzwischen ziemlich schnell vorwärts. Ohne das Schütteln des Gefährts, welches kräftige Stöße veranlaßte, die sich in mehr unangenehme als schmerzhafte Contusionen übersetzten, wäre gegen die Weiterbeförderung nicht viel einzuwenden gewesen.

Die Straße war auch nicht ganz öde. Verschiedene Lasen belebten dieselbe, die von den Abhängen der Pontischen Alpen zum Verkauf oder Zwecks des Vertriebs ihrer Waaren herabkamen. Wäre Van Mitten nicht gar so sehr von seiner Interpellation eingenommen gewesen, so hätte er sein Reiseskizzenbuch mit Notizen über den Unterschied der Tracht der Kaukasier und der Lasen bereichern können. Hier tritt eine Art phrygischer Mütze, deren Bänder um den Kopf gewunden werden, an die Stelle georgischer Kopfbedeckung.


»Also sollen wir da hinein kriechen?« (S. 229.)

Auf der Brust der großen, wohlgebauten, weißhäutigen, eleganten und behenden Bewohner prangen die beiden, gleich den Pfeifen einer Panflöte angeordneten Patronenhülsentaschen, und ein Dolch mit langer Klinge, der an dem kupferbeschlagenen Gürtel hängt, vervollständigt ihre gewöhnliche Bewaffnung. Auch einige Esel trotteten die Straße entlang und brachten nach den Küstenortschaften Früchte und Felderzeugnisse aller Art, wie sie in der mittleren Bergzone gedeihen.

Mit einem Worte, wäre die Witterung verläßlicher und der Himmel weniger drohend gewesen, so hätten die Reisenden sich, selbst unter den jetzigen Verhältnissen, über ihre Fahrt nicht besonders zu beklagen gehabt.

[231] Um elf Uhr Morgens gelangten sie nach Witse, dem Pyxites der Alten, dessen griechischer Name-Buchsbaum«, durch das hier so reichliche Vorkommen dieser Pflanze gerechtfertigt erscheint. Hier frühstückte man ein wenig – etwas zu wenig, nach der Ansicht des Seigneur Keraban – denn dieser ließ heute ein Grollen von unheimlicher Vorbedeutung hören.

Van Mitten fand also noch immer keine günstige Gelegenheit, ihm mit wenigen Worten sein Anliegen vorzubringen. Als sie wieder abfahren wollten nahm ihn denn auch Bruno zur Seite.

[232] »Nun, Mynheer? fragte er.

– Gewiß, Bruno, in der nächsten Ortschaft.

– Wie?

– Ja, ja, in Artachan!«

Halb außer sich vor Schwachheit kroch Bruno murrend in eine Ecke der Araba, während sein Herr mit großem Interesse die romantische Umgebung betrachtete, in der sich holländische Sauberkeit mit der Schönheit italienischer Landschaften vermischte.


Die Straße war auch nicht ganz öde. (S. 231.)

[233] In Artachan ging es ebenso wie in Witse und in Archawa. Um drei Uhr wurden die Pferde gewechselt, um vier Uhr fuhr man weiter. In Folge einer sehr ernsthaften Mahnung Brunos, der ihn nicht länger zaudern lassen wollte, entschloß sich nun aber sein Herr, vor der Ankunft in Atina, wo die Nacht zugebracht werden sollte, die ihm längst auf den Lippen schwebende Frage zu stellen.

Bis nach diesem Dorfe waren fünf Lieues zurückzulegen, womit die Fahrtlänge des heutigen Tages volle fünfzehn Lieues erreichte. In der That war das für einen einfachen Karren recht anerkennenswerth. Der jetzt in nächster Zeit drohende Regen mußte diese Schnelligkeit freilich vermindern, da er den Zustand der Straße jedenfalls verschlechterte.

Nicht ohne Unruhe sah Ahmet sich die Periode der schlechteren Witterung so beharrlich anzeigen. In der Entfernung stiegen Gewitterwolken empor. Die schwüle Atmosphäre erschwerte schon das Athmen. Höchst wahrscheinlich mußte am Abend oder in der Nacht auf dem Meere ein Unwetter losbrechen. Mit dem ersten Donnerschlage würde dann auch die, von den elektrischen Entladungen aufgeregte Luft von furchtbaren Stürmen gepeitscht werden, und diese Stürme endlich mußten offenbar einen heftigen Niederschlag der angesammelten Dunstmassen zur Folge haben.

Mehr als drei Insassen konnte nun die Araba unmöglich aufnehmen. Weder Ahmet noch Nizib durften hoffen, unter der Plache derselben, welche einem wüthenden Sturme vielleicht selbst nicht Widerstand leisten konnte, Zuflucht zu finden. Den Reitern sowohl wie den Anderen mußte daran gelegen sein, das nächste Dorf zu erreichen.

Zwei- oder dreimal steckte der Seigneur Keraban auch den Kopf zum Wagen hinaus und besichtigte den Himmel, der sich immer mehr und mehr bedeckte.

»Schlecht Wetter im Anzuge, bemerkte er.

– Ja, lieber Onkel, antwortete Ahmet. Wenn wir nur nach der Station kommen, ehe das Gewitter ausbricht!

– Sobald es anfängt zu regnen, erwiderte Keraban, kommst Du eben zu uns in den Karren.

– Und wer soll mir da seinen Platz einräumen?

– Bruno! Der wackere Bursche übernimmt dann Dein Pferd...

– Gewiß«... fügte Van Mitten, der ja schlecht angekommen wäre, das abzulehnen, im Namen seines treuen Dieners hinzu.

[234] Selbstverständlich sah er diesen nicht an, als er eine solche Antwort gab. Er hätt' es nicht gewagt. Bruno mußte sich sehr zusammen nehmen, um nicht aufzufahren, und sein Herr fühlte das recht wohl.

»Am rathsamsten ist es, wir beeilen uns nach Möglichkeit, fuhr Ahmet fort. Wenn der Sturm losbricht, wird das Leinendach doch in Stücke gerissen und jeder Schutz darunter geht verloren.

– Treibe die Pferde an, mahnte Keraban den Postillon, und spare die Peitschenhiebe nicht!«

Der Postillon, der es eben so eilig hatte, wie die Fahrgäste, in Atina anzukommen, sparte dieselben wirklich nicht. Die von der drückenden Luft gleichfalls erschöpften Thiere konnten sich jedoch auf einer Straße, welche noch durch keinen Macadam eingeebnet war, nicht fortwährend im Trabe erhalten.

Wie sehr beneideten der Seigneur Keraban und die Seinigen den »Tchapar«, dessen Wagen ihr Gefährt gegen sieben Uhr Abends kreuzte. Es ist das der englische Courier, der alle vierzehn Tage nach Teheran Depeschen aus Europa bringt. Er braucht nur zwölf Tage, um von Trapezunt nach der persischen Hauptstadt zu gelangen, und hat dabei zwei bis drei Pferde, welche seine Briefbeutel tragen, und einige Zapties als Escorte bei sich. Auf den Poststationen genießt er aber den Vorzug vor allen anderen Reisenden, und Ahmet mußte befürchten, bei der Ankunft in Atina nur erschöpfte Pferde vorzufinden. Zum Glück hatte der Seigneur Keraban nicht ebenfalls diesen Gedanken; er hätte damit eine ganz natürliche Gelegenheit gefunden, neue Klagen auszustoßen, und würde sich dieselbe gewiß nicht haben entgehen lassen.

Vielleicht sachte er eine solche Gelegenheit, die ihm denn auch endlich durch Van Mitten geboten werden sollte.

Der Holländer, der sein Bruno gegebenes Versprechen nicht länger aufschieben konnte, erkühnte sich endlich, sein Wort einzulösen, was er natürlich mit größtmöglicher Geschicklichkeit einzuleiten suchte. Das jetzt bevorstehende schlechte Wetter erschien ihm als vorzüglicher Anlaß zur Klärung der Sachlage.

»Freund Keraban, begann er mit dem Tone eines Mannes, der bei Leibe keinen Rath ertheilen will, sondern vielmehr einen solchen erwartet, was denken Sie von diesem Zustand der Atmosphäre?

– Was ich davon denke?

[235] – Ja... Sie wissen, wir nähern uns der Herbst-Tag-und Nachtgleiche und es ist zu befürchten, daß der zweite Theil unserer Reise nicht unter so günstigen Verhältnissen verlaufen wird, wie der erste.

– Nun, so sind wir eben weniger begünstigt, das ist Alles, erwiderte Keraban trocken. Es steht nicht in meiner Gewalt, den Zustand der Atmosphäre nach Belieben zu gestalten. So viel ich weiß, führ' ich keinen Befehl über die Elemente, Van Mitten.

– Nein, freilich nicht... antwortete der Holländer, den dieser Anfang nicht besonders ermuthigte. Das wollt' ich auch gar nicht sagen, werther Freund.

– Und was wollten Sie denn sage?

– Allem Anscheine nach kann das dort nur das Vorzeichen eines Gewitters sein, oder höchstens ein Gewitter, welches vorübergehen wird...

– Alle Gewitter gehen vorüber, Van Mitten! Sie dauern mehr oder weniger lange... wie etwa alle Streitfragen, aber sie gehen vorüber, und ihnen folgt wieder schönes Wetter... natürlich!

– Mindestens, bemerkte Van Mitten, wenn die Atmosphäre nicht so außerordentlich aufgeregt ist!... Wenn es nicht die Zeit der Tag- und Nachtgleiche wäre...

– Wenn man sich in dieser Zeit befindet, unterbrach ihn Keraban, so gilt es eben, sich zu fügen. Ich kann's doch nicht machen, daß wir uns nicht in der Tag- und Nachtgleiche befinden!... Es hat fast den Anschein, Van Mitten, als wollten Sie mich dafür verantwortlich machen!

– Nein... Ich versichere Ihnen... Sie verantwortlich machen..., ich, Freund Keraban,« stotterte Van Mitten hervor.

Die Sache ließ sich, das lag auf der Hand, schlecht an. Hätte er nicht Bruno dicht hinter sich gehabt, dessen halblautes Drängen er hörte, wahrscheinlich hätte Van Mitten dieses gefährliche Gespräch abgebrochen, um es erst später wieder aufzunehmen. Er konnte jetzt aber nicht zurückweichen, vorzüglich, da Keraban ihn stirnrunzelnd direct weiter ausfragte.

»Was haben Sie denn, Van Mitten? Es sieht ja aus, als ob Sie irgend welche Hintergedanken hegten?

– Ich?

– Ja, Sie! So erklären Sie sich doch deutlich! Ich liebe die Leute nicht, welche nur eine sauertöpfige Miene machen, ohne sich auszusprechen.

[236] – Ich? Eine sauertöpfige Miene machen?

– Haben Sie mir etwas vorzuwerfen? Führe ich Sie nicht nach Scutari, da ich Sie dorthin zum Abendessen einlud? War es mein Fehler, daß unser Reisewagen durch die verwünschte Eisenbahn zertrümmert wurde?«

Gewiß war es sein Fehler, nur seiner! Der Holländer hütete sich jedoch weislich, ihm das entgegen zu halten.

»Ist es mein Fehler, wenn uns jetzt schlechtes Wetter droht, und wir nur eine Araba als einziges Beförderungsmittel haben? Nun, heraus mit der Sprache!«

Van Mitten wußte in seiner Verlegenheit gar nicht, was er antworten sollte. Er begnügte sich also, seinen wenig geduldigen Gefährten zu fragen, ob er in Atina oder vielleicht in Trapezunt bleiben wolle, im Fall das schlechte Wetter die Reise zu schwierig mache.

»Schwierig heißt doch nicht unmöglich, nicht wahr? antwortete Keraban; und da ich am Ende des Monats in Scutari eintreffen muß, werden wir eben unseren Weg fortsetzen, und wenn sich alle Elemente dagegen verschwören sollten.«

Van Mitten raffte allen seinen Muth zusammen und brachte nicht ohne sichtliches Zögern seinen berühmten Vorschlag an.

»Gut, Freund Keraban, sagte er, wenn Sie das auch nicht allzusehr belästigt, so möcht' ich doch für Bruno und mich um die Erlaubniß bitten... ja, um die Erlaubniß, in Atina zurückbleiben zu dürfen.

– Sie verlangen von mir die Erlaubniß, in Atina zu bleiben? herrschte ihn Keraban, jede Silbe betonend, an.

– Ja... die Erlaubniß... die Ermächtigung... denn ich möchte nichts ohne ihre Zustimmung thun... Sie zu... zu...

– Mich zu verlassen, nicht wahr?

– Ja, zeitweilig, nur ganz zeitweilig! beeilte sich Van Mitten hinzuzusetzen. Wir sind höchst erschöpft, Bruno und ich selbst. Wir würden es vorziehen, auf dem Seewege nach Constantinopel zurückzukehren... Ja... auf dem Seewege...

– Ueber das Schwarze Meer?

– Gewiß, Freund Keraban... O, ich weiß, daß Sie gerade das Meer nicht lieben!... Ich sage das nicht, um Ihnen zu widersprechen!... Ich begreife sehr wohl, daß es Ihnen höchst unangenehm sein würde, irgend eine Seefahrt unternehmen zu sollen!... Ich finde es auch ganz natürlich, daß Sie auf der Küstenstraße weiter fahren!... Die fortwährende Anstrengung macht mir aber [237] diese Beförderungsweise zu peinlich... und... wenn Sie ihn recht ansehen, magert Bruno thatsächlich dabei ab!...

– Aha,... der Bruno magert ab! sagte Keraban, ohne sich nur nach dem unglücklichen Diener umzusehen, der mit fieberischer Hand auf die an seinem reducirten Leibe schlotternde Kleidung wies.

– Deshalb, Freund Keraban, fuhr Van Mitten fort, bitte ich Sie, uns nicht zu sehr zu zürnen, wenn wir in Atina zurückbleiben, von wo aus wir unter günstigeren Verhältnissen nach Europa zurückgelangen können. Ich wiederhole Ihnen, wir werden Sie in Constantinopel wieder treffen... oder vielmehr in Scutari... ja, in Scutari... und ich werde zur Vermählung meines jungen Freundes Ahmet gewiß nicht auf mich warten lassen!«

Van Mitten hatte Alles ausgesprochen, was er sagen wollte. Er erwartete die Antwort des Seigneur Keraban. Würde diese in einer schweigenden Zustimmung zu einer so natürlichen Bitte bestehen, oder sollte auch sie sich in einen Zornausbruch des Starrkopfes kleiden?

Der Holländer senkte den Kopf, ohne die Augen zu seinem schrecklichen Reisegefährten zu erheben zu wagen.

»Van Mitten, sagte Keraban, in einem ruhigeren Tone, als man hätte erwarten sollen, Sie werden zugeben, Van Mitten, daß Ihr Vorschlag mich erstaunen machen muß, ja, daß er mich sogar reizen könnte...

– Freund Keraban!... rief Van Mitten, der bei diesen Worten schon eine drohende Gewaltthat fürchtete.

– Bitte, lassen Sie mich ausreden! sagte Keraban. Sie können sich wohl vorstellen, daß ich eine solche Trennung nicht ohne aufrichtiges Bedauern sehen könnte. Ich füge hinzu, daß ich mich eines derartigen Vorschlags von Seiten eines Geschäftsfreundes, mit dem ich seit dreißig Jahren in Verbindung stehe, nicht versehen hätte...

– Keraban! warf Van Mitten bittend dazwischen.

– Nun, bei Allah, so lassen Sie mich doch ausreden! rief Keraban, der die ihm nur zu natürliche Erregung nicht verbergen konnte. Alles in Allem sind Sie ja Ihr freier Herr, Van Mitten; Sie sind weder mein Verwandter, noch mein Diener. Sie sind ja nur mein Freund, und ein Freund kann sich Alles erlauben, selbst die Bande alter Freundschaft zu zerreißen!

– Keraban!... Mein lieber Keraban!... rief Van Mitten, ganz ergriffen von einem solchen Vorwurfe.

[238] – Sie werden also in Atina bleiben, wenn Ihnen das beliebt, oder auch in Trapezunt, wenn Sie Trapezunt vorziehen!«

Mit diesen Worten drückte sich Keraban in seine Ecke zurück, wie ein Mann, der nur ihm gleichgiltige Leute, nur Fremde um sich hat, welche nur der Zufall zu seinen Reisegefährten machte. – Wenn nun Bruno entzückt war über diese Wendung der Dinge, so war Van Mitten dagegen höchst bekümmert, seinem Freunde diesen Schmerz bereitet zu haben. Indeß sein Vorschlag war durchgegangen, und wenn ihm auch ein solcher Gedanke kam, schreckte er doch davor zurück, ihn wieder zurückzuziehen. Uebrigens war auch Bruno noch da.

Nun blieb noch die Geldfrage übrig, die zu machende Anleihe, um in der Lage zu sein, entweder eine Zeit lang hier im Lande bleiben, oder die Reise unter günstigeren Verhältnissen vollenden zu können. Das konnte keine Schwierigkeiten machen. Der bedeutende Vermögensantheil an seinem Hause in Rotterdam mußte in nächster Zeit in der Bank von Constantinopel deponirt werden, und der Seigneur Keraban konnte sich für die entliehene Summe durch einen Check, den ihm der Holländer ausstellen wollte, wieder bezahlt machen.

»Freund Keraban, begann Van Mitten nach längerem Stillschweigen, das von Niemand unterbrochen wurde.

– Was wünschen Sie noch, mein Herr? fragte Keraban, als ob er einem ihm unbequemen Quälgeiste antwortete.

– Wenn wir nach Atina kommen... erwiderte Van Mitten, den das Wort »mein Herr« tief innerlich getroffen hatte.

– Nun, wenn wir nach Atina kommen, knurrte Keraban, werden wir uns trennen, das ist ja abgemacht.

– Ja freilich... Keraban!«

Er wagte in der That nicht, in »mein Freund Keraban« zu sagen.


Keraban besichtigte den Himmel. (S. 234.)

– Ja... gewiß, ich werde Sie dann auch bitten, mir einiges Geld zurückzulassen.

– Geld! Welches Geld?

– Eine kleine Summe, welche Sie an der Bank von Constantinopel wieder beheben können.

– Eine kleine Summe?

– Sie wissen, daß ich mit Ihnen fast ohne Geld abreiste... und da Sie so zuvorkommender Weise die Reisekosten auf sich nahmen...

– Diese Kosten gehen nur mich allein an.

[239] – Ja, ja... ich widerspreche dem ja gar nicht...

– Ich würde nicht zugegeben haben, daß Sie ein einziges Pfund ausgäben, fuhr Keraban fort, nicht ein einziges!

– Wofür ich Ihnen sehr dankbar bin, erwiderte Van Mitten; heute aber habe ich kaum noch einen Para übrig, und Sie würden mich sehr verbinden...

– Geld, um es Ihnen zu leihen, hab' ich nicht, erwiderte Keraban trocken, es bleibt mir nur eben das nöthige zur Vollendung der Reise übrig.

– Dennoch geben Sie mir jedenfalls...

[240] – Nichts, sag' ich Ihnen!

– Was?... platzte Bruno heraus.

– Bruno erlaubt sich wohl gar mit hineinzureden? sagte Keraban in unheildrohendem Tone.

– Gewiß, versetzte Bruno.

– Schweig', Bruno,« gebot ihm Van Mitten, der eine Verschärfung des Streites durch die Einmischung Brunos vermieden wissen wollte.

Bruno schwieg.


Die Thüre des Häuschens öffnete sich (S. 245)

[241] »Mein lieber Keraban, nahm Van Mitten das Wort, es handelt sich Alles in Allem um eine verschwindend kleine Summe, die mir nur dazu dienen soll, wenige Tage in Trapezunt zu verweilen...

– Verschwindend oder nicht, mein Herr, entgegnete Keraban, erwarten Sie von mir absolut nichts!

– Tausend Piaster würden hinreichen!...

– Nicht Tausend, nicht Hundert, nicht Zehn, nicht Einen! erwiderte Keraban, der allmählig in Wuth kam.

– Wie, gar nichts?

– Gar nichts!

– Ja, aber dann...

– Dann haben Sie eben die Reise mit uns fortzusetzen, Herr Van Mitten, es wird dabei an nichts fehlen. Aber Ihnen einen Piaster, einen Para, nur einen halben Para, zu überlassen, um Sie nach Belieben umherschweifen zu lassen... niemals!

– Niemals?

– Niemals!«

Die Art und Weise, wie dieses »Niemals« ausgesprochen wurde, war völlig geeignet, Van Mitten und selbst Bruno einsehen zu lassen, daß der Entschluß des Starrkopfes unerschütterlich sei. Hatte der einmal nein gesagt, so war das ebensogut wie zehnmal.

Ob sich Van Mitten verletzt fühlte durch diese Weigerung Keraban's, der seit langer Zeit Correspondent und bis vor Kurzem sein Freund war, wäre nur schwierig zu sagen, dazu birgt das menschliche Herz, und speciell das eines phlegmatischen, verschlossenen Holländers zu viel Geheimnisse. Bruno freilich schien ganz außer sich. Wie? Er mußte unter diesen Verhältnissen weiter reisen, die sich vielleicht noch verschlimmern konnten? Er sollte diese thörichte Fahrt, diese unsinnige Reise in Karren, zu Pferde oder, wer weiß, gar zu Fuße bis zum Ende mitmachen? Und alles das aus Gefälligkeit für einen starrsinnigen Osmanli, vor dem sein Herr zitterte? Er sollte den kleinen, ihm noch verbliebenen Rest von Wohlbeleibtheit einbüßen, während sich der Seigneur Keraban trotz aller Widerwärtigkeiten und Strapazen in majestätischer Rundung erhielt!

Ja! Aber was thun? – Da Bruno keinen anderen Ausweg als den sah, »zu brummen, so brummte er eben in seiner Ecke. Einen Augenblick dachte er auch daran, allein zurückzubleiben und Van Mitten allen Folgen einer solchen [242] Tyrannei zu überlassen. Leider thürmte sich dagegen wieder die Geldfrage vor ihm auf, wie dieselbe seinem Herrn entgegengetreten war, der jetzt nicht einmal so viel besaß, ihm seinen Lohn auszuzahlen. Er mußte also wohl oder übel bei ihm aushalten.

Während dieser Verhandlungen rollte die Araba nur mühsam vorwärts. Der schwer mit Wolken belastete Himmel schien sich auf das Meer niederzusenken. Das dumpfe Grollen der Brandung verrieth, daß die offene See schon sehr erregt war. Jenseits des Horizontes mochte der Wind in Sturm umgeschlagen sein.

Der Kutscher trieb die Pferde an, so gut er konnte. Die armen Thiere vermochten sich kaum vorwärts zu schleppen. Ahmet, der es eilig hatte nach Atina zu kommen, feuerte sie gleichfalls noch an, dennoch unterlag es keinem Zweifel mehr, daß das Unwetter sie unterwegs überraschen würde.

Der Seigneur Keraban hielt die Augen geschlossen und sagte kein Wort. Dieses Stillschweigen bedrückte Van Mitten, der lieber einen Zornesausbruch seines alten Freundes hingenommen hätte. Er fühlte es, welche Verwünschungen jetzt Jener gegen ihn aufhäufte. Wenn diese einmal zur Explosion kamen, mußte es fürchterlich werden.

Endlich hielt es Van Mitten nicht mehr aus; er neigte sich zu Keraban's Ohr, so daß Bruno ihn nicht verstehen konnte.

»Freund Keraban? sagte er.

– Was gibt's? fragte Keraban.

– Wie konnte ich auch nur auf den Gedanken kommen, Sie zu verlassen! fuhr Van Mitten fort.

– Ja, wie?

– Wahrhaftig, jetzt begreif' ich's gar nicht mehr.

– Ich auch nicht!« meinte Keraban.

Das war eben Alles; die Hand Van Mitten's sachte jedoch die Keraban's, der diesen Beweis der Reue mit edelmüthigem Gegendruck entgegenkam, von dem des Holländers Finger die Spuren lange tragen sollten.

Es war schon neun Uhr Abends und die Nacht drohte sehr dunkel zu werden. Das Unwetter entlud sich mit entsetzlicher Heftigkeit. Der ganze Horizont flammte von grellen Blitzen, obwohl jetzt der Donner noch nicht zu hören war. Dazu erhob sich bald ein so furchtbarer Sturm, daß wiederholt die Befürchtung entstand, die Araba könnte davon umgestürzt werden. Erschöpft und außer Athem hielten die Pferde jeden Augenblick an, bäumten sich und [243] drängten nach vorwärts, so daß der Führer alle Mühe hatte, sie im Zügel zu halten.

Was war aber unter solchen Umständen zu thun? Ohne Obdach konnte man auf dem offenen, vom Westwind gepeitschten Uferland unmöglich Halt machen, und bis zur nächsten Ortschaft war wenigstens noch eine Strecke von einer halben Stunde zurückzulegen.

Ahmet fühlte sich sehr beunruhigt und wußte nicht, wozu er sich entschließen sollte, als bei einer Biegung des Ufers plötzlich auf Büchsenschußweite ein heller Schein sichtbar wurde. Dieser rührte vom Feuer des Leuchtthurms in Atina her, der vor dem betreffenden Orte auf dem felsigen Ufer errichtet ist und mitten durch die Finsterniß einen blendenden Schein verbreitete.

Da gedachte Ahmet für die Nacht die Gastfreundschaft der Thurmwächter, welche ja auf ihrem Posten sein mußten, in Anspruch zu nehmen.

Er klopfte an die Thür des Häuschens am Fuße des Leuchtthurms.

Wenige Augenblicke später hätten der Seigneur Keraban und seine Gefährten dem entsetzlich wüthenden Sturme gewiß nicht mehr Widerstand zu leisten vermocht.

3. Capitel
Drittes Capitel.
In welchem Bruno seinem Kameraden Nizib einen Streich spielt, den ihm der Leser freundlich verzeihen möge.

Ein massives, in zwei Zimmer mit nach dem Meere gerichteten Fenstern getheiltes Blockhaus, ein aus starken Balken errichtetes Thurmgerüst mit katoptrischem Apparate, das heißt einer Laterne mit Reflectoren, welche das Dach des ersteren um etwa sechzig Fuß überragte, das war der Pharus von Atina und sein Zubehör. Das Ganze machte also einen recht urwüchsigen Eindruck.

Jedenfalls leistete dieses Leuchtfeuer der Schifffahrt höchst ersprießliche Dienste. Seine Einrichtung datirt erst seit wenigen Jahren. Vor dem kleinen Hafen von Atina, der viele gefährliche Stellen hat, scheiterten, bevor diese bedrohlichen Wasserstraßen des Abends erleuchtet wurden, in dieser Sackgasse[244] des asiatischen Continents ungemein viele Schiffe. Bei heftigem Nord- oder Westwinde hat hier selbst ein Dampfer, trotz der Kraft seiner Maschine, Mühe, sich im rechten Course zu erhalten, wie viel mehr ein Segelschiff, das nur unter geschicktem Laviren gegen den Wind aufzukommen vermag.

Im Blockhause am Fuße des Leuchtthurms hatten zwei Wächter beständige Wohnung; der erste Raum desselben diente ihnen als gemeinschaftliches Zimmer, im zweiten befanden sich die beiden Lagerstätten, welche sie nie gleichzeitig benützten, da Einer von ihnen jede Nacht wachen mußte, sowohl um das Feuer zu unterhalten, als auch um den Signaldienst zu versehen, wenn sich ein Fahrzeug ohne Lootsen in die Nähe von Atina heranwagte.

Auf das von außen kommende Klopfen öffnete sich die Thür des Häuschens. Unter dem Drucke des heftigen Orkans stürzte – selbst ein Orkan – der Seigneur Keraban hinein, dem Ahmet, Van Mitten, Bruno und Nizib nachfolgten.

»Was wünschen Sie? fragte einer der Wächter, dem sich sein durch das Geräusch erweckter Genosse sehr bald zugesellte.

– Ihre Gastfreundschaft für diese Nacht, erklärte Ahmet.

– Gastfreundschaft? erwiderte der Wächter. Wenn Sie nur Unterkunft suchen, steht unser Haus Ihnen offen.

– Nur Unterkunst, um den Tag abzuwarten, antwortete Keraban, und vielleicht etwas, unseren Hunger zu stillen.

– Recht gern, erwiderte der Wächter, Sie würden aber in jedem Gasthofe von Atina besser aufgehoben gewesen sein.

– Wie weit ist es noch bis nach dem Orte? fragte Van Mitten.

– Ungefähr eine halbe Lieue vom Leuchtthurm, im Rücken der Uferklippen, belehrte ihn der Wächter.

– Eine halbe Lieue bei solch' entsetzlichem Wetter zu fahren! rief Keraban. Nein, meine wackeren Leute, nein!... Hier sind ja Bänke, auf denen wir die Nacht verbringen können... Wenn unsere Araba und die Pferde hinter Eurem Häuschen einigen Schutz finden können, so haben wir Alles, was wir brauchen... Morgen mit Tagesanbruch begeben wir uns nach dem Orte hinein und dann helfe uns Allah, dort ein bequemeres Fuhrwerk zu finden...

– Und vorzüglich ein schnelleres, setzte Ahmet hinzu.

– Und eines, welches nicht so stößt, brummte Bruno zwischen den Zähnen hinein.

[245] –... als diese Araba, der immerhin nichts Schlechtes nachzusagen ist... vollendete Keraban seinen Satz, während er dem boshaften Diener Van Mitten's einen nicht besonders freundlichen Blick zusandte.

– Seigneur, sagte der Wächter, ich wiederhole, daß unsere Wohnung zu Ihrer Verfügung steht. Hier haben schon so manche Reisende gegen die Unbill der Witterung Schutz gesucht und sich begnügen müssen...

– Mit dem, womit auch wir uns begnügen werden!« versicherte Keraban.

Mit diesen Worten richteten sich die Reisenden ein, in dem Häuschen die Nacht zu verbringen. Jedenfalls konnten sie sich nur beglückwünschen, eine solche Unterkunft gefunden zu haben, wenn dieselbe auch keine weiteren Bequemlichkeiten bot. Immerhin war es nicht zu verachten, daß man den Wind nur draußen heulen und den Regen niederstürzen hörte, ohne davon belästigt zu werden.

An Schlaf wäre freilich nur zu denken gewesen, wenn hier ein, wenn auch noch so frugales Abendbrot zu erhalten war. Natürlich machte Bruno diese Bemerkung unter dem Hinweise, daß die Vorräthe erschöpft seien.

»Nun, Ihr wackeren Leute, fragte Keraban, habt Ihr uns etwas zu essen zu bieten... selbstverständlich gegen anständige Bezahlung?

– Etwas Gutes oder Schlechtes, antwortete einer der Wächter, es giebt eben, was es giebt, und für alle Piaster des kaiserlichen Schatzes wäre hier nichts weiter aufzutreiben, als was wir von Nahrungsmitteln im Leuchtthurm eben übrig haben.

– Das dürfte hinreichen, meinte Ahmet.

– Ja... wenn's genug ist!... murmelte Bruno, dessen Zähne schon zu arbeiten begannen, daß ihm das Wasser im Munde zusammenlief.

– Gehen Sie nach der anderen Stube, sagte der Wächter. Was sich da auf dem Tische befindet, es steht Ihnen zur Verfügung.

– Und Bruno wird uns bedienen, erklärte Keraban, während Nizib dem Kutscher helfen mag, die Araba und die Pferde so gut wie möglich, wenigstens gegen den Sturm geschützt, unterzubringen!«

Auf ein Zeichen seines Herrn verschwand Nizib schon durch die Thür, um Alles nach besten Kräften auszuführen.

Gleichzeitig begaben sich der Seigneur Keraban, Van Mitten und Ahmet, gefolgt von Bruno, nach der zweiten Stube und nahmen vor einem lodernden Kaminofen in der Nähe eines kleinen Tisches Platz. Hier fanden sich in groben [246] Schüsseln verschiedene Reste von kaltem Fleisch, dem die ausgehungerten Reisenden alle Ehre anthaten. Als Bruno sie so begierig essen sah, meinte er schon für sich, daß sie etwas zu viel thun möchten.

»Wir dürfen aber auch Bruno und Nizib nicht vergessen, bemerkte Van Mitten nach einer Viertelstunde unausgesetzten Kauens, die der Diener des würdigen Holländers fast endlos fand.

– Gewiß nicht, antwortete der Seigneur Keraban, es liegt kein vernünftiger Grund vor, sie, ebenso wenig wie ihre Herren, verhungern zu lassen.

– Das klingt doch wenigstens einmal verständig! murmelte Bruno.

– Und sie nicht wie Kosaken zu behandeln!... fügte Keraban hinzu. Ah, diese Kosaken... man sollte hundert solcher Kerle hängen...

– Oh! machte Van Mitten.

– Tausend... zehntausend... hunderttausend! fuhr Keraban fort, die Hand seines Freundes kräftig drückend, dann wären immer noch zu viel da!... Doch, es ist schon spät... wir wollen schlafen!

– Ja, das ist besser,« antwortete Van Mitten, der durch sein unzeitgemäßes »Oh« beinahe zum Urheber eines schrecklichen Massenmordes der Nomadenstämme des moskowitischen Reiches geworden wäre.

Der Seigneur Keraban, Van Mitten und Ahmet kehrten also in die erste Stube zurück, als Nizib eben mit Bruno zusammentraf, um jetzt auch zu essen. Hier suchten nun Alle, sich in ihre Mäntel hüllend, im Schlummer die langen Stunden dieser stürmischen Nacht wegzutäuschen. Es wurde ihnen jedoch sehr schwer, unter diesen Verhältnissen Schlaf zu finden.

Inzwischen gingen Bruno und Nizib, die sich gegenübersaßen, nun daran, gewissenhaft zu vertilgen, was in den Schüsseln und Krügen etwa übrig geblieben war.

Bruno spielte da Nizib gegenüber stets den Ueberlegenen, und Nizib benahm sich höchst unterthänig gegen Bruno.

»Nizib, begann Bruno, meiner Ansicht nach haben die Diener das Recht aufzuessen, was die Herren für sie übrig gelassen haben mögen.

– Sie haben wohl immer Hunger, Bruno? fragte Nizib, aber in zitterndem Tone.

– Hunger stets, Nizib, vorzüglich wenn zwölf Stunden vergangen sind, ohne daß ich etwas zu mir genommen habe.

– Man merkt nichts davon.


»Nicht so schnell, Herr Bruno!« (S. 252.)

[247]

– Wie, man merkt nichts davon?... Sehen Sie denn nicht, Nizib, daß ich seit acht Tagen um zehn Pfund abgemagert bin? Mit den mir zu weit gewordenen Kleidungsstücken könnte man einen zweimal so starken Mann wie mich ausstatten.

– S'ist wirklich merkwürdig, wie es Ihnen geht, Herr Bruno! Ich für meinen Theil werde bei dieser Lebensweise eher fetter.

– Ah, der nimmt dabei zu!... murmelte Bruno mit einem spöttischen Seitenblick auf seinen Kameraden.

[248] – Wollen doch einmal nachsehen, was sich in dieser Schüssel findet, sagte Nizib.

– Hm, brummte Bruno, 's ist verzweifelt wenig übrig, und wenn's zur Noth für Einen reicht, für Zwei gewiß nicht.

– Auf Reisen, Bruno, muß man sich mit dem begnügen, was man eben findet, sagte Nizib.

– Ah, Du spielst den Philosophen, sagte sich Bruno; ah, Du erlaubst Dir gar, fetter zu werden... Du...«

Damit zog er Nizib das Schüsselchen weg.

[249] »He, was zum Teufel haben Sie sich denn da zugelangt? fragte er.

– Ich weiß es nicht, aber es sieht aus wie ein Stück Hammelfleisch, antwortete Nizib, der den Teller wieder vor sich nahm.

– Hammelfleisch?... rief Bruno, Nizib nehmen Sie sich in Acht... ich glaube, Sie täuschen sich.

– Wir werden ja sehen, meinte Nizib, ein Stück Fleisch, das er gerade mit der Gabel angespießt, zum Munde führend.


Dieser Aufstieg war nur mit größter Anstrengung möglich. (S. 258.)

– Nein... nein! fiel Bruno ein, indem er ihm die Hand hielt. Nicht so übereilt! Bei Mohammed, wie Ihr sagt, ich fürchte sehr, daß das Fleisch von einem gewissen unreinen Thiere ist, natürlich nur unrein für einen Türken, nicht für einen Christen.

– Sie glauben, Bruno?

– Erlauben Sie, daß ich mich davon überzeuge, Nizib.«

Damit legte Bruno, das von Nizib gewählte Stück Fleisch auf seinen Teller, und, unter dem Vorwande es kosten zu wollen, ließ er es mit einigen Bissen völlig verschwinden.

»Nun, wie? fragte Nizib mit einiger Ungeduld.

– Nun ja, versicherte Bruno, ich täuschte mich eben nicht... es ist Schweinefleisch! Sapperment, Sie hätten bald Schweinefleisch verzehrt!

– Schweinefleisch? rief Nizib. Das ist ja verboten...

– Unbedingt.

– Und doch schien es mir...

– Zum Kukuk, Nizib, Sie können sich doch wohl auf Einen verlassen, der das besser kennen muß als Sie.

– Also, Herr Bruno?...

– Also, würde ich mich an Ihrer Stelle mit Ziegenkäse begnügen.

– Der ist aber mager! meinte Nizib.

– Ja... aber er sieht vorzüglich aus!«

Bruno stellte dabei schon den Käse vor seinen Kameraden. Nizib begann davon zu essen, freilich nicht ohne einige Grimassen zu schneiden, während der Andere gierig das gehaltvollere Mahl, welches er fälschlich als Schweinefleisch bezeichnet hatte, verschlang.

»Ihre Gesundheit, Nizib, sagte er, indem er sich aus einem auf dem Tische stehenden Kruge ein großes Glas voll einschenkte.

– Was für ein Getränke ist das? fragte Nizib.

[250] – Hm!... machte Bruno... es scheint mir...

– Was denn? fragte Nizib, auch sein Glas hinhaltend.

– Daß darunter etwas Branntwein ist... antwortete Bruno, und ein guter Muselmann kann sich doch nicht unterfangen...

– Ich kann aber nicht essen, ohne zu trinken.

– Ohne zu trinken?... Nein!... Hier im anderen Kruge ist auch frisches Wasser, mit dem Sie werden vorlieb nehmen müssen, Nizib. Seid Ihr doch glücklich, Ihr Türken, an dieses so heilsame Getränk gewöhnt zu sein!«

Und während Nizib trank, murmelte Bruno:

»Nun, werde nur davon fetter, mein Junge... immer werde fetter!«

Bei einer Wendung des Kopfes entdeckte Nizib noch eine andere Schüssel auf dem Kamine, in welcher auch noch ein verlockendes Stück Fleisch lag.

»Aha, rief Nizib erfreut, diesmal werd' ich auch etwas Besseres zu kauen bekommen!...

– Ja, diesmal gewiß, Nizib, antwortete Bruno, und wir wollen als gute Kameraden ehrlich theilen!... Wahrlich, es schmerzt mich, Sie auf so mageren Ziegenkäse beschränkt zu sehen.

– Das muß Hammelfleisch sein, Bruno.

– Ich glaub's, Nizib.«

Bruno zog dabei schon die Schüssel an sich, und fing an, das Fleischstück, welches Nizib mit den Blicken verschlang, zu zerlegen.

»Nun? fragte er.

– Ja, Hammelfleisch... erklärte Bruno, das muß von Hammeln sein. Wir begegneten ja auch vielen Heerden dieses interessanten Vierfüßlers auf unserer Reise. Man möchte fast glauben, daß es hier zu Lande fast gar nichts anders als Hammel gäbe.

– Nun also? wiederholte Nizib, seinen Teller hinüberreichend.

– Warten Sie, Nizib,... warten Sie! In Ihrem Interesse ist es doch besser, daß ich mir Gewißheit verschaffe. Sie verstehen, hier... kaum wenige Meilen von der Grenze... führt man fast noch russische Küche, und den Russen ist doch nicht zu trauen.

– Ich wiederhole Ihnen, Herr Bruno, daß diesmal von einem Irrthum keine Rede sein kann.

– Nein, nein, stimmte Bruno zu, der einen Bissen von dem Gericht gekostet hatte, Hammelfleisch ist es wohl, und doch...

[251] – Nun, was?... rief Nizib.

– Man möchte behaupten... fuhr Bruno fort, während er schnell hintereinander die auf seinem Teller liegenden Stücke verzehrte.

– Nicht so schnell, Herr Bruno!

– Hm... wenn das Hammelfleisch ist, hat es einen eigenthümlichen Geschmack.

– Ah, das muß ich probiren, rief Nizib, der trotz seiner gewöhnlichen Ruhe sich doch schon zu erheben anfing.

– Nehmen Sie sich in Acht, Nizib, nehmen Sie sich in Acht!«

Mit diesen Worten ließ Bruno die letzten Stücke des Fleisches verschwinden.

»Nun ist's aber genug, Herr Bruno!...

– Gewiß, Nizib... genug! Sie hatten diesmal völlig Recht.

– Es war Hammelfleisch?

– Echtes Hammelfleisch!

– Was Sie verschlungen haben!...

– Verschlungen, Nizib?... Das ist ein Wort, welches ich nicht gelten lassen kann... Verschlungen?... Nein, ich habe es ja nur gekostet.

– Und ich habe dabei ein hübsches Abendbrot bekommen, erwiderte Nizib in etwas kläglichem Tone. Mir scheint, Bruno, Sie hätten mir wohl meinen Theil übrig lassen sollen, und brauchten nicht Alles zu verzehren, um sich zu überzeugen, was das war...

– Hammelfleisch, gewiß, Nizib! Mein Gewissen verpflichtet mich...

– Sagen Sie lieber, Ihr Magen!

– Es anzuerkennen!... Alles in Allem haben Sie übrigens keine Ursache, es zu bedauern, Nizib.

– Und doch, Herr Bruno, und doch.

– Nein, Sie hätten nicht davon essen können.

– Und warum nicht?

– Weil das Hammelfleisch gespickt war, Nizib, verstehen Sie wohl... mit Speck... und Speck ist doch verbotene Speise!«

Darauf erhob sich Bruno vom Tische und rieb sich den Magen wie Einer, der gut gespeist hat; darauf kehrte er mit dem enttäuschten Nizib nach dem andern Zimmer zurück.

Der Seigneur Keraban, Ahmet und Van Mitten lagen hier zwar auf den Holzbänken ausgestreckt, hatten aber doch kein Auge zuthun können. Der [252] Sturm draußen wüthete immer toller. Die Balken des Holzhauses ächzten unter seinen Stößen, so daß man fürchten konnte, der Leuchthurm werde umgeworfen werden. Der Wind schüttelte an der Thür und den Fensterläden, als ob ein furchtbarer Widder gegen dieselben anrenne. Man mußte Alles besonders befestigen. Aus der Erschütterung des bis in die Wände des Hauses hinabreichenden Thurmes konnte man schließen, wie heftig der Orkan in einer Höhe von fünfzig Fuß wüthen mußte. Ob das Thurmgerüst dem Anprall widerstehen, ob das Feuer weiter brennen werde, um die gefährliche Fahrstraße von Atina zu erhellen, daran war jetzt wirklich ernsthaft zu zweifeln. Es mochte nun gegen elfeinhalb Uhr Nachts sein.

»Es ist unmöglich hier zu schlafen! rief Keraban, der sich erhob und ungeduldigen Schrittes in dem beschränkten Raume auf und ab ging.

– Nein, sagte auch Ahmet, und wenn die Kraft des Orkans noch zunimmt, so können wir anfangen, für dieses Haus zu fürchten.

– Ich denke also, es ist gut, sich für al le Fälle bereit zu halten.

– Schlafen Sie, Van Mitten? Können Sie denn schlafen?« fragte Keraban.

Er schüttelte damit seinen Freund.

»Ich war im Einschlummern, erwiderte Van Mitten.

– Das können nur sehr phlegmatische Naturen! meinte einer der Wächter. Der Wind steht auf die Küste zu, und wer weiß, ob die Klippen von Atina morgen nicht mit Trümmern bedeckt sind.

– War denn ein Schiff in Sicht? fragte Ahmet.

– Nein... erklärte der Wächter, wenigstens vor Untergang der Sonne nicht. Als ich auf den Thurm stieg, um das Leuchtfeuer anzuzünden, war auf der See nichts zu bemerken. Das ist ein Glück, denn das Fahrwasser vor Atina ist ganz schlecht, und selbst mit Hilfe unseres Feuers, das bis fünf Meilen vor den kleinen Hafen hinausleuchtet, ist es schwierig, hier einzulaufen.«

In diesem Augenblick warf ein heftiger Windstoß die Stubenthür herein, als solle sie in Stücke gehen.

Der Seigneur Keraban hatte sich jedoch gegen dieselbe geworfen, sie zugedrückt und, mit vollen Kräften gegen den Sturm ankämpfend, war es mit Hilfe des Wächters gelungen, sie wieder zurückzuschlagen.

»Welcher Starrsinn, rief er, aber ich habe ihn doch überwunden!

– Der entsetzliche Sturm! sagte Ahmet.

[253] – In der That, entsetzlich, erwiderte Van Mitten, ein Sturm, der fast denen zu vergleichen ist, die sich, nachdem sie über den Atlantischen Ocean gefegt, über Holland hereinstürzen.

– Oho, machte Keraban, nur fast zu vergleichen!

– Aber bedenken Sie, Freund Keraban, ich meine die Stürme, welche von Amerika über den Ocean kommen.

– Und kann sich denn die Wuth des Oceans mit der des Schwarzen Meeres vergleichen, Van Mitten?

– Freund Keraban, ich möchte Ihnen nicht gern widersprechen, in Wahrheit aber...

– In Wahrheit versuchen Sie es! fiel ihm Keraban in's Wort, der in jetziger Lage natürlich nicht bei guter Laune sein konnte.

– Nein.... ich sagte nur...

– Sie sagten?

– Ich wollte sagen, daß das Schwarze Meer im Vergleich zum Ocean, im Vergleich zum Atlantischen Ocean, doch nur ein See sei.

– Ein See!... fuhr Keraban, den Kopf erhebend, auf. Bei Allah! Mir scheint, Sie sagten ein See.

– Ein großer See, wenn Sie wollen, antwortete Van Mitten, der seine Ausdrücke zu mildern sachte, ein ungeheuerer See... aber doch ein See!

– Warum denn nicht ein Teich?

– Ich sagte nicht ein Teich.

– Warum nicht ein Sumpf?

– Ich sprach von keinem Sumpfe.

– Warum nicht eine Badewanne?

– Ich habe von keiner Badewanne gesprochen!

– Nein, Van Mitten, aber gedacht haben Sie das!

– Ich versichere Sie...

– Nun zugegeben... eine Badewanne! Doch wenn eine Erdrevolution Ihr Holland in diese Badewanne würfe, würde ihr ganzes Holland darin ertrinken!... Eine Badewanne!«

Und dieses Wort immer zwischen den Zähnen murmelnd, durchmaß der Seigneur Keraban wieder das Zimmer.

»Ich weiß aber ganz bestimmt, daß ich nicht eine Badewanne gesagt habe! knurrte Van Mitten, ganz außer sich... Glauben Sie, junger Freund, [254] setzte er sich an Ahmet wendend hinzu, daß ich eine solche Bezeichnung nicht einmal im Gedanken gehabt habe!... Das Atlantische Meer...

– Das mag ja sein, Herr Van Mitten, antwortete Ahmet, aber es ist weder der Ort, noch die Zeit dazu, darüber eine Auseinandersetzung anzufangen!

– »Badewanne!«... preßte der starrköpfige Mann noch einmal durch die Zähne.

Er blieb stehen, um seinem Freunde, dem Holländer, gerade in's Gesicht zu sehen, ihm, der Holland, welches der Seigneur Keraban mit Mann und Maus von den Fluthen des Pontus Euxinus verschlingen zu lassen drohte, jetzt gar nicht mehr zu vertheidigen wagte.

Noch eine Stunde etwa nahm die Gewalt des Sturmes immer zu. In großer Unruhe begaben sich die Wächter von Zeit zu Zeit nach der Decke des Häuschens, um den Holzthurm zu besichtigen, auf dessen Spitze die Laterne schwankte. Gebrochen von der Anstrengung, hatten ihre Gäste wieder auf den Bänken Platz genommen und suchten vergeblich, einige Minuten Schlaf zu finden.

Plötzlich – gegen zwei Uhr Morgens – wurden Herren und Diener heftig aus ihrem Halbschlaf aufgerüttelt. Die. Fenster, deren Läden abgerissen worden waren, gingen eben in Stücke.

Während einer kurzen, ruhigeren Pause ließ sich gleichzeitig von der Seeseite her ein Kanonenschuß vernehmen.

4. Capitel
Viertes Capitel.
In welchem Alles unter blendenden Blitzen und krachenden Donnerschlägen vor sich geht.

Alle waren aufgesprungen, nach den Fenstern geeilt und schauten nach dem Meere hinaus, dessen vom Wind zerstäubte Wogen das Wärterhäuschen mit dichtem Regen überschütteten. Draußen war es tief dunkel, und man hätte kaum auf einige Schritte etwas erkennen können, wenn nicht grelle Blitze in kurzen Zwischenräumen den Horizont erleuchtet hätten.

[255] Bei einem solchen Blitze war es, wo Ahmet auf einen sich bewegenden Punkt aufmerksam machte, der auf dem Wasser sichtbar wurde und gleich wieder verschwand.

»Ist das ein Schiff? rief er.

– Und wenn es ein solches ist, war es dasselbe, welches den Kanonenschuß abgab? sagte Keraban.

– Ich steige nach der Gallerie des Thurmes, sagte einer der Wächter, sich nach der schmalen Holztreppe begebend, welche nach dem inneren Aufstieg des Leuchtthurmes führte.

– Ich begleite Sie,« erklärte Ahmet.

Während dieser Zeit blieben der Seigneur Keraban, Van Mitten, Bruno und Nizib und der zweite Wächter trotz des Sturmes und Staubregens an den zertrümmerten Fenstern stehen.


Vom Sturme aufgescheuchte Seevögel. (S. 258.)

[256] Ahmet und sein Begleiter hatten bald im Niveau des Hausdaches die Plattform erreicht, welche dem Thurme als Grundlage diente. Von hier erhob sich zwischen den, mit Querhölzern verbundenen Balken, welche das ganze Bauwerk bildeten, eine in freier Luft aufsteigende Treppe, deren sechzigste [257] Stufe nach dem oberen, den Leuchtapparat tragenden Theile des Thurmes führte.


Eine Kugel durchschnitt die Trombe. (S. 260.)

Der Orkan wüthete jetzt so heftig, daß dieser Aufstieg nur mit größter Anstrengung durchzuführen war. Die massigen Holzpfeiler des hohen Gerüstes schwankten bis zu ihrem Grunde. Zuweilen wurde Ahmet so gewaltsam gegen das Treppengeländer gedrückt, daß er fürchten mußte, sich davon gar nicht wieder losreißen zu können; sobald der Wind aber etwas abflaute, benützte er die Gelegenheit, zwei oder drei Stufen weiter empor zu klimmen, und konnte so dem Wächter, der auch kaum schneller von der Stelle kam, bis zur oberen Gallerie folgen.

Aber welch' packendes Schauspiel bot sich hier! Ein entfesseltes Meer, das sich in ungeheueren Wellen an den Uferklippen brach; Dunstmassen, die sich in Staubregenwolken auflösten, wenn sie an der Laterne des Thurmes vorüberflogen; wahre Berge von Wasser, die sich weiter draußen aufthürmten und deren Kämme in der Atmosphäre noch genug zerstreutes Licht fanden, um sich als weißliche Schaumlinien abzuheben; ein tiefdunkler Himmel, beladen mit niedrigen, unglaublich schnell darüber hinjagenden Wolken, welche zwischen ihren Lücken zuweilen noch höhere und dichter geballte Dunstmassen erkennen ließen, aus denen lange, bläuliche Blitze hervorzuckten und geräuschlos weithin einen bleichen Schein verbreiteten, offenbar die Erscheinungen eines noch immer entfernten Gewitters.

Ahmet und der Wächter hielten sich an der Umfassung der oberen Gallerie festgeklammert. Rechts und links auf der kleinen Plattform stehend, lugten sie scharf hinaus und suchten entweder den schon einmal bemerkten beweglichen Punkt, oder den Feuerschein eines Kanonenschusses, der ihnen dessen Stelle bezeichnen könnte.

Sie sprachen übrigens nicht – und hätten einander auch nicht verstehen können – vor ihren Augen dehnte sich aber ein weiter Gesichtskreis aus. Das in dem Reflexionsapparate befindliche Licht der Laterne, welch' ersterer sozusagen einen Lichtschirm bildete, konnte sie nicht blenden, und nur vor ihnen warf diese ihr Strahlenbündel auf einen Umkreis von mehreren Meilen hinaus.

War aber nicht zu befürchten, daß auch diese Laterne plötzlich verlöschte? Dann und wann drang der heulende Sturmwind bis zur Flamme hinein, die davon so weit niedergedrückt wurde, daß sie fast jede Leuchtkraft verlor. Gleichzeitig stießen, gewaltigen, von einer Lampe herbeigelockten Insecten vergleichbar, vom Sturme aufgescheuchte Seevögel an den Apparat und zerschmetterten sich [258] die Kopfe an dessen eisernem Schutzgitter, während sie ihr betäubendes Schreien und Krächzen noch mit dem Heulen und Pfeifen des Orkans vermengten. Die Fortbewegung der Luftmassen war jetzt eine so heftige, daß der obere Theil des Thurmes in sehr umfängliches Schwanken gerieth. Diese Thatsache selbst ist keineswegs zum Verwundern; manchmal unterliegen selbst die in Mauerwerk aufgeführten europäischen Leuchtthürme so starken Schwankungen, daß sich die Gewichtsschnuren der Pendeluhren darin verwickeln und diese außer Gang gesetzt werden; viel leichter kommt das natürlich bei solchen Bauwerken vor, deren Holzmaterial die Starrheit einer Steinconstruction unmöglich haben kann. Auf jenem lustigen Standpunkte hätte der Seigneur Keraban, den schon die Wellen des Bosporus unwohl machten, ohne Zweifel alle Symptome der Seekrankheit an sich verspürt.

Ahmet und der Wächter bemühten sich also, innerhalb eines lichteren Striches den schon früher wahrgenommenen beweglichen Punkt wieder zu entdecken. Entweder aber war dieser gänzlich verschwunden, oder die Blitze erleuchteten eben nicht die Stelle, welche er einnahm. War es ein Fahrzeug, so lag ja die traurige Vermuthung nahe, daß dasselbe bei dem Wüthen des Orkans untergegangen sei.

Plötzlich streckte Ahmet die Hand gegen den Horizont aus. Sein Auge konnte ihn nicht täuschen. Ein furchtbares Meteor wirbelte von der Meeresfläche bis zum Wolkenrande empor.

Zwei anfänglich blasenartige Säulen, unten von wässeriger, oben von dunstartiger Beschaffenheit, vereinigten sich durch eine konische Spitze und trieben, wie belebt von einer schlangenwindungartigen, ungeheuer schnellen Bewegung, über das unter ihnen aufkochende Meer, während sie der Druck des Windes nach der einen Seite tief ausbog. Wurde es ein wenig ruhiger, so vernahm man ein scharfes Pfeifen von solcher Stärke, daß es auf weite Strecken hinaus hörbar sein mußte. Flackernde Zickzackblitze durchfurchten den oberen Theil der Säulen, der sich in der Wolkendecke verlor.

Es waren zwei Wasserhosen, und der Seefahrer hat alle Ursache, bei dem Auftreten dieser furchtbaren Naturerscheinungen, deren wirklicher Entstehungsgrund noch nicht einmal festgestellt ist, zu erschrecken.

Plötzlich krachte in geringer Entfernung von einer der Tromben ein dumpfer Donner, dem ein greller Lichtblitz vorausgegangen war.

– Das war ein Kanonenschuß!« rief Ahmet, die Hand in der Richtung nach dem Pulverblitze ausstreckend.

[259] Der Wächter hatte eben auch alle Kraft seines Sehvermögens auf jene Stelle concentrirt.

»Ja... da... da!« antwortete er.

Und beim Aufleuchten eines weithin zuckenden Blitzes konnte Ahmet ein mit dem Sturme kämpfendes Schiff von geringem Tonnengehalte erkennen.

Es war eine theilweise entmastete Tartane mit zu Fetzen gerissenem Großsegel. Ohne Hilfsmittel, sich in bestimmter Richtung zu halten, trieb dieselbe rettungslos der Küste zu. Mit den Klippen unterm Winde und den beiden Tromben, die auf sie zukamen, in der Nähe, konnte sie dem Untergange unmöglich entweichen. Verschlungen oder zerschmettert zu werden – das schien offenbar nur noch die Frage einer ganz kurzen Zeit.

Und dennoch hielt diese Tartane noch immer Stand. Vielleicht gerieth sie gar, wenn der anziehende Wirbel der Tromben sie nicht packte, in eine günstige Strömung, auf der sie nach dem Hafen gelangte. Unter dem Drucke des auf die Küste zu stehenden Windes konnte sie vielleicht, selbst ohne Segelwerk, das Fahrwasser erreichen, dessen Richtung und Verlauf ihr das Feuer des Leuchtthurms angab. Das wäre eine letzte Aussicht auf Rettung gewesen.

Die Tartane versuchte auch gegen die sie zunächst bedrohende Wasserhose anzukämpfen, in deren Strudel sie untergegangen wäre. Das war der Grund jener Kanonenschüsse, welche nicht als Nothsignale zu deuten waren, sondern zur Vertheidigung abgefeuert wurden. Es galt, die sich windende Säule durch Kanonenschüsse zu zerreißen. Das gelang zwar einmal, aber doch nicht hinreichend Eine Kugel durchschnitt die Trombe in dem ersten Drittel ihrer Höhe, die beiden Einzeltheile trennten sich und schwammen gleich zwei Rüsseln irgend eines phantastischen Ungeheuers ein Stück umher, dann aber vereinigten sie sich auf's Neue und nahmen, unterwegs Luft und Wasser aufsaugend, die wurmförmige Bewegung wieder an.

Es war jetzt um drei Uhr Morgens. Die Tartane trieb noch immer vor dem Eingange des canalartigen Fahrwassers.

In diesem Augenblicke erschütterte ein besonders wuchtiger Anprall des Sturmes das Leuchtthurmgerüst bis in seine Grundfesten. Ahmet und der Wächter mußten befürchten, daß dasselbe aus dem Boden gehoben würde. Planken und Balken krachten und drohten die Winkeleisen zu zerreißen, welche alles untereinander zusammenhielten. Jetzt wurde es höchste Zeit hinabzusteigen und in dem Hause Schutz zu suchen.

[260] Ahmet und der Wächter gingen sofort daran, aber es gelang ihnen nur mit größter Mühe, so stark schwankte die Wendeltreppe unter ihren Füßen. Endlich gelang ihnen das Wagstück doch und sie kamen nach den untersten Stufen, welche nach dem Innern des Häuschens führten.

»Nun? fragte Keraban.

– Es ist ein Schiff, erklärte Ahmet.

– In Seenoth?...

– Ja, erwiderte der Wächter, wenigstens wenn es nicht direct in den Canal von Atina einläuft.

– Kann es denn das?

– O ja, im Fall sein Capitän das Fahrwasser kennt und ihm das Leuchtfeuer den Weg zeigt.

– Und sonst kann man ihn nicht leiten... ihm keinerlei Hilfe bringen? fragte Keraban.

– Nein, auf keine Weise!«

Plötzlich erhellte ein gewaltiger Blitzschlag das ganze Häuschen und sofort krachte ein wüthender Donner ihm nach. Keraban und die Seinen fühlten sich von elektrischer Erschütterung wie gelähmt. Er war fast ein Wunder zu nennen, daß sie, wenn auch nicht direct, so doch vom Gegenschlage nicht todt niedergeschmettert wurden.

Gleichzeitig dröhnte aber auch ein entsetzliches Lärmen. Eine schwere Masse stürzte nieder auf das Dach, welches dem Drucke nachgab, so daß der Orkan durch eine breite Oeffnung Einlaß fand und die Holzwände der einen Seite des Raumes niederdrückte.

Wunderbarer Weise hatte die Vorsehung dabei alle Personen geschützt, so daß Niemand eine Verletzung davontrug. Das losgerissene Dach war nach der rechten Seite sozusagen ausgeglitten, während sich Alle in einer Ecke der linken nahe der Thür befanden.

»Hinaus, hinaus!« drängte einer der Wächter und sprang damit schon auf die Felsklippen des Ufers.

Alle setzten ihm nach und erkannten nun die Ursache dieser Katastrophe. Das von einer elektrischen Entladung getroffene Thurmgerüst war am unteren Theile zerschmettert worden. In Folge dessen hatten sich die oberen Etagen des Bauwerks gesenkt, das beim Zusammenbrechen das feste Dach durchschlug. Darauf vollendete der Orkan in einem Augenblicke das Werk der Zerstörung.

[261] Jetzt leuchtete kein Feuer mehr, die Fahrstraße zu erhellen. Wenn die Tartane auch dem Verschlungenwerden durch die Wasserhosen entging, so mußte sie dafür unfehlbar an den Klippen zu Grunde gehen.

Noch sah man sie sich immer wieder aufrichten, während die aus Wasser und Luft bestehenden Säulen sie umwirbelten. Kaum eine halbe Kabellänge trennte sie von einem ungeheuren Felsblock, der höchstens fünfzig Fuß von der äußersten Landspitze im Nordwesten emporragte. Hier mußte das kleine Fahrzeug jedenfalls anstoßen, zertrümmert werden und untergehen.

Keraban und seine Gefährten liefen längs des Ufers hin und her und starrten erschreckt auf das ergreifende Schauspiel, nicht im Stande, dem in höchster Gefahr schwebenden Schiffe Beistand zu leisten, da sie selbst Mühe hatten, sich gegen den entfesselten Sturm zu halten, der sie mit Wasserstaub und dem beigemengten Sande überschüttete.

Auch einige Fischer aus dem Hafen von Atina waren herzugelaufen, vielleicht nur, um sich die Wrackstücke von der Tartane streitig zu machen, welche die Brandung bald auf die Felsen werfen mußte. Der Seigneur Keraban, Ahmet und deren Genossen verstanden die Sache aber anders. Sie wollten Alles versucht sehen, die Schiffbrüchigen zu retten. Ja, sie wollten noch mehr, nämlich, so gut es sich thun ließ, Maßnahmen treffen, um der Besatzung der Tartane den Weg nach dem richtigen Fahrwasser anzugeben. Es könnte sie ja eine Strömung, unter Vermeidung der auf beiden Seiten emporstarrenden Klippen, dahin tragen.

»Fackeln! Fackeln her!«... rief Keraban.

Sofort wurden mehrere, von einer Gruppe Seeföhren dicht neben dem eingestürzten Blockhause abgerissene harzige Zweige in Brand gesteckt, und ihre qualmende Flamme mußte nun wohl oder übel das erloschene Feuer des Thurmes ersetzen.

Noch immer trieb die Tartane wahrscheinlich vor einem Schleppanker Beim salben Schein der Blitze sah man ihre Mannschaft arbeiten. Der Capitän versuchte ein Sturmsegel zu hissen, doch kaum aufgezogen, riß es der Orkan von der Stenge los und die Leinwandfetzen wurden bis an's Ufer geworfen wo sie an den Leuten daselbst wie flatternde Sturmvögel vorüberhuschten.

Der Rumpf des kleinen Fahrzeuges erhob sich manchmal zu ganz erstaunlicher Höhe und stürzte dann wieder in einen Abgrund hinab, in dem er gänzlich zertrümmert worden wäre, wenn dieser felsigen Grund hatte.

[262] »Die Unglücklichen! rief Keraban. Liebe Leute, läßt sich denn nichts zu ihrer Rettung thun?

– Nichts! erklärten die Fischer.

– Nichts?... Nichts?... Nun denn, tausend Piaster!... Zehntausend Piaster!... Hunderttausend... wer ihnen Hilfe bringt!«

Das edelmüthige Angebot konnte leider nicht angenommen werden. Es war unmöglich, sich mitten in dieses wüthende Meer zu stürzen, um eine Verbindung zwischen der Tartane und dem äußersten Punkte des Landes herzustellen. Mit einem jener neueren Rettungsapparate, etwa einem Mörser, hätte man wahrscheinlich eine Leine über das Fahrzeug schießen können; solche Maschinen fehlten aber hier; ja, der kleine Hafen von Atina besaß nicht einmal ein einfaches Rettungsboot.

»Wir können sie aber unmöglich dem Verderben preisgeben!« wiederholte Keraban, der sich angesichts dieses Schauspieles kaum zu fassen vermochte.

Erstarrt vor Schreck, sahen sich Ahmet und seine Gefährten zu völliger Ohnmacht verurtheilt.

Plötzlich sprang Ahmet, der einen vom Deck der Tartane herüberschallenden Schrei vernahm, in die Höhe, es schien ihm, als ob sein Name – ja, sein eigener Name – das Getöse von Sturm und Wellen übertönt habe.

Wirklich wiederholte sich in einem ruhigeren Augenblick dieser Ruf, und er hörte deutlich:

»Ahmet!... Zu Hilfe!... Ahmet!«


Ahmet hielt eine der Schiffbrüchigen in den Armen. (S. 266.)

Wer konnte ihn so rufen? Unter einer fürchterlichen Ahnung hämmerte sein Herz, als ob es brechen wollte... Diese Tartane... es erschien ihm, als kenne er sie wieder... als habe er sie schon gesehen!... Wo?... War das nicht in Odessa, dicht vor der Villa des Banquiers Selim und am Tage seiner Abreise?

»Ahmet!... Ahmet!...«

Noch einmal schallte sein Name herüber.

Keraban, Van Mitten, Bruno und Nizib hatten sich dem jungen Mann genähert, der mit nach dem Meere ausgebreiteten Armen, aber unbeweglich dastand, als sei er zu Stein geworden.

»Dein Name!... Das ist doch Dein Name? redete Keraban ihn an.

– Ja!... Ja!... sagte er... Mein Name!

Plötzlich erhellte ein über zwei Secunden andauernder Blitz – er zuckte von einer Seite des Horizontes zur anderen – die ganze Umgebung. Inmitten [263] dieser feurigen Entladung erschien die Tartane so deutlich, als würde sie von dem elektrischen Effluvium auf eine dunkle Tafel gezeichnet. Ihr Großmast war von einem Blitzstrahl getroffen worden und loderte, angefacht vom Winde, gleich einer riesigen Fackel in die Höhe. – Auf dem Hintertheile der Tartane hielten sich zwei junge Mädchen fest umklammert, und von ihren Lippen tönte es noch einmal:

»Ahmet!... Ahmet!

– Sie!... Sie ist es! Amasia?... rief der junge Mann, schon auf die höchste Klippe springend.

[264] – Ahmet!... Ahmet!« wiederholte nun auch Keraban.

Er stürzte auf seinen Neffen zu, nicht um ihn zurückzuhalten, sondern um ihm zu helfen, wenn er es bedurfte.


Alle saßen vor den knisternden Flammen. (S. 269.)

»Ahmet!!... Ahmet!«

Zum letzten Male wurde jetzt dieser Name so deutlich ausgerufen, daß ein Zweifel unmöglich war.

»Amasia!... Amasia!...« rief Ahmet dagegen und stürzte sich damit in die schäumende Brandung, in der er verschwand.

[265] In diesem Augenblicke erreichte eine der Tromben den Vordertheil der Tartane, zog sie unwiderstehlich in ihren Strudel und schleuderte sie auf die Felsklippen zur Linken, da wo ein großer Block nahe der nordwestlichen Landspitze hervorragte.

Hier zerbarst das kleine Fahrzeug mit einem Krachen, das einen Augenblick selbst das Getöse des Sturmes übertönte. Dann versank es mit rasender Schnelle, und auch das Meteor ging durch den Anprall zu Grunde, indem es gleich einer riesigen Bombe zerplatzte und dem Meere seine flüssige Basis, den Wolken aber die Dunstmassen wiedergab, die seinen sich windenden Helmbusch bildeten.

Man mußte wohl Alle, welche die Tartane trug, ebenso wie den muthigen Retter für verloren halten, der es gewagt hatte, den jungen Mädchen Hilfe zu bringen.

Keraban wollte sich ebenfalls in das gurgelnde Wasser stürzen, um seine Rettung zu versuchen... seine Gefährten mußten ihn mit Gewalt zurückhalten, um ihn zu hindern, sich dem gewissen Untergange zu weihen.

Inzwischen war auch, beleuchtet von den fortwährend zuckenden Blitzen, Ahmet wieder sichtbar geworden. Mit übermenschlicher Kraft hatte er sich auf den Felsblock geschwungen und hielt eine der Schiff brüchigen in seinen Armen!... Die andere klammerte sich an seine Kleidung und stieg mit ihm empor... Außer diesen Beiden schien aber Niemand gerettet zu sein. Unzweifelhaft war die ganze Besatzung der Tartane, welche sich bei der Annäherung der Trombe in's Meer geworfen hatte, untergegangen, und die jungen Mädchen waren wohl die einzig Ueberlebenden aus diesem Schiffbruche.

Als Ahmet sich außer dem Bereiche der Wellen sah, maß er mit den Augen die Entfernung vom Felsen bis zum Lande – es konnten höchstens fünfzehn Fuß sein. Und als dann einmal eine ungeheuere Woge zurückfloß, so daß kaum einige Zoll Wasser über dem Sande zurückblieben, eilte er mit seiner Bürde, gefolgt von dem anderen jungen Mädchen, nach dem Felsen am Strande, den er auch glücklich erreichte. Eine Minute später befand sich Ahmet inmitten seiner Freunde. Dort sank er, nachdem er noch die, welche er gerettet, in deren Arme gelegt, von Anstrengung und Erregung überwältigt zusammen.

»Amasia!... Amasia!« rief Keraban.

Ja, das war Amasia... Amasia, die er in Odessa zurückgelassen, die Tochter seines Freundes Selim! Sie befand sich an Bord jener Tartane, sie wäre beinahe[266] , dreihundert Lieues von ihrer Heimat, am anderen Ende des Schwarzen Meeres jämmerlich umgekommen! Und mit ihr war Nedjeb, ihre Dienerin. Was konnte hier vorgefallen sein?

Weder Amasia noch die junge Zigeunerin hätte es jetzt sagen können, denn Beide hatten das Bewußtsein verloren.

Der Seigneur Keraban nahm das junge Mädchen in seine Arme, während einer der Thurmwächter Nedjeb aufhob. Ahmet war wieder zu sich gekommen, aber noch ganz außer Stande, seine Gedanken zu beherrschen, wie Einer, dem die Empfindung für die Wirklichkeit noch mangelt; dann begaben sich Alle nach Atina, wo einer der Fischer ihnen in seiner Hütte Obdach gewährte.

Amasia und Nedjeb wurden vor den Kamin gesetzt, in dem ein helles Feuer von dürren Weinreben loderte.

Ueber das junge Mädchen herabgeneigt, unterstützte Ahmet deren Kopf. Er rief sie... er sprach auf sie...

»Amasia!... Meine geliebte Amasia!... Sie hört mich nicht!... Sie antwortet nicht!... Ach, wenn Sie todt wäre, müßt' auch ich sterben!

– Nein, sie ist nicht todt, versicherte Keraban, sie athmet ja!... Ahmet... Nein, nein, sie lebt!...«

Da erhob sich Nedjeb erst langsam und warf sich dann mit einem Schrei der Verzweiflung über Amasia.

»Meine Herrin!... Meine einzig geliebte Herrin!... schluchzte sie... ja... sie lebt... sie öffnet die Augen!«

In der That hoben sich einen Augenblick die Lider des jungen Mädchens.

»Amasia!... Amasia!« rief Ahmet.

– Ahmet... mein theurer Ahmet!« antwortete das junge Mädchen schwach.

Keraban drückte Beide herzhaft an seine Brust.

»Was für eine Tartane war denn das? forschte Ahmet.

– Dieselbe, welche wir besuchen sollten, Herr Ahmet, ehe Sie von Odessa abreisten, antwortete Nedjeb.

– Die »Guidare« mit dem Capitän Yarhud?

– Ja!... Er war es, der uns Beide weggeführt hat.

– In wessen Auftrage handelte er?

– Das wissen wir nicht.

– Und wohin war die Tartane bestimmt?

[267] – Das wissen wir ebenso wenig, Ahmet, erklärte Amasia. Aber Du bist ja nun bei mir... nun hab' ich Alles vergessen!...

– Ich werd's aber niemals vergessen!« rief der Seigneur Keraban.

Wenn er sich in diesem Augenblick umgedreht hätte, würde er einen Mann entdeckt haben, der erst an der Hütte lauschte und dann schnell entfloh.

Das war Yarhud, der einzig Ueberlebende von seiner Mannschaft. Urplötzlich und ohne von Jemand bemerkt worden zu sein, entschwand er nach der ent gegengesetzten Richtung von Atina.

Der Maltesercapitän hatte Alles gehört. Er wußte nun, daß Ahmet in Folge eines unbegreiflichen Zufalls sich gerade beim Schiffbruch der »Guidare« so in der Nähe befand, um Amasia dem Tode entreißen zu können.

Als er die letzten Häuser der Ortschaft hinter sich hatte, blieb Yarhud noch einmal stehen.

»Der Weg von Atina bis zum Bosporus ist weit, sagte er, und ich werde schon den Auftrag des Seigneur Saffar auszuführen wissen!«

5. Capitel
Fünftes Capitel.
Wovon man auf dem Wege von Atina nach Trapezunt spricht und was man dabei sieht.

Daß die beiden Verlobten glücklich waren, sich auf diese Weise wenigstens wieder gefunden zu haben; daß sie Allah für diese Hilfe der Vorsehung dankten, die Ahmet nach dem Orte geführt hatte, wo der Sturm die Tartane zerschellen lassen sollte; daß sie eine aus Freude und Entsetzen gemischte Erregung empfanden welche einen unauslöschlichen Eindruck hinterließ, ist wohl unnöthig weiter auszumalen.

Man begreift auch, daß Ahmet und sein Onkel Keraban nicht weniger es kaum erwarten konnten zu hören, was seit ihrer Abreise aus Odessa vorgefallen sei, und daß Amasia mit Hilfe Nedjebs sich sofort bequemen mußte Alles bis in's Eingehendste zu berichten.

[268] Natürlich waren den beiden jungen Mädchen andere Kleider beschafft worden; auch hatte sich Ahmet in des Costüm des Landes gekleidet, und jetzt saßen Alle, Herren und Diener, auf niederen Schemeln vor den knisternden Flammen und bekümmerten sich nicht um den Sturm, der noch immer tobte.

Mit welcher Erregung vernahmen Alle, was in der Villa Selim, wenige Stunden, nachdem der Seigneur Keraban sie auf die Straßen des Chersones geschleppt, vorgefallen war. Nein, nicht um dem Mädchen kostbare Stoffe zu verkaufen, hatte Yarhud in der kleinen Bai dicht unter der Wohnung des Banquiers Selim Anker geworfen, sondern um einen abscheulichen Raub auszuführen, und Alles ließ vermuthen, daß die Sache von langer Hand vorbereitet gewesen sei.

Nach Ergreifung der jungen Mädchen war die Tartane sofort ausgelaufen. Was aber weder die Eine noch die Andere sagen und sie auch nicht einmal wissen konnten, war, daß Selim ihre Hilferufe noch gehört, und daß der unglückliche Vater in dem Augenblick, wo die »Guidare« an den letzten Felsen der Bai vorübersegelte, von einem, vom Deck der Tartane abgefeuerten Schusse getroffen worden und zusammengestürzt war – vielleicht todt – jedenfalls so schwer verletzt, daß er Niemand von seinen Leuten zur Verfolgung der Räuber auszusenden vermochte.

Ueber ihre Behandlung an Bord hatten die beiden jungen Mädchen nicht viel zu berichten. Der Capitän wie seine Leute erwiesen Amasia, ebenso wie Nedjeb, eine Zuvorkommenheit, welche wohl einer einflußreichen Empfehlung zuzuschreiben war. Die bequemste Cajüte des kleinen Fahrzeugs war ihnen eingeräumt worden. Dort saßen und schliefen sie. Sie konnten dabei nach Belieben auf das Deck gehen, bemerkten aber, daß sie dann scharf beobachtet wurden, wahrscheinlich für den Fall, daß sie, von der Verzweiflung getrieben, es vorgezogen hätten, den Tod zu suchen, um dem ihrer harrenden Schicksale zu entgehen.

Schmerzlich berührt hörte Ahmet ihre Schilderungen. Er fragte sich, ob der Capitän bei dieser Entführung wohl auf eigene Rechnung gehandelt habe, um seine Gefangenen auf den Märkten Kleinasiens zu verkaufen – wo ein solcher Menschenhandel auch jetzt noch nicht zu den Seltenheiten gehört – oder ob er im Auftrage irgend eines reichen Anatoliers gehandelt haben möge.

Hierauf konnte freilich, obwohl diese Fragen ihnen direct vorgelegt wurden, weder Amasia noch Nedjeb eine Antwort geben. Allemal, wenn sie in [269] ihrer Verzweiflung bittend und weinend Yarhud darüber befragt hatten, schlug dieser es ab, sie hierüber aufzuklären. Sie wußten also weder für wen der Capitän der Tartane gehandelt habe, noch – was Ahmet vorzüglich zu erfahren wünschte – wohin sie die »Guidare« hätte bringen sollen.

Die Fahrt selbst war zuerst ziemlich gut, aber langsam von Statten gegangen, wegen der Windstille, welche mehrere Tage hintereinander angehalten hatte. Sie hatten dabei deutlich genug beobachtet, wie sehr diese Verzögerungen dem Capitän, der seine Ungeduld gar nicht zu bemänteln sachte, unangenehm waren. Die beiden jungen Mädchen hatten daraus geschlossen – und Ahmet und der Seigneur Keraban stimmten ihnen hierin zu – daß Yarhud sich verpflichtet haben mochte, zur bestimmten Zeit irgendwo einzutreffen... aber wo?... das blieb natürlich unklar, obwohl es nur eine Hafenstadt Kleinasiens sein konnte, nach welcher die »Guidare« bestimmt gewesen war.

Endlich verschwand die Windstille und die Tartane konnte ihren Weg nach Osten wieder aufnehmen, oder, wie Amasia sagte, die Richtung nach Sonnenaufgang. So segelten sie ohne Unfall zwei Wochen lang hin; manchmal kreuzten sie entweder Segelschiffe, Kriegs- oder Handelsfahrzeuge, oder auch schnelle Dampfer, welche in regelmäßigen Fahrten die ungeheure Fläche des Schwarzen Meeres durchschneiden; dann zwang sie der Capitän aber, in ihre Cajüte hinabzusteigen, wahrscheinlich aus Furcht, sie könnten ein Nothsignal geben, das bemerkt würde.

Die Witterung wurde darauf bedrohlich, dann schlecht, endlich abscheulich. Zwei Tage vor dem Scheitern der »Guidare« erhob sich ein heftiger Sturm. Amasia und Nedjeb erkannten aus der Wuth des Capitäns, daß er sich gezwungen gesehen hatte, seinen Cours zu ändern, und daß der Wind ihn dahin trieb, wohin er gar nicht wollte. So kam es, daß die beiden jungen Mädchen sich fast glücklich schätzten, von dem Sturme fortgeführt zu werden, da er sie gleichzeitig von dem Ziele entfernte, dem die »Guidare« eigentlich zusteuerte.

»Ja, liebster Ahmet, sagte Amasia am Ende ihrer Erzählung, wenn ich des Schicksals gedachte, das mir bestimmt schien, mich von Dir getrennt sah und dahingeschleppt, wo Du mich nie wieder gesehen hättest – war mein Entschluß schon gefaßt!... Nedjeb kannte ihn!... Sie hätte mich nicht hindern können, ihn auszuführen; und bevor die Tartane das gefürchtete Ufer erreichte... hätte ich mich in die Wogen gestürzt. Da kam der Sturm! Was uns zu vernichten drohte, hat uns gerettet... Du, mein Ahmet, erschienst mir inmitten der wüthenden Wellen... nein... das werd' ich nimmermehr vergessen!

[270] – Liebste Amasia, antwortete Ahmet, Allah wollte es, daß Du gerettet... und durch mich gerettet wurdest... Aber wenn ich meinem Onkel nicht zuvorgekommen wäre, würde er auch nicht gezögert haben, Dir Hilfe zu bringen.

– Bei Mohammed, das will ich glauben! rief Keraban.

– Und ein so starrköpfiger Mann sollte ein so gutes Herz haben! murmelte Nedjeb fast wider Willen.

– Ah, die Kleine da wagt es, sich an mir zu reiben! versetzte Keraban. Und doch, liebe Freunde, habt Ihr meinem Starrsinn zuweilen etwas Gutes zu verdanken.

– Zuweilen? fragte Van Mitten sehr ungläubig. Ich möchte doch gerne erfahren...

– Gewiß, Freund Van Mitten! Hätte ich den Launen Ahmets nachgegeben und wäre auf der Eisenbahn durch die Krim und den Kaukasus gefahren, statt der Straße längs der Küste zu folgen, wäre Ahmet dann im Moment des Schiffbruches bei der Hand gewesen, um seine Verlobte zu retten?

– Nein, gewiß nicht! versicherte Van Mitten; doch, Freund Keraban, wenn Sie ihn nicht genöthigt hätten, Odessa zu verlassen, so wär' es zweifelsohne gar nicht zu jener Entführung gekommen und...

– Aha, so betrachten Sie die Sache, Van Mitten! Sie wollen darüber, wie es scheint, mit mir Streit...

– Nein, beileibe nicht!... fiel ihm Ahmet in's Wort, der schon herausfühlte, daß der Holländer bei einem in dieser Weise heraufbeschworenen Wortwechsel nicht obsiegen könne. Uebrigens ist es schon etwas spät, um noch das Für und Wider zu erörtern, und es scheint mir besser, wir suchen einige Ruhe....

– Um morgen weiterreisen zu können, sagte Keraban.

– Morgen, lieber Onkel, morgen?... wandte Ahmet ein. Amasia und Nedjeb müssen doch wohl...

– Herr Neffe, rief Keraban, nun bist Du wohl gar nicht mehr so eilig, na, dem Du die kleine Amasia an Deiner Seite hast!... Doch naht das Ende des Monats heran... das entscheidende Datum, mit dem ein nicht zu vernachlässigendes Interesse verbunden ist... Du wirst also einem alten Kaufmann gestatten etwas praktischer als Du zu sein. Versuche also jeder zu schlafen, so gut es geht und morgen, wenn wir irgend ein Transportmittel gefunden haben, begeben wir uns wieder auf den Weg.«


Sie bemerkten aber, daß sie scharf beobachtet wurden. (S. 269.)

[271]

Die Gesellschaft machte es sich in dem Hause des Fischers so bequem als möglich und befand sich hier mindestens ebenso gut, wie in einem der Gasthäuser von Atina.

Nach den letzten erschütternden Ereignissen bedurften Alle recht sehr einige Stunden der Ruhe, freilich träumte Van Mitten, daß er noch immer im Wortwechsel mit seinem unfügsamen Freunde wäre, und dieser, daß er sich Auge in Auge gegenüber dem Seigneur Saffar befände, auf den er alle Verwünschungen Allahs und seines Propheten herabrief.

[272] Ahmet allein konnte keine Minute ein Auge schließen. Sein Drang, zu erfahren, aus welchem Grunde Amasia durch Yarhud entführt worden sei, beunruhigte ihn jetzt weniger wegen der Vergangenheit, als wegen der Zukunft. Er fragte sich, ob mit dem Schiffbruch der »Guidare« alle Gefahr vorüber sei. Zwar mochte er glauben, daß kein Mann von der Besatzung das Unglück überlebt habe, aber er wußte eben nicht, daß der Capitän mit heiler Haut daraus hervorgegangen war. Der Unfall mußte unzweifelhaft bald weiter bekannt werden, und der Mann, in dessen Auftrag Yarhud gehandelt hatte – ohne Zweifel ein [273] Vornehmer, vielleicht irgend ein Pascha von Anatolien – konnte darüber nicht lange in Unkenntniß bleiben. Konnte es ihm aber schwer werden, das junge Mädchen wieder aufzuspüren?


Auf dem Wege durch Lasistan. (S. 276.)

War nicht zu befürchten, daß in der menschenarmen Gegend zwischen Trapezunt und Scutari, welche sie durchreisen mußten, sich die Gefahren für sie nur häufen, ihnen Schlingen gelegt oder sie aus dem Hinterhalte überfallen würden?

Ahmet nahm sich also vor, scharf Wache zu halten; er wich nicht mehr von Amasias Seite; er wollte die Führung der kleinen Karawane in der Hand behalten und im Nothfall einen sicheren Führer miethen, der sie auf dem kürzesten Wege längs der Küste leiten konnte.

Gleichzeitig beschloß Ahmet, den Banquier Selim, den Vater Amasias, von Allem zu unterrichten, was sich seit der Entführung Amasias zugetragen hatte. Zunächst mußte Selim erfahren, daß Amasia gerettet war und daß er dafür Sorge tragen werde, zur bestimmten Zeit, das heißt, binnen vierzehn Tagen, in Scutari einzutreffen. Ein von Atina oder Trapezunt abgesandter Brief hätte aber bis Odessa zu lange Zeit gebraucht. Ahmet entschied sich also, ohne seinem Onkel etwas davon zu sagen – dem das Wort Telegramm ja alle Haare emporgesträubt hätte – an Selim eine Depesche durch den Draht von Trapezunt abgehen zu lassen. Er wollte ihm auch andeuten, daß noch nicht alle Gefahr beseitigt sei und daß Selim der kleinen Karawane so schnell wie möglich entgegenkommen solle.

Am folgenden Morgen, als Ahmet das junge Mädchen wieder begrüßte, theilte er ihr sein Vorhaben wenigstens theilweise mit, ohne der Gefahren zu erwähnen, denen sie vielleicht ausgesetzt sein könne. Amasia fand in der ganzen Sache nur das Eine, daß ihr Vater so schnell als thunlich beruhigt werden sollte. Deshalb konnte sie es selbst kaum erwarten, nach Trapezunt zu kommen, um das Telegramm ohne Vorwissen des Onkels Keraban abgesendet zu sehen.

Nach einigen Stunden Schlaf waren Alle auf den Füßen, Keraban ungeduldiger als je, Van Mitten im Voraus allen Launen seines Freundes nachgebend, während Bruno in den zu weit gewordenen Kleidern Alles zusammenschnürte, was von ihm noch übrig geblieben war, und seinem Herrn nur noch mit einsilbigen Lauten antwortete. – Zuerst hatte Ahmet Atina durchsucht, einen wenig bedeutenden Ort, der – wie sein Name angiebt – früher das Athen des Pontus Euxinus hieß. Auch jetzt fanden sich daselbst noch einige dorische Säulen, die Reste eines Tempels der Pallas. Wenn diese Ruinen aber Van Mitten interessirten, so ließen sie doch Ahmet völlig kalt.

[274] Wie viel lieber hätte dieser ein weniger unbequemes Fuhrwerk aufgefunden, als den Karren, den sie an der russisch-türkischen Grenze erlangt hatten. Leider mußten sie wieder mit der Araba vorlieb nehmen, welche den beiden jungen Mädchen eingeräumt wurde. In Folge dessen sahen sich Herren und Diener genöthigt, Pferde, Esel oder Maulesel zu benützen, um Trapezunt zu erreichen.

Wie beklagte sich jetzt der Seigneur Keraban, wenn er der an der Eisenbahn von Poti zertrümmerten Postchaise gedachte, und wie drohte und warf er dem Seigneur Saffar, den er für alles Unheil verantwortlich machte, die grimmigsten Verwünschungen an den Kopf.

Für Amasia und Nedjeb gab es hingegen gar nichts Angenehmeres, als diese Fahrt in einer Araba. Ja, das war etwas Neues, Unerwartetes. Sie hätten diesen elenden Karren gegen keine Staatscarrosse des Padischah vertauscht! Wie wohl befanden sie sich unter der undurchlässigen Plane auf einem frischen Strohsitze, den sie auf jedem Relais erneuern konnten. Von Zeit zu Zeit boten sie darin auch einen Platz dem Seigneur Keraban, dem jungen Ahmet oder Van Mitten an. Und dann die Reiter, die sie escortirten, wie Prinzessinnen!... O, das war ja reizend!

Es versteht sich von selbst, daß derartige Betrachtungen von der Närrin Nedjeb ausgingen, welche so geneigt war, alle Dinge von der besten Seite anzusehen. Amasia dagegen fiel es wieder deswegen nicht ein, sich zu beklagen, weil jetzt ja Ahmet bei ihr war, und die Reise unter ganz anderen Umständen und in kurzer Zeit vollendet werden sollte. Dazu gelangten sie damit nach Scutari... nach Scutari!

»Ich glaube bestimmt, sagte Nedjeb öfters, indem sie sich auf den Zehen erhob, daß man es von hier aus schon sehen kann!«

Unter der kleinen Gesellschaft gab es wirklich nur zwei Personen, welche in unangenehmer Stimmung waren, der Seigneur Keraban, der wegen Mangels eines schnelleren Fuhrwerkes eine Verzögerung fürchtete, und Bruno, den eine Wegstrecke von fünfunddreißig Lieues – fünfunddreißig Lieues auf dem Rücken eines Maulesels – noch von Trapezunt trennten.

Dort erst würde es, wie ihm Nizib versicherte, ein Leichtes sein, sich ein, für die weiten Ebenen Anatoliens geeigneteres Transportmittel zu beschaffen.

An diesem Tage, dem 15. September, verließ die ganze Karawane Atina gegen elf Uhr Morgens; der Sturm war so heftig gewesen, daß er nicht lange hatte andauern können. Jetzt herrschte eine fast vollständige Windstille. Die nach [275] den höheren Luftschichten aufgestiegenen Wolken hingen regungslos am Firmament, erschienen aber alle zersetzt von dem Toben des Orcans. Zeitweilig sandte die Sonne einige Strahlen herab, welche der Landschaft mehr Leben verliehen. Nur das noch hochgehende Meer schlug donnernd an den Felsengrund des Ufers.

Der Seigneur Keraban und seine Begleiter zogen jetzt die Straße des westlichen Lasistan hinab und beeilten sich nach Kräften, um noch vor Anbruch des Abends das Paschalik Trapezunt zu erreichen.

Die Straßen hier waren nicht verlassen.

Lange Karawanen belebten dieselben mit Hunderten von Kameelen; die Ohren wurden fast betäubt von den Tönen der Schellen, Glöckchen und wirklichen Glocken, welche jene am Halse trugen, während das Auge sich an den lebhaften, wechselnden Farben ihrer Kopfzierden und mit Muscheln geschmückten Haarflechten ergötzte. Diese Karawanen kamen entweder von Persien oder zogen dahin zurück.

Die Küste war ebensowenig menschenleer wie die Landstraße, denn hier strömten eine Menge Fischer und Jäger zusammen. Bei Anbruch der Nacht singen die Fischer hier, auf Booten, an deren Hintertheil harzige Aeste entzündet werden, sehr viele der unter dem Namen »Khansi« bekannten Sardellen, welche auf der ganzen Küste Anatoliens ein Lieblingsgericht bilden und auch in den mittleren Provinzen Armeniens vielfach verzehrt werden. Die Jäger wieder haben keine Ursache, die Fischer zu beneiden, denn sie finden hier das von ihnen gesuchte Wild in Ueberfluß. Abertausende von Seevögeln von der Gattung der Silbertaucher, »Kukarinas« genannt, siedeln an den Ufern dieses Theiles von Kleinasien, und zu Hunderttausenden gewinnen Jene die beliebten Federbälge derselben, deren ziemlich hoher Preis die Reisekosten, den Zeitaufwand und die Mühe, von dem zur Jagd selbst verbrauchten Pulver zu schweigen hinreichend deckt.

Gegen drei Uhr Nachmittags machte die kleine Karawane Halt in dem Flecken Mapavra, an der Mündung des gleichnamigen Flusses, dessen klares Wasser sich mit der übelriechenden Flüssigkeit einer Petroleumquelle vermischt, die aus der Nachbarschaft herabfließt. Zu dieser Stunde erschien es zwar noch etwas zeitig, um zu essen, da das Nachtquartier aber nur ziemlich spät erreicht werden konnte, zog man es vor, hier etwas Nahrung zu nehmen. Das war wenigstens Brunos Ansicht, und dieser wußte der schlaue Bursche schon Geltung zu verschaffen.

[276] Daß es an der Gasthofstafel, an der der Seigneur Keraban und die Seinigen Platz genommen hatten, Khansi in großer Menge gab, versteht sich von selbst. In den benachbarten Paschaliks Kleinasiens bilden sie eben das landesübliche Gericht. Dieselben wurden übrigens zur beliebigen Auswahl gesalzen und frisch aufgetragen; doch gab es auch substantiellere Speisen, denen man herzhaft zusprach. Dazu herrschte unter den Tischgenossen eine ungetrübte Heiterkeit, welche ja stets die beste Würze eines Mahles abgiebt.

»Nun, Van Mitten, fragte Keraban, beklagen Sie immer noch den Starrsinn – den ganz gerechtfertigten Starrsinn – Ihres Freundes und Correspondenten, der Sie gezwungen hat, an einer solchen Reise theilzunehmen?

– Nein, Keraban! Nein! anwortete Van Mitten, ich würde sie, wenn es Ihnen beliebt, von vorn anfangen.

– Wir werden's ja sehen, Van Mitten! – Und Du, meine kleine Amasia, was denkst Du von dem bösen Onkel, der Dir Deinen Ahmet entführte?

– Daß er, was ich von jeher wußte, der beste aller Menschen ist! sagte das junge Mädchen.

– Und der fügsamste! setzte Nedjeb hinzu. Es scheint mir, der Seigneur Keraban setzt seinen Kopf lange nicht mehr so auf, wie früher.

– Sehr gut! Die kleine Thörin will meiner spotten! rief Keraban mit gutmüthigem Lächeln.

– O, nein, Seigneur, nein!

– Und doch, Du Kleine!... Bah, hast ja ganz recht!... Ich bestreite es gar nicht; ich habe den Trotzkopf abgelegt! Selbst meinem Freunde Van Mitten würde es nicht mehr gelingen, mich zu reizen!

– O... das müßte man doch erst sehen!... meinte der Holländer, ungläubig den Kopf schüttelnd.

– Das ist schon so gut wie gesehen. Van Mitten!

– Wenn man Sie auf gewisse Capitel brächte?

– Sie täuschen sich! Ich schwöre...

– Schwören Sie nicht!

– Und doch!... Ich werde darauf schwören!... erwiderte Keraban, der etwas lebhafter wurde. Warum sollte ich nicht schwören können?

– Weil es oft sehr schwer fällt, einen Schwur zu halten.

– Weniger schwer, als den Mund zu halten, Van Mitten, denn es liegt auf der Hand, daß Sie ietzt nur, um mir zu widersprechen...

[277] – Ich, Freund Keraban?

– Ja, Sie!... Und wenn ich wiederholt erkläre, entschlossen zu sein, niemals eigensinnig bei etwas zu beharren, so bitte ich auch Sie, das zu thun und mir nicht aus bloßem Trotz zu widersprechen...

– Ja, ja, Sie haben Unrecht, Herr Van Mitten, sagte Ahmet, dieses Mal sehr Unrecht.

– Vollständig Unrecht!... fügte auch Amasia hinzu.

– Ganz und gar Unrecht!« erklärte selbst Nedjeb.

Da der würdige Holländer die Majorität gegen sich sah, hielt er es für besser, zu schweigen.

Doch war der Seigneur Keraban, trotz Allem was vorgefallen war, trotz der erhaltenen Lectionen vorzüglich auf dieser so unbesonnen unternommenen Reise, die so schlecht hätte ablaufen können, wirklich so umgewandelt, wie er es glauben machen wollte? Das mußte sich ja zeigen; im Grunde jedoch huldigten eigentlich Alle der Ansicht Van Mitten's. Daß die Auswüchse des Starrsinns an diesem Eisenkopfe so völlig verschwunden wären, durfte man wohl mit Recht bezweifeln.

»Nun vorwärts! sagte Keraban nach beendigter Mahlzeit. Das war ja ein nicht zu verachtendes Abendessen, aber ich weiß doch ein noch besseres.

– Und welches? fragte Van Mitten.

– Das, welches uns in Scutari erwartet!«

Gegen vier Uhr ging die Reise weiter, und etwa um acht Uhr Abends gelangte die Gesellschaft ohne Unfall nach dem kleinen Flecken Rize, dessen Uferrand dicht mit Klippen übersäet ist. Hier mußten sie die Nacht in einem recht erbärmlichen Khan verbringen, so daß die jungen Mädchen es vorzogen, unter der Plane der Araba zu bleiben. Vor Allem kam es indeß nur darauf an, daß Pferde und Maulesel sich von ihrer Anstrengung erholen konnten, und an frischem Stroh und Hafer fehlte es glücklicherweise nicht. Auch der Seigneur Keraban und die Uebrigen mußten sich mit einem Lager auf frischem Stroh begnügen Die nächste Nacht sollten sie ja in Trapezunt zubringen und daselbst jede Bequemlichkeit finden, welche das beste Hôtel der Stadt ihnen zu bieten vermochte.

Ahmet fragte gar nicht danach, ob er ein gutes oder schlechtes Lager bekommen könnte. Fortwährend von gewissen Gedanken geplagt, hätte er doch nicht schlafen können. Er fürchtete immer für die Sicherheit des jungen Mädchens und sagte sich, daß mit dem Untergange der »Guidare« noch nicht alle Gefahr [278] vorüber sein werde. So wachte er denn, gut bewaffnet, an der Araba vor dem Khan.

Ahmet that sehr wohl daran; er hatte Ursache für seine Befürchtung.

Im Laufe des Tages nämlich hatte Yarhud die kleine Karawane niemals aus den Augen verloren. Immer folgte er ihrer Spur, aber so, daß er nie gesehen werden konnte, da er ja Ahmet ebensogut, wie den beiden jungen Mädchen von Person bekannt war.

So spionirte er, entwarf Pläne, die ihm entwischte Beute wieder zu erlangen, und schrieb auf jeden Fall auch an Scarpante. Dieser Intendant des Seigneur Saffar mußte nach einer in Constantinopel getroffenen Verabredung schon seit einiger Zeit wieder in Trapezunt sein. Deshalb bestellte ihn Yarhud für den nächsten Tag zu einem Zusammentreffen nach der Karawanserai von Riffar, ohne ihm vorläufig etwas vom Schiffbruche der »Guidare« und von den schlimmen Folgen dieses Unfalls mitzutheilen.

Ahmet hatte also alle Ursache wachsam zu sein. Seine Ahnungen täuschten ihn nicht. Yarhud gelang es während der Nacht sogar, so nahe heran zu schleichen, daß er sich davon überzeugte, daß die beiden jungen Mädchen in der Araba selbst schliefen. Zum Glück für ihn bemerkte er, daß Ahmet scharfe Wache hielt, und er konnte sich noch entfernen, ohne gesehen worden zu sein.

Statt aber im Rücken der Karawane zu bleiben, begab sich der Maltesercapitän jetzt nach Westen, auf den Weg nach Trapezunt. Es kam ihm nur darauf an, den Seigneur Keraban und seine Begleiter zu überholen. Vor ihrer Ankunft in der Stadt wollte er mit Scarpante jedenfalls Rücksprache genommen haben. Einen kleinen Umweg einschlagend, trieb er das Pferd, welches ihn seit dem Aufbruche aus Atina trug, schnell auf die Karawanserai von Riffar zu.

Allah ist groß! Zugegeben; aber er hätte gewiß noch weiser gehandelt, wenn er auch den Capitän Yarhud jene Mannschaft von Schurken nicht überleben ließ, die bei dem Schiffbruche der Tartane zugrunde gegangen war.


Der Kiel wurde durch angezündete Aeste beleuchtet. (S. 276)

Am folgenden Tage, dem 16., war Alles mit dem Morgenrothe und in bester Laune auf den Füßen – mit Ausnahme Brunos, der sich die Frage vorlegte, wie viel Pfund er noch bis zur Ankunft in Scutari verlieren werde.

»Meine kleine Amasia, sagte der Seigneur Keraban, sich die Hände reibend, komm, lass' Dich umarmen.

– Gern, lieber Onkel, sagte das junge Mädchen, vorzüglich wenn Sie mir gestatten, Ihnen schon jetzt diesen Namen zu geben.

[279] – Ob ich Dir das gestatte, meine liebe Tochter? Du kannst mich sogar Deinen Vater nennen, denn ist Ahmet nicht etwa mein Sohn?

– Er ist es so sehr, Onkel Keraban, sagte Ahmet, daß er sich sogar erlaubt zu befehlen, wie es zuweilen das Recht des Sohnes gegenüber dem Vater sein kann.

– Zu befehlen? Und was?

– Daß wir sofort abreisen. Die Pferde sind bereit, und wir müssen nothwendig heute Abend in Trapezunt sein.

[280] – Da werden wir auch sein, sagte Keraban, und am folgenden Tage mit dem Aufgang der Sonne wieder weiter fahren. – He, Freund Van Mitten, es stand ja wohl geschrieben, daß Sie noch eines Tages Trapezunt sehen sollten?


Yarhud bemerkte, daß Ahmet scharf Wache hielt. (S. 279.)

– Ja, Trapezunt... Welch schöner Name! antwortete der Holländer. Trapezunt und seine Hügel, das die zehntausend Spiele und gymnastischen Kämpfe unter dem Vorsitze des Dracontius feierte, wenn ich meinem Reiseführer vertrauen darf, der mir sehr gut redigirt scheint Wahrhaftig, Freund Keraban, ich bin nicht böse darüber, Trapezunt sehen zu sollen.

[281] – Gestehen Sie also zu, Freund Van Mitten, daß Sie von dieser Reise recht angenehme Erinnerungen mit heimbringen werden?

– Sie hätten nur weniger lückenhaft sein sollen!

– Nun, Alles in Allem haben Sie sich gewiß nicht zu beklagen.

– Wir sind noch nicht am Ende!...« murmelte Bruno seinem Herrn in's Ohr, gleich einem Unheil verkündenden Wahrsager, dessen Amt es ist, überall an die Unbeständigkeit menschlicher Dinge zu erinnern.

Die Karawane verließ den Khan um sieben Uhr Morgens, das Wetter besserte sich mehr und mehr, der Himmel klärte sich auf und die Sonne saugte den Morgennebel bald weg.

Zu Mittag hielt man in dem Flecken Of, dem Ophis der Alten, wo die berühmten Familien Griechenlands herstammen. Hier wurde unter Inanspruchnahme der Vorräthe in der Araba, welche fast zu Ende gingen, in einem bescheidenen Gasthofe gefrühstückt.

Ueberdies hatte der Gastwirth hier halb den Kopf verloren und zeigte gar kein Bestreben, sich um seine Gäste zu bekümmern. Die Frau des braven Mannes war nämlich schwer erkrankt, und hier draußen gab es keinen Arzt. Einen solchen von Trapezunt herkommen zu lassen, das war für einen armen Gastwirth entschieden zu theuer.

Unterstützt von seinem Freunde Van Mitten, glaubte der Seigneur Keraban die Rolle des »Hakim« oder Doctors übernehmen zu sollen, und verschrieb einige ganz einfache Droguen, welche in Trapezunt leicht zu haben sein mußten.

»Allah segne Sie, Herr, rief der sparsame Gatte der Wirthin, doch was kann diese Arznei wohl in der Stadt kosten?

– Etwa zwanzig Piaster, antwortete Keraban.

– Zwanzig Piaster! wiederholte der Gastwirth verdutzt. Ach, für einen solchen Preis könnte ich mir ja eine neue Frau kaufen...«

Damit ging er davon, ohne sich weiter für den guten Rath seiner Gäste, den er gewiß nicht zu befolgen gedachte, zu bedanken.

»Das ist ein praktischer Ehemann! lachte Keraban. Sie hätten sich hier zu Lande verheiraten sollen, Van Mitten.

– Vielleicht!« meinte der Holländer.

Um fünf Uhr Abends machten die Reisenden, um zu essen, in dem Flecken Surmaneh Halt, und brachen um sechs Uhr wieder auf, da sie Trapezunt noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen wünschten. Da gab es aber eine Verzögerung. [282] Zwei Lieues vor der Stadt und gegen neun Uhr Abends brach ein Rad der Araba. Die Gesellschaft sah sich also genöthigt, in einer an der Straße liegenden Karawanserai zu übernachten, eine Karawanserai übrigens, welche den Reisenden in diesem Theile Kleinasiens ziemlich bekannt ist.

6. Capitel
Sechstes Capitel.
Worin von neuen Persönlichkeiten die Rede ist, welchen der Seigneur Keraban in der Karawanserei von Rissar begegnet.

Die Karawanserai von Rissar ist, wie überhaupt die Stationen dieser Art, ganz gut eingerichtet, die Bedürfnisse der Reisenden zu befriedigen, welche hier anhalten, bevor sie nach Trapezunt hineingehen. Ihr Vorstand oder Wärter, wie er gewöhnlich genannt wird – ein Türke Namens Kidros, ein verschlagener Fuchs und schlauer, als es sonst die Leute seiner Rasse sind – sorgte für Alles mit großem Eifer, freilich zum Nutzen seines eigenen Geldbeutels, den er vortrefflich wahrzunehmen wußte, suchte alle Reisenden zufrieden zu stellen und war stets ihrer Ansicht, selbst wenn es sich darum handelte, die Rechnung auszugleichen, die er im Voraus tüchtig verlängert hatte, so daß er sie gewöhnlich stark herabsetzen konnte, ohne dabei seinen Vortheil einzubüßen – natürlich nur aus reiner Zuvorkommenheit gegen seine verehrten Gäste.

Die Karawanserai bestand übrigens Alles in Allem aus einem weiten Hofraum, den vier Mauern umschlossen, mit einem nach der Landstraße zu offenen Thorwege. Zu beiden Seiten dieses Thores erhoben sich zwei kleine Thürmchen mit türkischer Flagge, für den Fall, daß die Straßen unsicher gewesen wären.

In der Mauerumfriedung waren eine gewisse Anzahl Thüren angebracht, welche den Eingang zu kleinen, von einander abgeschlossenen Zimmern bildeten, in denen die Reisenden übernachten konnten, denn während des Tages wurden dieselben nur sehr selten in Anspruch genommen. Am Rande des Hofraumes verbreiteten einige Maulbeerfeigenbäume etwas Schatten auf dem sandigen

[283] Boden, den die Mittagssonne oft zum Glühen erhitzte. In der Mitte befand sich ein mit der Erde gleicher Brunnen, getrieben von der endlosen Kette des Wasserschöpfrades, dessen Eimer sich in eine Art Trog, in Form eines halbrunden Bassins, ergießen konnten. Außerhalb der Umfassungsmauer gab es noch eine Reihe Krippen in den Wagenschuppen, wo die Pferde Futter und ausreichende Streu fanden, und dahinter stand eine Anzahl Pfähle, an welche die Maulesel und Kameele gebunden wurden, welche an Unterbringung in Ställen weniger gewöhnt sind.

An diesem Abende beherbergte die Karawanserai – ohne gerade überfüllt zu sein – eine gewisse Zahl Reisende, von denen einige auf dem Weg nach Trapezunt, andere auf dem nach Osten, nach Armenien, Persien oder Kurdistan waren. Etwa zwanzig Zimmer waren besetzt und die Leute hatten sich darin meist zur Ruhe begeben.

Gegen neun Uhr Abends gingen nur noch zwei Männer im Hofe auf und ab. Sie sprachen sehr lebhaft und unterbrachen sich nur, um einmal hinaus zu treten und einen ungeduldigen Blick in die Ferne schweifen zu lassen.

Die Männer gingen sehr einfach gekleidet, so als ob sie es geflissentlich vermeiden wollten, die Aufmerksamkeit Vorübergehender oder anderer Reisender zu erregen. Es waren der Seigneur Saffar und sein Intendant Scarpante.

»Ich wiederhole Ihnen, Seigneur Saffar, sagte der Letztere, das ist hier die Karawanserai von Rissar. Eben hierher und zwar heute hatte der Brief Yarhud's ein Zusammentreffen bestimmt.

– Der Hund! polterte Saffar, wie kommt es, daß er dann nicht hier ist?

– Er muß jede Minute eintreffen.

– Und wie kommt er auf den Gedanken, die junge Amasia erst hierher zu führen, statt sie sogleich nach Trapezunt zu schaffen?«

Man sieht, daß Saffar und Scarpante noch nichts von dem Schiffbruche der »Guidare« wußten, und keine Ahnung von den Folgen desselben hatten.

»Der von Yarhud an mich gerichtete Brief, fuhr Scarpante fort, kam aus dem Hafen von Atina. Von dem entführten jungen Mädchen erwähnt er nichts und bittet mich nur, heute Abend in der Karawanserai von Rissar zu sein.

– Und er selbst ist noch nicht da! rief der Seigneur Saffar, während er einige Schritte auf den Thorweg zu that. Er mag sich hüten, meine Geduld auf die Probe zu stellen! Mir ahnt, daß irgend ein unglücklicher Vorfall...

[284] – Warum, Seigneur Saffar? Auf dem Schwarzen Meere ist schlechtes Wetter gewesen. Wahrscheinlich hat die Tartane nicht nach Trapezunt gelangen können, und ist ohne Zweifel bis zum Hafen von Atina zurückverschlagen worden...

– Und wer sagt uns, Scarpante, daß es Yarhud überhaupt gelungen ist, das junge Mädchen aus Odessa zu rauben?

– Yarhud ist nicht allein ein kühner Seefahrer, Seigneur Saffar, antwortete Scarpante, sondern auch ein geschickter Mann!

– Die Geschicklichkeit reicht nicht allemal aus,« ließ sich da die Stimme des maltesischen Capitäns vernehmen, der seit einigen Augenblicken unbeweglich auf der Schwelle der Karawanserai gestanden hatte.

Der Seigneur Saffar und Scarpante drehten sich sofort um und der Intendant rief:

»Yarhud!

– Endlich bist Du da! fuhr der Seigneur Saffar, auf den Mann zugehend, ihn in barschem Tone an.

– Ja, Seigneur Saffar, erwiderte der Capitän, der sich ehrerbietig verneigte, ja... da bin ich... endlich!

– Und die Tochter des Banquiers Selim? fragte Saffar. Ist Dein Vorhaben in Odessa mißlungen?...

– Die Tochter des Banquiers Selim, erklärte Yarhud, hab' ich vor etwa sechs Wochen entführt, gleich nach der Abreise ihres Verlobten Ahmet, den sein Onkel zu einer Reise um das Schwarze Meer nöthigte; darauf bin ich unverzüglich nach Trapezunt unter Segel gegangen; bei dem wechselnden Wetter der Tagundnachtgleiche wurde meine Tartane jedoch, trotz aller Anstrengung, nach Osten verschlagen und auf die Felsen von Atina geworfen, wo meine gesammte Mannschaft umgekommen ist.

– Deine ganze Mannschaft? rief Scarpante.

– Ja!

– Und Amasia?... fragte Saffar, den der Verlust der »Guidare« nicht besonders zu berühren schien, nun lebhafter.

– Sie wurde gerettet, antwortete Yarhud, gerettet mit einer jugendlichen Dienerin, die ich gleichzeitig mit ihr fortschleppen mußte.

– Nun, aber wenn sie gerettet worden ist... fragte Scarpante.

– Ja, wo ist sie denn? rief Saffar.

[285] – Seigneur, erklärte der Maltesercapitän, das Schicksal ist gegen mich, oder vielmehr gegen Sie!

– So sprich doch, mahnte Saffar, der schon eine sehr drohende Haltung annahm.

– Die Tochter des Banquiers Selim, antwortete Yarhud, wurde durch ihren Verlobten Ahmet gerettet, den ein höchst beklagenswerther Zufall gerade nach dem Orte des Schiffbruches geführt hatte.

– Gerettet... durch ihn? rief Scarpante.

– Und in diesem Augenblicke...? rief Saffar.

– In diesem Augenblicke fährt das junge Mädchen unter dem Schutze Ahmets, des Onkels Ahmets und einiger Personen, welche diesen begleiten, nach Trapezunt. Von da aus wollen alle nach Scutari, um die Hochzeit des jungen Paares zu feiern, welche noch vor Ablauf dieses Monats stattfinden muß.

– Tölpel! wetterte der Seigneur Saffar, sich Amasia entreißen zu lassen, statt sie selbst zu retten!

– Ich hätte das mit Gefahr meines Lebens gethan, Seigneur Saffar, erwiderte Yarhud, und sie befände sich jetzt in Ihrem Palaste in Trapezunt, wenn jener Ahmet nicht in dem Augenblicke des Schiffbruches zur Stelle gewesen wäre.

– O, Du bist der Aufträge, die man Dir anvertraut, unwürdig! versetzte Saffar, der einen Ausbruch von Zorn kaum zu bemeistern vermochte.

– Hören Sie mich an, Seigneur Saffar, sagte da Scarpante. Bei ruhiger Betrachtung werden Sie zugestehen, daß Yarhud gethan hat, was er nur konnte.

– Alles! versicherte der Maltesercapitän.

– Alles ist noch nicht genug, bemerkte Saffar, wenn es sich um die Ausführung meiner Pläne handelt.

– Was geschehen ist, ist geschehen, Seigneur Saffar, fiel Scarpante ein. Richten wir den Blick auf die Gegenwart und die Aussichten, die sie uns bietet. Die Tochter des Banquiers Selim hätte ja von Odessa vielleicht nicht entführt werden können... sie ist aber entführt worden! Sie konnte beim Schiffbruch der »Guidare« mit umkommen... sie ist gerettet worden! Sie könnte schon die Gattin Ahmets sein... sie ist es aber noch nicht!... Es ist also eigentlich noch nichts verloren!

– Nein, nichts!... bestätigte Yarhud. Nach dem Schiffbruch folgte ich Ahmet und seinen Gefährten spähend nach, sobald sie von Atina aufbrachen.

[286] Sie reisen ohne Mißtrauen, und der Weg durch ganz Anatolien, von Trapezunt bis zu den Ufern des Bosporus, ist ja noch lang. Weder die junge Amasia, noch ihre Dienerin wußte, wohin die »Guidare« bestimmt war. Außerdem kennt Niemand den Seigneur Saffar, noch Scarpante. Könnten wir die kleine Karawane nicht in einen Hinterhalt locken...

– Scarpante, unterbrach ihn Saffar frostig, das junge Mädchen muß mein werden! Wenn das Geschick sich gegen mich erklärt, werd' ich dasselbe zu bekämpfen wissen. Es soll Niemand sagen, daß einer meiner Wünsche nicht erfüllt worden wäre.

– Es wird auch geschehen, Seigneur Saffar, redete ihm Scarpante zu. Ja, zwischen Trapezunt und Scutari, inmitten der öden Gegenden, wird es möglich, ja leicht genug sein, die Karawane zu überrumpeln, vielleicht, indem wir ihnen einen Führer besorgen, der sie irre führt, um sie dann durch einen Haufen in Ihrem Solde stehender Gesellen zu überfallen. Damit wenden wir freilich Gewalt an, und besser wäre es natürlich, durch List zum Ziele zu kommen.

– Wie sollen wir das anfangen? fragte Saffar.

– Du sagst, Yarhud, nahm Scarpante wieder das Wort, indem er sich an den maltesischen Capitän wandte, daß Ahmet und seine Gefährten sich letzt in kleinen Tagemärschen nach Trapezunt begeben?

– Ja, Scarpante, antwortete Yarhud, und ich kann auch hinzufügen, daß sie noch diese Nacht in der Karawanserai von Rissar zubringen werden.

– Nun, fragte Scarpante, könnte man ihnen da kein Hinderniß in den Weg legen, irgend eine fatale Geschichte anzetteln... die sie zurückhielte... oder die junge Amasia von ihrem Verlobten trennte?

– Ich hätte mehr Zutrauen zur Gewalt, meinte Saffar in seiner brutalen Weise.

– Sie können ja Recht haben, sagte Scarpante, und wir werden nicht davor zurückschrecken, wenn die List nicht zum Ziele führte. Doch lassen Sie mich hier warten und Acht geben...


Die Karawanserai von Rissar. (S. 283.)

– Still, Scarpante, wir sind nicht mehr allein!« warnte Yarhud den Intendanten, indem er dessen Arm ergriff.

Wirklich waren eben zwei Männer in den Hof getreten. Der eine war Kidros, der Wächter oder Verwalter der Karawanserai, der andere – nach seinem Auftreten und Reden zu urtheilen – eine vornehme Persönlichkeit, die wir dem freundlichen Leser nothwendig vorstellen müssen.

[287] Der Seigneur Saffar, Scarpante und Yarhud zogen sich nach einer dunkleren Ecke des Hofes zurück. Von da aus konnten sie jedes Wort vernehmen, und zwar um so leichter, als die fragliche Persönlichkeit sich gar nicht genirte, laut und befehlerisch zu sprechen.

Der Fremde, ein vornehmer Kurde, nannte sich Yanar.

Das Gebirgsgebiet Asiens, welches das alte Assyrien und das alte Medien umfaßt, wird in der neuzeitlichen Geographie als Kurdistan bezeichnet. Es, erfällt in das türkische und persische Kurdistan, je nachdem es an Persien oder an die [288] Türkei grenzt. Das türkische Kurdistan, das die Paschaliks von Chehrezur und Mossul, sowie einen Theil der von Van und Bagdad in sich begreift, zählt mehrere Hunderttausend Einwohner, und unter diesen – nicht den unbedeutendsten derselben – jenen Seigneur Yanar, der mit seiner Schwester, der edlen Sarabul, am Vorabende in der Karawanserai von Rissar eingetroffen war.


Meister Kidros sprach zu ihm nur mit der größten Ehrerbietung. (S. 290.)

Der Seigneur Yanar und seine Schwester hatten Mossul vor zwei Monaten verlassen und reisten nur zu ihrem Vergnügen. Beide begaben sich eben nach Trapezunt, wo sie einige Wochen zuzubringen gedachten. Die »edle« Sarabul [289] – in ihrem heimatlichen Paschalik pflegte man sie so zu nennen – war im Alter von etwa zweiunddreißig Jahren schon zum dritten Male Witwe von vornehmen Kurden. Diese verschiedenen Ehegatten hatten ihrer Gemahlin alle nur ein, unglücklicher Weise sehr kurzes Leben widmen können. Ihre von Figur und Gesichtsbildung noch immer recht ansehnliche, sogar hübsche Witwe befand sich also in der Lage einer Frau, welche sich durch einen vierten Gatten gern über den Verlust der drei ersten hätte trösten lassen.

Das war freilich ein schwieriges Ding, wenigstens wenn man sie näher kannte, trotz ihres Reichthums und vornehmen Stammbaumes, denn durch das Ungestüm ihres Auftretens, durch ihr echt kurdisches heftiges Temperament war sie eher dazu angethan, jeden Bewerber um ihre Hand, wenn sich ja ein solcher einstellte, zurückzuschrecken. Ihr Bruder Yanar, der sich zu ihrem Beschützer, zu ihrem Leibwächter aufgeworfen, hatte ihr den Rath ertheilt, zu reisen – der Zufall spielt ja auf Reisen oft eine so große Rolle! Das war also der Grund, warum die beiden aus Kurdistan weggegangenen Personen sich auf dem Wege nach Trapezunt befanden.

Der Seigneur Yanar war ein hochgewachsener Mann von fünfundvierzig Jahren, hatte ein von Ungeduld zeugendes Aussehen und etwas drohend-wilde Züge – einer jener Kampfhähne, die schon mit gerunzelten Augenbrauen auf die Welt gekommen waren. Mit seiner Adlernase, den tief in ihren Höhlen liegen den Augen, dem geschorenen Kopfe und dem gewaltigen Schnurrbarte näherte er sich mehr dem armenischen als dem türkischen Typus. Den Kopf bedeckt von einer, mit lebhaft rothem Seidenstoffe umwundenen Filzmütze, bekleidet mit einem Rocke mit offenen, geschlitzten Aermeln, mit goldgestickter Weste und langen Beinkleidern, die ihm über die Knöchel herabfielen, die Taille umwunden von einem Wollenshawl, an dem sich ein ganzes Magazin von Dolchen Pistolen und Yatagans befand – bot er einen wirklich erschrecklichen Anblick.

Meister Kidros sprach zu ihm auch nur mit größter Ehrerbietung und etwa in der ängstlichen Art und Weise eines Mannes, der gezwungen wäre, vor der Mündung einer mit Kartätschen geladenen Kanone eine Rede zu halten.

»Ja, Seigneur Yanar, sagte eben Kidros, jedes Wort mit besonders bezeichnender Geste begleitend, ich wiederhole Ihnen, daß der Richter noch heute Abends hier sein muß, und daß er morgen in aller Frühe die Untersuchung vornehmen wird.

[290] – Meister Kidros, antwortete Yanar, Sie sind der Verwalter dieser Karawanserai, und Allah soll Sie erdrosseln, wenn Sie nicht darauf halten, daß die Reisenden hier in Sicherheit sind.

– Gewiß, Seigneur Yanar, gewiß!

– Nun, vergangene Nacht sind Uebelthäter, Diebe oder Andere, eingebrochen... haben die Frechheit gehabt, in das Zimmer meiner Schwester, der edlen Sarabul, einzudringen!«

Yanar wies dabei auf eine der offenen Thüren in der Mauer, welche den Hofraum zur rechten Hand abschloß.

»Die Schurken! rief Kidros.

– Und wir werden die Karawanserai nicht eher verlassen, erklärte Yanar, bis sie entdeckt, dingfest gemacht, verurtheilt und gehangen worden sind!«

Ob wirklich ein Diebstahlsversuch in der vergangenen Nacht gemacht worden sei, davon schien Meister Kidros nicht so vollständig überzeugt zu sein. Gewiß war nur, daß die noch ungetröstete Witwe aus einer oder der anderen Ursache wach geworden und ganz außer sich mit großem Geschrei, nach ihrem Bruder rufend, aus dem Zimmer gestürzt war, daß sie die ganze Karawanserai in Aufruhr gebracht, und daß die Uebelthäter, wenn es überhaupt solche gab, spurlos entwischt waren.

Was auch an der Sache sein mochte, jedenfalls legte sich Scarpante, dem kein Wort dieses Gesprächs entgangen, sofort die Frage vor, welchen Vortheil er vielleicht aus dem Vorkommniß ziehen könne.

»Und wir sind Kurden, fuhr der Seigneur Yanar fort, während er sich möglichst in die Brust warf, um diesem Worte das größte Gewicht zu verleihen, wir sind Kurden von Mossul, Kurden aus der prächtigen Hauptstadt Kurdistans, und werden niemals zugeben, daß irgend einem Kurden ein Schaden zugefügt werde, ohne von der Gerechtigkeit volle Entschädigung zu verlangen.

– Doch von welchem Schaden sprechen Sie, Seigneur? wagte Meister Kidros zu fragen, während er aus Klugheit schon einige Schritte zurückwich.

Von welchem Schaden? rief Yanar.

– Ja... Seigneur!... Unzweifelhaft haben Uebelthäter sich erfrecht, in das Zimmer Ihrer edlen Schwester einzudringen, eigentlich aber haben sie doch nichts geraubt...

[291] – Nichts!... antwortete der Seigneur Yanar, nichts... allerdings, aber nur in Folge des muthigen Auftretens meiner Schwester. Sie versteht auch ebenso geschickt mit einer Pistole wie mit dem Yatagan umzugehen.

– Und außerdem, fuhr Meister Kidros fort, haben die Uebelthäter, sie mögen nun sein, wer sie wollen, die Flucht ergriffen.

– Daran haben sie sehr wohlgethan, Meister Kidros! Die edle muthige Sarabul hätte zwei von Zweien und vier von Vieren umgebracht. In Folge des Geschehenen wird sie heute Abend bewaffnet bleiben, ebenso wie ich, und wehe dem, der es wagen sollte, sich ihrem Zimmer zu nähern.

– Sie sehen doch ein, Seigneur Yanar, sachte Meister Kidros ihm zuzureden, daß nichts mehr zu fürchten ist, und daß die Diebe – wenn es Diebe waren – es schwerlich wieder unternehmen würden...

– Wie? Wenn es Diebe waren? rief der Seigneur Yanar mit Donnerstimme. Und für was würden Sie dann wohl die Schurken halten?

– Vielleicht... ein paar Unverschämte... ein paar Narren! sagte zögernd Kidros, der die Ehrbarkeit seiner Herberge vertheidigen wollte. Ja... warum nicht... es hätte sich ja wohl Einer durch die Reize der edlen Sarabul haben verlocken lassen können...

– Bei Mohammed! wetterte der Seigneur Yanar, die Hand schon an die Waffen legend, der sollte sich schön umsehen! Die Ehre einer Kurdin ist kein Spiel! Man hätte gewagt, der Ehre einer Kurdin zu nahe zu treten?... O, da wär's mit einer Verhaftung, mit einer Einkerkerung, mit dem Pfahl noch nicht genug! Die schrecklichste Todesstrafe wäre zu wenig, wenigstens, wenn der Freche nicht in der Lage und reich genug wäre, seinen Fehler wieder gut zu machen!

– Bitte, beruhigen Sie sich, Seigneur Yanar, sagte Meister Kidros, fassen Sie sich in Geduld! Die Untersuchung wird den oder die Urheber des Attentats an's Licht bringen. Ich wiederhole Ihnen, der Richter ist schon bestellt. Ich war selbst in Trapezunt, und als ich ihm den Hergang geschildert, versicherte er mir, ein Mittel zu besitzen – ein untrügliches Mittel – die Uebelthäter zu entdecken, wer sie auch wären.

– Und welches Mittel wäre das? fragte der Seigneur Yanar in etwas ironischem Tone.

– Das weiß ich nicht, sagte Meister Kidros, der Richter versicherte mir aber, daß es ihn nie im Stiche gelassen habe.

[292] – Nun, meinte der Seigneur Yanar, morgen werden wir's ja sehen. Ich ziehe mich in mein Zimmer zurück, aber ich werde wachen, bewaffnet wachen!«

Mit diesen Worten begab sich die furchtbare Persönlichkeit nach dem, dem Zimmer seiner Schwester benachbarten Schlafraum; da blieb er noch einmal auf der Schwelle stehen und streckte drohend einen Arm nach dem Hofe der Karawanserai aus.

»Man scherzt nicht mit der Ehre einer Kurdin!« rief er mit schrecklicher Stimme.

Nachher verschwand er.

Meister Kidros seufzte erleichtert auf.

»Na, sprach er für sich, wir werden ja sehen, wie Alles abläuft! Wenn's aber Diebe waren, ist's wahrlich gescheidt von ihnen, daß sie das Weite suchten!«

Während dieser Zeit unterhielt sich Scarpante gedämpften Tones mit dem Seigneur Saffar und Yarhud.

»Ja, sagte er zu ihnen, dieser Zwischenfall gibt uns vielleicht ein Mittel an die Hand, einen Schlag auszuführen.

– Du wolltest?... fragte Saffar.

– Nichts Anderes als jenem Ahmet hier eine unangenehme Geschichte auf den Hals laden, die ihn mehrere Tage in Trapezunt zurückhalten und ihn vielleicht gar von seiner Verlobten trennen könnte.

– Gut, aber wenn der Anschlag mißlingt...

– Dann zur Gewalt,« antwortete Scarpante.

Eben jetzt bemerkte Meister Kidros Saffar, Scarpante und Yarhud, die er noch nicht gesehen hatte. Er ging auf sie zu und fragte verbindlich:

»Sie wünschen, meine Herren?...

– Wir erwarten Reisende, welche jeden Augenblick eintreffen müssen, um in der Karawanserai zu übernachten,« sagte Scarpante.

Da ließ sich draußen ein Geräusch hören, das Geräusch einer Karawane, deren Pferde und Maulesel vor der äußeren Thüre hielten.

»Da kommen sie wahrscheinlich?« sagte Meister Kidros.

Er ging weiter nach dem Hofe hinein, um die neuen Ankömmlinge zu bewillkommnen.

»Richtig, sagte er, im Thore stehend bleibend, es sind Reisende, welche zu Pferde kommen, ihrer Erscheinung nach zu urtheilen, reiche Herren!... Ich muß ihnen wohl entgegen gehen, meine Dienste anzubieten.«

[293] Damit trat er durch das Thor.

Gleichzeitig mit ihm hatte sich auch Scarpante nach dem großen Eingang begeben und sah nach der Landstraße hinaus.

»Wären diese Reisenden Ahmet und seine Gefährten? fragte er, sich an den maltesischen Capitän wendend.

– Ja, sie sind es! antwortete Yarhud, der schnell zurückwich, um nicht erkannt zu werden.

– Sie? rief auch Seigneur Saffar, selbst vortretend, ohne jedoch den Hof der Karawanserai zu verlassen.

– Ja, versicherte Yarhud, das ist Ahmet, seine Verlobte, deren Dienerin, die beiden männlichen Diener...

– Vorsichtig! Vorsichtig! mahnte Scarpante, der Yarhud ein Zeichen gab, sich zu verbergen.

– Und Sie können schon die Stimme des Seigneur Keraban hören? fuhr der maltesische Capitän fort.

– Keraban?...« rief Saffar verwundert.

Damit stürzte er auf das Thor zu.

»Was haben Sie denn, Seigneur Saffar? fragte Scarpante ganz überrascht, warum erregte Sie der Name Keraban so sehr?

– Er!... Ja, das ist er!... Das ist der Reisende, den ich schon an der kaukasischen Eisenbahn getroffen... der mir Widerstand leisten und meine Pferde nicht vorwärts gehen lassen wollte!

– Er kennt Sie also?

– Ja... es würde mir nicht schwer werden, hier jenen Streit wieder aufzunehmen... ihn fest zu halten...

– Damit würde der Neffe noch nicht gehalten sein, meinte Scarpante.

– Des Neffen würde ich mich ebenso zu entledigen wissen, wie des Onkels.

– Nein, nein, keinen Streit... keinen Lärm! erwiderte Scarpante eindringlich. Glauben Sie mir, Seigneur Saffar, jener Keraban kann Ihre Anwesenheit nicht muthmaßen. Er darf vor Allem nicht wissen, daß Yarhud die Tochter des Banquier Selim in Ihrem Auftrage entführt hatte.... Damit wäre Alles auf's Spiel gesetzt!

– Meinetwegen, sagte Saffar, ich ziehe mich zurück und überlasse Alles Deiner Gewandtheit, Scarpante! Aber daß Du zum Ziele kommst!

[294] – Ich komme zum Ziel, Seigneur Saffar, wenn Sie mich frei handeln lassen. Kehren Sie noch heut' Abend nach Trapezunt zurück...

– Ich werde zurückkehren.

– Auch Du, Yarhud, verläßt sofort die Karawanserai, fuhr Scarpante fort. Du bist bekannt und darfst hier nicht wieder erkannt werden.

– Da sind sie schon! sagte Yarhud.

– Verlaßt mich... laßt mich allein! rief Scarpante, indem er den Capitän der »Guidare« zurückschob.

– Wie sollen wir aber verschwinden, ohne von den Leuten da gesehen zu werden? fragte Saffar.

– Hier durch!« antwortete Scarpante und öffnete eine, links in der Mauer angebrachte kleinere Thür, welche nach dem Freien hinausführte.

Der Seigneur Saffar und der maltesische Capitän schlüpften sofort hinaus.

»Es war hohe Zeit, sagte Scarpante für sich, und nun heißt's Augen und Ohren offen halten!«

7. Capitel
Siebentes Capitel.
In welchem der Richter von Trapezunt in sehr erfinderischer Weise zu seiner Untersuchung vorschreitet.

Nach Zurücklassung der Araba und der Reit- und Zugthiere in den außerhalb gelegenen Ställen waren der Seigneur Keraban und seine Begleiter eben in die Karawanserai eingetreten. Meister Kidros begleitete sie mit vielen Verbeugungen und stellte die angezündete Laterne, die im Innern des Hofes eine nur sehr geringe Helligkeit verbreitete, in eine Ecke.

»Ja wohl, Seigneur, wiederholte Kidros mit tiefer Verbeugung, treten Sie ein! – Bitte, treten Sie ein. Das ist hier die Karawanserai von Rissar.

[295] – Und wir befinden uns nur noch zwei Lieues von Trapezunt? fragte der Seigneur Keraban.

– Zwei Lieues, nicht mehr!

– Gut. Daß indessen ordentlich für unsere Pferde gesorgt wird. Wir brauchen sie morgen bei Tagesanbruch wieder,« schloß Seigneur Keraban seine Unterredung.

Damit wendete er sich zu Ahmet, der eben Amasia nach einer Bank geleitete, wo sie sich neben Nedjeb niedersetzte.


[296]
Der Seigneur Saffar und der maltesische Capitän schlüpften sofort hinaus. (S. 295.)

Der Seigneur Saffar und der maltesische Capitän schlüpften sofort hinaus. (S. 295.)


»Da seh' Einer! rief er im Tone heit'rer Laune. Seit mein Herr Neffe diese Kleine wiedergefunden, beschäftigt er sich nur noch mit ihr allein, und ich bin genöthigt, von Ort zu Ort für unser Fortkommen zu sorgen.

– Das ist auch ganz natürlich, Seigneur Keraban, wozu diente denn sonst ein Onkel? bemerkte Nedjeb.

– Es soll Niemand Ursache haben, sich über mich zu beklagen, sagte Ahmet lächelnd.

– Auch nicht über mich, fügte das junge Mädchen hinzu.

[297] – O, ich beklage mich auch über Keinen... nicht einmal über den braven Van Mitten, der doch den Gedanken... ja, den unverzeihlichen Gedanken gefaßt hatte, mich unterwegs zu verlassen.


Meister Kidros begleitete sie. (S. 295.)

– Bitte, sprechen wir davon nicht mehr, meldete sich Van Mitten, weder jetzt noch jemals.

– Bei Mohammed! rief der Seigneur Keraban, warum nicht davon sprechen? So ein kleines Wortgeplänkel über diesen Gegenstand... oder über jeden beliebigen andern, das brächte uns das Blut gut in Fluß.

– Ich glaubte, lieber Onkel, wendete Ahmet ein, daß Du beschlossen hättest, fürder auf jeden Streit zu verzichten?

– Gewiß, Du hast ganz Recht, lieber Neffe, und es wird mich auch Niemand je wieder dabei ertappen, selbst wenn ich tausendmal im Rechte wäre.

– Das wird ja die Zukunft lehren! murmelte Nedjeb.

– Ich denke übrigens, lenkte Van Mitten ab, wir thun weit gescheidter, einige Stunden ruhigen Schlaf zu suchen.

– Wenn man hier überhaupt wird schlafen können! brummte Bruno, der wie immer in miserabler Laune war.

– Können Sie uns für die Nacht Zimmer abgeben? fragte Keraban den Meister Kidros.

– Gewiß, Seigneur, antwortete der Verwalter, so viel Sie brauchen.

– Schön... sehr schön! rief Keraban. Morgen werden wir also in Trapezunt sein, nach zehn weiteren Tagen in Scutari eintreffen... und da werden wir ein tüchtiges Mahl bereit finden... eine gedeckte Tafel, zu der ich Sie eingeladen habe, Van Mitten.

– Ja, das sind Sie uns auch schuldig, Freund Keraban.

– Eine Mahlzeit... in Scutari? flüsterte Bruno seinem Herrn zu. Ja... das heißt, wenn wir überhaupt noch bis dahin kommen.

– Ah, geh' mir, Bruno, versetzte Van Mitten, etwas Muth, zum Teufel! Und wär's nur unserem alten Holland zu Ehren!

– O, ich gleiche ihm schon, unserm Holland! Wie dieses das bewegliche Meer, so umschließt mich die schlotternde Kleidung!« antwortete Bruno, indem er mit der Hand unter die zu weit gewordene Weste fuhr.

Von seinem Versteck aus belauschte Scarpante die Wechselreden der neuen Ankömmlinge und spannte auf den Moment, wo er in seinem Interesse sich mit einmischen könnte.

[298] »Nun also, fragte Keraban, welches Zimmer können die beiden jungen Mädchen erhalten?

– Dieses hier, antwortete Meister Kidros, nach einer Thür in der zur linken Hand verlaufenden Mauer weisend.

– Dann gute Nacht, meine kleine Amasia, sagte Keraban, mög' Allah Dir liebliche Träume bescheeren!

– So wie Ihnen, Seigneur Keraban, antwortete das junge Mädchen. Auf Wiedersehen morgen, lieber Ahmet!

– Auf morgen, meine Amasia, erwiderte der junge Mann, nachdem er seine Verlobte innig an's Herz gedrückt hatte.

– Kommst Du, Nedjeb? fragte Amasia.

– Ich folge Ihnen, theure Herrin, rief Nedjeb, aber ich weiß schon im Voraus, von wem wir noch eine ganze Stunde plaudern werden.«

Die beiden jungen Mädchen verschwanden durch die, ihnen von Meister Kidros geöffnete Thür in dem betreffenden Zimmer.

»Und nun, fragte Keraban weiter, wo werden diese beiden wackeren Burschen – er wies dabei auf Bruno und Nizib – Unterkommen finden?

– In einem nach außen gelegenen Zimmer, wohin ich sie sofort führen werde,« antwortete Meister Kidros.

Damit begab er sich nach einer im Hintergrunde des Hofs gelegenen Thür und winkte Bruno und Nizib ihm zu folgen, eine Aufforderung, der die beiden, von einer langen Tagereise erschöpften »wackeren Burschen«, nachdem sie ihren Herren noch Gute Nacht gesagt, gern Folge leisteten.

»Jetzt gilt's zu handeln oder nie!« murmelte Scarpante für sich.

Der Seigneur Keraban, Van Mitten und Ahmet erwarteten die Rückkehr des Meister Kidros und gingen inzwischen auf dem Hofe der Karawanserai hin und her. Der Onkel war in bester Laune. Alles gestaltete sich ihm nach Wunsch; er durfte annehmen, zur bestimmten Zeit an dem Ufer des Bosporus wieder einzutreffen, und freute sich schon im Voraus auf das lange Gesicht der ottomanischen Beamten, wenn sie ihn wieder erscheinen sahen. Für Ahmet bedeutete die Rückkehr nach Scutari gleichzeitig die Feier seiner so sehr erwünschten Hochzeit; für Van Mitten die Rückkehr... nun ja... eben die Rückkehr.

»Nun, werden wir etwa ganz vergessen?... Und unsere Zimmer?« begann der Seigneur Keraban.

[299] Sich umdrehend, bemerkte er Scarpante, der näher auf ihn zugetreten war.

»Sie fragen nach dem für den Seigneur Keraban und seine Begleiter bestimmten Zimmer? sagte er sich verneigend, als ob er zu der Dienerschaft der Karawanserai gehörte.

– Ja.

– Bitte, hier!«

Scarpante wies dabei rechts nach einer Thür, die auf einen Gang führte, auf dem das Zimmer der reisenden Kurdin, dicht neben dem, in welchem der Seigneur Yanar wachte, gelegen war.

»Kommt, liebe Freunde, kommt!« antwortete Keraban und stieß kräftig die ihm von Scarpante bezeichnete Thüre auf.

Alle Drei traten in den Gang; aber was gab's da für eine Bewegung, was für Rufe und welches Geschrei! Zunächst ließ sich eine schreckliche weibliche Stimme vernehmen, der sich sehr bald die eines Mannes beigesellte.

Völlig unklar über das, was hier vorging, wendeten sich der Seigneur Keraban, Van Mitten und Ahmet eiligst wieder nach dem Hofe der Karawanserai zurück. Sofort öffneten sich auf allen Seiten die Thüren und die Reisenden stürzten aus ihren Zimmern. Amasia und Nedjeb erschienen wieder bei dem Geräusche; Bruno und Nizib kamen von links her herein. Inmitten des Halbdunkels sah man das Schattenbild des wüthenden Yanar aufragen. Endlich stürzte aus dem Gange, in welchen der Seigneur Keraban und die Seinen so unkluger Weise eingedrungen waren, ein weibliches Wesen hervor.

»Raub!... Ueberfall!... Mord!« rief dieses Weib.

Es war die edle Sarabul, von großer kräftiger Gestalt und energischem Auftreten, mit leuchtenden Augen und lebhafter Gesichtsfarbe, schwarzem Haar und mit einem gebieterischen Zug um den Mund, zwischen dem drohend zwei Reihen blendender Zähne hervorschimmerten – mit einem Wort, der ganze Seigneur Yanar, nur in's Weibliche übersetzt.

Offenbar wachte, um für jeden Fall vorbereitet zu sein, die Reisende in ihrem Zimmer in dem Augenblicke, wo die Eindringlinge dessen Thür aufgerissen hatten, denn sie trug noch die vollständige Bekleidung, einen »Mintan« aus Tuch mit Goldstickerei um die Aermel und die Taille, eine »Entari« aus glänzender, schräg karirrier Seide, welche mittelst eines Shawls um den Leib befestigt war, während diesem Gürtel weder ein damascirtes Pistolenpaar, noch der Yatagan in grüner Maroquinscheide fehlte; auf dem Kopfe ein weites, mit [300] Seidentüchern von lebhafter Farbe umwundenes Fez, von dem ein langer »Puskul« wie der Klöppel einer Glocke herabhing; an den Füßen rothlederne Stiefeln, in denen der untere Theil des »Chalwar«, d. i. des Beinkleides der orientalischen Frauen, verschwand. Verschiedene Reisende haben behauptet, daß eine kurdische Frau in dieser Tracht einer Wespe ähnlich sähe. Man kann dem wohl zustimmen. Jedenfalls war die edle Sarabul nicht dazu geschaffen, eine solche Vergleichung zu entkräften, und diese Wespe mußte jedenfalls einen ganz gefährlichen Stachel besitzen.

»Was für eine Frau! sagte halblaut Van Mitten.

– Und was für ein Mann!« erwiderte der Seigneur Keraban, auf deren Bruder Yanar weisend.

Da rief dieser eben wüthend:

»Noch ein neuer Ueberfall! Alle müssen verhaftet werden!

– Verhalten wir uns stille, raunte Ahmet seinem Onkel in's Ohr, denn ich fürchte, wir sind die unschuldige Ursache dieses ganzen Aufstandes.

– Bah, 's hat uns ja kein Mensch gesehen, antwortete Keraban, und Mohammed selbst würde uns nicht wieder erkennen.

– Was giebt es denn, Ahmet? fragte das junge Mädchen, die sich scheu an ihres Verlobten Seite drängte.

– Nichts, liebe Amasia, versicherte Ahmet, nichts!«

In diesem Augenblicke erschien Meister Kidros auf der Schwelle des Thores im Hintergrunde des Hofes und rief:

»Ja, Sie kommen ganz zur passenden Zeit, Herr Richter!«

Wirklich war der von Trapezunt herberufene Richter eben in der Karawanserai eingetroffen, wo er übernachten sollte, um am folgenden Morgen auf Grund der Klage jenes kurdischen Geschwisterpaares die Untersuchung vorzunehmen. Ihm folgte ein Gerichtsdiener, der auf der Schwelle stehen blieb.

»Wie, sagte er, die Schurken hätten ihr Bubenstück von vergangener Nacht erneuert?

– Es scheint so, Herr Richter, antwortete Meister Kidros.

– Man schließe alle Thüren der Karawanserai, befahl der Beamte mit ernster Stimme. Niemand darf dieselbe ohne meine Erlaubniß verlassen!«

Sein Befehl wurde ausgeführt, und alle Reisenden sahen sich nun als Gefangene, denen die Karawanserai vorläufig als Haftlocal diente.

[301] »Und nun, Richter, sagte die edle Sarabul, verlange ich Gerechtigkeit gegen jene Uebelthäter, welche sich nicht scheuen, eine wehrlose Frau zu überfallen...

– Nicht nur eine Frau, sondern noch obendrein eine Kurdin!« setzte der Seigneur Yanar mit drohender Geberde hinzu.

Erklärlicher Weise folgte Scarpante aufmerksam dieser Scene, von der ihm nicht das Geringste entging.

Der Richter – ein verschmitzter Kerl, wenn es darauf ankam, mit zwei Augen wie Bohrlöchern, einer spitzen Nase und festgeschlossenem Munde, der unter dem buschigen Barte fast verschwand – bemühte sich, die in der Karawanserai befindlichen Personen näher zu betrachten, was bei der geringen, von der einzigen, in einer Ecke des Hofes angebrachten Laterne verbreiteten Helligkeit ein ziemlich mißliches Ding war. Nachdem er das schnell abgemacht, wendete er sich an die vornehme Reisende.

»Sie behaupten also, fragte er sie, daß vergangene Nacht einige Uebelthäter versucht haben, in Ihr Zimmer einzudringen?

– Das behaupte ich.

– Und daß dieselben diesen verbrecherischen Versuch eben wiederholt haben?

– Sie selbst oder andere.

– Und vor kurzer Zeit?

– Vor wenigen Minuten.

– Würden Sie sie wieder erkennen?

– Nein... Mein Zimmer war dunkel, der Hof hier ebenfalls, so daß ich deren Gesicht nicht sehen konnte.

– Waren es viele Männer?

– Das weiß ich nicht.

– Wir werden's aber erfahren, Schwester, rief der Seigneur Yanar, wir werden's erfahren, und dann wehe den Verruchten!«

In demselben Augenblicke flüsterte Keraban dem Holländer wieder in's Ohr:

»Es ist nichts zu fürchten! Uns hat kein Mensch gesehen!

– Ein wahres Glück, antwortete Van Mitten, dem es vor den Folgen dieses Abenteuers immerhin noch etwas bangte, denn mit diesen kurdischen Teufeln könnte die Geschichte für uns schlimm ablaufen.«

Inzwischen ging der Richter auf und ab; zum großen Mißvergnügen der Kläger schien er noch gänzlich unschlüssig zu sein.

[302] »Richter, nahm die edle Sarabul wieder das Wort und kreuzte dazu die Arme über der Brust, soll denn die Gerechtigkeit in Ihren Händen ganz ohnmächtig bleiben?... Sind wir nicht Unterthanen eines Sultans, welche auf seinen Schutz Anspruch haben?... Eine Frau meines Standes sollte das Opfer eines so schimpflichen Attentates gewesen sein, und die Schuldigen, welche von hier unmöglich haben entweichen können, entgingen der verdienten Strafe?

– Sie ist wirklich prächtig in ihrer Art, diese Kurdin! bemerkte der Seigneur Keraban sehr richtig.

– Prächtig... aber furchteinflößend! meinte Van Mitten.

– Was beschließen Sie, Richter? fragte der Seigneur Yanar.

– Lichter, Fackeln her! rief die edle Sarabul, dann will ich sehen... suchen... und erkenne vielleicht die Schurken, welche es gewagt haben...

– Das ist unnöthig, fiel ihr der Richter in's Wort. Ich nehme es auf mich, den oder die Schuldigen zu entdecken.

– Ohne Licht?...

– Ohne Licht!«

Damit gab der Beamte seinem Gerichtsdiener ein Zeichen, und dieser verschwand, nachdem er bejahend genickt, durch die Thür im Hintergrunde.

Während dem konnte sich der Holländer nicht enthalten, seinem Freunde Keraban zuzuraunen:

»Ich weiß nicht warum, aber es ist mir etwas bange wegen des Ausganges dieser fatalen Geschichte.

– Ei, bei Allah, Sie sind aber auch immer so furchtsam!« erwiderte Keraban.

In Erwartung des Wiedereintretens des Gerichtsdieners schwiegen Alle, nicht ohne die sehr natürliche Empfindung einer gewissen Neugier.

»Sie behaupten also, Richter, fragte der Seigneur Yanar, trotz der herrschenden Dunkelheit erkennen und herausfinden zu können...

– Ich?... O nein! antwortete der Richter. Das überlass' ich einem höchst intelligenten Thiere, das mich bei derlei Untersuchungen schon wiederholt mit bestem Erfolge unterstützt hat.

– Einem Thiere? rief die Reisende erstaunt.

– Jawohl... einer Ziege... einem seinen, höchst pfiffigen Thiere, welches den Schuldigen, wenn er überhaupt noch hier ist, schon zu bezeichnen wissen [303] wird. Uebrigens muß derselbe ja noch anwesend sein, da Niemand seit der Minute, wo das Attentat begangen wurde, die Karawanserai hat verlassen können.

– Er ist ein Narr, dieser Richter!« murmelte Keraban.

Eben jetzt erschien der Gerichtsdiener wieder und zerrte an den Hörnern eine Ziege, die er bis mitten in den Hof führte.


Es war die edle Sarabul. (S. 300.)

Es war ein hübsch gebautes Thier von der Gattung Aegagrus, in deren Eingeweide sich zuweilen eine steinige Concretion, der sogenannte Bezoar, vorfindet, [304] der seiner vermeintlichen heilbringenden Eigenschaften wegen im Orient sehr hochgeschätzt wird.

Diese Ziege mit dem seinen Maule, dem lockigen Barte und dem intelligenten Aussehen, kurz mit ihrer »spirituellen Physiognomie« schien der ihr von dem Richter zugedachten Rolle als Prophet ganz gewachsen zu sein. In Kleinasien, Anatolien, Armenien und Persien trifft man ganze Heerden dieser Bezoarziegen. welche sich ebenso durch die Schärfe aller Sinne wie durch erstaunliche Beweglichkeit und Gewandtheit auszeichnen.


Der Gerichtsdiener erschien wieder und zerrte an den Hörnern eine Ziege herein. (S. 304.)

[305] Die Ziege – deren Weisheit der Richter über die Maßen pries – war von mittlerer Größe, am Bauche, an der Brust und am Halse von weißer, an der Stirne, dem Kinn und oben längs des Rückens von schwarzer Farbe. Sie hatte sich graziös in den Sand niedergelegt und betrachtete sich verschmitzten Blickes und die kleinen Hörner hin und her bewegend die »Gesellschaft«.

»Welch hübsches Thier! rief Nedjeb.

– Aber was will der Richter damit beginnen? fragte Amasia.

– Irgend eine Hexerei, antwortete Ahmet, von der sich jene Schwachköpfe sicherlich bethören lassen.«

Das war auch die Meinung des Seigneur Keraban, der sich nicht genirte, höhnisch mit den Achseln zu zucken, während Van Mitten jene Vorbereitungen mit einer gewissen Unruhe verfolgte.

»Wie, Richter, sagte da die edle Sarabul, dieser Ziege wollen Sie es anheimgeben, die Schuldigen herauszufinden?

– Ja, eben dieser, erklärte der Richter.

– Und wird sie dieser Erwartung entsprechen?...

– Ganz gewiß!

– Wie soll das zugehen? fragte der Seigneur Yanar, der in seiner Eigenschaft als Kurde geneigt war, Allem zuzustimmen, was einen Anstrich von Aberglauben hatte.

– O, höchst einfach, antwortete der Richter. Alle hier anwesenden Reisenden werden Einer nach dem Andern über den Rücken meiner Ziege streichen, welche, sobald sie die Hand des Schuldigen fühlt, das durch vernehmbares Meckern zu erkennen geben wird.

– Der gute Mann ist weiter nichts als ein Jahrmarkts-Taschenspieler! murmelte Keraban.

– Aber, Richter, niemals... bemerkte die edle Sarabul, niemals wird doch ein einfältiges Thier...

– Sie werden's ja sehen!

– Und warum nicht?... meinte der Seigneur Yanar. Auf die Gefahr hin, selbst des Attentates angeklagt zu werden, will ich mit meinem Beispiele vorangehen und die Probe zu machen beginnen.«

Damit näherte sich Yanar der Ziege, welche unbeweglich liegen blieb und strich ihr mit der Hand über die ganze Länge des Rückens.

Die Ziege blieb stumm.

[306] »Nun die Andern!« sagte der Richter.

Einer nach dem Andern ahmten die im Hofe der Karawanserai vereinigten Reisenden Yanar nach und streichelten den Rücken des Thieres; jedenfalls waren diese aber nicht schuldig, denn die Ziege ließ dabei kein anklagendes Meckern hören.

8. Capitel
Achtes Capitel.
Welches vorzüglich für Freund Van Mitten in sehr unerwarteter Weise endigt.

Während diese Probe ihren Fortgang nahm, hatte Keraban seinen Freund Van Mitten und Ahmet beiseite gezogen. Hier sprachen die Drei kurze Zeit mit einander, wobei der unverbesserliche Mann, uneingedenk seiner guten Vorsätze nicht mehr seinen Kopf aufzusetzen, sich bemühte, den Andern seine Anschauungsweise und sein Verhalten als allein richtig aufzudrängen.

»Wahrlich, liebe Freunde, sagte er, dieser Hexenmeister scheint mir der allereinfältigste Schwachkopf zu sein.

– Warum? fragte der Holländer.

– Weil nichts den oder die Schuldigen – zum Beispiel uns – hindert, die Ziege nur scheinbar zu streicheln, indem wir mit der Hand längs ihres Rückens hingleiten, ohne diesen im Mindesten zu berühren. Wenigstens hätte der Richter diese alberne Probe bei voller Beleuchtung vornehmen sollen, um jede Ueberlistung auszuschließen. Aber im Dunklen... das ist gar zu dumm!

– Ja, wirklich, stimmte Van Mitten bei.

– Ich werd's wenigstens so machen, fuhr Keraban fort, und ich kann Euch nur ernstlich rathen, dasselbe zu thun.

– O, lieber Onkel, bemerkte Ahmet, Du weißt doch ganz gut, daß dieses Thier, ob man ihm nun über den Rücken streicht oder nicht, bei einem Unschuldigen ebenso meckern kann, wie bei dem Schuldigen.

– Natürlich, Ahmet, doch da dieser Kauz von Richter so beschränkt ist, in solcher Weise eine Untersuchung vorzunehmen, bilde ich mir ein, weniger [307] einfältig zu sein und werde sein Thier nicht anrühren. Euch aber bitte ich, desgleichen zu thun.

– Aber, lieber Onkel...

– Ich verbitte mir jede Einwendung, unterbrach Keraban, schon etwas warm werdend, seinen unschlüssigen Neffen.

– Indessen... wendete der Holländer ein.

– Van Mitten, wenn Sie so naiv wären, über den Rücken jener Ziege hinzustreicheln, könnt' ich Ihnen das nimmer verzeihen!

– Gut; ich werde, um Ihnen gefällig zu sein, sie nicht streicheln, Freund Keraban!... Uebrigens ist nicht viel dabei, da man es im Finstern so wie so nicht sehen kann.«

Die meisten Reisenden hatten inzwischen schon die Probe bestanden, ohne daß die Ziege Einen als schuldig bezeichnet hätte.

»Jetzt sind wir an der Reihe, Bruno, sagte Nizib.

– Herr Gott, sind diese Orientalen vernagelt, daß sie sich auf so ein Thier verlassen!« rief Bruno.

Einer nach dem Andern streichelten nun auch sie den Rücken der Ziege, die bei ihrer Berührung eben so wenig wie bei der der anderen Reisenden einen Laut von sich gab.

Ah, es ist ja nichts mit Ihrer Ziege! rief die edle Sarabul dem Richter zu.

– Sollte das Ganze auf einen Scherz hinauslaufen? knurrte der Seigneur Yanar. Es sollte ihm übel ablaufen, mit Kurden seinen Spaß zu treiben.

– Geduld, antwortete der Richter, mit listigem Blinzeln die Hand erhebend; wenn die Ziege noch nicht gemeckert, so hat sie eben der Schuldige noch nicht berührt.

– Zum Teufel, jetzt sind nur wir allein noch übrig! murmelte Van Mitten, der ohne recht zu wissen warum, doch eine gewisse Unruhe durchblicken ließ.

– So sind wir an der Reihe, sagte Ahmet.

– Ja... und zuerst ich!« antwortete Keraban.

Damit schritt er an seinem Freunde und an seinem Neffen vorüber.

»Rührt sie nicht an, gar nicht!« ermahnte er sie wiederholt mit leiser Stimme.

Dann streckte er die Hand über die Ziege aus und stellte sich so, als ob er ihr über den Rücken streiche, krümmte dieser dabei jedoch kein Härchen.

[308] Die Ziege meckerte nicht.

»Nun, das giebt die beste Hoffnung,« meinte Ahmet.

Dem Beispiele seines Onkels folgend, berührte seine Hand kaum den Rücken der Ziege.

Diese gab noch immer keinen Laut von sich.

Jetzt kam die Reihe an den Holländer. Van Mitten sollte als der Letzte die von dem Richter angeordnete Probe bestehen. Er ging also auf das Thier zu, das ihn von unten her anzusehen schien; um seinem Freunde Keraban jedoch den Willen zu thun, begnügte auch er sich damit, seine Hand langsam dicht über dem Rücken der Ziege hinzuführen.

Die Ziege meckerte nicht!

Da schallte ein »Oh!« der Verwunderung und ein »Ah!« der Befriedigung durch den Kreis der Umstehenden.

»Offenbar ist Ihre Ziege ein erzdummes Thier! rief Yanar mit wahrer Donnerstimme.

– Sie hat den Schuldigen nicht erkannt! fügte die edle Kurdin hinzu, und doch ist dieser Schuldige noch hier, weil Niemand den Hofraum verlassen haben kann.

– Hm! brummte Keraban, ist dieser Richter mit seinem albernen Thiere nicht ein recht lächerlicher Kerl?

– Ja, wirklich! stimmte Van Mitten, über den Ausgang der Untersuchung jetzt ganz beruhigt, aufrichtig ein.

– Arme kleine Ziege! sagte Nedjeb zu ihrer Herrin, wird sie nun Strafe bekommen, da sie nichts entdeckt hat?«

Alle blickten jetzt auf den Richter, dessen munteres boshaftes Auge wie ein Karfunkel in der Dunkelheit glänzte.

»Und nun, Herr Richter, begann Keraban, in etwas sarkastischem Tone, nun, da Ihre Untersuchung zu Ende ist, liegt, mein' ich, kein weiteres Hinderniß vor, uns nach unseren Zimmern zurückzuziehen...

– Das darf nicht geschehen! rief die Reisende erregt, nein, das darf nicht geschehen! Hier ist ein Verbrechen begangen worden...

– O, Frau Kurdin! versetzte Keraban etwas spitzig, Sie werden anständige Leute hoffentlich nicht hindern wollen, zu schlafen, wenn sie das Bedürfniß fühlen.

– Sie schlagen da einen Ton an, Herr Türke... rief sofort der Seigneur Yanar.

[309] – Den Ton, der hier ganz an seiner Stelle ist, Herr Kurde!« entgegnete der Seigneur Keraban.

Scarpante, der schon glaubte, daß der von ihm geplante Schlag mißlungen sei, weil die Schuldigen unerkannt geblieben waren, sah mit Befriedigung, wie der Seigneur Keraban und der Seigneur Yanar mit einander in Streit geriethen. Daraus entstand vielleicht eine Verwicklung, die seinen Projecten Vorschub leistete.

In der That wurde der Wortwechsel der beiden Männer schnell hitziger: Keraban hätte sich eher verhaften und verurtheilen, als sich das letzte Wort nehmen lassen.

Ahmet wollte sich eben zur Unterstützung seines Onkels einmischen, als der Richter befehlerisch sagte:

»Alle in einen Kreis stellen! Schafft Lichter her!«

Meister Kidros, an den diese Worte gerichtet waren, beeilte sich, der Aufforderung nachzukommen. Gleich darauf traten vier Diener der Karawanserai mit Fackeln ein, die den Hofraum hell erleuchteten.

»Jeder hebe die rechte Hand empor!« fuhr der Richter fort.

Sofort streckten sich alle rechten Hände in die Höhe.

Am Ballen und an den Fingern waren alle schwarz, alle – mit Ausnahme des Seigneur Keraban, Ahmets und Van Mitten's.

Augenblicklich wies der Richter auf die drei Männer hin.

»Da sind die Schuldigen... Da stehen sie! rief er.

– Hm! knurrte Keraban.

– Wir?... rief der Holländer, noch ohne zu wissen, worauf jener diese Behauptung stützte.

– Ja!... Diese da, fuhr der Richter fort. Ob sie nun fürchteten, von der Ziege verrathen zu werden oder nicht, macht nichts aus. Jedenfalls haben sie in ihrem Schuldbewußtsein, statt der Ziege über den mit schwarzer Farbe bestrichenen Rücken zu streichen, die Hände nur oberhalb desselben hingeführt und damit sich selbst angeklagt!«

Ein schmeichelhaftes – für den Scharfsinn des Richters höchst schmeichelhaftes – Gemurmel lief durch die Zuschauer, während der Seigneur Keraban und seine Begleiter etwas kleinmüthig die Köpfe hängen ließen.

»Das sind also, sagte der Seigneur Yanar, die drei Uebelthäter, welche vergangene Nacht sich erfrechten...

[310] – O, unterbrach ihn Ahmet, vergangene Nacht befanden wir uns noch zehn Lieues von der Karawanserai von Rissar!

– Wer bestätigt das? erwiderte der Richter. Jedenfalls liegt die Thatsache vor, daß Sie es waren, welche versuchten, in das Zimmer dieser edlen vornehmen Reisenden einzudringen!

– Zum Kuckuck, ja, rief Keraban, wüthend, sich in einer solchen Schlinge haben fangen zu lassen, ja!... Wir sind in jenen Gang eingetreten. Doch das geschah nur aus Verwechslung der Thür – oder vielmehr in Folge des Irrthums eines der Dienstleute der Karawanserai.

– Wirklich! antwortete ironisch der Seigneur Yanar.

– Ganz gewiß! Uns war das Zimmer dieser Dame als das unsrige überwiesen worden...

– Andern überwiesen! warf der Richter ein.

– Nun ja... ertappt! sagte Bruno für sich, der Onkel, der Neffe und mein Herr obendrein!«

Trotz der gewöhnlich bewahrten würdevollen Haltung war der Seigneur Keraban jetzt doch ganz verblüfft und wurde es noch mehr, als der Richter, sich an Van Mitten, Ahmet und ihn wendend, sagte:

»Man führe sie in's Gefängniß!

– Ja... in's Gefängniß!« wiederholte der Seigneur Yanar.

Gleich schrien such alle Reisende, denen sich die Leute aus der Karawanserai anschlossen:

»In's Gefängniß!... In's Gefängniß!«

Bei der Wendung, welche die Sache jetzt nahm, konnte sich Scarpante wegen seines boshaften Streiches nur Glück wünschen. Saßen der Seigneur Keraban, Van Mitten und Ahmet hinter Schloß und Riegel, so war die Reise unterbrochen, damit die Hochzeit verzögert, vorzüglich Amasia von ihrem Verlobten getrennt, gleichzeitig die Möglichkeit gegeben, unter günstigeren Verhältnissen zu handeln und das Unternehmen von vorn anzufangen, das dem maltesischen Capitän mißlungen war.

Die Folgen dieses Abenteuers erwägend, wurde Ahmet bei dem Gedanken, von Amasia getrennt zu sein, auf seinen Onkel doch wirklich etwas böse. War es nicht der Seigneur Keraban, der sie durch eine neue Halsstarrigkeit in diese üble Lage gebracht hatte?


»Ich will mit meinem Beispiele vorangehen,« erwiderte Yanar. (S. 306.)

Hatte er sie nicht abgehalten, ja, ihnen geradezu verboten, die Ziege zu streicheln, und das nur, um diesem alten Richter, der sich weit listiger als er erwiesen, einen Streich zu spielen? [311] Wessen Fehler war es, daß sie sich in dieser, ihrer Einfalt gestellten Schlinge gefangen hatten und jetzt bedroht waren, wenigstens für einige Tage in's Gefängniß zu wandern?

Auch der Seigneur Keraban grollte natürlich innerlich bei dem Gedanken an die kurze Zeit, die er zur Vollendung seiner Reise noch übrig hatte, wenn er am bestimmten Termine in Scutari eintreffen wollte, während doch, wenn er noch einmal irgendwie den Kopf aufsetzte, seinem Neffen ein ganzes Vermögen verloren gehen konnte.

[312] Van Mitten lugte einmal nach rechts und einmal nach links, balancirte, sehr besorgt um seine eigene Haut, von einem Beine zum andern, und wagte kaum die Augen gegen Bruno aufzuschlagen, der ihm immer die unheildrohenden Worte zu wiederholen schien:

»Sagt' ich's nicht vorher, Mynheer, daß Ihnen früher oder später noch ein Unglück zustoßen würde?«

Dagegen wendete er sich an Keraban mit dem höflichen und doch verdienten Vorwurfe:

[313] »Warum überredeten Sie uns aber auch, nicht mit der Hand über den Rücken jenes unschuldigen Thieres zu streichen?«

Zum ersten Male in seinem Leben wußte Keraban unmöglich eine Antwort zu geben.

Inzwischen schallten die Rufe »In's Gefängniß!« immer dringender, und natürlich genirte sich Scarpante gar nicht, womöglich noch lauter dabei einzustimmen.


»In's Gefängniß... In's Gefängniß!« (S. 311.)

»Ja, in's Gefängniß mit den Verbrechern! wiederholte der racheschnaubende Yanar, im Nothfalle bereit, dem Richter thatkräftige Hilfe zu leisten. Man schaffe sie in's Gefängniß! In's Gefängniß alle Drei!

– Ja... alle Drei... wenigstens wenn sich nicht Einer von ihnen selbst anklagt! antwortete die edle Sarabul, welche nicht wollte, daß zwei Schuldlose etwa für einen Schuldigen litten.

– Das ist nicht mehr als billig, setzte der Richter hinzu. Nun, wer von Ihnen hat versucht, in jenes Zimmer einzudringen?«

Einen Augenblick standen die drei Angeklagten unentschlossen da, aber das währte nicht lange.

Der Seigneur Keraban hatte den Richter ersucht, sich kurze Zeit mit seinen Genossen besprechen zu dürfen, was ihm zugestanden wurde; da nahm er Ahmet und Van Mitten zur Seite und sagte in, jeden Widerspruch ausschließendem Tone:

»Meine Freunde, hierbleibt nur Eins zu thun übrig. Einer von uns muß die ganze Geschichte, die ja nicht besonders schlimm auslaufen kann, auf seine Schultern nehmen!«

Hier begann der Holländer, als beschliche ihn eine trübe Ahnung, die Ohren zu spitzen.

»Die Wahl kann übrigens, fuhr Keraban fort, gar nicht zweifelhaft sein. Die Anwesenheit Ahmets binnen kurzer Frist ist zur Abschließung seiner Vermählung in Scutari unbedingt nothwendig.

– Ja, lieber Onkel, ja freilich! bestätigte Ahmet.

– Die meinige natürlich gleichfalls, da ich als Vormund der Feierlichkeit beiwohnen muß.

– Wie? warf Van Mitten dazwischen.

– Es ist demnach, Freund Van Mitten, fuhr Keraban fort, meiner Ansicht nach, kein Einwurf möglich. Sie müssen sich opfern.

– Ich?... der...?

– Sie müssen sich selbst anklagen!... Was wagen Sie dabei?... Einige Tage Hast?... Kleinigkeit!... Daraus werden wir Sie schon zu befreien wissen.

[314] – Aber... entgegnete Van Mitten, dem es vorkam, als ob man sehr willkürlich über seine Person verfügte.

– Lieber Herr Van Mitten, unterbrach ihn Ahmet, es muß sein!... Ich bitte Sie im Namen Amasias darum!... W ollen Sie ihre ganze Zukunft vernichtet sehen, wenn sie wegen verspäteten Eintreffens in Scutari...

– Bester Herr Van Mitten! bat das junge Mädchen, welche herzu gelaufen war und dieses Gespräch mit angehört hatte.

– Wie... Sie verlangten?... wiederholte Van Mitten.

– Hm! murmelte Bruno, recht wohl begreifend, was da vorging, noch eine neue Dummheit, zu der sie meinen Herrn bereden wollen.

– Herr Van Mitten!... flehte Ahmet diesen an.

– Wohlan... ein edler Entschluß!« drängte Keraban, ihm die Hand drückend, als wenn er sie zerbrechen wollte.

Unterdeß wurden die Rufe »In's Gefängniß! In's Gefängniß!« nur immer noch gebieterischer.

Der unglückliche Holländer wußte nicht, was er thun oder lassen sollte. Er sagte kopfnickend ja und dann wieder kopfschüttelnd nein.

Als aber die Leute der Karawanserai herantraten, um auf einen Wink des Richters die drei Schuldigen zu ergreifen, rief Van Mitten mit einer Stimme, aus der freilich nicht viel eigene Ueberzeugung sprach:

»Haltet ein! Haltet ein! Ich glaube doch, ich bin es gewesen, der...

– Schön! brummte Bruno, da haben wir die Bescheerung!

– Fehlgeschossen! sagte Scarpante für sich, ohne eine heftige Bewegung des Aergers unterdrücken zu können.

– Sie sind es gewesen? fragte der Richter den Holländer.

– Ich!... Ja... ich!

– Guter Herr Van Mitten! flüsterte das junge Mädchen dem wackeren Manne in's Ohr.

– Ach, ja!« setzte Nedjeb hinzu.

Was that inzwischen die edle Sarabul? Nun, die intelligente Frau betrachtete, nicht ohne ein gewisses Interesse, den, der die Kühnheit gehabt hatte, sie überfallen zu wollen.

– Also Sie sind es, fragte der Seigneur Yanar, der es gewagt hat, in das Zimmer dieser edlen Kurdin einzudringen?

– Ja!... bestätigte Van Mitten zögernd.

[315] – Sie haben indeß nicht das Aussehen eines Diebes?

– Ein Dieb!... Ich!... Ein Kaufmann! Ich... ein Holländer... aus Rotterdam! Ah, ich verbitte mir das! rief Van Mitten, der gegenüber einer solchen Beschuldigung einen Aufschrei natürlicher Entrüstung nicht zu unterdrücken vermochte.

– Aber dann... sagte Yanar.

– Dann, fiel ihm Sarabul in's Wort, dann war es meine Ehre, der Sie zu nahe zu treten wagten.

– Der Ehre einer Kurdin! donnerte der Seigneur Yanar, der schon die Hand an den Yatagan legte.

– Wahrlich, er ist gar nicht so übel, dieser Holländer! sagte die edle Reisende, sich ein wenig zierend.

– Ha, all' Ihr Blut wird nicht hinreichen, einen solchen Schimpf zu sühnen! fuhr Yanar fort.

– Bruder... lieber Bruder!

– Wenn Sie sich weigern, das Unrecht wieder gut zu machen...

– O weh! seufzte Ahmet.

– Sie heiraten entweder meine Schwester, oder andernfalls...

– Beim Barte des Propheten! sagte Keraban für sich, da giebt's noch eine hübsche Verwicklung!

– Heiraten?... Ich!... Heiraten!... wiederholte Van Mitten, die Arme gen Himmel erhebend.

– Sie schlagen das ab? fuhr ihn der Seigneur Yanar an.

– Ob ich es abschlage!... Ob ich nein sage!... antwortete Van Mitten, jetzt auf dem Gipfel des Entsetzens. Ich bin ja schon längst...«

Van Mitten hatte nicht Zeit, den Satz zu vollenden. Der Seigneur Keraban packte ihn eben am Arme.

»Kein Wort mehr! raunte er ihm zu. Zustimmen! Es muß sein!... Kein Zögern!

– Ich, zustimmen? Ich... ein Ehemann!... Ich, erwiderte Van Mitten, ich ein Bigamist!

– Ach, in der Türkei kann man Bigamist, Trigamist. Quadrugamist sein! Das ist gesetzlich erlaubt!... Schnell, sagen Sie ja!

– Aber?...

– Heiraten Sie, Van Mitten, schlagen Sie ein!... So brauchen Sie keine Stunde im Gefängnisse zu sitzen. Wir setzen alle zusammen die Reise fort.

[316] In Scutari machen Sie sich heimlich aus dem Staube, und Gute Nacht dann, neue Frau Van Mitten!

– Diesmal, Freund Keraban, muthen Sie mir etwas schlechterdings Unmögliches zu, antwortete der Holländer.

– Es muß aber sein, oder Alles ist verloren!«

In diesem Augenblicke sagte der Seigneur Yanar, der Van Mitten am rechten Arme ergriff:

»Es muß sein!

– Es muß sein! wiederholte Sarabul, die sich schon seines linken Armes bemächtigte.

– Weil's denn sein muß! stöhnte Van Mitten, den die Beine schon nicht mehr tragen wollten.

– Was, Mynheer, Sie wollten auch hierbei nachgeben? fragte Bruno sich nähernd.

– Sag' mir einen andern Ausweg, Bruno, murmelte Van Mitten so leise, daß man ihn kaum verstehen konnte.

– Nun auf, den Kopf in die Höhe! rief der Seigneur Yanar, während er den zukünftigen Schwager mit einem kurzen Stoße aufrichtete.

– Und gerade gehalten! setzte die edle Sarabul hinzu, indem sie den zukünftigen Gatten vollends erhob.

– So wie es sich für den Schwager...

– Und für den Mann einer Kurdin ziemt!«

Van Mitten hatte sich unter dieser doppelten Nachhilfe schnell erhoben, aber sein Kopf schwankte noch immer, als säße er nur halb auf den Schultern.

– Eine Kurdin! murmelte er... Ich... ein Bürger von Rotterdam... eine Kurdin heiraten!

– Fürchten Sie nichts!... Eine Heirat zum Lachen! sagte ihm der Seigneur Keraban leise in's Ohr.

– Ueber solche Dinge ist nie zu lachen!« antwortete Van Mitten in so kläglich komischem Tone, daß seine Gefährten Mühe hatten, nicht schon darüber in helles Gelächter auszubrechen.

Nedjeb zeigte ihrer Herrin das jetzt viel heiterer aussehende Gesicht der Reisenden und sagte ganz heimlich:

»Ich möchte darauf wetten, daß das eine Witwe ist, die nur einen Mann zu erhaschen sucht!

[317] – Armer Herr Van Mitten! sagte Amasia.

– Acht Tage Gefängniß wären mir lieber gewesen, als acht Tage solcher Ehe!« meinte Bruno die Achseln zuckend.

Da wandte sich schon der Seigneur Yanar an die Umstehenden und erklärte mit lauter Stimme:

»Morgen werden wir in Trapezunt mit großer Feierlichkeit die Verlobung des Seigneur Van Mitten und der edlen Sarabul begehen!«

Bei dem Worte »Verlobung« hatten sich der Seigneur Keraban und seine Begleiter, vorzüglich aber Van Mitten gesagt, daß dieses Abenteuer noch gelinder abzulaufen verspräche, als sie wohl gefürchtet hatten.

Hier muß aber bemerkt werden, daß es nach kurdischer Sitte schon die Verlobung ist, welche den unlösbaren Knoten schürzt.

Diese Ceremonie wäre also etwa der Civiltrauung bei verschiedenen europäischen Völkern zu vergleichen, und die, welche ihr nachfolgt, der kirchlichen Einsegnung, durch welche die Verbindung der beiden Gatten dann vollständig wird. In Kurdistan ist nach der Verlobung der Mann allerdings immer noch nichts weiter als Bräutigam, aber als solcher absolut an die erwählte Braut gebunden oder, wie im vorliegenden Falle an die, welche ihn erwählt hat.

Der Seigneur Yanar erklärte das auch pflichtschuldig und deutlich dem armen Van Mitten und endete mit den Worten:

»Verlobung also in Trapezunt!

– Und Trauung in Mossul!« setzte die edle Kurdin zärtlich hinzu.

Scarpante aber grollte, als er die Karawanserai, deren Thüren wieder geöffnet worden waren, verließ, für sich und murmelte die drohenden Worte:

»Die List ist fehlgeschlagen!... Nun also zur Gewalt!«

Dann verschwand er, ohne weder vom Seigneur Keraban, noch von Jemand der Seinigen bemerkt worden zu sein.

»Armer Herr Van Mitten! wiederholte Ahmet, als er die niedergeschlagene Miene des Holländers wahrnahm.

– Sehr schön! rief Keraban, 's ist wahrlich zum Lachen! Bedeutungslose Verlobung! In zehn Tagen wird davon nicht mehr die Rede sein! Das hat nichts zu bedeuten.

– Zugegeben, lieber Onkel; doch zehn Tage mit dieser befehlshaberischen Kurdin verlobt zu sein, hat indeß etwas zu bedeuten.«

[318] Fünf Minuten später war der Hof der Karawanserai von Rissar leer. Die Gäste hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen, um zu schlafen. Van Mitten freilich mußte sich gefallen lassen, von seinem schrecklichen Schwager bewacht zu werden, und endlich wurde es still auf diesem Schauplatz der Tragi-Komödie.

9. Capitel
Neuntes Capitel.
In welchem Van Mitten durch Verlobung mit der Sarabul die Ehre widerfährt, der Schwager des Seigneur Yanar zu werden.

Eine Stadt, welche aus dem Jahre der Welt 4790 datirt, ihre Gründung den Insassen einer milesischen Colonie verdankt, die von Mithridates erobert wurde, dann Pompejus in die Hände fiel, ferner unter der Herrschaft der Perser und der der Skythen stand, welche unter Constantin dem Großen christlich und darauf bis zum sechsten Jahrhundert wieder heidnisch wurde, welche Belisar befreite und Justinian bereicherte und verschönerte, die den Comnenen angehörte, von denen Napoleon I. abzustammen behauptete, dann gegen Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts Mohammed II. zufiel, zu einer Zeit, mit der das Kaiserthum von Trapezunt sein Ende erreichte, nachdem es zweihundertsechsundfünfzig Jahre lang bestanden, eine solche Stadt hat gewiß Anspruch, in der Geschichte der Welt eine hervorragende Stellung einzunehmen. Es ist also gar nicht zu verwundern, daß Van Mitten sich während des ersten Theiles der Reise sehr darauf freute, diese hochberühmte Stadt zu sehen, welche die Dichter von Ritterromanen so oft als Schauplatz der merkwürdigsten Abenteuer erwählt haben.


Trapezunt, das Schloß am Meere. (S. 319.)

Als er sich dieser freudigen Erwartung hingab, war Van Mitten freilich noch von keiner Sorge bedrückt. Er brauchte da ja nur seinem Freunde Keraban auf dessen Rundreise um den alten Pontus Euxinus zu folgen. Und jetzt war er verlobt – wenigstens vorläufig nur auf wenige Tage verlobt – aber verlobt mit jener edlen Kurdin, die ihn wie am Zügel hielt, deshalb aber gar nicht in der Laune, den geschichtlichen Werth Trapezunts nach Gebühr zu schätzen.

Es war am 17. September gegen neun Uhr Morgens, und zwei Stunden nach dem Aufbruche aus der Karawanserai von Rissar, als der Seigneur [319] Keraban und seine Begleiter, der Seigneur Yanar, seine Schwester und deren Diener ihren Einzug in die Hauptstadt des neuen Paschaliks hielten, die mitten in einer Hochalpenlandschaft mit Thälern, Bergen und launischen Wasserläufen liegt, in einer Gegend, welche sehr an gewisse Theile Europas erinnert, so daß man glauben könnte, die Schweiz oder Tirol wäre nach diesem Theile der Küste des Schwarzen Meeres versetzt worden.

Die wichtige Hauptstadt Armeniens, Trapezunt, hundertfünfundzwanzig Kilometer von Erzerum gelegen, steht jetzt mittelst einer Straße, welche die [320] türkische Regierung über Gumuh Kane, Baiburt und Erzerum geführt hat, in directer Verbindung mit Persien – was ihr vielleicht einen Theil ihrer alten Handelsbedeutung wieder verschafft.

Die Stadt zerfällt in zwei amphitheatralisch auf einem Hügel erbaute Theile. Der eine die türkische Stadt, ist mit Mauern und Thürmen umschlossen, wurde ehemals durch ihre alte Seeveste vertheidigt und enthält nicht weniger als vierzig Moscheen, deren Minarets aus dichten Haufen von Orangen-, Oel- und anderen Bäumen – ein reizender Anblick – emporragen.


Keraban und seine Begleiter hielten einen prächtigen Einzug. (S. 320.)

Die andere, die [321] christliche Stadt, entwickelt eine rege Handelsthätigkeit und bietet in ihrem umfänglichen Bazar eine reiche Auswahl von Teppichen, Stoffen, Schmuckgegenständen, Waffen, alten Münzen, kostbaren Steinen u. s. w. Im Hafen verkehren wöchentlich regelmäßig Dampfboote, welche Trapezunt in directe Verbindung mit den Hauptplätzen des Schwarzen Meeres setzen.

In dieser Stadt bewegt sich oder vegetirt – je nach den verschiedenen Elementen, welche sie bildet – eine Bevölkerung von 40.000 Köpfen, darunter Türken, Perser, Christen von armenischem oder lateinischem Ritus, orthodoxe Griechen, Kurden und Europäer. An erwähntem Tage war die Bevölkerung hier aber wenigstens verfünffacht durch das Zusammenströmen von Gläubigen, welche aus allen Enden Kleinasiens gekommen waren, um die prächtigen Feste mitzumachen, welche eben zur Ehre Mohammed's gefeiert wurden.

Die kleine Karawane hatte wirklich einige Mühe, ein Unterkommen zu finden für die vierundzwanzig Stunden, welche sie in Trapezunt bleiben sollte, denn der Seigneur Keraban beharrte bei seinem Entschlusse, schon am folgenden Morgen nach Scutari abzureisen. In der That war jetzt auch kein Tag mehr zu verlieren, wenn man daselbst noch vor Ausgang des Monats eintreffen wollte.

In einem fränkisch-italienischen Hôtel, inmitten eines wirklichen Viertels von Karawanseraien, Khans und schon von Reisenden überfüllten Herbergen, nahe dem Giaur-Meïdan-Platze, in dem verkehrsreichsten Theile der Stadt, und folglich außerhalb der türkischen Stadt war es, wo der Seigneur Keraban und sein Gefolge allein Aufnahme fanden. Das Hôtel erwies sich jedoch gut genug, um hier den Tag zu verbringen und eine Nacht die Ruhe zu suchen, deren sie so sehr bedurften. Der Onkel Ahmets fand wirklich keine Ursache, über irgend etwas mit dem Hôtelwirth Streit anzufangen.

Aber während der Seigneur Keraban und die Seinigen, auf diesem Punkt der Reise angelangt, dieselbe für fast beendigt hielten, das heißt, wenn auch nicht alle Strapazen, so doch alle weitere Gefahr ausgeschlossen glaubten, wurde in der türkischen Stadt, wo ihr Todfeind wohnte, ein neues Complot geschmiedet.

Im Palast des Seigneur Saffar, der hoch auf den ersten Absätzen des Berges von Vostepeh lag, dessen unterer Theil sanft nach dem Meere verläuft, war eine Stunde früher, nachdem er die Karawanserai von Rissar ungesehen verlassen, der Intendant Scarpante eingetroffen.

Hier erwarteten ihn der Seigneur Saffar und der Capitän Yarhud, und hier theilte ihnen Scarpante zuerst mit, was in der letzten Nacht vorgefallen [322] war, erzählte, wie Keraban und Ahmet einer Verhaftung entgangen waren, welche Amasia schutzlos gemacht hätte, und zwar entgangen durch die Opferwilligkeit des beschränkten Van Mitten.

Bei dieser Zusammenkunft der drei nach einem Ziele strebenden Männer wurden nun Beschlüsse gefaßt, welche die Reisenden auf dem zweihundertfünfundzwanzig Lieues langen Wege zwischen Scutari und Trapezunt direct bedrohten. Was sie vorhatten, wird die Zukunft lehren, jedenfalls wurde noch am nämlichen Tage mit der Ausführung der Anfang gemacht. Ohne sich um die eben gefeierten Feste zu bekümmern, verließen der Seigneur Saffar und Yarhud nämlich Trapezunt, und begaben sich westwärts auf die Landstraße von Anatolien, welche nach der Mündung des Bosporus führt.

Nur Scarpante blieb in der Stadt zurück. Da er weder dem Seigneur Keraban noch Ahmet oder den beiden jungen Mädchen bekannt war, konnte er vollkommen frei handeln. Ihm fiel in diesem Drama die wichtige Rolle zu, in der nächsten Zeit die List mit der rohen Gewalt zu vertauschen.

Scarpante konnte sich also unter die Menge mischen und auf dem Giaur-Meïdan-Platze umhergehen. Daß er einen Augenblick und in der Dunkelheit in der Karawanserai von Rissar ein Wort an den Seigneur Keraban und dessen Neffen gerichtet, ließ ja noch nicht befürchten, von diesen wieder erkannt zu werden. So wurde es ihm leicht, Alles in voller Sicherheit zu belauschen, was diese vornehmen würden.

So sah er kurze Zeit nach dessen Ankunft in Trapezunt Ahmet sich durch die schlecht unterhaltenen Straßen, welche daselbst münden, nach dem Hafen begeben Lichterschiffe, Küstenfahrer, große türkische Galeeren und Barken jeder Art lagen hier auf dem Trockenen, nachdem sie ihre lebende Last an Gläubigen gelandet, während die Handelsfahrzeuge wegen Mangels hinreichender Wassertiefe weiter draußen nach der See zu ankerten.

Ein Haman zeigte Ahmet das Telegraphenbureau, und Scarpante konnte sich überzeugen, daß der Verlobte Amasias ein ziemlich langes Telegramm unter der Adresse des Banquiers Selim in Odessa abgehen ließ.

»Bah! sagte er, eine Depesche, welche ihren Adressaten niemals erreichen wird. Selim ist von einer Kugel Yarhud's tödtlich getroffen worden, und uns kann das natürlich wenig incommodiren.«

Scarpante machte sich darüber auch wirklich keine weiteren Gedanken Ahmet kehrte hierauf nach dem Giaur-Meidan-Hôtel zurück. In der Gesellschaft [323] Nedjebs fand er Amasia, die ihn nicht ohne einige Ungeduld erwartete, bis sie sicher sein konnte, daß vor Ablauf weniger Stunden ihr Schicksal in der Villa Selim bekannt sein mußte.

»Ein Brief hätte zu viel Zeit gebraucht, um nach Odessa zu gelangen, sagte Ahmet, außerdem fürchte ich noch immer...«

Ahmet unterbrach sich bei diesem Worte.

»Du fürchtest, mein lieber Ahmet?... Was wolltest Du sagen? fragte Amasia etwas verwundert.

– Nichts, beste Amasia, versicherte Ahmet, nichts!... Ich wollte nur Deinen Vater erinnern, bei unserer Ankunft in Scutari anwesend zu sein, und womöglich noch etwas eher, um alles Nöthige zu besorgen, damit unsere Vermählung keinerlei Aufschub erleide.«

In Wahrheit freilich deutete Ahmet, der noch immer neue Entführungsversuche fürchtete, im Fall die Complicen Yarhud's erfahren hatten, was seit dem Schiffbruche der »Guidare« vorgegangen war, dem Banquier Selim an, daß alle Gefahr vielleicht noch nicht beseitigt wäre; um Amasia aber für den letzten Theil der Reise nicht noch zu ängstigen, hütete er sich wohl, ihr zu gestehen, welcher Art seine Befürchtungen seien – Befürchtungen übrigens, die ja nur auf unbestimmten Ahnungen fußten.

Amasia dankte Ahmet für seine Aufmerksamkeit, ihren Vater durch eine Depesche beruhigt zu haben – selbst auf die Gefahr hin, wegen Benützung des elektrischen Drahtes von dem Onkel Keraban schwere Vorwürfe zu bekommen.

Und was wurde inzwischen mit Van Mitten?

Der Freund Van Mitten wurde eben, stark gegen seinen Willen, der glückliche Verlobte der edlen Sarabul und der beklagenswerthe Schwager des Seigneur Yanar.

Wie hätte er das auch abzuwenden vermocht? Eines Theils wiederholte ihm Keraban, daß er sein Opfer nun auch völlig darbringe, da der Richter sie sonst alle Drei noch in's Gefängniß werfen lassen könne, was den Ausgang der Reise uneinbringlich gefährden müsse, daß diese Heirat, wenn sie auch in der Türkei gälte, wo ja Vielweiberei herrscht, doch für Holland null und nichtig wäre, daß er also ganz nach Belieben der Gatte einer Frau in seiner Heimat oder der mehrerer Frauen im Reiche des Padischah sein könnte. Van Mitten's Wahl war indessen schon getroffen; er zog es vor, überhaupt gar keine Frau zu haben.

[324] Auf der anderen Seite standen hier ein Bruder und eine Schwester, denen es nicht in den Sinn kam, ihre Beute loszulassen. Es war also nur klug, ihnen jetzt nachzugeben, um sie hoffentlich an den Ufern des Bosporus heimlich zu verlassen, was sie ja verhindern mußte, die Rechte eines Schwagers und einer Gattin zu beanspruchen.

Van Mitten fiel es auch gar nicht ein, sich zu widersetzen, im Gegentheil fügte er sich geduldig den Ereignissen, wie sie kamen.

Glücklicherweise hatte der Seigneur Keraban das Versprechen erlangt, daß der Seigneur Yanar und seine Schwester ihn vor der Trauung in Mossul bis nach Scutari begleiten wollten, um der Vermählung Amasias und Ahmets beizuwohnen, und daß die Kurdenbraut mit ihrem Verlobten erst zwei oder drei Tage später nach dem Lande ihrer Ahnen abreisen würde.

Obwohl Bruno meinte, daß seinem Herrn für dessen unglaubliche Schwachheit nur ganz recht geschähe, bedauerte er es doch aufrichtig, ihn unter das Joch dieser schrecklichen Frau gebeugt zu sehen. Gleichzeitig brach er aber auch in ein schallendes Gelächter aus – ein Gelächter, das auch Keraban, Ahmet und die beiden Mädchen kaum zurückhalten konnten – als er Van Mitten zur Stunde, wo die Verlobung feierlich besiegelt werden sollte, im Costüm jenes bezüglich seiner Volkstracht auffallenden Landes vermummt sah.

»Was, Sie, Van Mitten, rief Keraban, sind Sie's wirklich, der hier als reiner Orientale erscheint?

– Ja, ich bin's, Freund Keraban.

– Als Kurde?

– Sie sagen es.

– Ah wahrhaftig das steht Ihnen nicht schlecht, und ich bin überzeugt, daß Sie nach einiger Gewohnheit diese Tracht weit bequemer finden werden, als Ihre engen europäischen Kleider.

– Sie sind sehr liebenswürdig, Freund Keraban.

– Aber zum Teufel, Van Mitten, da machen Sie doch kein so saures Gesicht! Sagen Sie sich, es wäre heute Carneval und Sie trügen nur eine Verkleidung zu einer Verheiratung im Spaße!

– Ach, die Verkleidung ist es nicht, die mich am meisten beunruhigt, antwortete Van Mitten.

– Und was denn?

– Nun, die Verheiratung!

[325] – Bah! Eine provisorische Heirat, Freund Van Mitten, versicherte Keraban, und Madame Sarabul wird noch theuer dafür bezahlen müssen, nicht als Witwe weiter leben zu wollen. O, wenn Sie ihr erst einmal auseinandersetzen, daß diese Verlobung Sie zu gar nichts verpflichtet, daß Sie schon in Rotterdam verheiratet sind, wenn Sie ihr in bester Form den Abschied geben, so muß ich dabei sein, Van Mitten! Wahrhaftig, es kann doch nicht erlaubt sein, die Leute wider ihren Willen zu verheiraten! S'ist ja schon genug, wenn Sie dem zustimmen.«

Mit Zuhilfenahme aller dieser Gründe hatte sich der würdige Holländer endlich in seine merkwürdige Lage gefunden. Es schien ja das Beste, diese von der lächerlichen Seite aufzufassen, wozu sie wirklich aufforderte, und sich darein zu ergeben, weil nur so die Interessen Aller gewahrt werden konnten.

An jenem Tage hätte Van Mitten übrigens keine Zeit zu weitläufigen Ueberlegungen gehabt. Der Seigneur Yanar und seine Schwester liebten es nicht, die Sache auf die lange Bank zu schieben. Gefangen – gehangen! Schon war zur Verlobung, durch welche sie den phlegmatischen Sohn Hollands fesseln wollten, Alles in Bereitschaft.

Man darf dabei nicht glauben, daß hier irgend etwas von den Gebräuchen, wie sie in Kurdistan Sitte sind, vergessen oder vernachlässigt worden wäre. Nein! Der Schwager wachte sorgfältig über Alles, und in der großen Stadt hier fehlte es nicht an Zeugen, um der feierlichen Verlobung möglichsten Glanz zu verleihen.

Unter den Einwohnern Trapezunts gibt es eine gewisse Anzahl Kurden Unter ihnen fanden Yanar und Sarabul auch Bekannte und Freunde von Mossul. Die wackeren Leute betrachteten es als Pflicht, ihrer edlen Landsmännin bei dieser Gelegenheit als Zeuge zu dienen, wo ihr das Glück zu Theil ward, sich zum vierten Male einem Gatten zu weihen. Von Seiten der Braut war also ein ganzer Clan zu der Feierlichkeit eingeladen, während Keraban, Ahmet und ihre Gefährten natürlich auf Seiten des Bräutigams standen. Van Mitten selbst wurde fortwährend streng im Auge behalten und befand sich nie allein mit seinen Freunden, seit den letzten Worten, die er mit ihnen wechselte, als er eben das landesübliche Costüm der vornehmen Herren von Mossul und Chehrezur angelegt hatte.

Nur einen Augenblick konnte Bruno sich in seine Nähe schleichen, um ihm mit mahnender Stimme zuzuflüstern:

[326] »Nehmen Sie sich in Acht, Mynheer, nehmen Sie sich in Acht! Sie setzen jetzt Alles auf's Spiel!

– Kann ich denn anders, Bruno? antwortete Van Mitten resignirten Tones. Wenn ich mich zu einer Dummheit hingab, so rettete diese wenigstens meine Freunde aus der Verlegenheit, und schlimm werden die Folgen ja auf keinen Fall sein!

– Hm! brummte Bruno, den Kopf zurückwerfend, sich verheiraten, Mynheer, heißt immer sich verheiraten, und...«

Da bei diesen Worten der Holländer abgerufen wurde, sollte Niemand erfahren, wie der treue Diener diese nichts Gutes in Aussicht stellende Phrase vollendet hätte.

Es was Mittag, als der Seigneur Yanar und die anderen Kurden mit hochwichtiger Miene sich einfanden, um den Zukünftigen abzuholen, den sie bis zum Ende der Ceremonie nicht wieder verlassen durften.

So wurde denn die Verlobung mit allem Pomp vollzogen. Während derselben hätte gewiß Niemand etwas an dem neuverbundenen Paare auszusetzen gehabt, denn Van Mitten ließ wenigstens nichts von der Unruhe, die ihn beschlich, merken, und die edle Sarabul verhehlte nicht ihren Stolz, einen Mann aus dem Norden Europas an eine Frau aus dem Norden Asiens zu fesseln! Welcher Ruhm, Holland mit Kurdistan verbunden zu haben!

Die Braut sah prächtig aus in ihrer Hochzeitstracht – die sie offenbar für jeden Fall auf der Reise mitführte – diesmal muß man zugestehen, eine ganz löbliche Vorsicht. Es konnte nichts Schöneres geben, als ihren »Mitan« aus golddurchwirktem Tuche, dessen Aermel und Leibchen unter Stickereien und Filigranbesatz ganz verschwanden; nichts Reicheres als den Shawl, den sie um die Taille trug, jenen »Entari«mit schräg verlaufenden Streifen und tausend Falten aus dem seinen Musselin von Brussa, den man mit dem Namen »Tschembeos« bezeichnet; nichts Majestätischeres als ihren »Chalwar« aus Gewebe von Salonichi, dessen Beine sich an die seinen, perlengestickten Maroquinstiefeln anschlossen; und der weite Fez, den »Yeminis« mit lebhaftem Blumenmuster umschlangen und von dem ein lockendes »Puskul« mit den feinsten Spitzen herabhing. Dazu die Schmuckgegenstände, die Stirnbänder aus Goldmünzen, welche bis zu den Augenbrauen herabfielen, die aus kleinen Rosetten bestehenden Ohrgehänge, von denen seine halbmondtragende Kettchen ausliefen, die Granatagraffen des Gürtels, die Filigrannadeln in Form einer indischen


Ein Haman zeigte Ahmet das Telegraphenbureau. (S 323.)

Palme, und das strahlende, doppelreihige Halsgeschmeide, diese »Guerdanlicks« und à jour gefaßten Achaten, auf deren jedem der Name eines Iman eingravirt war. Nein, eine schönere Braut hatte man noch nicht durch die Straßen von Trapezunt wandeln sehen, und bei der heutigen Gelegenheit hätten sie ebenfalls [327] mit einem Purpurteppich belegt sein können, wie seiner Zeit bei der Geburt des Constantin Porphyrogenetes.

Doch wenn die edle Sarabul prächtig erschien, so sah der Seigneur Van Mitten großartig aus, und sein Freund Keraban überhäufte ihn denn auch mit


Der Iman sprach ein einfaches Gebet. (S. 331.)

Complimenten, die von Seiten eines Altgläubigen, der [328] noch der orientalischen Tracht treu geblieben, nicht ironisch gemeint sein konnten.

Man mußte übrigens zugeben, daß jenes Costüm Van Mitten einen martialischen Anstrich verlieh, ein stolzeres Ansehen, eine vortheilhaftere Physiognomie; so etwas Wildes, was zu seinem Rotterdamer Kaufmannstemperament allerdings verzweifelt wenig paßte. Wie hätte es auch anders sein können, mit dem leichten Musselinmantel mit Baumwollen-Applicationen, mit dem langen Beinkleide aus rothem Atlas, das sich in den sporenbesetzten Stiefeln verlor, welche[329] selbst wieder in den tausend Fältchen ihrer Schäfte mit Goldfäden durchnäht waren; mit dem vorne offenen Rocke, dessen Aermel bis zur Erde herabfielen; mit dem Fez und seinem »Yeminis«-Schmucke, und endlich mit dem »Puskul«, dessen gewaltiger Durchmesser auf den hohen Rang hinwies, den der Gatte der edlen Sarabul in Kurdistan einst einnehmen sollte.

Der große Bazar von Trapezunt hatte diese ganze Ausstattung geliefert, welche, wenn sie ihm auf den Leib gearbeitet worden wäre, Van Mitten nicht eleganter hätte kleiden können. Von dorther waren auch die herrlichen Waffen, von denen der Verlobte ein ganzes Arsenal in der gestickten und benähten Schärpe trug: Damascenerdolche mit grüner Jaspisscheide und doppelter Schneide; Pistolen mit silbernem Schafte, ein Säbel mit kurzer Klinge, dessen Schneide Sägezähne bildete und dessen Handgriff aus getriebenem Silber gearbeitet und reich ciselirt war; endlich ein Stoßdegen aus Stahl mit halberhabenen Verzierungen, der in eine gebogene Spitze, fast wie die alten Sicheln, ausging.

O, Kurdistan konnte der Türkei ohne Scheu den Krieg erklären! Solche Kämpfer vermochten die Armeen des Padischah doch niemals zu überwinden. Armer Van Mitten! Wer hätte vorausgesetzt, daß Du Dich noch einmal in eine solche Tracht werfen solltest? Glücklicher Weise, sagte der Seigneur Keraban das immer, und diesem nachfolgend auch Ahmet, Ahmet nachahmend auch Amasia und Nedjeb und sagten überhaupt Alle, mit Ausnahme Brunos:

»Bah, 's ist doch nur zum Spaße!«

Die eigentliche Verlobung wurde in würdevollster Weise gefeiert. Außer daß der Bräutigam von seinem schrecklichen Schwager und dessen nicht minder schrecklichen Schwester etwas kalt gefunden wurde, verlief Alles nach Wunsch.

In Trapezunt fehlte es nicht an richterlichen Beamten, welche es sich zur Ehre angerechnet hätten, diesen Ehecontract abzuschließen – um so mehr, als das nicht ohne einigen Profit für sie abging – man beauftragte aber den Richter, dessen Weisheit sich bei dem Vorfalle in der Karawanserai von Rissar in so glänzendem Lichte gezeigt hatte, mit dieser ehrenvollen Thätigkeit und der damit verbundenen Beglückwünschung der zukünftigen Ehegatten.

Nach Unterzeichnung des Vertrags begaben sich unter ungeheurem Volkszulauf die beiden Verlobten nebst Gefolge dann nach der geschlossenen Stadt in eine Moschee, eine frühere byzantinische Kirche, deren Mauern mit schönen Mosaikarbeiten geschmückt sind. Hier ertönten kurdische Gesänge, welche ausdrucksvoller, [330] melodischer und durch Klangfarbe und Rhythmus künstlerischer sind, als die türkischen und armenischen Gesänge. Einige, durch ihre Sonorität mehr ein einfaches metallisches Getöse erzeugende Instrumente vereinigten sich, übertönt von den scharfen Klängen kleiner Flöten, mit dem eigenartigen Concert für diese Gelegenheit besonders ausgewählter frischer Stimmen.

Darauf sprach der Iman ein einfaches Gebet, und Van Mitten war nun verlobt, verlobt nach Recht und Gebrauch, wie der Seigneur Keraban – nicht ohne seine eigenen Hintergedanken – der edlen Sarabul gegenüber sich ausdrückte, als er ihr seine wärmsten Glückwünsche darbrachte.

Die eigentliche Hochzeit sollte später in Kurdistan gefeiert werden, wo dann mehrere Wochen andauernde Feste dieselbe begleiteten. Doch würde es Van Mitten's Aufgabe sein, sich der kurdischen Sitte anzubequemen oder wenigstens einen Versuch dazu zu machen. Wenn die junge Gattin nämlich daselbst vor dem Hause ihres Mannes erscheint, tritt dieser ihr vor der Thür unerwartet entgegen, umfaßt sie mit den Armen, hebt sie auf die Schultern und trägt sie so bis nach dem Gemach, welches sie fortan bewohnen soll.

Man bezweckt damit ihre mädchenhafte Scheu zu schonen, denn es soll nicht den Anschein haben, als beträte sie ganz freiwillig eine fremde Wohnung. Wenn ihm dieser glückliche Moment nahte, würde Van Mitten sich vor einem Verstoße gegen die Landessitten zu hüten haben; doch das lag zum Glück noch in weitem Felde.

Hier erhöhten die Verlobungsfeierlichkeiten ganz naturgemäß die Feste, welche zur Feier der Himmelfahrt des Propheten, jener Eilet-ul-my'râdy, celebrirt werden, die gewöhnlich auf den 29. des Monats Redjeb fallen. Diesmal waren sie, in Folge eigenthümlicher Umstände und aus Rücksichten einer politischreligiösen Concurrenz, von dem ersten Iman des Paschaliks auf einen etwas früheren Termin verlegt worden.

Am Abend drängten sich in dem dazu vorzüglich geeigneten größten Palaste der Stadt Tausende und Abertausende von Gläubigen zur Begehung der Ceremonie zusammen, welche sie aus allen Theilen des mohammedanischen Asiens nach Trapezunt geführt hatte.

Die edle Sarabul konnte sich's nicht versagen, mit ihrem Verlobten bei dieser Gelegenheit öffentlich zu erscheinen. Der Seigneur Keraban, sein Neffe, die beiden jungen Mädchen und die beiden Diener aber wußten ebenfalls die wenigen noch übrigen Abendstunden nicht besser zu verbringen, als daß sie sich den Pomp dieses wunderbaren Schauspiels mit ansahen.

[331] Wunderbar war es thatsächlich; wie hätte es auch anders sein können hier im Morgenlande, wo die Träume dieser Welt sich zu verwirklichen scheinen? Die Einzelzüge dieses zu Ehren des Propheten veranstalteten Festes wiederzugeben, würde eher ein Pinsel unter Aufwand aller Farben der Palette geeignet sein, als sie sich mit der Feder schildern lassen, selbst wenn man dazu die Wort- und Bilderfülle nebst dem Schwung der Sprache der größten Dichter der Welt entlehnte.

»Der Reichthum ist in Indien zu Hause, sagt ein türkisches Sprichwort, der Geist in Europa, der Pomp aber bei den Ottomanen!«

Und in der That ging die Entwickelung dieser dichterisch geschmückten Fabeldarstellung mit geradezu unbeschreiblichem Pomp vor sich, den die graziösen Töchter Kleinasiens noch durch den Reiz ihrer Tänze und den Zauber ihrer Schönheit erhöhten. Die Fabel beruht auf der der christlichen nachgeahmten Legende, daß das Paradies bis zum Tode des Propheten im Jahre 10 der Hedschra – 632 nach der christlichen Zeitrechnung – allen Gläubigen, die vorläufig in Erwartung des Propheten im unermeßlichen Weltraume schlummerten, verschlossen gewesen sei. An jenem Tage erschien dieser zu Pferde, auf dem »Elborak«, dem Hippogryphen, der seiner an Jerusalems Thore harrte; dann verließ sein wunderbares Grab diese Erde, stieg gen Himmel und blieb zwischen Zenith und Nadir mitten in dem Glanze des Islamparadieses schweben. Darauf erwachten Alle, dem Propheten zu huldigen; die den Gläubigen versprochene Aera ewigen Glückes brach endlich an, und Mohammed erhob sich in blendender Apotheose, während die Sterne des arabischen Himmels, in Gestalt unzähliger Houris, die glanzvolle Stirn Allahs umkreisten.

Mit einem Wort, dieses Fest glich der Verkörperung eines Traumbildes desjenigen Dichters, der die Poesie des Morgenlandes tiefstinnerlich empfunden, wenn er, gelegentlich der verzückten Physiognomien der Derwische bei deren eigenartig wirbelndem Tanze sagt:

»Was erblicken sie in den Visionen, die sie durchschauern? Die smaragdenen Wälder mit Rubinenfrüchten, die Berge von Weihrauch und Myrrhe, die diamantenen Kioske und die aus Perlen gewebten Zelte des Paradieses ihres Mohammed!«

[332]
10. Capitel
Zehntes Capitel.
In welchem die Helden dieser Erzählung weder einen Tag, noch eine Stunde verlieren.

Am folgenden Tage, dem 18. September, als noch die ersten Sonnenstrahlen die hohen Minarets der Stadt vergoldeten, zog eine kleine Karawane durch eines der Thore der befestigten Umfassung und sandte dem poesievollen Trapezunt einen letzten Abschiedsgruß zu.

Diese nach den Ufern des Bosporus bestimmte Karawane folgte den Straßen längs der Küste unter Leitung eines Führers, dessen Unterstützung der Seigneur Keraban gern angenommen hatte.

Aller Voraussetzung nach mußte dieser Führer den westlichen Theil Anatoliens ganz genau kennen; es war einer der Nomaden, die man hierzulande gewöhnlich »Knorrenjäger« zu nennen pflegt.

Mit diesem Namen aber bezeichnet man eine gewisse Classe Holzfäller, welche von Geschäftswegen die Forsten dieses Theiles Anatoliens und Kleinasiens durchstreifen, worin der gewöhnliche Wallnußbaum vorzüglich gedeiht. Auf diesen Bäumen entstehen Knorren oder natürliche Auswüchse von besonderer Härte, deren Holz, da es sich aus eben jenem Grunde zu allen Arbeiten der Kunsttischlerei vorzüglich eignet, immer stark gesucht ist.

Dieser Knorrenjäger hatte in Erfahrung gebracht, daß eine Gesellschaft Fremder von Trapezunt abreisen und sich nach Scutari begeben wollte, worauf hin er Ahmet noch am Vorabend seine Dienste angeboten hatte. Er machte den Eindruck eines intelligenten Mannes und war sehr bekannt mit den Wegen, so daß er sich auch auf den schwerer zu findenden Pfaden durch die Wälder nicht verirren konnte. Da er auf die, von dem Seigneur Keraban an ihn gerichteten Fragen zufriedenstellende Antworten gab, war dieser Knorrenjäger um ziemlich anständigen Lohn gedungen worden, den der reiche Türke noch zu verdoppeln versprach, wenn die Karawane binnen zwölf Tagen – dem äußersten für die Vermählung Ahmets und Amasias zulässigen Termin – die Uferhöhen des Bosporus erreichte.

[333] Nachdem er selbst den Diener ausgefragt, und obgleich dieser in seinen kalten Zügen, dem sozusagen zugeknöpften Auftreten ein gewisses Etwas besaß was nicht besonders für ihn einnahm, glaubte Ahmet zunächst doch nicht, daß er zu dieser, immerhin einiges Vertrauen fordernden Stellung unpassend sei. Für sie mußte ja ein Mann von größtem Nutzen sein, der die Gegend sein Leben lang aus eigener Anschauung kannte, und ein solcher zu großer Beruhigung im Hinblick auf eine Reise, welche in größtmöglicher Schnelligkeit zurückgelegt werden sollte.

Der Knorrenjäger wurde also der Führer des Seigneur Keraban und seiner Begleiter. Ihm lag es ob, der kleinen Gesellschaft die einzuhaltende Richtung anzugeben; er hatte die Haltestellen zu bezeichnen, die Lagerplätze zu ordnen; ihm fiel es zu, für die Sicherheit Aller zu wachen, und als man ihm die Verdoppelung seines Lohnes unter der Bedingung der rechtzeitigen Ankunft in Scutari zusicherte, antwortete er:

»Der Seigneur Keraban darf sich meiner pflichteifrigen Ergebenheit versichert halten, und da er meine Dienste mit dem doppelten Preise zu belohnen verspricht, so verpflichte ich mich freiwillig andererseits, gar nichts zu beanspruchen, wenn er vor Ablauf von zwölf Tagen nicht in seiner Villa in Scutari angelangt ist.

– Beim Barte des Propheten, das ist der Mann, den ich suchte und wie er mir jetzt nur passen kann! sagte Keraban, als er seinem Neffen von diesem Angebot des Führers Mittheilung machte.

– Ja, gab Ahmet zur Antwort, das mag ja ein ganz vorzüglicher Führer sein, lieber Onkel, aber lassen wir deshalb nie außer Acht, daß es nicht rathsam erscheint, sich unvorsichtig auf die Landstraßen Anatoliens zu wagen.

– Ah, Du hegst immer solche Befürchtungen!

– Onkel Keraban, ich werde uns nicht eher für gesichert gegen jede unliebsame Ueberraschung halten, als bis wir in Scutari eingetroffen sind...

– Und Du verheiratet sein wirst! Richtig! antwortete Keraban, Ahmets Hand drückend. Ich verspreche Dir also, binnen zwölf Tagen wird Amasia die Frau des ergebensten der Neffen sein.

– Und die Nichte des...

– Des besten aller Onkels!« rief Keraban, der die letzten Worte mit einem herzlichen Lachen begleitete.

Das Fahrmaterial der Karawane bestand jetzt aus zwei Talikas, das sind ziemlich bequeme Kutschwagen, welche bei schlechter Witterung geschlossen[334] werden können, nebst vier Zugpferden, die zu je zwei an die Talikas gespannt waren, und zwei Reitpferden. Ahmet hatte sich höchst glücklich geschätzt, selbst für sehr hohen Preis diese Fuhrwerke in Trapezunt zu erhalten, was die Aussicht bot, die Reise unter den günstigsten Bedingungen zu vollenden.

Der Seigneur Keraban, Amasia und Nedjeb hatten in der ersten Talika Platz genommen, deren Rücksitz Nizib übrig gelassen war; im Grunde der zweiten thronte die edle Sarabul neben ihrem Verlobten und gegenüber ihrem Bruder, während Bruno als Leibdiener fungirte.

Eines der Reitpferde trug Ahmet, das andere den Führer, der bald an die Talikas heransprengte, bald ein Stück vorausritt, um die Straße zu besichtigen.

Da das Land vielleicht nicht ganz sicher sein konnte, hatten sich die Reisenden mit Flinten und Revolvern versehen, ohne die Waffen zu rechnen, welche gewöhnlich schon in den Gürteln des Seigneur Yanar und seiner Schwester staken, und die berüchtigten, meist von der Pfanne brennenden Pistolen des Seigneur Keraban. Obwohl der Führer ihm versicherte, daß nichts zu fürchten sei, wollte Ahmet doch gegen jeden Angriff gesichert sein.

Eigentlich war es ja keine so schwierige Sache, etwa zweihundert Lieues in zwölf Tagen mit jenen Transportmitteln zurückzulegen, selbst wenn man nur selten an den hier dünnverstreuten Poststationen Halt machen und den Pferden nur einmal in der Nacht Ruhe gönnen konnte. Traten jetzt keine unvorhergesehenen und unwahrscheinlichen Zwischenfälle ein, so durfte man hoffen, diese Rundreise in der dafür festgesetzten Zeit zu Ende zu führen.

Der Landstrich, der sich von Trapezunt bis Sinope erstreckt, wird von den Türken Djanik genannt. Jenseits desselben beginnt des eigentliche Anatolien, das alte Bithynien, jetzt eines der umfangreichsten Paschaliks des türkischen Asiens, welches mit der Hauptstadt Kutaiah, mit Brussa und mit andern als Hauptorten den westlichen Theil des alten Kleinasiens umfaßt.

Die kleine Karawane, welche um sechs Uhr Morgens von Trapezunt aufgebrochen war, erreichte nach Zurücklegung eines Weges von fünf Lieues um neun Uhr Platana.


Auf diesen Bäumen entstehen Knorren... (S. 333.)

Platana ist das alte Hermuassa. Um dahin zu gelangen, muß man durch eine Art Thal ziehen, in dem Gerste, Weizen und Mais gedeihen, und wo sich schöne Tabakspflanzungen ausbreiten, welche ein vorzügliches Erzeugniß liefern.

[335] Der Seigneur Keraban konnte sich nicht enthalten, die Vertreter dieser Solanee Asiens zu bewundern, deren Blätter, ohne besondere Bearbeitung, eine goldgelbe Farbe annehmen. Höchst wahrscheinlich hätte sein Correspondent, Freund Van Mitten, diese Bewunderung getheilt oder gar überboten, wenn es ihm nicht verboten gewesen wäre, etwas Anderes als die edle Sarabul zu bewundern.

Ueberall erhoben sich auch schon Bäume, Tannen, Fichten, Buchen, welche sich mit den prächtigsten Exemplaren von Holstein und Dänemark messen können, Nuß-, Johannisbrot- und wilde Erdbeerbäume. Bruno bemerkte nicht ohne ein [336] gewisses Gefühl von Neid, daß die Landesbewohner, selbst noch ganz junge Leute, schon recht nette Dickbäuche waren – was er als zum Skelet herabgekommener Holländer als schwere Erniedrigung empfand.

Zu Mittag kam man an den kleinen Flecken Fol, wobei die ersten Bodenerhebungen der Pontinischen Alpen links liegen gelassen wurden. Auf den Wegen kreuzten sich, entweder in der Richtung nach Trapezunt oder von dort zurückkehrend, Bauern in dicken groben Wollenröcken, mit dem Fez oder einer Schaffellmütze auf dem Kopfe, in Begleitung ihrer Weiber, welche sich in gestreifte [337] Baumwollenstoffe kleiden, die sich auf ihren rothwollenen Röcken recht gut ausnehmen.


Der Fahrweg verlief längs des Saumes prächtiger Wälder. (S. 339.)

Das Ganze gehörte zu dem Landstriche Xenophons, den er durch seinen Rückzug der Zehntausend berühmt gemacht hat. Der unglückliche Van Mitten durchstreifte denselben freilich unter den drohenden Blicken Yanars, selbst ohne daß ihm zugestanden wurde, seinen Führer nachzuschlagen. Dafür hatte er Bruno Befehl ertheilt, an seiner Stelle darin nachzulesen und im Fluge einige Notizen zu machen. Freilich dachte Bruno an ganz andere Dinge als an die Heldenthaten eines griechischen Heerführers, und deshalb hatte er auch beim Aufbruche aus Trapezunt versäumt, seinen Herrn auf den die Stadt überragenden Hügel aufmerksam zu machen, von dessen Gipfel die Zehntausend bei ihrer Rückkehr von Macronissi mit Jubelruf die Wellen des Schwarzen Meeres begrüßten. Nein, das war kein treuer Diener!

Nach einer Fahrt von zwanzig Lieues hielt und übernachtete die Karawane in Tireboli. Hier wurde der »Caiwak« bereitet mittelst des Labmagens von Lämmern, eine Art, durch Abkühlung der Milch gewonnene Crême, der Yaurk, ein aus saurer Milch mit Käselab erzeugter Käse, bestens gewürdigt von den Reisenden, denen der lange Weg einen tüchtigen Appetit erregt hatte. Schaffleisch unter allen Formen fehlte natürlich auch nicht, und Nizib konnte sich darin ein Gütchen thun, ohne einen Verstoß gegen die Religionsgesetze befürchten zu müssen. Diesmal konnte ihn Bruno nicht um seinen Antheil an dem Abendessen betrügen.

Der kleine Flecken, eigentlich nur ein Dorf, wurde am Morgen des 19. September wieder verlassen. Im Laufe des Tages kam man durch Zepe an seinem sehr beengten Hafen vorüber, wo höchstens drei bis vier Handelsschiffe von geringem Tiefgang Aufnahme finden können. Dann gelangte man, immer unter Leitung des Führers, der ohne Widerspruch die inmitten der ausgedehnten Ebenen oft kaum bezeichneten Straßen vollkommen kannte, nach einer Etappe von fünfundzwanzig Lieues nach Kerasun.

Kerasun ist am Fuße eines Hügels, auf einem Doppelabsatze der Küste erbaut. Dieses alte Pharnacea, wo die Zehntausend zur Wiedergewinnung von Kräften zehn Tage lang rasteten, bietet mit den Ruinen seines, den Eingang zum Hafen beherrschenden Schlosses einen sehr pittoresken Anblick.

Hier hätte der Seigneur Keraban leicht große Mengen von Pfeifenrohren in Kirschholz erwerben können, welche einen beträchtlichen Handelsartikel bilden.

[338] In dem Paschalik gedeiht gerade der Kirschbaum vorzüglich, und Van Mitten glaubte seiner Verlobten die wichtige historische Thatsache mittheilen zu müssen, daß der Proconsul Lucullus gerade von Kerasun einst die ersten Kirschpflanzen geschickt habe, welche dann in Europa eingeführt wurden.

Sarabul hatte von dem berühmten Weinkenner noch niemals reden gehört und schien den gelehrten Abhandlungen Van Mitten's nur sehr mäßiges Inte resse zuzuwenden. Immer unter der Knute des stolzen Weibes, stellte er den armseligsten Kurden dar, den man sich nur denken konnte. Und doch hörte Keraban, ohne daß man hätte unterscheiden können, ob er scherzte oder nicht, nicht auf, ihn über die Art und Weise, wie er sein neues Costüm trug, zu beglückwünschen – wobei Bruno freilich nur mit den Achseln zuckte.

»Ja, Van Mitten, ja! wiederholte Keraban, das steht Ihnen vorzüglich, dieser Rock, der Chalwar, der Turban, und um ein vollständiger Kurde zu sein, fehlt Ihnen nur noch der große buschige Schnurrbart, wie ihn der Seigneur Yanar trägt.

– Ich habe niemals einen Schnurrbart gehabt, antwortete Van Mitten.

– Sie haben keinen Schnurrbart? rief Sarabul.

– Er hat keinen Schnurrbart? wiederholte der Seigneur Yanar in möglichst verächtlichem Tone.

– Wenigstens kaum, edle Sarabul.

– Nun, Sie sollen bald einen haben, erklärte die befehlerische Kurdin, und ich nehme es auf mich, Ihnen einen solchen wachsen zu lassen.

– Armer Herr Van Mitten, murmelte die junge Amasia, ihn mit einem freundlichen Blicke tröstend.

– Schön, da wird es noch 'was zum Lachen geben!« rief Nedjeb lustig, während Bruno den Kopf schüttelte, wie ein unglückverkündender Vogel.

Am nächsten Tage, dem 20. September, ließ die kleine, jetzt vom herrlichsten Wetter begünstigte Gesellschaft, nachdem sie zuerst den Spuren einer, der Sage nach von Lucullus zur Verbindung Anatoliens mit den armenischen Provinzen angelegten Straße gefolgt, das Dorf Aptar hinter sich, und dann gegen Mittag, den Flecken Ordu. Dieser Fahrweg verlief längs des Saumes prächtiger Wälder, die sich an den Hügeln hinaufziehen und in denen die verschiedensten Baumarten vorkommen, wie Eichen, Weißbuchen, Ulmen, Ahorn. Platanen, Pflaumen und Oelbäume einer Bastardart, Ellern, Silberpappeln, Granaten, weiße und schwarze Maulbeerbäume, Nußbäume und Sycomoren.

[339] Hier gedeiht auch der Weinstock in üppigster Fülle und umschlingt, wie der Epheu in kälteren Klimaten, die Bäume bis zum höchsten Gipfel, außerdem aber giebt es noch eine Menge Gesträuche, wie Weißdorn, Berberitzbeerbüsche, Haselstauden, Maulbeerbüsche, Hollunder, Jasmin, Tamarinden, ferner unzählige niedrigere Pflanzen, Seefarren mit weißen Blüthen, Iris, Rhododendrons, Scabiosen, gelbliche Narcissen, Asclepiadeen, Malven, Tausendguldenkraut und wilde Tulpen, ja sogar Tulpen, welche Van Mitten nicht ansehen konnte, ohne daß seine Liebhaberei für dieselben wieder erwachte, obgleich dieser Anblick eher geeignet war, ihm eine unangenehme Erinnerung aus seiner ersten Ehe zurückzurufen. Jetzt freilich bot ihm die erste Frau Van Mitten eine wünschenswerthe Garantie gegen die Eheansprüche der zweiten Er schätzte sich glücklich, ja zehnmal glücklich, daß er schon einmal unauflöslich mit einer Gattin verbunden war.

Nach Ueberschreitung des Cap Jessun Burun geleitete der Führer die Karawane quer durch die Ruinen der alten Stadt Polemonium, nach dem Flecken Fatisa, wo Menschen und Pferde eine ganze Nacht der nöthigen Ruhe genossen.

Obwohl Ahmet stets die Augen offen hielt, hatte er doch bisher nichts Verdächtiges bemerkt. Einige fünfzig Lieues waren schon von Trapezunt aus zurückgelegt, und noch hatte keine Gefahr den Seigneur Keraban und seine Gefährten bedroht. Der von Natur etwas schweigsame Führer erwies sich unterwegs wie auf den Haltestellen stets seiner Aufgabe gewachsen und für das Wohl der Reisenden besorgt. Und dennoch empfand Ahmet gegen diesen Mann ein gewisses Mißtrauen, das er nicht zu unterdrücken vermochte. Auch vernachlässigte er nicht das Geringste, um die Sicherheit Aller zu gewährleisten, und wachte für das allgemeine Wohl, ohne davon etwas merken zu lassen.

Am 21. verließ man früh Morgens Fatisa. Gegen Mittag blieb der Hafen von Unieh mit seinen Werften an der Mündung des alten Oenus zur Rechten liegen. Weiterhin verlief die Straße durch ungeheure Ebenen mit Hanfanpflanzungen bis zur Mündung des Tscherchenbeb, wohin die Sage einen Stamm Amazonen verlegt hat, und umkreist dann die Caps und mit Ruinen bedeckten Vorgebirge dieser historisch sehr merkwürdigen Küste Am Nachmittag kam man an dem Schloß von Terme vorbei und am Abend nach Samsun, einer alten athenischen Colonie, wo für die Nacht Rast gemacht wurde.

Samsun ist einer der wichtigsten Stapelplätze dieser Gegend des Schwarzen Meeres, obgleich seine Rhede nicht eben sicher und sein Hafen an der Mündung des Etil-Irmak etwas seicht ist. Doch blüht hier ein lebhafter Handel und [340] man versendet vorzüglich viele unter dem Namen Arbusen bekannte Wassermelonen nach Constantinopel, welche in der Umgegend in großer Menge wachsen. Ein altes, malerisch an der Küste gelegenes Fort würde die Stadt freilich gegen einen Angriff von der Seeseite nur unvollkommen vertheidigen können.

Bei der Abmagerung, an der Bruno litt, erschienen ihm diese allzu wasserhaltigen Arbusen, welche sich der Seigneur Keraban und die Anderen trefflich munden ließen, nicht als geeignetes Mittel, mehr zu Kräften zu kommen, und er schlug es also ab, davon zu essen. Obwohl der arme Kerl schon sehr zurückgekommen war, schien sein Leiden doch noch nicht auf dem Gipfel zu sein, und selbst der Seigneur Keraban konnte sich einer diesbezüglichen Bemerkung nicht entziehen.

»Aber, sagte er wie zum Troste, wir nähern uns Egypten, und da könnte Bruno, wenn es ihm paßt, mit seiner Person ein recht vortheilhaftes Geschäft machen.

– Und auf welche Weise? fragte Bruno.

– Indem er sich als Mumie verkaufte!«

Es versteht sich von selbst, daß ein solcher Vorschlag dem unglücklichen Diener höchlichst mißfiel, und daß er dafür dem Seigneur Keraban die zweite Heirat seines Herrn an den Hals wünschte.

»Doch Ihr werdet sehen, murmelte er, daß diesem Türken nichts passirt, und daß alles Unheil nur auf uns, auf die Häupter der Christen fällt!«

In Wahrheit befand sich der Seigneur Keraban vortrefflich und obendrein versiegte ihm jetzt, wo er seine Projecte unter den günstigsten Bedingungen ihrem Ende entgegen gehen sah, auch die gute Laune nicht mehr.

Weder das Dorf Militsch noch Kysil, in dem der Zug im Laufe des 22. September über eine Schiffbrücke ging: weder in Gerse, wo man am folgenden Morgen ankam, noch in Tschobanlar hielten die Wagen an, außer der zum Ausruhen unbedingt nöthigen Zeit. Der Seigneur Keraban hätte wohl gern, und wenn auch nur auf wenige Stunden, Bafira oder Basra, das ein wenig landeinwärts liegt, besucht, weil da starker Tabakshandel betrieben wird und von daher die »Tays«, das sind zwischen langen Latten geschnürte Packete, kommen die so oft seine Magazine in Constantinopel gefüllt hatten; das hätte aber einen Umweg von zehn Lieues bedingt, und es schien doch rathsam, eine ohnehin lange Reise nicht noch mehr auszudehnen Am 23. Abends gelangte [341] die kleine Karawane ohne Unfall nach Sinope, an der Grenze des eigentlichen Anatoliens.

Dieses Sinope, das auf einer Landenge gelegene alte Sinope des Strabon und des Polybeus, ist noch ein wichtiger Platz des Pontus Euxinus. Seine Rhede ist immer sicher, und es werden hier viele Schiffe erbaut aus dem vorzüglichen Holze der Wälder Aio-Antonios, welche in der Nachbarschaft grünen. Es besitzt ein von doppelter Umwaltung umzogenes Schloß, zählt aber höchstens fünfhundert Häuser und kaum fünf- bis sechstausend Einwohner.

O, warum war Van Mitten nicht zwei- oder dreitausend Jahre früher geboren worden! Wie hätte er diese berühmte Stadt bewundert, deren Gründung man den Argonauten zuschreibt, welche unter einer milesischen Colonie zu Ansehen gelangte und sich den Namen Carthago des Pontus Euxinus erwarb, deren Schiffe zur Zeit der Römer das Schwarze Meer bedeckten und welche endlich an Mohammed II. abgetreten wurde, weil sie dem Befehlshaber der Gläubigen so sehr gefiel! Jetzt war es freilich zu spät, etwas von dem alten Glanze zu entdecken, von dem nur da und dort noch schöne Karniese, verzierte Giebelbauten und Säulen verschiedener Style übrig sind. Es verdient noch bemerkt zu werden, daß die Stadt ihren Namen von Sinope, der Tochter Aesops und der Methone, herleitet, welche von Apollo geraubt und hierher gebracht wurde; diesmal freilich war es der weibliche Theil, der den Gegenstand seiner Zärtlichkeit mit sich hinwegführte, und diese Nymphe hieß Sarabul. Van Mitten selbst stellte diesen Vergleich an, aber er fühlte es dabei, wie sich ihm das Herz zusammenzog. Noch hundertfünfundzwanzig Lieues trennen Sinope von Scutari; dazu blieben dem Seigneur Keraban noch sieben Tage übrig. Wenn er auch nicht gerade im Rückstande war, so hatte er doch keinen Vorsprung gewonnen. Es kam also darauf an, keinen Augenblick einzubüßen.

Am 24. verließ man mit Aufgang der Sonne Sinope, um den Krümmungen des anatolischen Ufers zu folgen. Gegen zehn Uhr erreichte die kleine Truppe Istifan, zu Mittag den Flecken Apana, Abends, nach einer Fahrt von fünfzehn Lieues, hielt sie in Ineboli, dessen offene Rhede, welche alle Winde bestreichen, für Handelsschiffe nicht besonders sicher ist.

Ahmet schlug vor, hier nur zwei Stunden auszuruhen und den übrigen Theil der Nacht weiter zu reisen. Zwölf gewonnene Stunden wiegen ja recht gut etwas mehr Anstrengung auf. Der Seigneur Keraban nahm den Vorschlag seines Neffen an. Niemand widersprach – nicht einmal Bruno. Yanar und [342] Sarabul selbst hatten es ziemlich eilig, an den Ufern des Bosporus anzukommen, um den Rückweg nach Kurdistan einzuschlagen, und Van Mitten nicht geringe Eile, soweit als möglich von jenem Kurdistan zu entfliehen, dessen Name allein ihm schon einen höllischen Schrecken einjagte.

Der Führer hatte gegen den Vorschlag nichts einzuwenden und erklärte sich bereit aufzubrechen, sobald es gewünscht würde. Ihm galt Tag und Nacht gleich, denn bei seiner Gewohnheit, durch die dichten Wälder zu ziehen, konnte es ihm nicht fehlen, sich auf den Wegen längs der Küste zurecht zu finden.

Um acht Uhr Abends, als sich eben der volle, klar glänzende Mond kurz nach Untergang der Sonne im Osten erhob, fuhr man ab, und Amasia, Nedjeb, wie der Seigneur Keraban, die edle Sarabul, Yanar und Van Mitten machten es sich in den Wagen bequem, und schlummerten bei dem gleichmäßigen, aber anhaltenden Trabe der Pferde bald ein wenig ein.

So bemerkten sie nichts von dem Cap Kerembe, das immer von Seevögeln umschwärmt ist, deren betäubendes Geschrei die Luft erfüllt. Am Morgen kamen sie durch Timle, ohne daß ein Unfall die Reise störte; dann erreichten sie Kidros und machten am Abend in Amasra für die Nacht Halt. Nach einer, binnen sechsunddreißig Stunden zurückgelegten Wegstrecke von mehr als sechzig Lieues bedurften sie wohl wieder einmal der Ruhe.

Van Mitten – wir müssen immer auf diesen wackeren Mann zurückkommen, der seinen Reiseführer schon vorher beständig studirt hatte – hätte, wenn er Herr seiner Handlungen und mit dem nöthigen Gelde versehen gewesen wäre, gewiß gern den Hafen von Amasra durchsucht, um dort einen Gegenstand zu finden, dessen archäologischen Werth kein Sachkenner leugnen dürfte.

Es ist bekannt, daß die Königin Amastris 290 Jahre vor Christus – sie die Gattin des Lysimachus, eines der Heerführer Alexanders, die berühmte Gründerin der Stadt – in einen Ledersack gesteckt und von ihren Brüdern in das Wasser desselben Hafens geworfen wurde, den sie gegründet hatte. Ha, welcher Ruhm für Van Mitten, wenn es ihm im Vertrauen auf seinen Reiseführer gelungen wäre, diesen berühmten historischen Sack wieder aufzufischen! Doch wie gesagt, es fehlte ihm an Zeit und Geld, und ohne Jemand – nicht einmal der edlen Sarabul – die Ursache seiner Träumerei mitzutheilen, schwieg er zu seinem größten archäologischen Kummer.

Am andern Morgen, dem 26. September, wurde diese alte Hauptstadt der Gennesen, welche jetzt nur ein elendes Dorf mit geringer Spielwaarenfabrikation


Mit Sonnenaufgang verließ man Sinope. (S. 345.)

bildet, mit Sonnenaufgang verlassen. Drei oder vier Lieues weiterhin passirte man neben dem Flecken [343] Bartan vorüber, im Laufe des Nachmittags Filias, bei einbrechendem Abend Ozia und kam gegen Mitternacht endlich nach dem Flecken Erekli.


Hier machte man für die Nacht Halt und berathschlagte. (S. 346.)

Hier ruhten Alle bis zum ersten Tagesgrauen, eigentlich nur wenig, denn die Pferde – von den Reisenden zu schweigen – zeigten sich von der Anstrengung der langen Fahrt ernstlich erschöpft, da ihnen seit Trapezunt nur selten Rast gegönnt gewesen war. Es blieben jetzt nur noch vier Tage zur Vollendung [344] dieser Reise, der 27., 28., 29. und 30. September. Und auch dieser letzte Tag mußte eigentlich in Abzug gebracht werden, da er zu ganz anderen Zwecken verwendet werden sollte.

Wenn der Seigneur Keraban mit seinen Begleitern nicht in den ersten Morgenstunden des 30. an den Ufern des Bosporus eintraf, drohte das viele Ungelegenheiten zu veranlassen. Es war also kein Augenblick zu verlieren, und der Seigneur Keraban beeilte die Abfahrt, welche denn auch schon mit Aufgang der Sonne stattfand.

[345] Erekli, das alte Heraklea, ist griechischen Ursprungs. Es war damals eine sehr umfangreiche Stadt, deren Mauertrümmer, auf welchen enorme Feigen wachsen, noch die Umfangslinie bezeichnen. Der früher hochwichtige Hafen, den Kunstbauten vortrefflich schützen, ist verfallen gleich der Stadt, die nicht mehr als sechs- bis siebentausend Einwohner zählt. Nach den Römern, den Griechen und den Genuesern mußte sie unter die Herrschaft Mohammeds II. fallen, und aus der Stadt, welche einst glänzende Tage gesehen, ein einfacher Flecken ohne Gewerbefleiß und Handel werden.

Sarabuls glücklicher Verlobter hätte hier mehrfache Befriedigung seiner Wißbegierde gefunden. Ganz nahe bei Heraklea liegt die Halbinsel Acherusia, wo sich in einer mythologischen Höhle ein Eingang zum Tartarus öffnete. Diodorus von Sicilien berichtet auch, daß Herkules, als er aus dem Schattenreiche zurückkehrte, hier den Cerberus mit auf die Oberwelt brachte.

Van Mitten verbarg jedoch seine diesbezüglichen Wünsche tief im Herzen. Er fand ein getreues Abbild jenes Cerberus in seinem Schwager Yanar, der ihn fortwährend im Auge behielt. Wohl hatte der Kurde nicht drei Köpfe, aber es genügte schon einer, und wenn er denselben mit wüthender Miene umherwarf, schien es, als ob seine unter dem dichten Schnurrbart hervorleuchtenden Zähne ebensogut müßten beißen können wie die des dreiköpfigen Hundes, den Pluto an der Kette hielt.

Am 27. September zog die kleine Karawane durch den Flecken Sakaria und erreichte gegen Abend das Cap Kerpe an derselben Stelle, wo sechzehn Jahrhunderte früher Kaiser Aurelian getödtet worden war. Hier machte man für die Nacht Halt und berathschlagte über die Frage einer geringen Aenderung der Reiseroute, um in Scutari binnen achtundvierzig Stunden, das heißt am Morgen des letzten, für die Heimkehr bestimmten Tages anzukommen.

[346]
11. Capitel
Elftes Capitel.
In welchem der Seigneur Keraban sich ein wenig gegen die Ansicht seines Neffen Ahmet einem Rathschläge des Führers fügt.

Der Führer hatte nämlich einen Rath ausgesprochen, welcher der Vortheile wegen, die er versprach, wohl in Betracht gezogen zu werden verdiente.

Welche Entfernung trennte die Reisenden noch von den Höhen Scutaris? Gegen sechzig Lieues. Wie viel Zeit hatten sie noch, um dieselben zurückzulegen? Achtundvierzig Stunden. Das war wenig, vorzüglich, wenn die Pferde in der Nacht den Dienst versagten.

Wenn man nun den Weg verließ, den die Ausbuchtungen der Küste nicht unwesentlich verlängerten, und sich quer über diesen Winkel Anatoliens zwischen den Ufern des Schwarzen und des Marmara-Meeres begab, mit einem Worte wenn man die kürzeste Linie wählte, konnte die Reise leicht um ein Dutzend Lieues abgekürzt werden.

»Das ist es, Seigneur Keraban, was ich Ihnen vorschlage, erklärte der Führer mit dem ihm eigenen trockenen Tone, und ich füge hinzu, daß ich dringend wünsche, es von Ihnen angenommen zu sehen.

– Sind aber die Wege längs der Küste nicht weit sicherer als die im Innern? fragte Ahmet.

– Im Innern hat man nicht mehr Gefahren zu befürchten, als an den Küsten, versicherte der Führer.

– Und Ihr kennt die Wege, die Ihr uns einzuschlagen ersucht? fuhr Keraban fort.

– Ich bin, erwiderte der Führer, als ich noch in den Wäldern Anatoliens arbeitete, wenigstens zwanzig Mal hier durchgekommen.

– Es scheint mir, daß hier nicht zu zaudern ist, sagte Keraban, und daß die Ersparniß von zwölf Lieues an dem Wege, der noch vor uns liegt, die Mühe lohnt, seine Route zu ändern!«

Ahmet hörte ihm zu, ohne etwas zu sagen.

»Was denkst Du darüber, Ahmet?« fragte der Seigneur Keraban, sich an seinen Neffen wendend.

[347] Ahmet antwortete nicht. Er hatte sicherlich einen gewissen Verdacht gegen den Führer, einen Verdacht, der allerdings, je näher das Ziel herankam, sich nicht ohne Grund weiter vermehrte.

In der That wirkte das eigenthümliche Auftreten dieses Mannes, seine gelegentliche unerklärliche Abwesenheit, wobei er der Karawane vorauseilte, die Sorge, sich immer abseits zu halten, wenn gerastet wurde, wobei er vorgab, die Thiere nach Möglichkeit unterbringen zu müssen, die eigenthümlichen, fast verdächtigen Blicke, die er Amasia zuwarf, eine Wachsamkeit, welche vor Allem dem jungen Mädchen zu gelten schien, auf Ahmet in nicht besonders beruhigender Weise. Auch er verlor diesen Führer niemals aus den Augen, den man in Trapezunt angenommen, ohne zu wissen, wer er war und woher er kam. Sein Onkel Keraban war freilich nicht der Mann dazu, seine Befürchtungen zu theilen, und es wäre gewiß schwierig gewesen, ihm als Thatsache annehmbar zu machen, was bisher ja wirklich nur noch eine Ahnung, ein Verdacht gewesen war.

»Nun, Ahmet? fragte Keraban noch einmal. Ehe ich mich über diesen Vorschlag des Führers entscheide, erwarte ich Deine Antwort. Was denkst Du von diesem Wege?

– Ich denke, lieber Onkel, daß wir uns bis jetzt an den Ufern des Schwarzen Meeres ganz wohl befunden haben, und daß es vielleicht eine Unklugheit sein könnte, dieselben zu verlassen.

– Warum aber, Ahmet, da ja unser Führer die Wege im Binnenlande, die er uns zu folgen vorschlägt, vollkommen kennt? Der Gewinn an Zeit wäre wohl der Mühe werth.

– Wenn wir die Pferde einigermaßen antreiben, lieber Onkel, gelangen wir gewiß noch bequem...

– Ganz recht, so sprichst Du, weil Amasia uns begleitet! rief Keraban. D och wenn sie uns jetzt in Scutari erwartete, wärest Du gewiß der Erste, unsere Fahrt zu beschleunigen!

– Das wäre möglich, lieber Onkel!

– Nun also, ich, der ich Deine Interessen vertrete, Ahmet, ich meine, je eher wir ankommen, desto besser. Wir können immer noch eine Verzögerung erleiden, und da mit dem Wechsel unseres Weges zwölf Lieues gewonnen werden können, gilt es, nicht zu zögern.

– Gut, lieber Onkel, da es Dein Wunsch ist, will ich bezüglich dieses Gegenstandes nichts weiter einwenden...

[348] – Nicht, weil es mein Wunsch ist, sondern weil Du keine wirklichen Einwürfe hast und mir es allzuleicht wäre, Dich zu widerlegen!«

Ahmet antwortete nicht. Jedenfalls mußte der Führer die Ueberzeugung erlangt haben, daß der junge Mann diese von ihm vorgeschlagene Aenderung der Reiseroute nicht ohne einige Hintergedanken betrachtete. Ihre Blicke kreuzten sich einen Augenblick, aber lange genug, um sich gegenseitig zu prüfen. Ahmet beschloß nun, desto mehr auf der Hut zu sein. Für ihn war der Führer ein Feind, der nur auf die Gelegenheit wartete, ihn räuberischer Weise zu überfallen Uebrigens konnte der Entschluß, die Fahrt abzukürzen, den Reisenden nur gelegen sein, die von Trapezunt aus kaum jemals ordentlich ausgeschlafen hatten. Van Mitten und Bruno hatten Eile, in Scutari zu sein, um der peinlichen Situation ein Ende gemacht zu sehen; der Seigneur Yanar und die edle Sarabul, um mit ihrem Schwager und Verlobten auf einem Küstendampfer nach Kurdistan zurückzukehren; Amasia, um endlich mit Ahmet vereinigt zu werden, und Nedjeb, um den Festlichkeiten bei der Hochzeit beizuwohnen.

Der Vorschlag wurde also angenommen. Man beschloß, während der Nacht vom 27. auf den 28. September zu ruhen, um am folgenden Tage eine desto größere Wegstrecke zurückzulegen.

Jedenfalls war noch an einige Maßregeln zu denken, auf die der Führer hinwies. Vorzüglich kam es darauf an, sich für achtundvierzig Stunden mit Lebensmitteln zu versehen, denn in der zu durchfahrenden Gegend fanden sich weder Flecken noch Dörfer, und man würde da weder Khans, noch Dukhans oder Herbergen an der Straße finden. Also galt es, sich mit allen etwa nöthigen Bedürfnissen zu versorgen. Zum Glück konnte, was man zu haben wünschte, am Cap Kerpe, freilich gegen ziemlich hohen Preis, erlangt werden, und es war sogar ein Esel zu kaufen, der das Uebergewicht an Proviant fortschleppen konnte.

Der Seigneur Keraban hatte eine gewisse Schwäche für Esel – vielleicht aus Sympathie mit deren Starrköpfigkeit – und der, den er am Cap Kerpe erhandelte, gefiel ihm außerordentlich.

Es war ein kleines, aber kräftiges Thier, das wohl dieselbe Last wie ein Pferd, das heißt, gegen neunzig »Oks«, oder mehr als hundert Kilogramm tragen konnte, einer jener Esel, wie man sie in diesen Gegenden Anatoliens zu Tausenden antrifft, wo sie Getreide nach den verschiedenen Häfen der Küste tragen.

[349] Dieser lebhafte, muntere Langohr hatte künstlich gespaltene Nasenlöcher, um desto leichter die Fliegen vertreiben zu können, die sich in seine Nase verirrten. Das gab ihm ein ganz lustiges Aussehen, eine Art heiterer Physiognomie, und er hätte wohl den Namen des »lachenden Esels« verdient. Sehr verschieden von den armen kleinen Thieren, deren Th. Gautier erwähnt, beklagenswerthe Geschöpfe mit schlaffen Ohren und magerem, fast blutigem Rückgrat, war dieser hier wahrscheinlich ebenso starrsinnig, wie der Seigneur Keraban. An Proviant brauchte man nichts anderes, als ein Lämmerviertel, das auf der Stelle zubereitet werden sollte, neben »Burghul«, eine Art Brot, das vorher in Ofenwärme aus gedörrtem Käse mit Zusatz von Butter hergestellt wird, für eine so kurze Fahrt. Ein kleiner zweirädriger Karren, an den der Esel gespannt wurde, mußte zum Transport desselben ausreichen.

Am nächsten Tage, am 28. September, waren Alle kurz vor Sonnenaufgang schon auf den Füßen. Die Pferde wurden sofort an die Talikas gespannt, in denen ein Jeder seinen gewohnten Platz einnahm. Ahmet und der Führer bestiegen ihre Reitpferde und nahmen die Spitze der Karawane ein, der der Esel vorausging, und man setzte sich Bewegung.

Eine Stunde später war die weite Fläche des Schwarzen Meeres hinter den hohen Ufern verschwunden. Vor den Reisenden dehnte sich nun eine leicht wellenförmige Landschaft aus.

Die Fahrt gestaltete sich nicht besonders beschwerlich, obwohl die Wegsamkeit der Straße manches zu wünschen übrig ließ, was dem Seigneur Keraban Gelegenheit gab, seine ganze Litanei von Klagen über die Sorglosigkeit der ottomanischen Behörden loszulassen.

»Man sieht schon, daß wir uns ihrem neumodischen Constantinopel nähern!

– Die Straßen in Kurdistan sind unvergleichlich besser, bemerkte der Seigneur Yanar.

– Das glaub' ich gern, erwiderte Keraban, und in dieser Hinsicht wird mein Freund Van Mitten Holland nicht zu bedauern haben!

– In keiner Beziehung!« erklärte die edle Kurdin mit Bestimmtheit, deren rechthaberischer Charakter sich bei jeder Gelegenheit zeigte.

Van Mitten hätte gern den Teufel seinem Freund Keraban auf den Hals geschickt, der wirklich ein Vergnügen daran zu finden schien, ihn zu necken.

Binnen achtundvierzig Stunden sollte er jedoch seine volle unbestreitbare Freiheit wieder erlangt haben, und so ließ er dessen Scherze unbeachtet hin gehen.

[350] Am Abend hielt die Karawane bei einem elenden Dorfe, einem Haufen von Hütten, welche kaum Saumthieren Obdach gewähren konnten. Hier vegetirten einige Hundert arme Leute, die von wenig Milchspeise, schlechtem Fleische und Brot lebten, dem mehr Kleie als Mehl beigemischt war. Ein widerlicher Geruch erfüllte hier die Luft; derselbe rührte von dem »Tezek«, einer Art künstlichem Torf her, der aus Mist und Koth besteht, und das einzige Brennmaterial in diesen Gegenden bildet, wo manchmal selbst die Mauern der Hütten aus demselben aufgeführt werden.

Es erwies sich als ein Glück, daß die Lebensmittelfrage im Voraus geordnet worden war. In dem armseligen Dorfe, dessen Bewohner eher Almosen nöthig haben, als sie etwas abgeben können, hätte man nicht das Geringste gefunden.

Die Nacht verlief ohne Zwischenfall unter einem zerfallenen Schuppen unter dem einige Schütten Stroh ausgebreitet waren. Ahmet wachte nicht ohne Grund mit mehr Argwohn als je vorher. In der That verließ der Führer um Mitternacht das Dorf und begab sich einige hundert Schritte weit vor dasselbe hinaus.

Ungesehen folgte Ahmet ihm nach und kehrte erst nach der Lagerstelle zurück, als auch der Führer sich dazu anschickte.

Was hatte der Mann da draußen vorgehabt? Ahmet konnte das nicht enträthseln. Er hatte sich überzeugt, daß der Führer mit Niemand gesprochen. Kein lebendes Wesen war in dessen Nähe gekommen. Kein entfernter Ruf drang durch die Stille der Nacht. Kein Signal war auf irgend einem Punkte der vorliegenden Ebene gegeben worden.

»Kein Signal?... sagte sich Ahmet, als er seinen Platz unter dem Schuppen wieder eingenommen. War das aber nicht etwa ein Signal, ein erwartetes Signal, jenes Feuer, das ganz kurze Zeit am Rande des Horizontes aufleuchtete?«

Da trat ihm auch noch ein Umstand, den er anfänglich gar nicht beachtet, vor die Augen. Er entsann sich sehr genau, daß, während der Führer auf einer kleinen Erhöhung stand, ein Feuer in der Ferne aufgegangen war, das in kurzen Zwischenräumen drei Lichtblitze gegeben hatte und nachher erloschen war. Dieses Feuer hatte Ahmet zuerst für ein solches gehalten, wie die Hirten es sich anzuzünden pflegen. Jetzt in der Stille der Einsamkeit, unter dem eigenartigen Einfluß, den der Halbschlaf ausübt, dachte er wieder daran, sah das Feuer scheinbar [351] noch einmal und deutete sich dasselbe mit einer Ueberzeugung, welche weit über bloßen Verdacht hinausging, als ein verabredetes Signal.

»Ja, sagte er sich, dieser Führer verräth uns, das liegt auf der Hand! Er handelt im Interesse irgend einer einflußreichen Persönlichkeit...


Ahmet folgte ungesehen (S. 351.)

Aber wessen? Ahmet hatte davon keine Ahnung; er empfand es jedoch, daß dieser Verrath mit der Entführung Amasias in innerlichem Zusammenhange stehen müsse. Den Händen Derer, die den Raub in Odessa begangen hatten, entrissen, war sie bestimmt von neuen Gefahren bedroht, und mußte er nicht


Es war ein schmaler, zwischen Bergen eingesenkter Paß. (S. 356.)

[352] Es war ein schmaler, zwischen Bergen eingesenkter Paß. (S. 356.)


jetzt, nur noch wenige Tagreisen vor Scutari, erst recht Alles fürchten? Ahmet verbrachte den Rest der Nacht in größter Unruhe, wußte er doch nicht, was er zunächst thun sollte. War es rathsamer, die geplante Verrätherei des Führers jetzt zu enthüllen – eine Verrätherei, über welche seiner Meinung nach gar kein Zweifel herrschen konnte – oder zu warten, und ihn zu entlarven und zu bestrafen, wenn er zur ersten Ausführung seiner geheimen Pläne schritt?

Das Grauen des Tages beruhigte ihn wieder einigermaßen. Er entschied sich dahin, noch diesen Tag verlaufen zu lassen, um noch besser hinter die [353] Absichten des Führers zu kommen. Fest entschlossen, ihn keinen Moment aus den Augen zu verlieren, wollte er jedenfalls unterwegs wie während der Ruhestunden diesen verhindern, sich wegzuschleichen. Uebrigens waren er und seine Gefährten ja alle gut bewaffnet, und wenn das Wohl und Wehe Amasias nicht im Spiele gewesen wäre, hätte er nicht gefürchtet, jedem beliebigen Angriffe Widerstand zu leisten.

Ahmet war seiner wieder Herr geworden. Sein Gesicht verrieth nichts von dem, was er empfand, weder gegenüber den anderen Reisegefährten, noch gegenüber Amasia, deren zärtliche Liebe sonst so tief in seiner Seele zu lesen verstand – nicht einmal der Führer, der seinerseits auch ihn mit einer gewissen Hartnäckigkeit beobachtete.

Der einzige Entschluß, den Ahmet faßte, war der, seinem Onkel Keraban die neuen Beunruhigungen, die auf ihm lasteten, mitzutheilen, und zwar bei der ersten sich irgend bietenden Gelegenheit, wenn er deshalb auch eine noch so stürmische Auseinandersetzung heraufbeschwören und aushalten sollte.

Am nächsten Tage verließ man am frühen Morgen das elende Dörfchen. Wenn nun keine Verrätherei und keine Irrung im Wege vorkam, mußte dieser Tag der letzte einer Reise sein, die nur zur Befriedigung der Eigenliebe des starrköpfigsten aller Osmanlis unternommen worden war. Jedenfalls versprach dieser Tag sehr mühsam zu werden. Die Gespanne mußten die größten Anstrengungen machen, um die Talikas durch diese gebirgige Landschaft zu ziehen, welche schon dem orographischem System der Elken angehörte. Wenn nicht der hier kürzere Weg in Frage kam, hätte Ahmet das Abgehen von der früher eingehaltenen Route gewiß schon der Beschwerlichkeiten der neuen wegen lebhaft bedauert. Mehrmals war man gezwungen, abzusteigen, um die Fuhrwerke zu erleichtern. Amasia und Nedjeb bewiesen bei solchen anstrengenden Fußtouren eine bewundernswerthe Energie. Die edle Kurdin stand ihren Gefährten darin nicht nach. Van Mitten aber, der Verlobte ihrer Wahl, der seit der Abreise aus Trapezunt immer in stark gedrückter Stimmung war, mußte sich auf einen Stock stützen.

Ueber die einzuhaltende Richtung war nun kein Zweifel möglich. Offenbar kannte der Führer auch die verschlungensten Wege hier. Er kannte sie, nach Keraban, vollkommen, ja, nach Ahmet, mehr als zu gut. Der Onkel erging sich deshalb in aufrichtig gemeinten Lobpreisungen, in die der Neffe, bezüglich des Mannes, dessen Thun und Treiben er beargwöhnte, nicht einstimmen konnte.

[354] Im Laufe des Tages verließ dieser übrigens die Reisenden nicht einen Augenblick, sondern hielt sich stets dicht an der Spitze der Karawane.

Alles schien also ganz nach Erwartung und nach Wunsch zu verlaufen, abgesehen von den Schwierigkeiten in Folge des Zustandes der Straßen, der Steilheit ihrer Steigung, wenn sie sich um einen Berg emporwanden, und den Stößen durch die Unebenheit des Bodens, wenn man an Stellen vorüberkam, die durch unlängst herabgestürzte Regengüsse ausgehöhlt waren. Die Pferde thaten jedoch ihre Schuldigkeit, und da das ihre letzte Etappe sein sollte, konnte man ihnen schon einmal ungewöhnliche Anstrengungen zumuthen. Nachher würden sie ja Zeit genug haben, sich davon gründlich zu erholen.

Selbst der kleine Esel vollbrachte seine Aufgabe zur allgemeinen Zufriedenheit. Der Seigneur Keraban hatte ihm auch eine wirkliche Freundschaft zugewendet.

»Bei Allah! Es gefällt mir, dieses Thier, sagte er öfter, und um die ottomanischen Behörden noch empfindlicher zu ärgern, hätte ich große Lust, auf seinem Rücken reitend an den Ufern des Bosporus zu erscheinen!«

Man wird zugeben, das war eine Idee – so eine Idee Keraban's. – Niemand aber äußerte sich darüber, um ihren Urheber nicht zur thatsächlichen Ausführung derselben zu bestimmen.

Nach wirklich anstrengender Tagereise machte die Gesellschaft gegen neun Uhr Abends Halt und ging auf den Rath des Führers daran, sich ein Lager vorzubereiten.

»Wie weit sind wir denn eigentlich noch von den Höhen von Scutari? fragte Ahmet.

– Etwa fünf oder sechs Lieues, antwortete der Führer.

– Warum fahren wir dann nicht weiter? meinte Ahmet, binnen wenigen Stunden könnten wir am Ziele sein...

– Seigneur Ahmet, erklärte der Führer, ich wage es nicht gern, mich in der Dunkelheit in diesen Theil der Provinz zu begeben, wo wir uns am leichtesten verirren könnten. Morgen dagegen, mit dem ersten Tagesgrauen, wäre in dieser Beziehung nichts zu fürchten, und noch im Laufe des Vormittags sind wir dann am Ende unserer Reise angelangt.

– Dieser Mann hat ganz Recht, sagte Seigneur Keraban. Man darf nicht Alles durch übergroße Eile auf's Spiel setzen. Wir wollen für heute hier liegen bleiben, lieber Neffe, zusammen unsere letzte Reisetafel aufschlagen, [355] und morgen früh noch vor zehn Uhr werden wir die Fluthen des Bosporus begrüßen!«

Außer Ahmet schlossen sich Alle der Ansicht des Seigneur Keraban an. Man suchte sich also so einzurichten, um diese letzte Nacht unterwegs so bequem als möglich hinzubringen.

Die Oertlichkeit war übrigens von dem Führer recht geschickt gewählt. Es war ein schmaler, zwischen Bergen eingesenkter Paß, obgleich die Bodenerhebungen des nordwestlichen Anatoliens höchstens noch die Bezeichnung anständiger Hügel verdienen. Dieser Paß trug den Namen: die Schlucht von Nerissa. Im Hintergrunde desselben lehnten sich ziemlich beträchtliche Felsen an den Fuß eines solchen Bergstockes, dessen halbkreisförmige Terrassen zur linken Hand emporstiegen. An der rechten Seite gähnte eine tiefe Höhle, in der die ganze kleine Gesellschaft Unterkommen finden konnte, wie eine flüchtige Untersuchung bewies.

Wenn diese Stelle zum Ruheplatze für die Reisenden geeignet schien, so war sie es nicht minder für die Pferde, welche Nahrung und Ruhe ebenso nothwendig brauchten. Einige hundert Schritte weiter hin, jenseits des engen Passes, dehnte sich eine Wiese aus, wo es weder an Wasser noch an Graswuchs fehlte. Ebendahin führte Nizib die Pferde, wie es während der nächtlichen Ruhepausen von jeher sein Amt gewesen war, dieselben zu versorgen und zu überwachen.

Nizib begab sich also nach der Wiese und Ahmet begleitete ihn, um sich die Lage des Platzes zu merken und die Sicherheit zu gewinnen, daß von dieser Seite nichts zu fürchten war.

In der That bemerkte Ahmet nichts Verdächtiges. Die an der Westseite von einigen langgestreckten Hügeln abgeschlossene Wiese war vollkommen leer. Die Nacht ließ sich sehr ruhig an, und der gegen elf Uhr aufgehende Mond mußte bald hinreichendes Licht verbreiten. Einzelne Sterne flammten zwischen den hohen Wolken, welche fast bewegungslos und wie eingeschlafen am Himmel hingen. Kein Hauch zog durch die Luft, kein Geräusch war ringsumher zu vernehmen.

Ahmet betrachtete den Horizont im ganzen Umkreise mit großer Aufmerksamkeit. Sollte wohl heute Abend wieder ein Feuer auf den Hügeln der Umgebung erscheinen? Sollte ein Signal gegeben werden, welches der Führer später aufzusuchen kommen würde?

[356] Kein Feuerschein zeigte sich am Rande der Wiese, kein Signal leuchtete in größerer Ferne auf.

Ahmet empfahl Nizib, mit größter Sorgfalt zu wachen; er band ihm auf die Seele, im ersten Augenblick nach der Lagerstelle zu kommen, wenn sich irgend etwas Auffälliges ereignete, ehe die Pferde nicht dahin zurückgebracht waren. Dann begab er sich eiligst nach der Schlucht von Nerissa.

12. Capitel
Zwölftes Capitel.
Worin ein Gespräch zwischen der edlen Sarabul und ihrem Verlobten mitgetheilt wird.

Als Ahmet sich seinen Gefährten wieder anschloß, waren die letzten Vorbereitungen zum Nachtessen und zum Schlafen wie gewöhnlich getroffen. Das Schlafzimmer oder vielmehr den allgemeinen Schlafraum bildete die hohe, geräumige, mit Winkeln und kleinen Einschnitten reichlich versehene Höhle, wo Jeder die Möglichkeit fand, sich nach Belieben bequem auszustrecken. Als Speisesaal diente ein ebener Theil des Lagerplatzes, wo herabgestürzte Felsen, Bruchstücke von Steinen u. s. w. als Sitze und Tische benützt werden konnten.

Aus dem Karren, den der kleine Esel zog, hatte man den nöthigen Mundvorrath entnommen – und jener gehörte gewissermaßen selbst zu den Tischgästen, da ihn sein Freund Keraban speciell eingeladen hatte. Etwas Futter, welches hier leicht zu beschaffen war, sicherte ihm genügenden Antheil an dem Mahle und er gab auch seiner Zufriedenheit lauten Ausdruck.

»Zum Essen, rief Keraban, zum Essen, liebe Freunde! Essen und trinken wir nach Gefallen! Desto weniger wird dieser brave Langohr bis Scutari zu schleppen haben.«

Natürlich hatte sich bei dieser Tafel unter freiem Himmel, inmitten des von einigen Harzfackeln erleuchteten Lagerplatzes, Jedes nach Belieben niedergelassen. Im Hintergrunde thronte der Seigneur Keraban auf einem Felsstück, [357] dem richtigen Ehrenplatze dieser kauenden Gesellschaft. Amasia und Nedjeb saßen neben einander, gleich zwei Freundinnen – denn hier gab es weder Herrin noch Dienerin – auf niedrigen Steinen und hatten einen Platz Ahmet aufbewahrt, der sich denn auch bald zu ihnen gesellte.

Neben dem Seigneur Van Mitten hielten sich selbstverständlich zur Rechten der unvermeidliche Yanar, zur Linken die unzertrennliche Sarabul, und alle Drei hatten es sich vor einem großen Felsstück bequem gemacht, das die Seufzer des neuen Verlobten hätten erweichen können.

Kauend und stöhnend lief Bruno, jetzt magerer als je, zur Herbeischaffung aller Bedürfnisse hin und her.

Der Seigneur Keraban war nicht allein bei bester Laune, wie Einer, dem Alles nach Wunsch geht, sondern seine Freude machte sich auch seiner Gewohnheit gemäß in Scherzreden Luft, die der Mehrzahl nach seinen Freund Van Mitten zur Zielscheibe hatten. Das Eheabenteuer, das dem armen Mann zugestoßen – und nur aus Ergebung für ihn und die Seinigen zugestoßen war – reizte ihn immer zu beißenden Witzeleien. Binnen zwölf Stunden mußte ja die Sache ein Ende haben, und Van Mitten würde dann nichts mehr von dem kurdischen Geschwisterpaare hören. Gerade das verleitete Keraban aber desto mehr, so lange es ging, seinen Reisegefährten aufzuziehen.

»Nun, Freund Van Mitten, es macht sich, nicht wahr? sagte er, sich die Hände reibend. Nun sind Sie am Ziel Ihrer Wünsche!... Gute Freunde geben Ihnen das Geleite. Eine liebenswürdige Frau, die Sie so glücklich unterwegs trafen, ist in Ihrer Gesellschaft!... Wahrlich, Allah hätte nicht mehr für Sie thun können, selbst wenn Sie einer seiner getreuesten Gläubigen wären!«

Die Lippen etwas verziehend, sah der Holländer seinen Freund an, antwortete aber nichts.

»Nun, was ist das, Sie schweigen? sagte Yanar.

– Nein, ich rede... ich rede innerlich!

– Mit wem? fragte eifrig die edle Kurdin, die ihn unsanft am Arme ergriff.

– Mit Dir, theure Sarabul... mit Dir!« versicherte gegen seine Ueberzeugung der gedrängte Van Mitten.

Dann stand er auf.

»Uf«! machte er.

Der Seigneur Yanar und seine Schwester erhoben sich in demselben Augenblicke und folgten ihm auf Schritt und Tritt.

[358] »Wenn es Ihnen recht ist, nahm die edle Sarabul das Wort in einem Tone, der jeden Widerspruch aus schloß, so verweilen wir in Scutari nicht länger als einige Stunden?

– Wenn es mir recht ist?...

– Sind Sie nicht mein Herr und Gebieter, Seigneur Van Mitten? setzte die Frau wie schmeichelnd hinzu.

– Ja, murmelte Bruno, er ist ihr Herr... so wie man der Herr einer Dogge ist, die einem jeden Augenblick an die Kehle springen kann.

– Zum Glück, sagte Van Mitten für sich, schon morgen... in Scutari Bruch dieses Verlöbnisses und Abschied!... Aber das wird einen Auftritt geben!«

Amasia betrachtete ihn mit wirklich aufrichtigem Mitleid, und da sie sich nicht laut zu beklagen erdreistete, so drückte sie heimlich wenigstens seinem Diener ihre Theilnahme aus.

»Der arme Herr Van Mitten! flüsterte sie Bruno zu. Da zeigt sich's nun, wohin ihn seine Opferwilligkeit für uns gebracht hat.

– Und seine Feigheit gegenüber dem Seigneur Keraban! antwortete Bruno, der seinem Herrn eine bis zu solcher Schwäche getriebene Nachgiebigkeit nicht verzeihen konnte.

– Ach, sagte Nedjeb, das liefert wenigstens den Beweis, daß Herr Van Mitten ein gutes, edelmüthiges Herz besitzt.

– Ein zu edelmüthiges! versetzte Bruno. Seitdem übrigens mein Herr dem Seigneur Keraban zugesagt hatte, ihn auf einer solchen Reise zu begleiten, hab' ich's stets vorhergesagt, daß ihm früher oder später ein Unglück zustoßen werde. Aber ein solches Unglück! Der Verlobte dieser vom Teufel besessenen Kurdin zu werden, und wär's auch nur für wenige Tage, das hätt' ich mir freilich nicht träumen lassen; nein, sicherlich nicht! Im Vergleich zu dieser war ja die erste Frau Van Mitten eine reine Taube!«

Der Holländer hatte sich, immer belagert von seinen beiden Leibwächtern, an einen andern Platz gesetzt, als Bruno ihm etwas Speise anbot; Van Mitten verspürte indeß nicht den geringsten Appetit.

»Wie, Sie essen nicht, Seigneur Van Mitten? fragte Sarabul, ihn scharf ansehend.

– Ich habe keinen Hunger.

– Wirklich? Sie haben keinen Hunger? bemerkte der Seigneur Yanar. In Kurdistan hat man stets Hunger... sogar noch nach der Mahlzeit.

[359] – So?... In Kurdistan also?... antwortete Van Mitten, während er mit großer Anstrengung rein aus Gehorsam einige Bissen hinunterwürgte.

– Und trinken Sie auch dazu! befahl die edle Sarabul.

– O, ich trinke... ich trinke ja Ihre Worte!«

Er wagte nur nicht hinzuzusetzen:

»Ich weiß freilich nicht, ob das meinem Magen heilsam sein wird.


Jedes hatte sich nach seinem Belieben niedergelassen. (S. 357.)
– Trinken Sie, wenn man Sie dazu auffordert! fuhr der Seigneur Yanar fort.
[360] – Ich habe aber keinen Durst!
– In Kurdistan hat man immer Durst... sogar nach der Mahlzeit!«
Stets achtsam, beobachtete Ahmet inzwischen unausgesetzt den Führer.

Yanar faßte ihn an der Schulter. (S. 365.)

Etwas abseits sitzend, verzehrte dieser Mann seinen Antheil an dem Essen, konnte aber einige Regungen der Ungeduld nicht verheimlichen, Ahmet wenigstens glaubte das zu bemerken. Wie hätte es auch anders sein können? In seinen Augen war dieser Mann ein Verräther. Er mochte es eilig haben, daß alle seine Gefährten und auch er in der Höhle Unterkommen suchten, wo der Schlaf [361] sie bald zu jeder Gegenwehr unfähig machen würde, wenn der geplante Angriff erfolgte. Vielleicht hätte sich der Führer auch gern wegen irgend eines geheimen Vorhabens entfernt, in Gegenwart Ahmets aber, dessen Argwohn er gewiß kannte, wagte er es nicht.

»Wohlan, lieber Freund, rief da Keraban, nun nach gutem Mahle ein sanfter Schlaf in freier Luft! Vor dem letzten Stückchen Weg werden wir dann wieder ordentlich zu Kräften gekommen sein. Nicht wahr, meine kleine Amasia?

– Ja, Seigneur Keraban, übrigens fühle ich mich stark genug, um, wenn es nöthig wäre, sofort die Reise auf's Neue zu beginnen.

– Du singst sie noch einmal von vorn an?

– Um Ihnen zu folgen.

– Natürlich erst nach einem gewissen Aufenthalt in Scutari! lachte Keraban gutmüthig, so ein Aufenthalt, wie unser Freund Van Mitten einen ähnlichen in Trapezunt erlebt hat.

– Nun verspottet Ihr mich noch obendrein! murmelte Van Mitten. Er wurde innerlich zwar wüthend darüber, wagte aber in Gegenwart der sehr reizbaren Sarabul auf jene Anspielung keine Antwort zu geben.

– O, fuhr Keraban fort, die Heirat Ahmets und Amasias wird vielleicht nicht so großartig ausfallen, wie die Verlobung unseres Freundes Van Mitten mit der edlen Kurdin. Ich wäre natürlich nicht im Stande, dazu ein Fest des Paradieses Mohammeds feiern zu lassen, aber verlaßt Euch nur darauf, wir werden's schon nach Kräften machen. Ganz Scutari muß dazu eingeladen werden, und unsere Freunde aus Constantinopel müssen die Gärten der Villa füllen.

– So viele brauchen wir ja nicht, wandte das junge Mädchen ein.

– Ja!... O ja... liebste Herrin! rief Nedjeb.

– Wenn ich es aber will, ich!... Wenn ich es will! erwiderte der Seigneur Keraban. Wird meine kleine Amasia mir widersprechen wollen?

– Ach, Seigneur Keraban!

– Nun also, fuhr der Onkel, das Glas erhebend, fort, auf das Wohlergehen dieser jungen Leute, welche es so sehr verdienen, immer glücklich zu sein!

– Auf's Wohl des Seigneur Ahmet!... Der jungen Amasia!... erscholl es im Kreise der fröhlich erregten Tischgenossen.

– Und auf die Verbindung, fügte Keraban hinzu, ja... auf die Verbindung Kurdistans mit Holland!«

[362] Auf diesen Trinkspruch, den er mit heiterer Miene ausbrachte, mußte Van Mitten gegenüber allen erhobenen Händen sich wohl oder übel, als Dank für den ihm gewidmeten Glückwünsch, nach allen Seiten verneigen.

Die zwar einfache, aber in froher Laune verzehrte Mahlzeit war zu Ende. Noch einige Stunden der Ruhe, und man konnte die Reise ohne allzu große Ermüdung vollenden.

»Nun wollen wir bis zum kommenden Tage schlafen, sagte Keraban. Wenn die Stunde gekommen ist, mag der Führer uns rechtzeitig wecken!

– Recht gern, Seigneur Keraban, versicherte dieser Mann, doch finden Sie es nicht rathsam, daß ich an Stelle Nizibs die Ueberwachung der Pferde übernehme?

– Nein, bleiben Sie hier, mischte sich Ahmet eifrig ein. Nizib ist da, wo er sich befindet, an seinem Platze, und ich ziehe es vor, daß Sie sich nicht entfernen. Wir werden zusammen Wache halten.

– Wache halten? erwiderte der Führer, den Aerger, der ihn dabei beschlich verbeißend. In dieser Gegend Anatoliens ist ja nicht die geringste Gefahr zu fürchten.

– Das ist wohl möglich, antwortete Ahmet, doch etwas zuviel Vorsicht kann niemals schaden. Ich selbst erbiete mich, nachher an Nizibs Stelle die Pferde zu überwachen. Sie können also hier bleiben.

– Wie es Ihnen beliebt, Seigneur Ahmet, antwortete der Führer. Wir wollen also in der Höhle Alles zurecht machen, daß Ihre Gefährten recht bequem schlafen können.

– Thun Sie es, sagte Ahmet, und Bruno wird Ihnen mit Zustimmung des Herrn Van Mitten dabei behilflich sein.

– Geh', Bruno, geh!« ließ sich die Stimme des Holländers vernehmen.

Der Führer und Bruno traten in die Höhle, wohin sie die Reisedecken, Mäntel und Kaftans, die als Bettzeug dienen mußten, schafften. Amasia, Nedjeb und die Anderen hatten sich bezüglich der Mahlzeit nicht wählerisch gezeigt, die Frage wegen des Nachtlagers sollte sie gewiß ebenso nachgiebig finden.

Während diese letzten Vorbereitungen getroffen wurden, hatte sich Amasia ihrem Ahmet genähert, den sie an der Hand nahm, und sagte:

»Du willst also, lieber Ahmet, diese ganze Nacht noch ohne auszuruhen hinbringen?

– Ja, antwortete Ahmet, der nichts von seiner Unruhe merken lassen wollte, soll ich nicht über alle Diejenigen wachen, die meinem Herzen theuer sind?

[363] – Jedenfalls wird es wenigstens zum letzten Male sein?

– Zum letzten Male! Morgen werden wir endlich alle Anstrengungen dieser Reise überstanden haben!

– Morgen!... wiederholte Amasia, die schönen Augen zu dem jungen Manne erhebend, dessen Blicke auf ihr ruhten, dieses morgen, das niemals kommen zu wollen schien...

– Und welches nun ewig dauern soll! antwortete Ahmet.

– Ewig!« flüsterte das junge Mädchen.

Die edle Sarabul hatte ebenfalls ihres Verlobten Hand ergriffen und sagte seufzend, während sie auf Ahmet und Amasia hinwies:

»Sie sehen sie doch, Seigneur Van Mitten, Sie sehen sie doch alle Beide?

– Wen?... antwortete der Holländer, dessen Gedanken gar nicht danach waren, sich mit solchen Zärtlichkeiten zu beschäftigen.

– Wen? versetzte schärfer Sarabul, nun, die jungen Verlobten! Wahrhaftig, ich finde Sie mehr zurückhaltend als nöthig.

– Sie kennen doch wohl die Holländer, antwortete Van Mitten... Holland ist ein von Deichen umschlossenes Land....

– Aber Kurdistan hat keine Deiche! rief die edle Sarabul, verletzt durch solche Kälte.

– Nein, dort giebt es keine! versicherte auch der Seigneur Yanar, wobei er seines Schwagers Arm schüttelte, daß dieser fast in diesem lebenden Schraubstock zerbrach.

– Zum Glück, konnte sich Keraban nicht enthalten halblaut zu sagen, wird er morgen befreit sein, unser Freund Van Mitten!«

Dann wandte er sich wieder an die Anderen.

»Nun, das Zimmer muß wohl bereit sein!... Ein Zimmer, Freunde, worin für Alle Platz ist!... Es ist schon bald elf Uhr... schon steigt der Mond am Himmel auf. Nun laßt uns schlafen gehen!

– Komm, Nedjeb, sagte Amasia zu der jungen Zigeunerin.

– Gute Nacht, Ahmet!

– Auf morgen, theure Amasia, auf Wiedersehen morgen! antwortete Ahmet, der das junge Mädchen bis zum Eingang der Höhle begleitete.

– Sie folgen mir, Seigneur Van Mitten? sagte Sarabul in einem Tone, der nicht viel Einladendes hatte.

[364] – Gewiß, versicherte der Holländer. Doch, wenn es nothwendig wäre, könnte ich mich wohl dem jungen Ahmet anschließen.

– Was sagen Sie? rief die herrschsüchtige Kurdin.

– Was sagt er?... wiederholte der Seigneur Yanar.

– Ich sage... erklärte Van Mitten... ich sage nur, liebe Sarabul, daß die Pflicht mich zwingt, für Sie zu wachen, und daß...

– Ganz recht... Sie mögen wachen... aber hier!«

Damit wies sie mit der Hand nach der Höhle, während Yanar ihn an der Schulter faßte und sagte:

»Eines giebt es, worüber Sie unmöglich in Zweifel sein können, Seigneur Van Mitten.

– Etwas, worüber ich nicht in Zweifel sein könnte, Seigneur Yanar?... Und das wäre, wenn's Ihnen beliebt?...

– Daß sie mit meiner Schwester sich... einen Vulkan erheiraten!«

Unter dem ihm von kräftigem Arme nachhelfenden Antriebe betrat Van Mitten den Eingang der Höhle, in welche ihm seine Verlobte vorangeschritten war und wohin ihm der Seigneur Yanar auf dem Fuße folgte.

Als sich Keraban auch ebendahin begeben wollte, hielt ihn Ahmet durch einen Zuruf zurück.

»Lieber Onkel, ein Wort!

– Aber nur eines, Ahmet, erwiderte Keraban, ich bin gehörig ermüdet und bedarf nun des Schlafes.

– Gewiß, aber ich bitte Dich doch, mir Gehör zu schenken.

– Was hast Du mir zu sagen?

– Weißt Du, wo wir uns hier befinden?

– Nun ja, in dem Engpasse oder der Schlucht von Nerissa.

– In welcher Entfernung von Scutari?

– Ich meine, kaum fünf bis sechs Lieues.

– Wer hat Dir das gesagt?

– Wer?... Natürlich unser Führer.

– Und hast Du Vertrauen zu diesem Menschen?

– Warum sollt' ich ihm mißtrauen?

– Weil dieser Mann, den ich schon seit mehreren Tagen schärfer beobachte, ein mehr und mehr Verdacht erweckendes Benehmen zeigt, antwortete Ahmet. Kennst Du ihn, lieber Onkel? – Nein! In Trapezunt erbot er [365] sich, uns bis an den Bosporus zu führen. Du hast ihn in Dienst genommen, ohne zu wissen, wer er war. Wir sind unter seiner Führung weiter gereist...

– Und mir scheint, Ahmet, er hat seine Bekanntschaft mit den Wegen in Anatolien hinreichend dargethan.

– Unzweifelhaft, lieber Onkel!

– Nun, was willst Du dann von mir, Herr Neffe? fragte der Seigneur Keraban, dessen Stirn sich schon mit einer höchst beunruhigenden Beständigkeit zu runzeln anfing.

– O, ich wollte Dich nicht reizen, lieber Onkel, und bitte Dich vor Allem zu glauben, daß es mir fern lag, Dir lästig zu erscheinen... Doch, ich kann's nicht ändern, mich quält eine innere Unruhe, und ich fürchte für Die, welche ich liebe!«

Während er so sprach, war Ahmets Erregung sichtbar genug, als daß sein Onkel ihn nicht mit theilnehmendem Interesse angehört hätte.

»Aber ich bitte Dich, Ahmet, mein Kind, was hast Du? nahm er wieder das Wort. Wozu diese Furcht, jetzt wo unsere Prüfungen bald zu Ende sind? Ich will Dir einmal zugestehen – aber nur Dir allein – daß ich eben nur meinen Trotzkopf aufsetzte, als diese unsinnige Reise unternommen wurde, ich gebe auch willig zu, daß es ohne meinen Starrsinn, Dich von Odessa wegzunehmen, wohl kaum zur Entführung Amasias gekommen wäre... ja, Alles das ist mein Fehler!... Indeß jetzt naht sich ja das Ziel unserer Reise. Deine Vermählung wird nicht um einen Tag hinausgeschoben werden. Morgen sind wir in Scutari... und morgen...

– Und wenn wir morgen nicht in Scutari wären, lieber Onkel? Wenn wir uns davon noch viel weiter befänden, als der Führer angiebt? Wenn er uns mit dem Anrathen, von den Straßen längs der Küste abzuweichen, absichtlich irregeführt hätte? Mit einem Worte, wenn dieser Mensch nun ein Verräther wäre?

– Ein Verräther?... rief Keraban erstaunt.

– Ja, fuhr Ahmet fort, und wenn dieser Verräther den Interessen Derjenigen diente, die Amasia haben rauben lassen?

– Bei Allah, lieber Neffe, wie kommst Du zu solchem Gedanken und worauf begründet sich derselbe? Auf einfache Muthmaßungen?

– Nein, auf Thatsachen, lieber Onkel. Höre mich an. Seit einigen Tagen hat der Mann unter dem Vorwande, sich den Weg im Voraus anzusehen, uns während der Rastzeiten wiederholt verlassen. Mehrmals hat er sich, nicht unruhig [366] aber ungeduldig, entfernt, mit der Vorsicht, unbemerkt zu bleiben. Letztvergangene Nacht ist er eine ganze Stunde lang aus dem Lager weggegangen. Ich schlich ihm vorsichtig nach und ich möchte behaupten... ich behaupte sogar, daß ihm vom Horizonte her ein Feuersignal gegeben wurde... ein Signal, welches er erwartete.

– In der That, das erscheint bedenklich! stimmte jetzt Keraban zu. Doch weshalb verknüpfest Du etwaige Anschläge dieses Mannes mit den Umständen, welche die Entführung Amasias auf der »Guidare« veranlaßt hatten?

– O, lieber Onkel, wohin segelte denn jene Tartane? War sie nach dem Hafen von Atina bestimmt, wo sie den Untergang fand? Sicherlich nicht. Wir wissen ja, daß sie nur vom Sturme aus ihrem Course verschlagen wurde. Nun, meiner Meinung noch sollte sie nach Trapezunt gehen, von wo aus gewöhnlich die Harems der Nabobs von Anatolien versorgt werden... Dort hat man leicht genug erfahren können, daß das entführte junge Mädchen aus dem Schiffbruche gerettet wurde, von dort konnte man ihrer Fährte folgen und uns jenen Führer zusenden, der unsere kleine Karawane in einen Hinterhalt zu locken beauftragt war.

– Ja, Ahmet... antwortete Keraban, wahrhaftig, Du könntest Recht haben!.... Es wäre möglich, daß uns Gefahr drohte... Du hast gewacht, hast wohl daran gethan, und diese Nacht werd' ich mit Dir Wache halten.

– Nein, lieber Onkel, nein, erwiderte Ahmet, ruhe Du Dich aus. Ich bin hinreichend bewaffnet, und beim ersten verdächtigen Lärmen...

– Ich sage Dir, daß ich mit wach bleiben werde, entgegnete Keraban. Es soll Niemand sagen können, daß die Schrulle eines Starrkopfes meines Schlages noch ein neues unheilvolles Ereigniß herbeigeführt habe.

– Nein, strenge Dich nicht unnützer Weise an!... Auf meine Anordnung hin wird der Führer diese Nacht in der Höhle bleiben. Geh' nur auch hinein

– Ich mag aber nicht!

– Lieber Onkel...

– Willst Du mir vielleicht bei dieser Gelegenheit widersprechen? herrschte ihn Keraban an. Nimm Dich in Acht, Ahmet, es hat mir lange Keiner Widerpart gehalten.

– Schon gut, lieber Onkel, wir wachen also zusammen.

– Ja, wir halten Wache unter Waffen, und wehe dem, der sich an unser Lager heranschleichen sollte!«

[367] Der Seigneur Keraban und Ahmet gingen also geräuschlos auf und ab, hielten die Blicke immer nach beiden Seiten auf die schmale Straße gerichtet und spannten auf den geringsten Laut, der in der ausnehmend ruhigen Nacht hätte hörbar werden können So bildeten sie vor dem Eingange der Höhle eine sichere und getreue Wache.


Keraban und Ahmet hielten getreue Wache. (S 368.)

Zwei Stunden gingen ungestört hin; eine dritte noch ebenso Nirgendzeigte sich etwas Verdächtiges, was den Argwohn des Seigneur Keraban und seines Neffen hätte bekräftigen können. Schon gaben sie sich der Hoffnung hin, daß die Nacht ohne Zwischenfall verlaufen werde, als gegen drei Uhr des Morgens laute Rufe, offenbar Ausrufe unerwarteten Schreckens, vom Ausgange der Schlucht her erschallten.


Ahmet näherte sich dem Schurken. (S. 372.)

Sofort sprangen Keraban und Ahmet nach ihren Waffen, die sie am Fuße eines Felsens niedergelegt hatten, und diesmal ergriff auch der Onkel, der seinen schönen türkischen Pistolen für den Ernstfall doch nicht allzusehr trauen mochte, gleich ein gutes Gewehr.

Da kam schon Nizib athemlos durch den Engpaß [368] herzugelaufen.

[369] – Ach, Herr... Herr!

– Was giebt es denn, Nizib?

– Ach Herr... da unten... da unten...

– Da unten?... sagte Ahmet.

– Die Pferde!

– Unsere Pferde?

– Ja!

– Aber so sprich doch, dummer Kerl! rief Keraban, den armen Burschen kräftig schüttelnd. Unsere Pferde?

– Sind gestohlen!

– Gestohlen?

– Ja, fuhr Nizib fort. Zwei oder drei Männer kamen auf die Wiese gestürzt, um sich derselben zu bemächtigen...

– Sie haben sich unserer Pferde bemächtigt, rief Ahmet, und sie haben sie weggeführt, sagst Du?

– Ja!

– Auf die Landstraße... nach jener Seite?... fragte Ahmet weiter, indem er in der Richtung nach Westen hinwies.

– Nach jener Seite.

– Wir müssen ihnen nacheilen... den Schurken nachstürmen... müssen sie einholen... rief Keraban.

– Bleib', lieber Onkel, antwortete Ahmet. Jetzt unsere Pferde wieder zu erlangen, wäre doch unmöglich. Am nöthigsten erscheint mir, unseren Lagerplatz selbst in Vertheidigungszustand zu setzen.

– Ach... Herr!... sagte Nizib plötzlich mit gedämpfter Stimme. Sehen Sie!... Sehen Sie nur!... Da!... Da!«

Und er zeigte dabei mit der Hand nach einem hohen Felsen, der sich links von ihnen erhob.

[370]
13. Capitel
Dreizehntes Capitel.
In welchem der Seigneur Keraban, nachdem er seinem Esel gegenüber den eignen Kopf behauptet, auch seinem Todfeind gegenübertritt.

Der Seigneur Keraban und Ahmet hatten sich umgewendet. Sie blickten in der von Nizib bezeichneten Richtung hin Was sie da sahen, veranlaßte sie sogleich zurückzuweichen, um nicht bemerkt werden zu können.

Nahe der äußeren Kante jenes Felsens nämlich, an der der Höhle entgegengesetzten Seite, kroch ein Mann hin, der den äußersten Rand desselben zu erreichen suchte, jedenfalls um die Anordnung des Lagerplatzes besser übersehen zu können.

Es lag also auf der Hand, daß zwischen jenem Manne und dem Führer irgend welche Uebereinstimmung bestehen müsse.

Jetzt zeigte es sich auch, daß Ahmet bezüglich aller der vermutheten Abmachungen, welche Keraban und die Seinigen bedrohten, vollkommen recht gehabt hatte Sein Onkel sah sich genöthigt, das einzugestehen Ebenso war aus jener Wahrnehmung zu schließen, daß ihnen eine unmittelbare Gefahr drohe, daß die kleine Karawane noch diese Nacht, nachdem sie glücklich in einen Hinterhalt gelockt worden war, vollständig vernichtet werden sollte.

In der ersten Bestürzung riß Keraban sofort das Gewehr an die Schulter und legte es auf jenen Schurken an, der sich bis dicht an das Lager heranzuschleichen sachte. Eine Secunde später donnerte gewiß der Schuß in die Nacht hinaus und der Mann wäre wahrscheinlich tödtlich getroffen zusammengestürzt. Wäre damit nicht der Anstoß zu weiteren Ereignissen gegeben und die ohnehin schon ernste Lage dadurch nicht noch schwieriger gemacht worden?

»Halt' an, Onkel! sagte Ahmet halblaut, indem er die nach dem Gipfel des Felsens gerichtete Waffe in die Höhe schob.

– Aber, Ahmet...

– Nein, keinen Schuß, der nur das Signal zu einem Angriff werden könnte! Es ist besser, jenen Mann da lebend einzufangen Wir müssen erfahren, auf wessen Veranlassung jene Elenden handeln.

– Wie sollen wir ihn aber fangen?

[371] – Das laß mich nur machen!« antwortete Ahmet.

Er verschwand damit schon nach links, um den Felsen zu umgehen und von dessen Rückseite zu erklimmen.

Inzwischen hielten sich Keraban und Nizib bereit, für den Nothfall gleich mit eingreifen zu können.

Der auf dem Leibe liegende Schurke hatte nun den letzten vorspringenden Winkel des Felsens erreicht. Sein Kopf ragte schon über den Rand desselben hinaus. Bei dem klaren Glanze des Mondes sachte er den Eingang zur Höhle zu sehen.

Eine halbe Minute später erschien Ahmet auf dem oberen Plateau und näherte sich, auch selbst mit größter Vorsicht auf dem Boden hinkriechend, dem Schurken, der ihn noch nicht bemerken konnte.

Unglücklicher Weise erregte ein unerwarteter Umstand die Aufmerksamkeit des Mannes und verrieth ihm die ihm drohende Gefahr.

In diesem Augenblick hatte nämlich Amasia die Höhle verlassen. Eine merkwürdige Unruhe, von der sie sich nicht Rechenschaft zu geben vermochte, raubte ihr den Schlaf. Sie hatte eine Ahnung, als ob Ahmet von einem Flintenschusse oder Dolchstoße bedroht sein müsse.

Kaum hatte Keraban jedoch das junge Mädchen erblickt, als er ihr durch Zeichen zu verstehen gab, zurückzubleiben. Amasia verstand ihn jedoch nicht, und den Kopf erhebend bemerkte sie Ahmet, als dieser sich auf dem Felsen etwas erhob, was ihr einen lauten Schreckensschrei auspreßte.

Auf diesen Schrei hin drehte der Spion sich eiligst um, sprang empor und warf sich, als er Ahmet noch in halbgebückter Stellung sah, mit Ungestüm auf den jungen Mann.

Amasia, welche der Schreck fast zur Salzsäule versteinerte, hatte jedoch noch die Kraft zu rufen:

»Ahmet!... Ahmet!...«

Der Spion wollte seinem Gegner ein in der Hand gehaltenes Messer in den Leib rennen; schon hatte aber Keraban das Gewehr angelegt und feuerte ab.

Tödtlich, mitten in der Brust getroffen, ließ der Spion den Dolch sinken und rollte bis zur Erde herunter.

Einen Augenblick später lag Amasia in den Armen Ahmets, der, um zu ihr zu gelangen, gleich an der Felsenwand hinabgeglitten war.

[372] Bei dem Krachen des Schusses waren nun Alle, welche die Höhle barg, hervorgestürzt – Alle außer dem Führer.

Der Seigneur Keraban senkte seine Waffe und rief:

»Beim Barte des Propheten, das war ein Meisterschuß!

– Nun auch noch Todesgefahren! brummte Bruno.

– Verlassen Sie mich nicht, Van Mitten! sagt die energische Sarabul, den Arm ihres Verlobten ergreifend.

– Er wird nicht von Deiner Seite weichen, Schwester!« erwiderte entschlossen der Seigneur Yanar.

Inzwischen hatte sich Ahmet dem Körper des Spions genähert.

»Dieser Mann ist todt, sagte er, wir hätten ihn lebend haben sollen!«

Nedjeb kam auch herzugelaufen, und rief sofort:

»Aber... dieser Mann... das ist ja...«

Jetzt näherte sich noch Amasia.

»Ja, das ist er!... Das ist Yarhud! sagte sie. Das ist der Capitän der »Guidare«!

– Yarhud? rief Keraban.

– Ach, ich hatte also doch Recht! sagte Ahmet.

– Ja,... fuhr Amasia fort, dieser Mann war es, der uns aus meines Vaters Haus gewaltsam wegschleppte!

– Ich erkenne ihn wieder, erklärte Ahmet, ja, auch ich erkenne ihn wieder. Er war es, der nach der Villa kam, uns seine Waare anzupreisen. Noch ganz kurz vor unserer Abreise!... Aber er kann nicht allein sein... Eine ganze Bande Elender ist uns auf den Füßen!... Um uns jede Möglichkeit der Fortsetzung unserer Reise abzuschneiden, haben sie zuerst die Pferde geraubt!

– Was? Unsere Pferde geraubt? rief die edle Sarabul.

– Von alledem wäre uns nichts widerfahren, wenn wir sogleich den Weg nach Kurdistan wieder eingeschlagen hätten!« meinte der Seigneur Yanar.

Sein durchbohrender Blick ruhte dabei auf Van Mitten, als wolle er den armen Mann für alle diese Widerwärtigkeiten verantwortlich machen.

»Aber in wessen Auftrage handelte denn dieser Yarhud? fragte Keraban.

– Wenn er noch lebte, würden wir ihm sein Geheimniß schon zu entreißen gewußt haben! rief Ahmet.

– Vielleicht hat er irgend welche Papiere bei sich, bemerkte Amasia.

– Ja... Wir müssen den Leichnam untersuchen!« antwortete Keraban.

[373] Ahmet beugte sich über den Körper Yarhud's, während Nizib eine Laterne herzuholte, die vorher zur Beleuchtung der Höhle gedient hatte.

»Ein Brief!... Das ist ein Brief!« sagte Ahmet und zog die Hand aus der Tasche des maltesischen Capitäns zurück.

Dieser Brief zeigte sich adressirt an einen gewissen Scarpante.

»Lies doch! Lies doch, Ahmet,«drängte Keraban, der seine Ungeduld nicht zu zähmen im Stande war.

Nachdem Ahmet den Brief erbrochen, las er darauf wie folgt:

»Wenn die Pferde in unserer Gewalt sind, sobald Keraban und seine Begleiter im Schlafe liegen, wohin sie Scarpante führen wird...«

– Scarpante! Das ist der Name unseres Führers, der Name dieses Verräthers?

– Ja... Ich hatte mich in Bezug auf ihn nicht getäuscht! Dann fuhr er fort:

»... so wird Scarpante dadurch ein Zeichen geben, indem er eine Fackel schwingt, und darauf hin dringen unsere Leute in die Schlucht von Nerissa ein.«

– Und die Unterschrift, fragte Keraban.

– Die Unterschrift lautet einfach... Saffar!

– Ja, ja, sagte Ahmet, das ist offenbar dieselbe unverschämte Persönlichkeit, die uns an der Eisenbahn von Poti entgegentrat und sich wenige Stunden darauf in Trapezunt einschiffte!... Ja, dieser Saffar hat Amasia rauben lassen, und will sie nun um jeden Preis wieder in seine Gewalt bringen!

– Ah, Seigneur Saffar!... rief Keraban, die geballte Faust erhebend, die er dann auf einen imaginären Schädel niederfallen ließ, wenn ich Dir einmal Auge in Auge gegenüberstehe!...

– Doch jener Scarpante, sagte Ahmet, wo steckt er?«

Bruno war in die Höhle geeilt und kehrte zurück mit den Worten:

»Verschwunden... jedenfalls durch einen anderen Ausgang!«

Es verhielt sich in der That wie er sagte Nach Enthüllung seines geplanten Verrathes war Scarpante durch den Hintergrund der Höhle entwischt.

Jetzt war der verbrecherische Anschlag also in allen Einzelheiten enthüllt. Der Intendant des Seigneur Saffar war es gewesen, der sich ihnen als Führer angeboten hatte. Jener Scarpante war es, der die kleine Karawane erst auf den Wegen längs der Küste und dann durch die Berglandschaft Anatoliens führte. Und von Yarhud mußten die Signale hergerührt haben, welche Ahmet [374] in der vergangenen Nacht beobachtet hatte, von jenem Capitän der »Guidare », der, im Finstern heranschleichend, Scarpante jedenfalls die letzten Anordnungen Saffar's hatte überbringen wollen.

Die Wachsamkeit und besonders die Scharfsinnigkeit Ahmets hatte freilich den ganzen Anschlag vereitelt. Der Verräther war entlarvt, die verbrecherische Absicht seines Herrn erkannt worden. Den Namen des Urhebers der Entführung Amasias wußte man nun, und das war zufällig derselbe Saffar, an dem der Seigneur Keraban so wie so die schrecklichste Wiedervergeltung zu üben beschlossen hatte.

Wenn nun auch die Falle, in welche die kleine Karawane gelockt worden war, offen vor Augen lag, so war die Gefahr deswegen nicht minder groß, da dieselbe ja jeden Augenblick einem ernsthaften Angriffe ausgesetzt sein konnte.

Ahmet mit seinem entschlossenen Charakter trat denn auch sogleich mit dem einzig annehmbaren Vorschlag hervor.

»Liebe Freunde, sagte er, wir müssen die Schlucht von Nerissa augenblicklich verlassen. Wenn man uns in diesem engen, von hohen Felsen überragten Engpaß überfiele, würden wir nicht lebend davonkommen.

– Vorwärts also! antwortete Keraban. Bruno, Nizib und Sie, Seigneur Yanar, halten Sie darauf, daß alle Waffen jeden Augenblick in Bereitschaft sind!

– Zählen Sie auf uns, Seigneur Keraban, versicherte Yanar, und Sie werden sehen, daß wir unseren Mann stellen, meine Schwester ebenso wie ich.

– Gewiß, bestätigte die muthige Kurdin, während sie kampfeslustig den Yatagan schwenkte. Ich werde keinen Augenblick vergessen, daß ich jetzt noch einen Verlobten zu vertheidigen habe.«

Wenn Van Mitten jemals eine tiefe Erniedrigung empfand, so war es in dieser Minute, wo er das unerschrockene Weib so reden hörte. Doch ergriff auch er einen Revolver, um im Nothfalle seine Pflicht zu thun.

Alle klommen also den Engpaß hinauf, um nach den umgebenden Hochebenen zu gelangen, als Bruno, dem die Magenfrage stets am nächsten am Herzen lag, noch die Bemerkung machte:

»Aber den Esel können wir doch hier nicht zurücklassen!

– Wahrhaftig, erwiderte Ahmet, vielleicht hat uns Scarpante in einen entfernten Theil Anatoliens gelockt! Vielleicht befinden wir uns gar nicht so nahe bei Scutari, als wir glauben! Und auf diesem Karren befinden sich die einzigen, uns noch verbliebenen Nahrungsmittel.«


Ahmet las... (S. 374.)

Alle diese Voraussetzungen hatten ja viele Wahrscheinlichkeit für sich. Man mußte wohl fürchten, daß die Absicht des Verräthers dahin gegangen sei, die Ankunft des Seigneur Keraban und der Seinigen an [375] den Ufern des Bosporus zu verzögern, indem er die Gesellschaft von ihrem Ziel mehr entfernte.


Der Saum des Felsens bedeckte sich mit Feinden. (S. 379.)

Freilich war jetzt keine Zeit, das eingehend zu überlegen; es galt zu handeln, ohne einen Augenblick zu verlieren.

»Nun also, sagte Keraban, der Esel wird uns folgen; ich sehe auch gar nicht ein, warum er nicht mit fliehen sollte?«

[376] Damit packte er das Thier an der Halfter und versuchte, es zu sich heranzuziehen.

»Vorwärts!« rief er.

Der Esel rührte sich nicht.

»Wirst du gutmüthig kommen?« fuhr Keraban fort, indem er tüchtig an der Leine ruckte.

Der von Natur offenbar sehr starrsinnige Esel rührte sich nicht von der Stelle.

»Schiebe ihn, Nizib!« sagte Keraban.

[377] Mit Hilfe Brunos suchte Nizib den Esel von rückwärts zu schieben... Der Esel drängte eher mehr rückwärts als vorwärts.

»Aha, du setzest wohl den Kopf auf! rief Keraban, der schon ernstlich bös zu werden anfing.

– Sehr schön! murmelte Bruno. Ein Dickkopf gegen den anderen!

– Du willst mir widerstehen... mir? fuhr Keraban fort.

– Ihr Herr hat seinen Meister gefunden! sagte Bruno zu Nizib, freilich mit der nöthigen Vorsicht, nicht gehört zu werden.

– Das sollte mich wundern!« antwortete Nizib im nämlichen Tone.

Inzwischen wiederholte Ahmet immer ungeduldiger:

»Aber wir müssen fort!... Wir dürfen keine Minute zaudern... lassen wir doch den Esel laufen!

– Ich!... Ihm nachgeben!... Niemals!« rief Keraban. Dabei faßte er den Esel an den langen Ohren und schüttelte dessen Kopf, als wolle er jene abreißen.

»Wirst du wohl gehen?« schrie er jenen an.

Derselbe wich und wankte nicht.

»Ah, du willst mir nicht gehorchen!... sagte Keraban. Nun, ich werde dich schon zu zwingen wissen!«

Keraban lief nach dem Eingange der Höhle, riß daselbst einige Hände voll Gras heraus und machte daraus ein Bündelchen, das er dem Esel hinhielt. Dieser that einen Schritt vorwärts.

»Aha, rief Keraban, dessen bedarf es, um dich in Trab zu bringen!... Nun, bei Mohammed, du wirst schon laufen lernen!«

Gleich darauf band er das Grasbündel an die äußerste Spitze der Karrendeichsel, aber in hinreichender Entfernung, daß der Esel, selbst wenn er den Kopf vorstreckte, es nicht erreichen konnte Der Erfolg war der, daß das durch die Lockspeise, welche sich natürlich stets von ihm weiter entfernte, gereizte Thier sich entschloß, in der Richtung des Passes weiter zu trotten.

»Sehr sinnreich! sagte Van Mitten.

– So thun Sie desgleichen!« rief die edle Sarabul, während sie ihn hinter dem Karren mit herschleppte.

Sie war ja auch ein Köder, der immer seinen Ort veränderte, für Van Mitten freilich sehr verschieden von dem des Esels, ein Köder, den er vor Allem zu erreichen fürchtete.

[378] Sich dicht bei einander haltend, schlugen nun Alle die nämliche Richtung ein und hatten bald den Lagerplatz verlassen, wo ihre Stellung eine unhaltbare gewesen wäre.

»Deiner Ansicht nach, Ahmet, begann Keraban, ist jener Saffar also derselbe unverschämte Kerl, dessen Starrsinn es verursachte, daß mein Reisewagen an der Eisenbahn von Poti zertrümmert wurde?

– Ja, lieber Onkel, vor Allem aber ist das der Schurke, der Amasia hatte entführen lassen, und deshalb gehört er mir!

– Halb Part, Neffe Ahmet, antwortete Keraban, und möge Allah uns seinen Beistand leihen!«

Kaum hatten Keraban und seine Begleiter auf dem engen Wege einige fünfzig Schritte zurückgelegt, als der Saum der Felsen sich mit Feinden bedeckte. Laute Rufe erschallten und von allen Seiten krachten Flintenschüsse herab.

»Rückwärts! Rückwärts!« rief Ahmet und drängte die ihm Nachfolgenden nach dem Lagerplatz zurück.

Es war zu spät, aus der Schlucht von Nerissa zu entkommen, zu spät, um auf höherem Terrain eine bessere Vertheidigungsstelle zu suchen. Die in Saf far's Sold stehenden Räuber, etwa zwölf an der Zahl, hatten sie schon überfallen. Ihr Anführer trieb sie noch zu dem verbrecherischen Angriffe, und in der Stellung, welche sie einnahmen, war der Vortheil gänzlich auf ihrer Seite.

Das Schicksal des Seigneur Keraban und seiner Begleiter schien also ganz ihrer Gnade anheimgegeben

»Hierher! Hierher! rief Ahmet, dessen Stimme den Lärm übertönte.

– Die Frauen in die Mitte!« setzte Keraban hinzu.

Amasia, Sarabul und Nedjeb drängten sich zusammen, und um sie herum reihten sich Keraban, Ahmet, Van Mitten, Yanar, Bruno und Nizib Einer an den Anderen. Sie waren sechs Mann, um der Truppe Saffar's entgegen zu treten – Einer gegen Zwei – und außerdem noch in der unvortheilhaftesten Stellung.

Unter entsetzlichem Geschrei drangen die Räuber jetzt in den Engpaß ein und wälzten sich gleich einer Lawine gerade auf den Lagerplatz zu.

»Freunde, rief Ahmet, wir vertheidigen uns bis zum Tode!«

Augenblicklich begann der Kampf. Bruno und Nizib waren gleich anfänglich leicht verwundet worden, wichen aber nicht von der Stelle, sondern kämpften [379] muthig weiter, ebenso wie die muthige Kurdin, deren Pistole den Gewehrschüssen der Angreifer keine Antwort schuldig blieb.

Es zeigte sich übrigens sehr bald, daß die Leute, welche Befehl hatten, sich Amasias lebend zu bemächtigen, lieber mit blanker Waffe vorgingen, um nicht durch einen Fehlschuß vielleicht gar das junge Mädchen selbst zu treffen, wodurch ja der ganze Angriff nutzlos geworden wäre.

So schwankte auch die Wage, trotz der Ueberlegenheit an Zahl, zuerst gar nicht zu ihren Gunsten, und mehrere fielen schwer verwundet zur Erde.

Da erschienen noch zwei neue, erst recht zu fürchtende Streiter auf dem Wahlplatze.

Das waren Saffar und Scarpante.

»Ah, der Elende! rief Keraban. Ja, das ist er! Das ist der Mann von der Eisenbahn!«

Mehrmals wollte er schon auf ihn anlegen, gelangte aber nicht dazu, weil er sich gegen Die, welche ihn direct angriffen, vertheidigen mußte.

Unentmuthigt leisteten Ahmet und die Seinigen Widerstand. Alle beseelte nur der eine Gedanke, um jeden Preis Amasia zu retten, und es um jeden Preis zu verhindern, daß sie in die Hände jenes Saffar fiele.

Trotz allem Muthe und aller Opferwilligkeit mußten sie aber doch bald der Ueberzahl weichen. Nach und nach singen auch Keraban and seine Gefährten an zu wanken, auseinander zu gerathen, um an der Felswand des Engpasses Deckung zu suchen. Schon entstand unter ihnen einige Verwirrung.

Saffar bemerkte das recht wohl.

»Nun thu' Deine Schuldigkeit, Scarpante! rief er, nach dem jungen Mädchen zeigend.

– Ja, Seigneur Saffar, antwortete Scarpante, und diesmal soll sie uns nicht entwischen!«

Sich die Unordnung zu Nutze machend, gelang es Scarpante bis zu Amasia vorzudringen, welche er ergriff und schon bis nach außerhalb geschleppt hatte.

»Amasia!... Amasia!...« rief Ahmet schmerzerfüllt.

Er wollte ihr nachstürzen, aber eine Gruppe Räuber versperrte ihm den Weg und er mußte Halt machen, um ihnen entgegenzutreten.

Da versuchte Yanar das junge Mädchen den Händen Scarpante's zu entreißen, vergeblich; Scarpante nahm dieselbe schon auf die Arme und machte einige Schritte nach dem Engpaßausgang zu.

[380] Jetzt legte Keraban auf Scarpante das Gewehr an, und zu Tode getroffen brach der Verräther zusammen, der natürlich dabei das junge Mädchen losließ, welches sich immerhin noch vergeblich bemühte, in Ahmets Nähe zu kommen.

»Scarpante!... Todt!... Rächen wir ihn! feuerte der Anführer der Banditen seine Leute an, rächen wir ihn!«

Alle stürmten nun auf Keraban und die Seinigen mit wahrhaft unwiderstehlicher Wuth ein. Von allen Seiten bedrängt, konnten diese kaum von ihren Waffen Gebrauch machen.

»Amasia!... Amasia!... rief Ahmet, indem er versuchte, dem jungen Mädchen, welches Saffar endlich ergriff und vom Lagerplatz hinwegzerrte, zu Hilfe zu kommen.

– Muth!... Nur Muth!... rief Keraban immer und immer wieder.

Aber er fühlte wohl, daß er und die Seinigen, von der Ueberzahl erdrückt, so gut wie verloren waren.

In diesem Augenblicke streckte ein, von der Höhe der Felsen abgefeuerter Schuß einen der Angreifer zu Boden. Andere Schüsse folgten diesem in schnellem Tempo nach. Noch mehrere der Räuber brachen zusammen, und ihr Fall verbreitete einen heillosen Schrecken unter ihren Genossen.

Saffar war eine Secunde stehen geblieben, um sich über diese unvermuthete Einmischung aufzuklären. War das eine unerwartete Verstärkung, welche der Seigneur Keraban erhielt? Schon hatte sich Amasia den Armen Saffar's, den dieser plötzliche Anfall außer Fassung brachte, entwinden können.

»Mein Vater!... Mein Vater!...« rief das junge Mädchen.

Wirklich war es Selim mit etwa zwanzig wohlbewaffneten Leuten, der in dem Augenblick, wo ihr Untergang schon besiegelt schien, der kleinen Karawane zu Hilfe kam.

»Rette sich, wer kann!« brüllte der Anführer der Räuber, der selbst das Beispiel zur Flucht gab.

Damit verschwand er mit den Ueberlebenden seiner Truppe in der Höhle, von der aus wie erwähnt, noch ein zweiter Ausgang in's Freie führte.

»Feiglinge! fluchte Saffar, als er sich so verlassen sah. Nun, sie sollen sie wenigstens nicht lebend haben.«

Er stürzte sich dabei auf Amasia, als Ahmet eben gegen ihn heranstürmte.

Saffar gab auf den jungen Mann den letzten Schuß aus seinem Revolver ab, fehlte ihn aber Keraban dagegen, der noch immer sein kaltes Blut bewahrte,[381] fehlte ihn nicht. Er sprang auf Saffar zu, packte ihn an der Kehle und traf ihn mit kräftigem Dolchstoß mitten in's Herz.

Ein Röcheln, das war Alles. Als er sich im letzten Todeskampf wand, konnte er nicht einmal seinen Gegner ausrufen hören:

»Ich werde Dich lehren, meinen Wagen zertrümmern zu lassen!«

Der Seigneur Keraban und seine Gefährten waren gerettet. Kaum hatten die Einen oder die Anderen einige leichte Verletzungen davongetragen. Und doch war keiner von ihnen zurückgewichen. Bruno und Nizib hatten achtungswerthe Beweise von Muth geliefert; der Seigneur Yanar hatte mannhaft gekämpft; Van Mitten sich mitten unter dem Gewehrfeuer ausgezeichnet, ebenso wie die energische Kurdin, deren Pistole immer da donnerte, wo es am heißesten herging.

Ohne die zunächst unerklärliche Dazwischenkunft Selim's wäre es jedoch um Amasia und ihre Vertheidiger geschehen gewesen. Alle wären umgekommen, denn Jeder von ihnen war ja entschlossen, für sie in den Tod zu gehen.

»Mein Vater!... Vater!... rief das junge Mädchen und warf sich Selim in die Arme.

– Mein alter Freund, Sie... Sie... hier? sagte Keraban.

– Ja!... Ich! antwortete Selim.

– Wie hat Sie der Zufall hiehergeführt? fragte Keraban.

– O, das ist kein Zufall, erklärte Selim, und ich würde mich schon lange zur Aufsuchung meiner Tochter aufgemacht haben, wenn ich zur Zeit, als sie der Capitän aus der Villa entführte, nicht verwundet worden wäre.

– Verwundet, mein Vater?

– Ja!... Durch einen Schuß von der Tartane Zurückgehalten durch diese Verwundung, konnte ich Odessa noch einen ganzen Monat nicht verlassen Vor wenigen Tagen aber kam von Ahmet eine Depesche...

– Eine Depesche? fuhr Keraban auf, den dieses, sein Ohr beleidigende Wort schon wieder in die Wolle brachte.

– Ja... eine Depesche... von Trapezunt aus.

– O, das war eine...

– Ja, ja, lieber Onkel, unterbrach ihn Ahmet, sich an seinen Hals werfend, aber Du wirst gestehen, daß dieses erste Mal, wo ich mich entschloß ein Telegramm ohne Dein Vorwissen abzusenden, für uns eine Wohlthat gewesen ist.

[382] – Ja... das Schlechte hat etwas Gutes erwirkt! antwortete Keraban, mit den Achseln zuckend, doch daß ich Dich nicht wieder dabei ertappe, Herr Neffe!

– Da ich nun, fuhr Selim fort, durch diese Depesche erfuhr, daß für Eure kleine Karawane noch nicht alles Unheil ausgeschlossen sei, bin ich nach Scutari geeilt und habe die Straße am Meeresufer verfolgt.

– Bei Allah, Freund Selim, rief Keraban, Sie sind wahrlich zur rechten Zeit gekommen. Ohne Sie wären wir verloren gewesen!... Und doch haben sich hier Alle wie Löwen geschlagen!

– Ja, bestätigte Seigneur Yanar, und auch meine Schwester hat bewiesen, daß sie zur Noth mit einem Pistol umzugehen weiß!

– Welches Weib!« murmelte Van Mitten.

Da kündigte sich eben das Morgenroth des anbrechenden Tages durch den ersten bleichen Schein an. Einige unbeweglich am Zenith stehende Wolken schmückten ihre Ränder mit der Hoffnung erweckenden Farbe.

»Aber wo sind wir eigentlich, Freund Selim? fragte der Seigneur Keraban, und wie konnten Sie uns in einer Gegend auffinden, nach der ein Verräther unsere Karawane absichtlich mißgeführt?

– Und wohl weit von unserem Wege abgebracht hat? fügte Ahmet hinzu.

– O nein, lieber Freund, nein! antwortete Selim. Ihr seid auf dem richtigen Wege nach Scutari, nur wenige Lieues vom Meere entfernt.

– Was?... rief Keraban.

– Die Ufer des Bosporus sind dort! erklärte Selim, mit der Hand nach Nordwesten weisend.

– Die Ufer des Bosporus?« rief auch Ahmet.

Sofort kletterten Alle die Felsen in die Höhe und begaben sich nach einem Hochplateau über der Schlucht von Nerissa.

»Da seht... seht!...« sagte Selim.

In diesem Augenblicke kam nämlich eine gewisse Erscheinung zu Stande, eine Naturerscheinung, welche durch einfache Wiederspiegelung die noch fernen, so ersehnten Landschaften dem Auge sichtbar machte.

Je heller es wurde, desto deutlicher erschienen im Bilde alle noch unterhalb des Horizonts gelegenen Gegenden. Es machte den Eindruck, als ob die Hügel, welche in einiger Entfernung die Hochebene noch begrenzten und überragten, gleich einer Theaterdecoration in die Erde versänken.


Scarpante fiel, zu Tode getroffen. (S. 381.)

»Das Meer!... Das ist das Meer!« jubelte Ahmet.

Und Alle wiederholten nach ihm:

»Das Meer!... Das Meer!«

Und obgleich, was sie sahen, eben nur ein Spiegelbild war, so befand sich das Meer doch in der Nähe [383] und war nur wenige Lieues entfernt.

»Das Meer!... Das Meer!... rief der Seigneur Keraban immer wieder. Doch wenn das nicht der Bosporus und das nicht Scutari ist... wir sind nun am letzten des Monats, und...


Die Villa des Seigneur Keraban. (S. 386)

– Das ist der Bosporus!... Das ist Scutari!« rief Ahmet freudig.

[384]

Die Erscheinung wurde immer deutlicher, und jetzt zeigte sich fern am Horizonte die Silhouette einer amphitheatralisch erbauten Stadt.

»Bei Allah! Das ist Scutari, rief Keraban Da kann man es vollständig überblicken, wie es sich über der Meerenge erhebt.«

In der That war es Scutari, welches Selim erst drei Stunden vorher verlassen hatte.

»Nun vorwärts! Vorwärts!« drängte Keraban.

[385] Und wie es einem guten Muselman geziemt, der in allen Dingen die Allmacht Gottes erkennt, wendete er sein Gesicht der aufgehenden Sonne zu und rief:

»Ilah il Allah!«

Gleich darauf bewegte sich die kleine Karawane nach der Straße zu, welche das linke Ufer der Meerenge begleitet Vier Stunden später – am letzten für die Hochzeit Ahmets und Amasias bestimmten Tage – erschienen der Seigneur Keraban, seine Begleiter und sein Esel, nach Vollendung dieser Fahrt um das Schwarze Meer, auf den Höhen von Scutari und begrüßten jubelnd die Gestade des Bosporus.

14. Capitel
Vierzehntes Capitel.
In welchem Van Mitten sich bemüht, die edle Sarabul über die wirkliche Sachlage aufzuklären.

Es war eine der schönsten Lagen, die sich nur träumen lassen, in der sich, auf der Höhe des Hügels, den das Häusergewirr von Scutari einnimmt, die Villa des Seigneur Keraban erhob.

Scutari, die asiatische Vorstadt von Constantinopel, das alte Chrysopolis, seine Moscheen mit vergoldeten Dächern, das merkwürdig bunte Bild seiner Stadtviertel, in denen sich eine Bevölkerung von 50.000 Seelen zusammendrängt, sein auf dem Wasser der Meerenge schwimmender Ausladeplatz, der ungeheure Hintergrund von Cypressen auf seinem Friedhofe, der bevorzugte Ruheplatz der reichen Muselmanen, welche fürchten, daß die Hauptstadt, einer lang fortgeerbten Sage nach, einst erobert würde, wenn die Gläubigen beim Gebete sind – ferner, eine Lieue von hier, der Berg Bulgnotu, der das Ganze überragt und einen weiten Ausblick gewährt über das Marmarameer, den Golf von Nicomedien, den Canal von Constantinopel – nichts vermag eine Vorstellung zu geben von diesem, in der Welt geradezu einzigen Panorama, nach welchem sich die Fenster der Villa des reichen Kaufmannes öffneten.

[386] Diesem Aeußeren, dem terrassenförmigen Garten mit schönen Bäumen, wie Platanen, Buchen und Cypressen, welche jenen beschatten, entsprach ganz das Innere der prächtigen Wohnstätte. Wahrlich, es wäre schade gewesen, sich derselben zu entäußern, um nicht täglich die wenigen Paras zu erlegen, mit welchen augenblicklich die Cajiks des Bosporus besteuert waren.

Es war jetzt gegen Mittag. Schon seit drei Stunden waren der Herr des Hauses und seine Gäste in der wundervollen Villa angelangt. Nachdem sie Alle etwas Toilette gewechselt, ruhten sie von den Anstrengungen und Aufregungen dieser Reise aus. Keraban nicht wenig stolz auf seinen Erfolg und über den Muzir und seinen ungerechten Zoll spottend; Ahmet und Amasia glücklich wie zwei Brautleute, deren Herzensbund bald für immer besiegelt werden soll; Nedjeb, die vor innerer Befriedigung gar nicht aus dem Lachen herauskam; Bruno sehr zufrieden, als er sich sagte, daß er schon wieder etwas Fett ansetze, aber beunruhigt wegen seines Herrn; Nizib immer gefaßt und ergeben, wenn sich auch sonst etwas ereignete; der Seigneur Yanar wilder als je wenn auch Niemand wußte, weshalb; die edle Sarabul ebenso herrisch, wie sie nur in der Hauptstadt von Kurdistan hätte auftreten können, und Van Mitten endlich ziem lich befangen, wegen der bevorstehenden Lösung seines Abenteuers.

Wenn Bruno eine gewisse Zunahme seines Embonpoints zu bemerken glaubte, hatte er wenigstens Ursache dazu. Er hatte bereits ein ebenso reichliches wie treffliches Frühstück verzehrt. Es war das zwar nicht das berühmte Abendessen, zu dem der Seigneur Keraban seinen Freund Van Mitten vor nun sechs Wochen eingeladen, doch wenn sich's jetzt auch in ein Frühstück verwandelt hatte, so erwies es sich darum nicht minder vorzüglich. Eben hatten sich alle Reisegenossen in dem reizendsten Salon der Villa versammelt, dessen weite Fensteröffnungen ein entzückendes Bild des Bosporus übersehen ließen, und wünschten sich in lebhaftem Gespräche Glück zu der Ueberstehung so mannigfacher Gefahren der letzten Zeit.

»Mein lieber Van Mitten, sagte der Seigneur Keraban, der hier- und doxthin ging und Jedem einmal die Hand drückte, ich hatte Sie freilich zu einer eigentlichen Mahlzeit eingeladen, aber Sie dürfen mir nun schon nicht zürnen, wenn die augenblickliche Morgenstunde uns nöthigt...

– Ich habe mich nicht zu beklagen, Freund Keraban, antwortete der Holländer. Ihr Koch hat ja Alles ganz ausgezeichnet herzurichten verstanden.

[387] – Ja, sehr gute Küche, wahrhaftig, ausgezeichnete Küche! ließ sich der Seigneur Yanar vernehmen, der, selbst für einen Kurden mit vortrefflichem Appetit, doch etwas zu viel gegessen hatte.

– In Kurdistan könnte man nichts Besseres bieten, setzte Sarabul hinzu, und wenn Sie, Seigneur Keraban, einmal nach Mossul kommen, um uns zu besuchen...

– Welche Frage! rief Keraban. Natürlich werd' ich kommen, werde Sie besuchen, Sie und meinen Freund Van Mitten.

– Und wir werden uns bemühen, Sie Ihre eigene Villa nicht vermissen zu lassen... so wenig, wie Sie sich nach Holland zurücksehnen sollen, setzte die liebenswürdige Frau, sich an ihren Verlobten wendend, hinzu.

– Wenigstens nicht an Ihrer Seite, edle Sarabul!...« glaubte Van Mitten antworten zu müssen, obwohl er nicht dazu kam, seinen Satz zu vollenden.

Während sich die stolze Kurdin nach der anderen Seite des Salons begab, deren Fenster Aussicht nach dem Bosporus boten, sagte er zu Keraban:

»Ich meine, der Augenblick ist gekommen, ihr begreiflich zu machen, daß diese versprochene Heirat ohne Bedeutung ist.

– Ebenso bedeutungslos, Van Mitten, als wenn die Verlobung gar nicht stattgefunden hätte.

– Sie werden mich wohl ein wenig unterstützen, Keraban, bei dieser heiklen Geschichte, welche nicht so glatt ablaufen dürfte.

– Hm!... Freund Van Mitten, antwortete Keraban, das sind vertrauliche Angelegenheiten... welche am besten unter vier Augen abgemacht werden.

– Zum Teufel!« entfuhr es dem Holländer.

Er setzte sich damit in eine Ecke, um nachzudenken, wie sich die Sache am besten einfädeln ließe.

»Der brave Van Mitten, sagte da Keraban zu seinem Neffen, er wird mit seiner Kurdin eine hübsche Scene erleben!

– Wir dürfen aber nicht vergessen, erwiderte Ahmet, daß nur seine Ergebung gegen uns ihn sogar bestimmt hat, scheinbar auf diese Heirat einzugehen.

– Wir werden ihm natürlich auch zu Hilfe kommen, lieber Neffe! Bah! Er war ja schon verheiratet, als er, um einer Gefängnißstrafe zu entgehen, sich gezwungen zu dieser neuen Ehe verpflichtete, und für einen Abendländer ist das ein nicht zu beseitigendes Hinderniß. Es ist also nichts zu fürchten... wirklich nichts.

[388] – Ich weiß es, lieber Onkel, doch wenn Madame Sarabul diesen Dolchstoß mitten in's Herz bekommt, wird sie wohl wie ein verwundeter Panther auffahren...Und dazu der Schwager Yanar, der verspricht eine Pulverexplosion obendrein.

– Bei Mohammed, wir werden ihnen schon Vernunft beizubringen wissen! Uebrigens hat sich Van Mitten jenes sogenannten Verbrechens gar nicht schuldig gemacht, und jedenfalls ist er in der Karawanserai von Rissar der edlen Sarabul nicht im Geringsten zu nahe getreten.

– Gewiß nicht, lieber Onkel; es liegt ja auf der Hand, daß diese zärtliche Witwe nur einen Vorwand suchte, wieder zu einem Manne zu kommen.

– Ganz recht, Ahmet. Und da hat sie eben nicht gezögert, ihre Hand auf den guten Van Mitten zu legen.

– Eine Eisenhand, Onkel Keraban!

– Nein, eine von Stahl! erwiderte Keraban.

– Aber es scheint nun doch rathsam, lieber Onkel, diese falsche Heirat baldigst rückgängig zu machen.

– Es ist wohl auch rathsam, aus einer anderen Verlobung eine wirkliche Ehe zu machen, nicht wahr? entgegnete Keraban, indem er seine Hände gegen einander rieb, als wären sie mit Seife bestrichen.

– Ja... die meinige! sagte Ahmet.

– Die unsere! setzte das junge Mädchen, welche eben herankam, hinzu. Haben wir es nicht redlich verdient?

– Redlich und ehrlich verdient, sagte Selim.

– Ja wohl, meine kleine Amasia, stimmte Keraban ein, Ihr habt es zehnmal, hundertmal, tausendmal verdient! Ach, liebes Kind, wenn ich bedenke, daß Du in Folge meiner Starrköpfigkeit bald so vieles...

– Schon gut, fiel Ahmet ein, sprechen wir davon nicht mehr.

– Nein, niemals, Onkel Keraban, bat das junge Mädchen, indem sie ihm den Mund mit ihrem niedlichen Händchen schloß.

– Ich habe auch, fuhr Keraban fort, das Gelübde abgelegt – ja ein wirkliches Gelübde abgelegt – bei keiner Gelegenheit wieder meinen Kopf so trotzig aufzusetzen.

– Das muß ich erst sehen, um es zu glauben! rief Nedjeb, welche dabei hell auflachte.

– He?... Was hat sie, die kleine spöttische Nedjeb?

[389] – O nichts, Seigneur Keraban.

– Ja wahrhaftig, nahm dieser wieder das Wort... ich will nie wieder so fest auf eignem Beschlusse beharren, außer bei dem, Euch beide stets recht lieb zu haben!

– Der Seigneur Keraban sollte darauf verzichten, der starrköpfigste aller Menschen zu sein! murmelte Bruno.

– Das geschieht einmal, wenn er keinen Kopf mehr hat, antwortete Nizib.

– Und auch dann bleibt er's noch!« fügte der Diener Van Mitten's hinzu.

Inzwischen hatte sich die edle Kurdin ihrem Verlobten genähert, der noch immer tief in Nachdenken versunken in seiner Ecke saß und, was ihm oblag, immer schwieriger fand, weil er den Streit allein ausfechten sollte.

»Was haben Sie denn, Seigneur Van Mitten? fragte sie ihn. Ich finde Sie sehr nachdenklich.

– Ja, wahrhaftig, Schwager, bestätigte der Seigneur Yanar. Was machen Sie denn da? Sie haben uns doch, mein' ich, nicht nach Scutari mitgenommen, um hier nichts zu sehen? Zeigen Sie uns den Bosporus, wie wir Ihnen in einigen Tagen Kurdistan zeigen werden!«

Bei Erwähnung dieses gefürchteten Namens sprang der Holländer in die Höhe, als würde er vom Schlage einer elektrischen Säule emporgeschnellt.

»Nun, so kommen Sie doch, Seigneur Van Mitten, fuhr Sarabul fort, während sie ihn zum Aufstehen nöthigte.

– Ganz zu Ihrem Befehl... schöne Sarabul! Ich stehe vollständig zu Ihren Diensten,« antwortete Van Mitten.

Innerlich aber sagte er sich immer und immer wieder:

»Wie soll ich's ihr beibringen?«...

Die junge Zigeunerin hatte eben eines der großen Fenster des Salons geöffnet, an dem reiche Gardinen zum Schutze gegen die Sonne angebracht waren, und rief erfreut:

»Sehen Sie doch,... sehen Sie doch!... Ganz Scutari ist in großer Aufregung!... Das wäre herrlich, heute ein wenig darunter zu lustwandeln!«

Die Gäste der Villa waren an die Fenster herangetreten.

»Ja wirklich, sagte Keraban, der Bosporus ist mit bewimpelten Fahrzeugen bedeckt. Auf den Plätzen und in den Straßen sehe ich Akrobaten und Jongleurs... Auch die Musik ertönt herauf, und die Quais sind voller Menschen, wie bei einem Schauspiele.

[390] – Ja, sagte Selim, die Stadt feiert offenbar ein Fest.

– Ich hoffe, das wird kein Hinderniß sein, auch unsere Hochzeit zu feiern, bemerkte Ahmet.

– Nein, gewiß nicht, versicherte der Seigneur Keraban. Wir wollen in Scutari die Festlichkeiten von Trapezunt nachahmen, die zu Ehren unseres Freundes Van Mitten arrangirt zu sein schienen.

– Er wird mich aufziehen, bis zum Ende, murmelte der Holländer, doch das liegt so in seinem Blute, und man darf ihm deshalb nicht zürnen.

– Lieber Freund, ließ sich jetzt Selim vernehmen, beschäftigen wir uns ohne Zögern mit der wichtigsten Angelegenheit. Es ist der letzte Tag, heute oder...

– Wir werden ihn schon nicht vergessen, antwortete Keraban.

– Ich gehe zu dem Richter von Scutari, um den Ehevertrag vorbereiten zu lassen.

– Wir werden uns dort einstellen, antwortete Ahmet. Du weißt, lieber Onkel, daß Deine Anwesenheit unentbehrlich ist...

– Fast ebenso wie die Deinige! rief Keraban, diese Worte mit wohlwollendem Lachen begleitend.

– Ja, lieber Onkel, wenn Du willst, sogar noch unentbehrlicher... denn als Vormund mußt Du Deine Einwilligung geben.

– Nun gut, sagte Selim, in einer Stunde treffen wir uns bei dem Richter von Scutari!«

Er verließ den Salon, als Ahmet, sich an das junge Mädchen wendend, dieser zurief:

»Nachher, nach der Unterzeichnung bei dem Richter, liebe Amasia, begeben wir uns zum Iman, der uns seinen besten Segen ertheilen wird, und dann...

– Dann sind wir verheiratet! rief Nedjeb, als ob es sich um sie gehandelt hätte.

–Mein theuerster Ahmet!« flüsterte das junge Mädchen.

Währenddem hatte sich die edle Sarabul noch einmal Van Mitten genähert, der sich, womöglich noch nachdenklicher als vorher, in eine andere Ecke des Salons gesetzt hatte.

»Sollen wir nicht, sagte sie, bis zur Zeit der Ceremonie ein wenig nach dem Bosporus hinuntergehen?

– Nach dem Bosporus?... antwortete Van Mitten ganz verdutzt. Sie sprechen vom Bosporus?


[391]
Sie ruhten von den Anstrengungen und Aufregungen dieser Reise aus. (S. 387.)

– Ja, ja... vom Bosporus! wiederholte der Seigneur Yanak. Es sieht ja fast aus, als ob Sie das gar nicht verständen?

– Doch... doch!... Ich bin ja bereit, antwortete Van Mitten, der sich unter der kräftig zufassenden Hand seines Schwagers erhob. Ja wohl... nach dem Bosporus!... Vorher aber möcht' ich... wünscht' ich...

– Was wünschten Sie? fragte Sarabul.

– Ich würde mich glücklich schätzen, mit Ihnen, edle Sarabul, ein Gespräch unter vier Augen haben zu können.


Eine Straße in Scutari. (S. 386.)

– Ein Gespräch unter vier Augen?

– Gut, ich verlasse Euch also, sagte Yanar.

– Nein, bleibe, lieber Bruder, antwortete Sarabul, [392] die ihren Verlobten scharf ansah, bleibe!... Ich habe so eine Ahnung, daß Deine Gegenwart nicht unnütz sein könnte

– Bei Mohammed, wie wird er sich aus der Sache herauswickeln? murmelte Keraban seinem Neffen in's Ohr.

– Das wird hart hergehen! sagte Ahmet.

[393] – Wir wollen uns nicht entfernen, um Van Mitten im Nothfall Beistand zu leisten.

– Das steht fest, jetzt geht er in Stücke!« murmelte Bruno.

Der Seigneur Keraban, Ahmet, Amasia und Nedjeb, Bruno und Nizib zogen sich ein wenig durch die Thür zurück, um den streitenden Parteien Platz zu lassen.

»Nur Muth, Van Mitten, sagte Keraban, der im Vorübergehen seinem Freunde die Hand drückte Ich gehe nicht fort, sondern werde im Nebenzimmer bleiben, um über Sie zu wachen.

– Muth, Mynheer, redete ihm auch Bruno zu, oder es droht Ihnen Kurdistan!«

Kurz darauf befanden sich die edle Kurdin, Van Mitten und der Seigneur Yanar allein im Salon, und der Holländer, der sich verlegen hinter den Ohren kratzte, sagte noch für sich in jämmerlichem Tone:

»Wenn ich nur in aller Welt den rechten Anfang wüßte!«

Sarabul trat ohne Scheu auf ihn zu:

»Was haben Sie uns zu sagen, Seigneur Van Mitten? fragte sie in hinreichend ruhigem Tone, um das Gespräch nicht gleich in einen Wortwechsel ausarten zu lassen.

– Nun denn, sprechen Sie! setzte Yanar etwas schroffer hinzu.

– Wollen wir uns nicht setzen? sagte Van Mitten, der schon die Beine unter sich schwanken fühlte.

– Was man im Sitzen aussprechen kann, kann man auch im Stehen sagen, erwiderte Sarabul. Wir sind ganz Ohr!«

Van Mitten nahm seinen ganzen Muth zusammen und begann mit folgender Phrase, deren Worte eigens für Leute, die sich in schwerer Verlegenheit befinden, zusammengesucht schienen:

»Schöne Sarabul, seien Sie überzeugt, daß... ich zunächst... und sehr gegen meinen Willen... lebhaft beklage...

– Sie beklagen?... unterbrach ihn die herrische Frau. Was beklagen Sie denn?... Etwa unsere Heirat?... Diese bildet Alles in Allem doch nur eine unumgängliche Wiederherstellung...

– Ja, ja, Wiederherstellung!... Wiederherstellung! wagte Van Mitten, wenn auch nur mit leiser Stimme einzufallen

– Und ich beklage das auch... setzte Sarabul energisch hinzu, ja, sicherlich!

[394] – Ah, Sie beklagen es?...

– Nun, ich bedauere wenigstens, daß der Verwegene, der in der Karawanserai von Rissar in mein Zimmer eingedrungen, nicht der Seigneur Ahmet gewesen ist!«...

Die trostbedürftige Witwe mochte wohl die Wahrheit sprechen, und ihr Bedauern erscheint ja dann erklärlich.

»Nicht einmal der Seigneur Keraban! fuhr sie fort, wenigstens wäre das ein Mann gewesen, den ich lieber geheiratet hätte...

– Gut gesprochen, liebe Schwester, bemerkte der Seigneur Yanar.

– Lieber als...

– Noch besser, liebe Schwester, obgleich Du Deinen Gedanken nicht vollständig auszusprechen glaubst.

– Erlauben Sie... begann jetzt Van Mitten gegenüber einer Bemerkung, die ihn persönlich verletzen mußte.

– Wer hätte je glauben können, daß der Urheber dieser Unthat ein in Eis conservirter Holländer wäre!

– Nun, bitte, ist es genug; es empört mich! rief Van Mitten, den dieser Vergleich mit einer Conserve selbst erstarren machte Zunächst, Madame Sarabul, konnte von einem Attentate gar nicht die Rede sein.

– Wirklich nicht? warf Yanar dazwischen.

– Nein, versicherte Van Mitten, es handelt sich nur um einen Irrthum, oder vielmehr um eine falsche, wenn nicht gar hinterlistige Zurechtweisung, in Folge deren ich mich bezüglich des Zimmers täuschte.

– Was Sie sagen! bemerkte Sarabul.

– Ein einfaches Mißverständniß, das ich, um einer Gefängnißstrafe zu entgehen, durch eine übereilte Verheiratung büßen soll.

– Uebereilt oder nicht... entgegnete Sarabul, Sie sind nichts destoweniger verheiratet, und zwar mit mir. Glauben Sie sicher, mein Herr, was in Trapezunt angefangen wurde, wird in Kurdistan zu Ende geführt werden.

– Ja, reden wir gar von Kurdistan... antwortete Van Mitten, der allmählich in die Wolle kam.

– Und da ich wahrnehme, daß die Gesellschaft Ihrer Freunde Sie mir gegenüber keineswegs liebenswürdiger macht, werden wir Scutari noch heute verlassen und nach Mossul abreisen, wo ich Ihren Adern schon etwas kurdisches Blut einzuimpfen wissen werde.

[395] – Ich erhebe Einspruch! rief Van Mitten.

– Noch ein Wort und wir reisen auf der Stelle!

– Sie mögen abreisen, Madame Sarabul, antwortete Van Mitten, dessen Stimme einen leichten, energischen Anflug annahm, Sie mögen abreisen, wann es Ihnen beliebt, und es wird Niemand einfallen, Sie zu halten. Ich aber, ich reife nicht mit!

– Sie wollen nicht mitreisen? rief Sarabul, außer sich über den Widerstand eines Lammes zwischen zwei Tigern.

– Nein!

– Und Sie haben die Anmaßung, sich uns zu widersetzen? fragte der Seigneur Yanar, indem er die Arme kreuzte.

– Ich habe diese Anmaßung!

– Mir gegenüber... und ihr, einer Kurdin!

– Wissen Sie wohl, mein Herr Holländer, sagte die edle Sarabul, auf ihren Verlobten zutretend, wissen Sie, welche Frau ich bin... und welche ich nicht bin?... So erfahren Sie, daß ich schon mit fünfzehn Jahren zum ersten Male Witwe war!

– Ja... schon mit fünfzehn Jahren!... wiederholte der Seigneur Yanar, und wenn man sich das frühzeitig angewöhnt hat...

– Zugegeben, Madame, erwiderte Van Mitten; aber wissen Sie auch, daß ich Ihnen keine Gelegenheit geben werde, das je wieder zu werden, trotz der Uebung, die Sie darin haben mögen?

– Das heißt?

– Das heißt, meine Witwe zu werden!

– Herr Van Mitten, rief Yanar, die Hand schon an den Yatagan legend, dazu genügt ein Stoß...

– Darin irren Sie, Seigneur Yanar, und auch Ihre Waffe würde aus Madame Sarabul noch lange keine Witwe machen... aus dem einfachen Grunde, weil ich noch niemals ihr Ehemann gewesen bin

– Wie?

– Und weil unsere Heirat null und nichtig ist.

– Null und nichtig?

– Weil, wenn Madame Sarabul das Glück hat, Witwe ihrer früheren Gatten zu sein, ich doch nicht das Glück habe, Witwer meiner ersten Frau zu sein.

[396] – Verheiratet!... Er war verheiratet!... rief die edle Kurdin, durch dieses zermalmende Geständniß ganz außer sich gebracht.

– Ja! erklärte Van Mitten, der nun einmal im Zuge war, ja wohl, verheiratet! Und nur um meine Freunde zu retten, um zu verhindern, daß diese in der Karawanserai von Rissar verhaftet wurden, habe ich mich geopfert.

– Geopfert!... stöhnte Sarabul, welche dieses Wort wiederholte, während sie sich auf einen Divan niedersinken ließ.

– Wohl bewußt, daß aus dieser Heirat nichts werden könnte, fuhr Van Mitten fort, da die erste Frau Van Mitten ebenso wenig todt ist, wie ich Witwer bin, und sie mich in Holland erwartet!«

Die empörte falsche Gattin hatte sich wieder erhoben und wendete sich an Yanar.

»Du hörst es, Bruder! sagte sie.

– Ich hör' es!

– Man treibt mit Deiner Schwester ein Spiel!

– Empörend!

– Und dieser Verbrecher lebt noch immer...

– Er wird nur noch wenige Augenblicke das Licht sehen.

– Ja, Sie sind von Sinnen! rief Van Mitten, den die drohende Haltung des kurdischen Geschwisterpaares ernsthaft beunruhigte.

– Ich werde Dich rächen, Schwester! rief der Seigneur Yanar, der mit erhobener Hand auf den Holländer zuging.

– Nein, ich räche mich selbst!«

Mit diesen Worten stürzte sich die edle Sarabul auf Van Mitten und stieß ein schreckliches Wuthgeschrei aus, das zum Glück auch draußen gehört wurde.

[397]
15. Capitel
Fünfzehntes Capitel.
In welchem man den Seigneur Karaban noch starrköpfiger als je sehen wird.

Sofort öffnete sich die Thür des Salons; der Seigneur Keraban, Ahmet, Amasia, Nedjeb und Bruno erschienen auf der Schwelle.

Keraban gelang es schnell, Van Mitten zu befreien.

»Oho, Madame, sagte Ahmet, man erdrosselt nicht die Leute... wegen eines Mißverständnisses!

– Zum Teufel, murmelte Bruno, da kamen wir zur höchsten Zeit!

– Armer Herr Van Mitten! klagte Amasia, welche eine aufrichtige Empfindung von Mitleid für ihren Reisegefährten hegte.

– Das ist entschieden keine Frau, die für ihn paßt! meinte Nedjeb mit dem Kopfe schüttelnd Inzwischen erholte sich Van Mitten ein wenig.

– Es ging wohl hart her? fragte Keraban.

– Noch wenig mehr und es war um mich geschehen!« antwortete Van Mitten.

Da drang die edle Sarabul auf den Seigneur Keraban ein und platzte ihm gerade in's Gesicht heraus:

»Waren Sie es also, der sich einverstanden erklärte mit dieser...

– Mystification, erwiderte Keraban in höchst liebenswürdigem Tone. Das ist das richtige Wort, Mystification.

– Ich werde mich rächen!... Noch giebt es Richter in Constantinopel!

– Schöne Sarabul, entgegnete der Seigneur Keraban, klagen Sie Niemand als sich selbst an! Sie wollten unter dem Vorwande eines entehrenden Angriffs uns verhaften lassen und hätten dadurch den Endzweck unserer Reise in Frage gestellt. Nun, bei Allah, man windet sich aus solcher Lage, wie es eben geht. Wir haben uns derselben durch eine vorgebliche Heirat entzogen und hatten gewiß ein Recht zu dieser Wiedervergeltung!«

Bei dieser Erklärung sank Sarabul noch einmal auf einen Divan nieder auch sie unterlag einem jener Nervenanfälle, welche, selbst in Kurdistan, ein Geheimniß der Frauen sind.

[398] Nedjeb und Amasia beeilten sich, ihr beizustehen

»Ich gehe davon!... Ich entfliehe!... rief sie während der Höhe der Krisis.

– Glückliche Reise!« murmelte Bruno.

In diesem Augenblick erschien eben Nizib auf der Schwelle der Salonthür.

»Was giebt es? fragte Keraban.

– Soeben ist eine Depesche aus dem Comptoir in Galata eingetroffen, antwortete Nizib.

– An wen? fragte Keraban.

– An Herrn Van Mitten, Herr. Sie ist erst heute hier angelangt.

– Geben Sie her,« sagte Van Mitten.

Er ergriff das Telegramm, erbrach es, und sah zuerst nach der Unterschrift.

»Es kommt von meinem ersten Commis in Rotterdam,« sagte er.

Dann las er erst den Text.

»Madame Van Mitten... seit fünf Wochen... verschieden...«

Die Depesche in der Hand haltend, stand Van Mitten wie vom Donner gerührt und – warum es verschweigen – seine Augen füllten sich plötzlich mit Thränen.

Bei den letzten Worten sprang Sarabul aber wie ein von Federkraft emporgeschnellter Teufel wieder in die Höhe.

»Fünf Wochen! rief sie hochentzückt. Er sagte fünf Wochen!

– Welche Unklugheit! murmelte Ahmet, warum hatte er nöthig, diese Zeitangabe gerade jetzt so laut hinauszurufen?

– Es ist bekanntlich zehn Tage her, fuhr Sarabul triumphirend fort, daß ich Ihnen die Ehre anthat, mich mit Ihnen zu verloben...!

– Möge Sie Mohammed erwürgen! rief Keraban, vielleicht etwas lauter, als er beabsichtigt hatte.

– Sie waren schon Witwer, mein Herr Gemahl! erklärte Sarabul mit Siegeszuversicht.


Der Friedhof in Scutari (S. 386.)

– Vollständig Witwer, mein Herr Schwager! setzte Yanar hinzu.

– Und unsere Heirat ist giltig!«

Niedergeschmettert von der Logik dieser Beweisgründe war nun Van Mitten auf den Divan gesunken.

»Der arme Mann, sagte Ahmet zu seinem Onkel, es bleibt ihm nichts weiter übrig, als sich in den Bosporus zu stürzen!

[399] – So? antwortete Keraban spöttisch, und sie spränge ihm doch nach, um ihn... aus Rache... zu retten!«

Die edle Sarabul hatte Den, welchen sie nun als rechtmäßiges Eigenthum beanspruchte, am Arme ergriffen.

»Stehen Sie auf, sagte sie.

– Ja, theure Sarabul, antwortete Van Mitten, den Kopf sinken lassend... ich bin bereit!

– Und folgen Sie uns! setzte Yanar hinzu.

[400] Ja, verehrter Schwager! erwiderte Van Mitten ganz schachmatt. Bereit, Ihnen zu folgen... wohin sie wollen!

– Nach Constantinopel, wo wir uns auf dem nächsten Dampfer einschiffen werden, sagte Sarabul

Nach?...

– Nach Kurdistan! erklärte Yanar.

– Nach Kurdistan?... Du wirst mich begleiten, Bruno!... Dort wird vortrefflich gegessen... Das wird für Dich eine verdiente Wiedervergeltung sein!«

[401] Bruno konnte nur ein zustimmendes Zeichen mit dem Kopfe machen.

Die edle Sarabul und der Seigneur Yanar führten darauf den unglücklichen Holländer, den seine Freunde vergeblich zurückzuhalten versuchten, hinaus, während sein treuer Diener murmelnd nachfolgte.


»Du wirst mich begleiten, Bruno!« (S. 401.)

»Hab' ich es nicht vorausgesagt, daß ihm noch ein Unglück zustoßen würde!« brummte er.

Die anderen Anwesenden, und sogar Keraban selbst, standen vernichtet und stumm vor diesem Donnerschlage.

»Nun muß er sich verheiraten! rief Amasia.

– Aus Ergebenheit für uns, meinte Ahmet.

– Und dieses Mal in allem Ernste, setzte Nedjeb hinzu.

– In Kurdistan, sagte Keraban höchst ernsthaft, wird ihm nur ein Hilfsmittel zu Gebote stehen.

– Und welches, lieber Onkel?

– Nun, sehr einfach das, wenn er sie bekommen kann, gleich noch ein Dutzend solcher Frauen zu heiraten!«

Da öffnete sich schon die Thür, und herein stürmte Selim mit sehr erregtem Gesicht und keuchend, als ob er sich außer Athem gelaufen habe.

»Was ist Dir, lieber Vater? fragte Amasia.

– Was ist geschehen? rief Ahmet.

– Nun, liebe Freunde, es wird unmöglich sein, die Hochzeit Amasias und Ahmets zu feiern...

– Was sagst Du?

– Wenigstens nicht in Scutari, fuhr Selim fort.

– Nicht in Scutari?

– Sie kann nur in Constantinopel stattfinden!

– In Constantinopel?... platzte Keraban heraus, der bei dieser Neuigkeit stark die Ohren spitzte. Und weshalb?

– Weil der Richter von Scutari sich unbedingt weigert, den Heiratscontract aufzunehmen.

– Wie?... Er weigert sich?... sagte Ahmet.

– Ja... unter dem Vorwande, der Wohnsitz Kera ban's und folglich auch Ahmets sei nicht Scutari sondern Constantinopel!

– Was, Constantinopel? wiederholte Keraban, der schon unheildrohend die Augenbrauen runzelte.

[402] – Und dazu, fuhr Selim fort, ist heute der letzte für die Hochzeit meiner Tochter zulässige Tag, um in Besitz des ihr vermachten Vermögens zu kommen. Wie müssen uns also ohne Zögern zu dem anderen Richter begeben, der den Contract in Constantinopel aufnehmen wird.

– Wir wollen sofort hinüber fahren! rief Ahmet, schon auf die Thür zugehend.

– Fort! Fort! drängte Amasia, die ihm ohne Zögern nachfolgte.

– Sollte das für Sie, Seigneur Keraban, ein Hinderniß sein, uns zu begleiten?« fragte das junge Mädchen.

Der Seigneur Keraban blieb regungslos und schweigend stehen.

»Nun, lieber Onkel? sagte Ahmet, noch einmal umkehrend.

– Sie kommen nicht mit? fragte Selim.

– Muß ich etwa gar Gewalt brauchen? setzte Amasia hinzu, indem sie ihn sanft am Arme faßte.

– Ich habe ein Cajik bestellt, meldete Selim, und wir brauchen also nur über den Bosporus zu fahren.

– Ueber den Bosporus!« rief Keraban.

Dann fuhr er in trockenem Tone fort:

»Einen Augenblick, lieber Freund; wird die Steuer von zehn Paras noch von Jedermann erhoben, der über den Bosporus fährt?

– Ja, gewiß, Freund Keraban, sagte Selim. Jetzt aber, wo Sie den türkischen Beamten doch einmal den Streich gespielt haben, von Constantinopel nach Scutari ohne Zahlung einer Steuer zu gehen, werden Sie, denk' ich, sich nicht weigern...

– Ich weig're mich! erklärte Keraban rund heraus.

– Dann wird man Sie nicht hinüber lassen, wandte Selim ein.

– Mag sein!... So werd' ich nicht hinüber gehen!

– Und unsere Heirat?... warf Ahmet ein, unsere Hochzeit, welche unbedingt heute stattfinden muß?

– Ihr werdet Euch ohne mich verheiraten.

– Das geht nicht an! Du bist mein Vormund gewesen, Onkel Keraban, und weißt recht gut, daß Deine Anwesenheit unbedingt erforderlich ist!

– Nun, Ahmet, so warte, bis ich meinen Wohnsitz nach Scutari verlegt habe... Dann kann ich Dich in Scutari verheiraten.«

Alle diese Antworten wurden in so entschiedenem Tone ertheilt, daß sie nur wenig Hoffnung übrig ließen, die starrsinnige Persönlichkeit anderen Anschauungen geneigt zu machen.

[403] »Freund Keraban, fing Selim noch einmal an, es ist heute der letzte Tag... Sie begreifen, daß das ganze, meiner Tochter zufallende Vermögen verloren wäre, wenn...«

Keraban machte mit dem Kopfe ein verneinendes Zeichen, das von einer noch ausdrucksvolleren Handbewegung begleitet wurde.

»Liebster Onkel, rief Ahmet, Du wirst doch nicht wollen...

– Wenn ich gezwungen sein soll, zehn Paras zu erlegen, werde ich niemals, nein, niemals über den Bosporus fahren! Beim Barte des Propheten, ich reife lieber noch einmal um's Schwarze Meer, um nach Constantinopel zu gelangen!«

Wahrlich, der Trotzkopf wäre der Mann dazu gewesen, eine solche Thorheit zu begehen.

»Liebster Onkel, fuhr Ahmet fort, Du würdest damit ein Unrecht begehen!... Der Starrsinn unter den vorliegenden Umständen, verzeihe, daß ich Dir das sage, ist nur bei einem Manne, wie bei Dir, denkbar!... Du schreckst nicht davor zurück, Diejenigen unglücklich zu machen, welche Dir stets mit warmer Liebe zugethan gewesen sind!... Das ist nicht recht.

– Ahmet, achte etwas auf Deine Worte, antwortete Keraban mit dumpfem Tone, der einen bevorstehenden Zornesausbruch verkündete.

– Nein, lieber Onkel, o nein! o nein!... Das Herz fließt mir über, und da wird mich nichts hindern, zu sprechen!... Das... das thut kein braver Mann!

– Lieber Ahmet, mischte sich da Amasia ein, beruhige Dich! Sprich nicht so von Deinem Onkel!... Wenn das Vermögen, auf das zu rechnen Du alle Ursache hattest, Dir entgeht... so verzichte auf unsere Verbindung!

– Ich soll auf Dich verzichten, antwortete Ahmet, das junge Mädchen innig an sein Herz drückend. Niemals!... Nein!... Komm! Verlassen wir diese Stadt, um niemals hierher zurückzukehren! Es wird uns wohl noch so viel übrig bleiben, um die zehn Paras für die Fahrt nach Constantinopel aufzubringen!«

In einer Erregung, die er nicht zu bemeistern vermochte, zog Ahmet das junge Mädchen nach der Thür.

»Keraban!... sagte Selim, der noch zum letzten Male versuchen wollte, seinen Freund auf andere Gedanken zu bringen.

– Lassen Sie mich, Selim, lassen Sie mich in Ruhe!

[404] – Ach, komm, Vater, wir wollen gehen!« schluchzte Amasia, die auf Keraban noch einen thränenverschleierten Blick zurückwarf.

Schon begab sie sich mit Ahmet nach der Thür des Salons, als dieser doch noch einmal stehen blieb.

»Zum letzten Male, lieber Onkel, sagte er, Du schlägst es ab, uns zum Richter nach Constantinopel zu begleiten, wo Deine Anwesenheit bei unserer Vermählung unentbehrlich ist?

– Ich schlage nichts Anderes ab, erklärte Keraban, voll Unmuth mit dem Fuße stampfend, als mich dieser ungerechten Steuer von zehn Paras zu unterwerfen.

– Keraban! redete ihm Selim zu.

– Nein, bei Allah! Nimmermehr!

– So leb' wohl, lieber Onkel, Dein Starrsinn wird uns ein erhofftes Vermögen kosten!... Du ruinirst Die, welche Deine Nichte hatte werden sollen! Gut!... Es ist nicht das Vermögen, welches ich bedauere!... Aber unser Glück hast Du verzögert... Wir werden uns niemals wiedersehen!«

Der junge Mann zog Amasia mit sich fort. Selim, Nedjeb und Nizib folgten ihm; Alle verließen die Villa und die Stadt, und wenige Augenblicke später befanden sie sich schon in einem Cajik, um nach Constantinopel zurückzukehren.

»Nein, bei Allah! Nein, bei Mohammed! knurrte Keraban für sich, das wäre meiner unwürdig! Erst eine Reise um das Schwarze Meer ausführen, um jene Steuer nicht zu zahlen, und nach der Rückkehr die zehn Paras doch aus der Tasche zu holen!... Nein!... Lieber setze ich keinen Fuß wieder auf den Boden Constantinopels!... Ich verkaufe mein Haus in Galata... ich trete mein Geschäft ab... überlasse Ahmet mein ganzes Vermögen, um ihm das, welches Amasia durch mich verliert, zu ersetzen!... Er wird reich... ich, ich werde arm sein, aber ich gebe nicht nach! Nein, ich gebe nicht nach!«

Während er so mit sich sprach, wurde der Kampf, der in seinem Innern tobte, nur desto heftiger.

»Nachgeben!... Bezahlen! wiederholte er. Ich... Keraban...! Ich soll vor den Polizeisoldaten hintreten, der mich zuerst herausgefordert... der mich abreisen sah... meine Rückkehr erwartete... der mich in's Gesicht verspotten wird, indem er mir diese verhaßte Steuer abverlangt!... Nimmermehr!«

Immerhin hätte man deutlich sehen können, daß Keraban sich nur gegen seine eigene Ueberzeugung wehrte und sehr wohl fühlte, wie die Folgen dieser[405] Starrköpfigkeit, welche ja im Grunde eine unsinnige war, auf Andere als auf ihn zurückfallen mußten.

»Ja, fuhr er fort, aber würde Ahmet das annehmen?... Er ist verzweifelt und wüthend über meinen Trotz davon gegangen!... Ich begreife ihn!... Er ist stolz!... Er wird von mir jetzt jedes Angebot zurückweisen!... Nun, ich bin doch von Natur ein Ehrenmann... Soll ich, eines albernen Entschlusses wegen, das Glück dieser jungen Leute auf's Spiel setzen?... O, möchte Mohammed den ganzen Divan erdrosseln und mit ihm alle Türken des neuen Regiments!«

Mit fieberhaften Schritten durchmaß der Seigneur Keraban seinen Salon Mit den Füßen stieß er alle Lehnsessel und Polsterstühle weit weg; er sachte nach einem zerbrechlichen Gegenstand, um seine Wuth zu kühlen, und bald lagen zwei Vasen vor ihm in Scherben Und immer und immer wieder kam er darauf zurück, sich zu sagen:

»Amasia... Ahmet... nein!... Ich kann nicht die Ursache ihres Unglücks werden... und noch dazu aus reiner Eigenliebe!... Die Vermählung verzögern, bedeutet vielleicht so viel, wie sie ganz verhindern!... Aber nachgeben... nachgeben... ich!... O, möge mir Allah zu Hilfe kommen!«

Mit dieser Anrufung stürzte der Seigneur Keraban, erfüllt von einer Wuth, welche sich weder durch Worte noch durch Bewegung mehr Luft machen kann, seiner Sinne kaum mächtig, aus dem Salon.

16. Capitel
Sechzehntes Capitel.
Worin es sich zeigt, daß der Zufall immer der geschickteste Helfer ist, um eine verfahrene Sache wieder in's Geleise zu bringen.

Wenn Scutari jetzt in festlicher Aufregung war und sich auf den Quais, vom Hafen bis jenseits des Kiosk des Sultans, große Menschenmengen hin- und herbewegten, so war das nicht min der auf der andern Seite der Meerenge der Fall, wo in Constantinopel auf den Quais von Galata von der [406] ersten Schiffsbrücke bis zu den Kasernen am Top-Hane-Platz Alles von Menschen wimmelte. Ebenso verschwand das Süßwasser Europas, welches den Hafen des Goldenen Hornes erfüllte, wie das Salzwasser des Bosporus unter einer Flottille von Cajiks, bewimpelten Fahrzeugen und Dampfschaluppen, alle vollgestopft mit Türken, Albanesen, Grieschen, mit Europäern oder Asiaten, welche unablässig zwischen den Ufern der beiden Continente hin und her fuhren.

Offenbar mußte es sich um ein anziehendes und seltenes Schauspiel handeln, das einen solchen Zusammenfluß von Zuschauern herbeizulocken vermocht hatte.

Als Ahmet und Selim, Amasia und Nedjeb, nach Erlegung der vielbekämpften Steuer, an der Terrasse von Top-Hane an's Land stiegen, sahen sie sich da plötzlich in lärmende Vergnügungen versetzt, an denen Theil zu nehmen sie eben nicht besonders gelaunt waren.

Da das Schauspiel aber – mochte es sein, welches es wollte – jedenfalls im Stande gewesen war, eine so große Menschenmenge herbeizuziehen, so erschien es sehr natürlich, daß der Seigneur Van Mitten – jetzt noch immer als vornehmer Kurde – seine Verlobte, die edle Sarabul, und sein Schwager, der Seigneur Yanar, in Begleitung des treuen Bruno, sich gleichfalls unter der Masse der Neugierigen befanden.

Ahmet fand also gleich am Quai seine alte Reisegesellschaft wieder. Führte hier Van Mitten seine neue Familie spazieren oder wurde er nicht vielmehr von dieser spazieren geführt? Das Letztere schien doch ungleich wahrscheinlicher.

Jedenfalls sagte Sarabul, als Ahmet in ihre Nähe kam, zu ihrem Verlobten:

»Ja, Seigneur Van Mitten, wir haben in Kurdistan noch weit schönere Feste!«

Und Van Mitten erwiderte in resignirtem Tone:

»Ich wage es gar nicht, das zu bezweifeln, schöne Sarabul!« darauf aber gab Yanar noch die trockene Antwort:

»Und Sie thun auch sehr wohl daran!«

Zuweilen ertönte auch da und dort ein Ausruf – etwa eine Kundgebung der Ungeduld – aus der Menschenmenge; Ahmet und Amasia schenkten dem ganzen Vorgange aber sehr wenig Aufmerksamkeit.


Sie befanden sich in einem Cajik. (S. 405.)

»Nein, liebste Amasia, sagte Ahmet, ich kannte meinen Onkel gewiß aus dem Grunde, aber ich hätte niemals geglaubt, daß er seinen Starrsinn bis zur Härte, die er heute an den Tag gelegt hat, treiben [407] könnte.

– Er wird also, meinte Nedjeb, niemals nach Constantinopel zurückkehren, so lange diese kleine Steuer noch erhoben wird?

– Er?... Niemals! versicherte Ahmet.

– Wenn ich es beklage, ein Vermögen zu verlieren, sagte Amasia, so ist es gewiß nicht um meinetwillen, mein geliebter Ahmet, wohl aber um Deinetwillen.


Storchi schob den Karren vor sich her. (S. 412.)

[408]

– Vergessen wir das... erwiderte Ahmet, und um es desto sicherer zu vergessen, um mit diesem unzugänglichen Onkel vollständig zu brechen, den ich bisher fast als Vater betrachtet hatte, verlassen wir Constantinopel und kehren nach Odessa zurück.

– O, dieser Keraban! rief Selim in gerechter Entrüstung. Das wäre der schlimmsten Strafe werth.

– Ja, meinte Nedjeb, so zum Beispiel der Gatte jener edlen' Kurdin zu werden! Warum hat er sie denn nicht geheiratet?...«

[409] Natürlich hörte Sarabul, welche mit dem frisch eroberten Verlobten beschäftigt war, weder diese unziemlichen Bemerkungen Nedjebs, noch die Antwort Selim's, welche lautete:

– Er?... Er hätte sie doch zuletzt zahm gemacht... wie er durch seinen unbeugsamen Starrsinn jedes wilde Thier bändigen würde.

– Das könnte wohl sein! murmelte Bruno trübsinnig. Vorläufig ist es aber mein armer Herr, der sich im Käfig gefangen hat!«

Ahmet und seine Begleiter nahmen übrigens an Allem, was auf den Hafendämmen Peras und des Goldenen Hornes vorging, nur sehr wenig Interesse. Bei ihrer Gemüthsstimmung waren sie nicht geneigt, an Volksbelustigungen theilzunehmen, und sie hörten es kaum, wie ein Türke zu einem andern sagte:

»Wahrhaftig, es ist ein verwegener Mann, dieser Storchi! Es zu wagen, den Bosporus in solcher Weise zu überschreiten.

– Ja wohl, erwiderte der Andere lachend, in einer Weise, welche die mit der Erhebung der Cajik-Steuer beauftragten Beamten schwerlich vorhergesehen haben!«

Wenn Ahmet sich auch gar nicht bemühte, auf diesen Gedankenaustausch zwischen den beiden Türken zu achten, so mußte er doch Antwort geben, als Jemand ihn unmittelbar anredete.

»Ah, da ist ja der Seigneur Ahmet!« tönte es plötzlich neben ihm.

Es war der Polizeihauptmann – derselbe, dessen Verbot den Seigneur Keraban zu einer Reise um das Schwarze Meer veranlaßt hatte – der diese Worte an ihn richtete.

»O, Sie sind es, mein Herr? antwortete Ahmet.

– Ja... und ich bringe Ihnen meinen aufrichtigen Glückwunsch. Ich höre soeben, daß der Seigneur Keraban sein Vorhaben wirklich durchgeführt hat; er ist nach Scutari gelangt, ohne den Bosporus zu überschreiten.

– Wie Sie sagen.

– Das ist heroisch! Um nicht zehn Paras zu bezahlen, hat er sich's mehrere Tausend Pfund kosten lassen.

– Ganz richtig!

– Und nun hat er etwas Rechtes erreicht! fuhr der Polizeihauptmann etwas ironisch fort. Die Steuer besteht noch immer, und wenn auch er noch bei seinem Starrsinn beharrt, wird ihm nichts übrig bleiben, als denselben Weg rückwärts zu machen, wenn er nach Constantinopel gelangen will.

[410] – Wenn ihm das gerade paßt, wird er es thun, entgegnete Ahmet, der trotz seines Unmuthes über den trotzigen Onkel doch nicht gelaunt war, die spöttelnden Bemerkungen des Polizeihauptmannes unerwidert anzuhören.

– Bah, er wird zuletzt doch nachgeben, fuhr dieser fort, und wird allein über den Bosporus kommen. Die Beamten überwachen aber alle Cajiks, wann und wo diese an's Land gehen. Und wenn er nicht herüber schwimmt, oder gar fliegt...

– Weshalb nicht, wenn ihm das passend erscheint?...« versetzte Ahmet sehr trocken.

Da wurde es plötzlich, als durchzucke Alle eine rege Neugier, unter der Menschenmenge lebendig und überall ließ sich ein lauteres Gemurmel hören. Alle Arme streckten sich in der Richtung nach einem Punkte in Scutari über den Bosporus. Alle Köpfe waren emporgewendet.

»Da kommt er!... Storchi!... Storchi!«

Ueberall rief man einander diese Worte zu.

Ahmet und Amasia, Selim und Nedjeb, Sarabul, Van Mitten und Yanar, sowie Bruno und Nizib befanden sich an der Ecke, welche der Quai des Goldenen Hornes an der Landungstreppe von Top-Hane bildet, und sie konnten bequem sehen, welch aufregendes Schauspiel hier der neuigkeitslüsternen Menge geboten wurde.

Ueber der Wasserfläche des Bosporus erhebt sich, ungefähr sechshundert Fuß vom Ufer Scutaris, ein Thurm, den man fälschlich den Leanderthurm nannte. In Wirklichkeit durchmaß der berühmte Schwimmer nämlich den Hellespont, d. h. die eigentliche Meerenge der Dardanellen zwischen Sestos und Abydos, um seine Hero, die reizende Priesterin der Venus, zu besuchen – ein Unternehmen, das vor ungefähr sechzig Jahren von Lord Byron nachgeahmt wurde, der so stolz, wie es nur ein Engländer sein kann, darüber war, die zwölfhundert Meter Entfernung zwischen beiden Ufern binnen einer Stunde und zehn Minuten schwimmend zurückgelegt zu haben.

Sollte diese Großthat einer Schwimmfahrt über den Bosporus etwa von einem Liebhaber wiederholt werden, dem der Ruhm des mythologischen Helden und der des Verfassers des »Korsaren« keine Ruhe ließ? – Nein.

Zwischen dem Ufer Scutaris und dem Leanderthurm – der neuerdings übrigens den Namen Keuz Kulessi, d. i. Thurm der Jungfrau, führt, war ein langes Seil ausgespannt. Hier hatte dasselbe einen festen Stützpunkt und verlief [411] dann in einer Länge von dreizehnhundert Metern über die ganze Meerenge, sein Ende aber war an einem, auf der Ecke des Quais von Galata und des Top-Hane-Platzes errichteten soliden Holzgerüst befestigt.

Auf diesem Seile wollte ein bekannter Akrobat, der berühmte Storchi – ein Nebenbuhler des nicht minder berühmten Blondin – versuchen, den Bosporus zu überschreiten. Blondin freilich setzte, als er auf dem Seile über den Niagara ging, unbedingt das Leben auf's Spiel, wenn er aus einer Höhe von nahezu hundertfünfzig Fuß in die unwiderstehlichen Stromschnellen gestürzt wäre, während Storchi hier bei einem etwaigen Unfalle mit einem Untergetauchtwerden in das stille Wasser des Bosporus davonkommen mußte, aus dem er sich sicherlich, ohne Schaden genommen zu haben, retten konnte.

Doch eben wie Blondin seine Ueberschreitung des Niagara so ausführte, daß er einen waghalsigen Freund auf seinen Schultern trug, wollte auch Storchi den lustigen Steg mit einem andern Akrobaten beschreiten, freilich diesen nicht auf den Schultern tragen, sondern in einem Karren fahren, dessen am Umfange hohlkehlenartig ausgearbeitetes Rad mit größerer Sicherheit längs des Seiles hinrollen mußte.

Man wird zugeben, daß es sich hier um ein merkwürdiges Schauspiel handelte – ein dreizehnhundert Meter langer Weg statt dessen von neunhundert Fuß über den Niagara! Eine lange Strecke, bei der ein Abstürzen gar so leicht möglich schien.

Storchi war inzwischen auf dem ersten Theile des Seiles erschienen, welcher das asiatische Ufer mit dem Thurme der Jungfrau verband. Er schob seinen Begleiter im Karren vor sich her und gelangte ohne Unfall nach dem Leuchtapparate auf der Spitze des Keuz-Kulessi.

Ein tausendfaches Hurrah begrüßte diesen ersten Erfolg.

Dann sah man den Gymnastiker wieder mit großer Gewandtheit abwärts gehen auf dem ungeheuren Seile, welches trotz stärkstmöglicher Anspannung sich in der Mitte doch so weit nach unten ausbog, daß es fast die Wasserfläche des Bosporus berührte. Immer schob er seinen kühnen Begleiter im Karren vor sich her, schritt sicheren Fußes weiter und hielt sich mit bewundernswerther Geschicklichkeit im Gleichgewicht. Es war in der That prächtig anzusehen.

Als Storchi die Hälfte der schwindelnden Wegstrecke zurückgelegt, wurden die Schwierigkeiten nur größer, denn es handelte sich nun darum, den letzten Theil noch emporzusteigen, um nach dem oberen Theile des Balkengerüstes zu [412] gelangen. Die Muskeln des Akrobaten erwiesen sich jedoch kräftig, seine Arme und Beine leisteten die erstaunlichsten Dienste, und er schob immer den Karren vor sich her, in dem sein Gefährte regungslos, aber offenbar ohne Angst saß, obgleich er natürlich in derselben Gefahr schwebte, wie der Seiltänzer. Irgend welche Bewegung machte er aber nicht, um das so leicht schwankende Gleichgewicht des Karrens nicht zu gefährden.

Endlich ertönten helle Jubelrufe wie ein Schrei der Erleichterung aus der vorher doch etwas beklemmten Brust der Zuschauer.

Heil und gesund war Storchi auf den Gipfel des Gerüsts an's Ziel gelangt und stieg von da mit seinem Begleiter auf einer Treppe herunter, welche auf den Winkel des Hafendammes mündete, wo Ahmet und die Seinigen ohne ihr Zuthun Platz gefunden hatten.

Das mehr als kühne Unternehmen war vollständig geglückt; man wird aber gern zugeben, daß der, den Storchi in dieser Weise auf dem Schiebkarren befördert hatte, gewiß die Hälfte jener Bravos verdiente, welche Asien jetzt den beiden Helden zu Ehren nach Europa sandte.

Doch welch' lauten Aufschrei stieß Ahmet aus! Sollte er seinen Augen trauen? Der Begleiter des berühmten Akrobaten war, nachdem er Storchi noch einmal die Hand gedrückt, herangetreten und sah ihn lächelnd an.

»Keraban! Mein Onkel Keraban!...« rief Ahmet, während die beiden jungen Mädchen, Sarabul, Van Mitten, Yanar, Selim und Bruno sich rings herbeidrängten.

Es war der Seigneur Keraban in eigener Person!

»Ja, ja, ich bin's, liebe Freunde, rief er triumphirenden Tones, ich selbst; ich fand den muthigen Akrobaten im Begriff, seinen Weg anzutreten, trat an die Stelle seines Begleiters, und bin so über den Bosporus gekommen – nein, oberhalb des Bosporus hierher gekommen, um Deinen Ehecontract zu unterzeichnen, Neffe Ahmet!

– Ach, Seigneur Keraban!... Mein Onkel! jubelte Amasia, ich wußt' es schon, daß Sie uns nicht im Stiche lassen würden.

– Das ist doch einmal schön! rief Nedjeb, vor Freude in die Hände klatschend.

– Welch' ein Mann! sagte Van Mitten. Seinesgleichen fände man in ganz Holland nicht wieder.

– Das mein' ich auch, erwiderte Sarabul sehr trocken.

[413] – Ja, ich bin herübergekommen, fuhr Keraban fort, der sich jetzt an den Polizeihauptmann wendete, ja... ohne zu bezahlen... abgesehen von den zweitausend Piastern für den Platz im Schiebkarren und den achthunderttausend, welche die Rundreise beanspruchte.

– Meinen besonderen Glückwünsch!« antwortete der Polizeihauptmann, der nichts Besseres zu thun wußte, als sich vor einem so vollendeten Starrsinn zu verneigen.

Von allen Seiten donnerten jetzt Beifallsrufe zu Ehren des Seigneur Keraban, während der wohlwollende Starrkopf gutmüthig seine Tochter Amasia und seinen Sohn Ahmet umarmte.

Er war aber nicht der Mann, seine Zeit zu vergeuden, nicht einmal im Rausche verdienten Triumphes.

»Nun vorwärts zum Richter von Constantinopel! drängte er.

– Ja, lieber Onkel, zum Richter! antwortete Ahmet. O, Du bist doch der beste aller Menschen!

– Und was Ihr auch dagegen sagen mögt, erwiderte Keraban, keineswegs starrköpfig... so lange mir Niemand widerspricht!«

Auf das Nächstfolgende brauchen wir hier nicht weiter einzugehen. Am Nachmittage des nämlichen Tages fertigte der Richter den Ehevertrag aus, der Iman in der Moschee sprach Gebet und Segen über das junge Paar, dann zogen Alle nach dem Hause in Galata, und bevor es noch am 30. dieses Monats Mitternacht geschlagen, war Ahmet vermählt mit der geliebten Amasia, der steinreichen Tochter des Banquiers Selim.

Am nämlichen Abend bereitete sich Van Mitten ganz niedergeschmettert vor, in Gesellschaft seines Schwagers Yanar und der edlen Sarabul, welche durch eine letzte Ceremonie in fernem Lande endgiltig seine Gattin werden sollte, nach Kurdistan abzureisen.

Noch beim Abschiednehmen in Gegenwart Ahmets, Amasias, Nedjebs und Brunos konnte er sich nicht enthalten, zu seinem Freunde mit sanftem Vorwurf zu sagen:

»Wenn ich bedenke, Keraban, daß ich mich jetzt verheiraten... zum zweiten Male verheiraten soll... nur um nicht Ihrem Willen entgegen zu handeln...

– Mein armer Van Mitten, antwortete Keraban wie zum Troste, wenn diese Heirat je etwas Ernsteres als ein Traum werden sollte, würd' ich mir's nie verzeihen!

[414] – Ein Traum! erwiderte Van Mitten, sieht das wie ein Traum aus? O, jene unselige Depesche!«

Bei diesen Worten zog er das zerknitterte Telegramm noch einmal aus der Tasche und ließ die Augen fast maschinenmäßig darüber streifen.

»Ja... diese Depesche!... »Madame Van Mitten, seit 5 Wochen verschieden, ihren Gatten wieder aufzusuchen...

– Verschieden, wieder aufzusuchen?... rief Keraban. Was soll dieser Unsinn bedeuten?«

Damit entriß er dem Holländer das Papier und las selbst:

»Madame Van Mitten, seit 5 Wochen entschieden, ihren Gatten wieder aufzusuchen, ist nach Constantinopel abgereist.« – – Entschieden – verschieden!

– Er ist nicht Witwer!«

Diese Worte erklangen aus Aller Munde, während Keraban diesmal mit einiger Berechtigung laut rief:

»Wieder einmal ein Irrthum dieses dummen Telegraphen!... Er begeht solche doch immer!

– Nein, nicht Witwer... nicht Witwer!« jubelte Van Mitten, und überglücklich, aus Furcht vor der zweiten zu seiner ersten Frau zurückkehren zu können.

Als der Seigneur Yanar und die edle Sarabul erfuhren, was eben geschehen war, gab es zwar eine furchtbare Explosion, aber sie mußten sich schließlich doch fügen Van Mitten war verheiratet, und noch an demselben Tage fand er seine erste und einzige Gattin wieder, die ihm zur Aussöhnung auch eine prächtige Valentia-Tulpenzwiebel mitbrachte.

»Wir werden einen Besseren finden, liebe Schwester, sagte Yanar, um die untröstliche Witwe zu beruhigen, einen Besseren als...

– Diesen holländischen Eisblock!... antwortete die edle Sarabul, und das wird nicht einmal schwierig werden!«

So reisten denn Beide nach Kurdistan ab, wahrscheinlich aber trug eine freigebige Schadloshaltung für die ihnen aufgenöthigte weitere Reise, dargeboten von dem reichen Freunde Van Mitten's, wesentlich dazu bei, ihnen die Rückreise nach der fernen Heimat zu erleichtern.

Der Seigneur Keraban konnte aber doch nicht immer ein zwischen Constantinopel und Scutari ausgespanntes Seil zur Verfügung haben, um über [415] den Bosporus zu gelangen. Verzichtete er also darauf, ihn jemals wie überschreiten?

Nein! Eine Zeitlang hielt er noch Stand und sagte kein Wort. Eines schönen Tages aber bot er der Regierung einfach an, ihr diese Cajiksteuer abzulösen. Sein Gebot wurde angenommen Das kostete ihm sicherlich ein schweres »Stück Geld, er wurde dadurch aber nur noch populärer, und kein Fremder unterläßt seitdem einen Besuch bei Keraban dem Starrkopfe, als einer der erstaunlichsten Merkwürdigkeiten der Hauptstadt des ottomanischen Kaiserreiches


Ende.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Verne, Jules. Romane. Keraban der Starrkopf. Keraban der Starrkopf. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-755F-1