Jules Verne
Die Propeller-Insel


1. Theil

1. Capitel
Erstes Capitel.
Das Quartett.

Wenn eine Reise schlecht anfängt, nimmt sie gewöhnlich auch kein gutes Ende. Diesen Glaubenssatz hätten wenigstens die vier Musiker unterschreiben können, [5] deren Instrumente hier auf der Erde umherlagen. Die Coach, worin sie an der letzten Eisenbahnstation hatten Platz nehmen müssen, war nämlich soeben gegen die Böschung des Weges hier plötzlich umgestürzt.

»Es ist doch keiner verwundet? fragte der Erste, der sich schon, wenn auch mühsam, wieder aufgerichtet hatte.

– Ich bin mit einem Ritz in der Haut davongekommen, antwortete der Zweite, indem er sich die durch eine gesprungene Kutschenscheibe verletzte Wange abwischte.

– Und ich mit einer Hautabschürfung!« erwiderte der Dritte, von dessen Wade ein Tröpfchen Blut hervorquoll.

Niemand hatte also ernstlichen Schaden genommen.

»Doch mein Violoncell! rief der Vierte. Wenn nur mit meinem Violoncell nichts passirt ist!«

Zum Glück erweisen sich die Instrumentenkästen alle unversehrt. Weder das Violoncell, noch die Bratsche oder die beiden Violinen hatten von dem Stoße gelitten, ja es war sogar kaum nöthig, sie neu zu stimmen. Eine vortreffliche Sorte Instrumente, nicht wahr?

»Verwünschte Eisenbahn, die uns auf halbem Wege sitzen läßt! beginnt der Eine wieder.

– Verwünschte Kutsche, die mit uns mitten in der Wildniß umwirft! setzt der Zweite hinzu.

– Und gerade zur Zeit, wo es anfängt dunkel zu werden! jammert der Dritte.

– Zum Glück ist unser Concert erst für übermorgen angezeigt!« bemerkt der Vierte.

Dann folgen einige drollige Wechselreden zwischen den Künstlern, die ihr Mißgeschick von der lustigen Seite aufgenommen haben. Der eine entlehnt seine Kalauer nach eingewurzelter Gewohnheit der musiktechnischen Sprache und sagt:

»Na, da wäre ja unsre Coach glücklich »auf den Rücken gelegt!« 1

– Au, Pinchinat! ruft einer seiner Gefährten.

– Und ich meine, fährt Pinchinat fort, wir habenumgeworfen, weil wir die Vorzeichnung (Schlüssel) der Straße unbeachtet ließen.

[6] – Wirst Du schweigen lernen?

– Und wir werden gut thun, unsre Stücke in eine andre Coach zu transponieren!« wagt Pinchinat noch hinzuzusetzen.

Ja, es handelte sich um einen tüchtigen Unfall und Umfall, wie der Leser sofort erkennen wird.

Die angeführten Worte wurden französisch gesprochen; es hätte dies aber auch englisch erfolgen können, denn das Quartett beherrschte die Sprache Walter Scott's und Cooper's – Dank vielfachen Kunstreisen in Ländern angelsächsischen Ursprungs – ebenso wie die eigne Muttersprache. So verhandeln sie denn auch nur auf englisch mit dem Führer der Coach.

Dieser brave Mann hat am schlimmsten zu leiden, da er, als die Vorderachse des Wagens brach, von seinem erhöhten Sitz heruntergeschleudert wurde. Zum Glück beschränkte sich das auf verschiedne mehr schmerzhafte als ernste Contusionen. Immerhin kann er in Folge einer Verstauchung nicht auftreten und also nicht gehen, und daraus ergibt sich die Nothwendigkeit, ein Hilfsmittel zu finden, um den Mann wenigstens bis ins nächste Dorf zu schaffen.

Es ist wirklich ein Wunder zu nennen, daß bei dem Unfall niemand das Leben eingebüßt hat. Der Weg schlängelt sich nämlich durch eine sehr bergige Gegend, streift da und dort an schroffe Abgründe oder wird von rauschenden Bergströmen begleitet und häufig durch kaum zu passirende Furthen unterbrochen. Wäre der Bruch am Vordertheil des Wagens nur eine kurze Strecke weiter oben erfolgt, so wäre das Gefährt ohne Zweifel über das Felsengeröll des Abhangs hinuntergestürzt und vielleicht wäre bei dieser Katastrophe keiner mit dem Leben davongekommen.

Jedenfalls war die Coach jetzt aber nicht weiter zu benutzen. Dazu liegt eines der beiden Pferde, das sich mit dem Kopfe an einen spitzen Stein gestoßen hat, röchelnd am Boden. Das andre ist an der Hanke ziemlich schwer verletzt. Da fehlte es nun an einem Wagen ebenso wie an einem Gespann dafür.

Die vier Künstler waren auf dem Boden Nieder-Californiens überhaupt von einem seltenen Pech verfolgt worden und hatten binnen vierundzwanzig Stunden nun zwei Unfälle erlitten. Wenn man da aber nicht gerade Philosoph ist...

Zu jener Zeit stand San Francisco, die Hauptstadt des Staates, schon durch einen Schienenstrang in unmittelbarer Verbindung mit San Diego, das fast an der Grenze der alten Provinz Californien liegt. Nach dieser bedeutenden [7] Stadt begaben sich die vier Künstler, die dort am übernächsten Tage ein vielfach angezeigtes und mit Spannung erwartetes Concert geben sollten. Am Tage vorher von San Francisco abgefahren, befand sich der Zug kaum noch fünfzig (amerikanische) Meilen von San Diego, als sich zuerst ein »aus dem Tempo kommen« ereignete.

Jawohl, ein aus dem Tempo kommen, wie der Lustigste der kleinen Gesellschaft sagte, und diesen Ausdruck wird man einem alten Schüler des Noten-abc schon freundlich nachsehen.

An der Station Paschal hatte es einen unfreiwilligen Aufenthalt, nämlich deshalb gegeben, weil der Bahndamm durch ein plötzliches Hochwasser auf eine Strecke von drei bis vier Meilen zerstört worden war. Erst zwei Meilen weiter hin konnte man die Eisenbahn wieder besteigen, und eine Ueberführung der Reisenden war auch noch nicht eingerichtet, weil sich der Unfall erst vor wenigen Stunden ereignet hatte.

Nun gab es nur eine Wahl: entweder zu warten, bis die Bahn wieder fahrbar war, oder in der nächsten Ortschaft einen Wagen bis San Diego zu miethen.

Das Quartett hatte den zweiten Ausweg gewählt. In einem benachbarten Dorfe entdeckten sie glücklich eine Art alten Landauers mit rasselndem Eisenwerk, dessen Inneres von Motten zerfressen und alles andre als einladend war. Mit dem Besitzer um den Fahrpreis einig geworden, hatten sie den Kutscher noch durch das Versprechen eines reichlichen Trinkgeldes bestochen und waren nur mit den Instrumenten, ohne das übrige Reisegepäck, wohlgemuth davongerollt. Das war gegen zwei Uhr Nachmittag, und bis sieben Uhr ging die Fahrt auch ohne große Schwierigkeit und Anstrengung von statten. Dann sollten sie aber zum zweiten Male »aus dem Tempo kommen«, indem die alte Kutsche umstürzte, und zwar so unglücklich, daß sich eine Weiterbenutzung derselben ganz von selbst verbot.

Jetzt befand sich das Quartett noch reichlich zwanzig Meilen von San Diego entfernt.


»Doch wo?« poltert Zorn hervor. (S. 14.)

Ja, warum hatten sich denn die vier Musiker – von Nation Franzosen und, was noch mehr sagen will, von Geburt Pariser – in diese unwirthlichen Gebiete Nieder-Californiens verirrt?

Warum?... Das werden wir sofort kurz mittheilen und werden dabei mit einigen Zügen die vier Virtuosen abmalen, die der Zufall, der phantastische [8] Rollenvertheiler, den Persönlichkeiten der nachfolgenden merkwürdigen Geschichte zugesellen sollte.

Im Laufe des betreffenden Jahres – wir können es nur auf etwa dreißig Jahre genau bestimmen – hatten die Vereinigten Staaten von Amerika die Zahl der Sterne in ihrer Bundesflagge verdoppelt. Sie stehen in der vollen Entfaltung ihrer industriellen und commerciellen Macht, nachdem sie das Dominium von Canada bis zur äußersten Grenze am Polarmeere, doch auch die Gebiete von Mexiko, Guatemala, Honduras, Nicaragua und Costarica bis zum Panamacanale[9] ihrem Bundesstaate einverleibt hatten. Gleichzeitig hatte sich bei den länderraubenden Yankees die Neigung für die Kunst entwickelt, und wenn auch ihr eignes Schaffen im Gebiete des Schönen noch recht beschränkt blieb, wenn der Nationalgeist sich gegen die Malerei, die Bildhauerkunst und die Musik noch etwas widerstrebend erwies, so hatte sich der Geschmack an den Werken der schönen Künste bei ihnen doch allgemein verbreitet. Dadurch, daß sie die Gemälde alter und neuer Meister mit Gold aufwogen, um private oder öffentliche Sammlungen zu füllen, und daß sie berühmte lyrische oder dramatische Künstler, ebenso wie die besten Instrumentalisten oft für unerhörte Preise heranzogen, hatten sie sich endlich den ihnen so lange mangelnden Sinn für schöne und edle Dinge allmählich eingeimpft.

Was die Musik betrifft, begeisterten sich die Dilettanten der Neuen Welt anfänglich an den Werken eines Meyerbeer, Halévy, Gounod, Berlioz, Wagner, Verdi, Massé, Saint-Saëns, Reyer, Massenet und Delibes, der berühmten Tonsetzer der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Dann gelangten sie nach und nach zum Verständniß der tiefsinnigeren Arbeiten eines Mozart, Beethoven und Haydn und strebten den Quellen jener höchsten Kunst entgegen, die im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts so reichlich flossen. Da folgten den Opern die lyrischen Dramen, den lyrischen Dramen die Symphonien, Sonaten und die Orchestersuiten. Zur Zeit, von der wir sprechen, machten gerade die Sonaten in den verschiedenen Staaten der Union gewaltiges Aufsehen. Man bezahlte sie willig Note für Note, die halbe mit zwanzig, die viertel mit zehn, die achtel Note mit fünf Dollars.

Von dieser Modetollheit unterrichtet, unternahmen es vier hochangesehene Instrumentalisten, sich in den Vereinigten Staaten von Amerika Ruhm und Schätze zu erringen. Es waren vier gute Kameraden, frühere Schüler des Pariser Conservatoriums und in der französischen Hauptstadt sehr bekannte Leute, die vorzüglich von den Liebhabern der in Amerika noch wenig verbreiteten sogenannten »Kammermusik« besonders geschätzt wurden. Mit welch seltener Vollendung, welch herrlichem Zusammenspiel und tiefem Verständniß brachten sie aber auch die Werke eines Mozart, Beethoven, Mendelssohn, Haydn und Chopin zu Gehör, diese unsterblichen Compositionen, die für vier Streichinstrumente, eine erste und eine zweite Geige, eine Bratsche und ein Violoncell, geschrieben sind! Da gab es keinen Lärm, nichts Geschäftsmäßiges, wohl aber eine tadellose Ausführung, eine unvergleichliche Virtuosität! Die Erfolge des Quartetts erscheinen um so begreiflicher, als man jener Zeit gerade anfing, der ungeheuern harmonischen und symphonischen Orchester müde zu werden. Ist die Musik auch immer eine aus kunstvoll combinirten [10] sonoren Wellen erzeugte Seelenerschütterung, so braucht man diese Wellen doch nicht zu betäubenden Sturmfluthen zu entfesseln.

Kurz, unsre vier Musiker beschlossen, die Amerikaner in die sanften und unaussprechlichen Genüsse der Kammermusik einzuführen. Sie reisten zusammen nach der Neuen Welt, und seit zwei Jahren sparten ihnen gegenüber die Yankee-Dilettanten auch in keiner Weise, weder mit Hurrahs, noch mit ebenso erhebend klingenden Dollars. Ihre musikalischen Matinéen oder Soiréen waren außerordentlich begehrt. Das »Concert-Quartett« – so lautete die übliche Bezeichnung – war kaum im Stande, den Einladungen der reichen Leute nachzukommen. Ohne jenes gab es kein Fest, keine Réunion, keinen Raout, keinen Five o'clock-Thee, ja keine Gardenparties, die der öffentlichen Aufmerksamkeit empfohlen zu werden verdient hätten. Bei dieser allgemeinen Begeisterung hatte genanntes Quartett schon ganz gewaltige Summen eingeheimst, die, wenn sie sich in den Panzerschränken der Bank von New-York aufgesammelt hätten, schon ein recht hübsches Capital dargestellt haben würden. Doch – warum sollten wir es verheimlichen? – unsre amerikanischen Pariser streuten das Geld auch mit vollen Händen wieder aus. Die Fürsten des Bogens, die Könige von vier Saiten dachten gar nicht ans Aufspeichern von Schätzen. Sie hatten an ihrem etwas abenteuerlichen Leben Geschmack gefunden in der Gewißheit, überall gute Aufnahme und reichlichen Verdienst zu finden, und so flatterten sie von New-York nach San Francisco, von Quebec nach Neu-Orléans, von Neu-Schottland nach Texas – vielleicht etwas à la Bohème, aber in der Bohème der Jugend, die ja die älteste, liebenswürdigste und beneidenswertheste überall auf Erden ist.

Wenn wir uns nicht arg täuschen, ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, die Leutchen persönlich und mit Namen denen unsrer freundlichen Leser vorzustellen, die das Vergnügen, jene zu hören, weder gehabt haben, noch je haben werden.

Yvernes – die erste Violine – zweiunddreißig Jahre alt, von etwas übermittler Statur, bestrebt mager zu bleiben, hat blondes, unten etwas gelocktes Haar, glattes Gesicht, große dunkle Augen, lange Hände, die dazu geschaffen scheinen, auf seiner Guarnerio alles mögliche zu greifen, zeigt elegantes Auftreten, liebt es, sich in einen dunkelfarbigen Mantel zu hüllen, trägt gern einen hochköpfigen Seidenhut, ist vielleicht etwas schauspielerischer »Poseur«, doch jedenfalls der Harmloseste der Gesellschaft, der sich um Geldangelegenheiten nicht kümmert sondern vor allem andern Künstler, begeisterter Bewunderer alles Schönen und Virtuose von großem Talent und glänzender Zukunft ist.

[11] Frascolin – die zweite Violine – dreißig Jahre alt, klein, mit Neigung zu Fettleibigkeit, worüber er oft in helle Wuth geräth, braun von Bart- und Kopfhaar, mit starkem Kopf, dunkeln Augen, langer Nase mit sehr beweglichen Flügeln und gerötheten Flecken an den Stellen, wo die Federn seines goldgefaßten Lorgnons mit stark concaven Gläsern, das er leider nicht entbehren kann, aufsitzen. Uebrigens ein gutmüthiger, zuvorkommender, dienstwilliger Mann, der sich jeder Mühewaltung unterzieht, um sie seinen Collegen zu ersparen, führt er die Casse für das Quartett und empfiehlt immer äußerste Sparsamkeit, freilich ohne damit je Gehör zu finden. Ohne jeden Neid auf den Erfolg seines Collegen Yvernes und ohne den Ehrgeiz, das Pult der ersten Violine jemals für sich zu erobern, ist er doch ein vortrefflicher Künstler. Ueber dem Reiseanzug trägt er stets einen weiten Staubmantel.

Pinchinat – die Bratsche – gewöhnlich »Seine Hoheit« 2 genannt, siebenundzwanzig Jahre alt, der jüngste der Truppe und auch der witzigste, lustigste Patron derselben, einer jener unverbesserlichen Typen, die ihr Leben lang übermüthige Straßenjungen bleiben, mit seinem Kopf, geistvollen, stets aufmerksamen Augen, ins Röthliche spielendem Haar und mit spitz auslaufendem Schnurrbart. Er schnalzt gern mit der Zunge an den weißen, scharfen Zähnen und ist eingefleischter Liebhaber von Kalauern und Calembours, ebenso bereit zum Angriff wie zur Abwehr, das Gehirn voller Schnurren – »eine vollständige Ausstattung«, sagt er – von unverwüstlichem Humor, immer Possen treibend und ohne sich deshalb, weil sie seine Collegen zuweilen in Verlegenheit bringen, ein graues Haar wachsen zu lassen. Darum treffen ihn auch häufig die Vorwürfe und väterlichen Strafpredigten des Führers und Oberhauptes des Quartetts.

Es giebt hier natürlich auch einen Führer, den Violoncellisten Sebastian Zorn, ein Oberhaupt ebenso durch sein Talent wie durch sein Alter – er zählt bereits zweiundfünfzig Sommer – dieser ist klein, dick und fett, blond, mit reichlichem, den Schläfen mit Herzenshäkchen anliegendem Haar und starrem Schnurrbart, der sich im Gewirr des spitz auslaufenden Backenbartes verliert. Sein Teint spielt ins Backsteinfarbige und seine Augen glänzen durch die Gläser der Brille, die er beim Lesen u. dgl. noch durch eine Lorgnette verschärft. Dabei hat er fleischige, runde Hände, von denen die rechte, der man die Gewohnheit an die [12] wiegenden Bogenbewegungen anmerkt, am Gold- und am kleinen Finger mit großen Ringen geschmückt ist.

Diese flüchtige Skizze genügt wohl, den Mann und den Künstler zu kennzeichnen. Man hält aber nicht ungestraft vierzig Jahre hindurch einen klingenden Kasten zwischen den Knieen. Das beeinflußt das ganze Leben und modelt den Charakter. Die allermeisten Violoncellspieler sind redselig und auffahrend, haben gern das große Wort und reden über allerlei – übrigens nicht ohne Geist. Ein solches Exemplar ist auch Sebastian Zorn, dem Yvernes, Frascolin und Pinchinat die Leitung ihrer musikalischen Streifzüge willig überlassen haben. Sie lassen ihn reden und nach Gutdünken handeln, denn er versteht sich auf's Geschäft. An sein etwas befehlerisches Wesen gewöhnt, lachen sie darüber nur, wenn er einmal »über den Steg hinausgreift«, was für einen Streichinstrumentenspieler, wie Pinchinat respectlos bemerkte, sehr bedauerlich ist. Die Zusammenstellung, der Programme, die Leitung der Reisen, die schriftlichen Verhandlungen mit den Impresarios... alle diese vielfachen Arbeiten lagen auf seinen Schultern und gaben ihm vollauf Gelegenheit, sein aggressives Temperament zu bethätigen. Nur um die Einnahmen bekümmerte er sich nicht, ebensowenig wie um die Verwaltung der gemeinschaftlichen Casse, die der Obhut des zweiten Violinisten und in erster Linie haftbaren, des sorgsamen und peinlich ordentlichen Frascolin anvertraut war.

Das Quartett wäre nun vorgestellt, als stände es am Rande eines Podiums vor unsern Augen. Der Leser kennt die Einzelnen, die zwar nicht sehr originelle, doch mindestens scharf von einander getrennte Typen bilden, und er gestatte freundlichst, diese Erzählung sich abspielen zu lassen, wobei er sehen wird, welche Rolle darin zu spielen die vier Pariser Kinder berufen sind, sie, die nach so reichlich in den Staaten des amerikanischen Bundes geerntetem Beifall jetzt auf dem Wege waren nach... Doch greifen wir nicht vor aus, »überstürzen wir den Takt nicht!« würde Seine Hoheit rufen, und fassen wir uns in Geduld.

Die vier Pariser befanden sich also gegen acht Uhr des Abends auf einer verlassenen Straße – wenn man dem Weg so schmeicheln darf – Nieder-Californiens neben den Trümmern ihres »umgestürzten Wagens«... Musik von Boieldieu, hat Pinchinat gesagt. Wenn Frascolin, Yvernes und er das kleine Abenteuer mit philosophischem Gleichmuth hingenommen hatten und sich sogar mit einigen Scherzreden darüber wegzuhelfen suchten, so liegt es doch auf der Hand, daß wenigstens der Anführer des Quartetts Ursache genug hatte, in hellen »Zorn« zu gerathen. Wir wissen ja, der Violoncellist hat eine leicht kochende Galle und, wie man zu [13] sagen pflegt, Blut unter den Nägeln. Yvernes behauptet von ihm auch steif und fest, daß er aus der Familie eines Ajax oder Achilles abstamme, die auch nicht gerade sanftmüthiger Natur waren.

Um nichts zu vergessen, fügen wir jedoch hinzu, daß, wenn Sebastian Zorn cholerisch, Yvernes phlegmatisch, Frascolin friedlich und Pinchinat von übersprudelnder Lustigkeit war, doch alle gute Kameradschaft hielten und für einander eine wahrhaft brüderliche Freundschaft hegten. Sie fühlten sich vereinigt durch ein Band, das keine Meinungsverschiedenheit, keine Eigenliebe zu zerreißen vermochte, durch eine Uebereinstimmung der Neigungen und des Geschmacks, die ein und derselben Quelle entstammte. Ihre Herzen bewahrten wie gute Instrumente stets eine ungestörte Harmonie.

Während Sebastian Zorn darauf loswettert, indem er seinen Violoncellkasten betastet, um sich zu versichern, daß er noch heil und ganz ist, tritt Frascolin an den Wagenführer heran.

»Nun, lieber Freund, fragt er, was meint Ihr denn, was wir jetzt beginnen?

– Beginnen? antwortet der Mann. Wenn man weder Pferde noch Wagen mehr hat... da wartet man eben...

– Warten, bis zufällig einer kommt! ruft Pinchinat. Und wenn nun keiner käme...

– Da sucht man nach einem, bemerkt Frascolin, den sein praktischer Sinn niemals verläßt.

– Doch wo? poltert Zorn hervor, der wüthend auf der Straße hin- und herläuft.

– Wo?... Ei da, wo sich einer befindet, erwidert der Rosselenker.

– Sapperment, Sie Kutschenbockbewohner, fährt der Violoncellist mit einer Stimme auf, die schon allmählich in die höchsten Register übergeht, soll das etwa eine Antwort sein? So ein ungeschickter Mensch, der uns umwirft, seinen Wagen zertrümmert und die Pferde zu Krüppeln macht, und der begnügt sich zu erklären: »Ziehen Sie sich aus der Klemme, so gut und so schlecht es eben angeht!«

Von seiner angebornen Zungenfertigkeit fortgerissen, verirrt sich Sebastian Zorn in eine endlose Reihe mindestens nutzloser Verwünschungen, bis Frascolin ihn unterbricht mit den Worten:

»Na, überlass' das nur mir, alter Freund!«

[14] Dann wendet er sich nochmals an den Wagenführer.

»Wo befinden wir uns denn jetzt, guter Mann?

– Fünf (amerikanische) Meilen von Freschal.

– Ist das etwa Eisenbahnstation?

– Nein... ein Dorf in der Nähe der Küste.

– Würden wir dort einen Wagen finden?

– Einen Wagen wohl nicht, vielleicht aber einen Karren...

– Einen Ochsenkarren, wie zur Zeit der Merowinger! ruft Pinchinat.

– Das kann uns auch gleichgiltig sein, meint Frascolin.

– Frage lieber, nimmt Sebastian Zorn wieder das Wort, ob sich in dem Neste, dem Freschal, ein Gasthaus vorfindet.

– Ja wohl, das giebt's; dort hätten wir einen kurzen Halt gemacht.

– Und um nach diesem Dorfe zu gelangen, brauchen wir nur der Landstraße zu folgen?

– Ganz gradeaus.

– Dann also marsch! befiehlt der Violoncellist.

– Es wäre doch grausam, den wackern Mann hier in seiner Noth liegen zu lassen, bemerkt Pinchinat. He, guter Freund, wenn wir Sie nun unterstützten, könnten Sie dann nicht...

– Ganz unmöglich! antwortet der Kutscher. Uebrigens ziehe ich es vor, hier, bei meinem Wagen zu bleiben. Wenn's erst wieder Tag wird, werd' ich schon sehen, wie ich fortkomme.

– Wenn wir in Freschal sind, bemerkt Frascolin, könnten wir Ihnen ja Hilfe schicken.

– Ja, der dortige Gastwirth kennt mich und wird mich nicht in der Noth sitzen lassen.

– Geht's nun fort? mahnt der Violoncellist, der seinen Instrumentenkasten schon aufgerichtet hat.

– Sofort, erwidert Pinchinat. Vorher wollen wir unsern Kutscher nur dort an die Erdwand hinüberschaffen.«

Natürlich war es einfache Menschenpflicht, den Mann von der Landstraße wegzubringen, und da er sich seiner schwerverletzten Beine nicht bedienen konnte, hoben Pinchinat und Frascolin ihn auf, trugen ihn nach der Seite des Weges und lagerten ihn zwischen die oberirdischen Wurzeln eines dicken Baumes, dessen herabhängende, unterste Zweige fast eine Blätterlaube bildeten.

[15] »Na, wird's nun endlich? drängt Sebastian Zorn zum dritten Male, nachdem er sich den Violoncellkasten schon mittelst mehrerer Riemen so gut wie möglich auf den Rücken geschnallt hatte.

– So, das wäre geschehen,« sagte Frascolin gelassen.

Dann wendet er sich noch einmal an den Wagenführer.

»Es bleibt also dabei; der Gastwirth von Freschal sendet Ihnen Hilfe. Haben Sie bis dahin vielleicht noch ein besonderes Bedürfniß, guter Freund?


Im Finstern und auf unbekannter Straße zogen sie dahin. (S. 17.)

[16]

– Ach ja, antwortet der Mann, nach einem tüchtigen Schluck Gin, wenn in Ihren Korbflaschen davon noch etwas übrig ist.«

Pinchinat's Flasche ist noch ganz voll, und Seine Hoheit bringt willig das kleine Opfer.

»Nun, Männchen, sagt er lächelnd, damit werden Sie die Nacht über wenigstens innerlich nicht frieren!«


Es war in der That ein Bär. (S. 23.)

Eine letzte dringliche Mahnung des Violoncellisten bestimmt seine Gefährten endlich, sich in Bewegung zu setzen. Es ist ein Glück, daß deren sonstiges Gepäck [17] im Güterwagen des Zugs geblieben ist, statt daß sie es mit auf die Coach verladen hätten. Trifft dasselbe in San Diego auch mit einiger Verspätung ein, so bleibt unsern Musikern doch die Beschwerde erspart, es jetzt nach dem Dorfe Freschal zu befördern. Es ist schon genug an den Violinenkästen, und an dem Violoncellkasten mehr als genug. Ein seines Namens würdiger Instrumentalist trennt sich freilich niemals von seinem Instrumente – so wenig, wie ein Soldat von seinen Waffen oder eine Schnecke von ihrem Hause.

Fußnoten

1 Im Original »mi sur le do«, ein deutsch nicht wiederzugebendes Wortspiel, da mi und do die Noten C und E bedeuten, ohne Rücksicht auf Rechtschreibung aber auch als »gelegt« und »Rücken« verstanden werden können.

Anm. d. Uebersetzers.

2 Französisch »Son Altesse«, hier als unübertragbares Wortspiel von »alto« (Bratsche) abgeleitet.

Anm. d. Uebersetzers.

2. Capitel
Zweites Capitel.
Die Wirkung einer kakophonischen Sonate.

Im Finstern und zu Fuß auf unbekannter Straße hinzuziehen, obendrein inmitten einer fast öden Gegend, wo Uebelthäter im allgemeinen weniger selten sind als Reisende, hat immer etwas Beunruhigendes an sich. In dieser Lage befand sich nun unser Quartett. Franzosen sind ja am Ende muthig, und die hier sind es in besonderm Maße. Doch zwischen dem Muthe und der Furchtsamkeit verläuft noch eine Scheidelinie, die von der gesunden Vernunft nicht übersehen werden darf. Wäre die Eisenbahn nicht durch eine von plötzlichem Hochwasser überfluthete Gegend verlaufen und wäre die Coach fünf Meilen vor Freschal nicht umgestürzt, so hätte sich unsre kleine Künstlerschaar nicht in die Zwangslage versetzt gesehen, des Nachts auf dieser verdächtigen Straße hinzuwandern. Hoffen wir indeß, daß ihr dabei kein Unheil zustößt.

Es ist etwa um acht Uhr, wo Sebastian Zorn und seine Kameraden, den Weisungen des Wagenführers entsprechend, die Richtung nach der Küste zu einschlagen. Da die Violinen nur in leichten, wenig umfänglichen Lederetuis stecken, haben die Geiger keine besondre Ursache, sich zu beklagen. Sie thun das auch nicht, weder der weise Frascolin, noch der lustige Pinchinat oder der idealistisch angehauchte Yvernes. Der Violoncellist aber mit seinem umfänglichen Instrumentenkasten, der hat etwas wie einen Schrank auf dem Rücken. Bei seinem uns bekannten Charakter ist es nicht zu verwundern, daß er darüber weidlich wettert [18] und schimpft. Daneben ächzt und stöhnt der Mann, was sich unter der onomatopoetischen Form von Ahs! Ohs! und Uffs! hörbar macht.

Schon herrscht eine tiefe Finsterniß. Dicke Wolken jagen über das Himmelsgewölbe, die manchmal da und dort etwas zerreißen und dann eine spöttische Mondsichel kaum im ersten Viertel hindurchscheinen lassen. Man weiß nicht, warum – wenn nicht deswegen, weil er einmal in bissiger, reizbarer Stimmung ist – die blonde Phöbe nicht das Glück hat, unserm Sebastian Zorn zu gefallen. Er streckt ihr aber die geballte Faust entgegen und ruft:

»Na, was hast denn Du mit Deinem einfältigen Gesichte vor?... Nein, wirklich, ich kenne nichts alberneres, als diese Schnitte einer unreifen Melone, die da oben hinspaziert!

– Es wäre freilich besser, wenn der Mond uns das volle Gesicht zukehrte, meinte Frascolin.

– Und warum das? fragte Pinchinat.

– Weil wir da besser sehen könnten.

– O, Du keusche Diana, Du friedliche Nachtwandlerin, Du bleicher Satellit der Erde, o Du angebetetes Ideal des anbetungswürdigen Endymion...

– Bist Du fertig mit Deiner Verhimmelung? ruft der Violoncellist. Wenn diese ersten Geigen erst anfangen, weit auf der Quinte herunter zu rutschen....

– Etwas schneller vorwärts, fiel Frascolin ein, sonst haben wir das Vergnügen, noch unter freiem Himmel zu übernachten....

– Wenn freier Himmel wäre... und dazu noch unser Concert in San Diego zu versäumen! bemerkt Pinchinat.

– Wahrhaftig, ein hübscher Gedanke! ruft Sebastian Zorn, der seinen Kasten schüttelt, daß er einen kläglichen Ton von sich giebt.

– Doch dieser Gedanke, mein alter Kamerad, sagt Pinchinat, rührt ursprünglich von Dir her...

– Von mir?...

– Gewiß! Warum sind wir nicht in San Francisco geblieben, wo wir Gelegenheit hatten, eine ganze Sammlung californischer Ohren zu ergötzen!

– Nun, fragt der Violoncellist, warum sind wir dann fortgegangen?

– Weil Du es so wolltest.

– Dann muß ich gestehen, eine beklagenswerthe Eingebung gehabt zu haben, und wenn...

[19] – Ah, seht einmal da! fällt Yvernes ein, der mit der Hand nach einem bestimmten Punkte des Himmels weist, wo ein dünner Mondstrahl die Ränder einer Wolke mit weißlicher Einfassung säumt.

– Was giebt es denn, Yvernes?

– Zeigt jene Wolke nicht ganz die Gestalt eines Drachen mit ausgebreiteten Flügeln und einem Pfauenschwanze mit hundert Argusaugen darauf?«

Jedenfalls ist Sebastian Zorn nicht mit der Fähigkeit, hundertfältig zu sehen, ausgerüstet, die den Hüter der Tochter des Inachos auszeichnete, denn er bemerkt nicht ein tief ausgefahrenes Geleise, worin er unglücklicherweise mit dem Fuße hängen bleibt. Dadurch fällt er platt auf den Leib, so daß er mit seinem Kasten auf dem Rücken einer großen Coleoptere gleicht, die auf der Erde hinkröche.

Natürlich kommt der Instrumentalist wieder in Wuth – er hat ja auch alle Ursache dazu – und schimpft auf die erste Violine wegen deren Bewunderung ihres in der Luft schwebenden Ungeheuers.

»Da ist nur der Yvernes dran schuld! fährt Sebastian Zorn auf. Hätte ich nicht nach seinem verwünschten Drachen gesehen...

– Es ist gar kein Drache mehr, liebe Freunde, sondern jetzt nur noch eine Amphora! Mit einigermaßen entwickelter Phantasie bemerkt man sie in der Hand der Nektar einschänkenden Hebe...

– Doch denken wir daran, daß in jenem Nektar verteufelt viel Wasser ist, ruft Pinchinat, und hüten wir uns, daß Deine reizende Göttin der Jugend nicht ein Sturzbad über uns ausgießt!«

Das hätte die Lage der Wandrer freilich noch verschlimmert, und thatsächlich fängt das Wetter an, mit Regen zu drohen. Die Vorsicht treibt also zur Eile, um in Freschal rechtzeitig Schutz zu finden.

Man hebt den zornschnaubenden Violoncellisten auf und stellt den Brummbär wieder auf die Füße. Der gefällige Frascolin erbietet sich, ihm seinen Kasten abzunehmen. Sebastian Zorn will das zuerst nicht zugeben... er, sich von seinem Instrumente trennen... einem Violoncell von Gaud und Bernardel... das heißt ja, von einer Hälfte seines Selbst... Er muß sich aber fügen, und somit geht diese kostbare Hälfte auf den Rücken des dienstwilligen Frascolin über, der dafür sein leichtes Etui genanntem Zorn anvertraut. Nun geht es weiter und raschen Schrittes zwei Meilen vorwärts, ohne daß sich etwas Besonderes ereignet. Die mit Regen drohende Nacht wird immer finstrer. Schon fallen einige große [20] Tropfen, der Beweis, daß sie aus hochziehenden, gewitterhaften Wolken stammen. Die Amphora der hübschen Hebe unsers Yvernes entleert sich jedoch nicht weiter, und die vier Nachtwandler dürfen hoffen, Freschal im Zustande vollständiger Trockenheit zu erreichen.

Immerhin bedarf es noch peinlichster Aufmerksamkeit, um auf dieser finstern Straße nicht zu Fall zu kommen, denn abgesehen von den tiefen Wagenspuren verläuft sie oft in scharfen Krümmungen um vorspringende Felsmassen oder führt neben düstern Schluchten hin, aus denen der Trompetenton der Berggewässer heraufschallt. Wenn Yvernes das bei seiner Sinnesveranlagung poetisch findet, so nennt es Frascolin bei der seinigen mindestens beunruhigend.

Daneben waren noch unliebsame Begegnungen zu fürchten, die die Sicherheit aller Reisenden auf den Landstraßen Niedercaliforniens sehr zweifelhaft machen. Das Quartett besaß an Waffen aber nur die drei Violin- und den einen Violoncellbogen, die in einem Lande, wo der Colt'sche Revolver erfunden und damals noch erheblich verbessert worden war, doch als etwas unzureichend erscheinen dürften. Wären Sebastian Zorn und seine Kameraden Amerikaner gewesen, so würden sie sich jedenfalls mit dieser handlichen Schutzwaffe versehen haben, die man dort zu Lande immer in einer besondern kleinen Hosentasche bei sich trägt. Um auch nur auf der Bahn von San Francisco nach San Diego zu fahren, würde sich kein waschechter Yankee ohne diesen sechsschüssigen Begleiter auf die Reise begeben haben. Unsre Franzosen hatten das freilich nicht für nöthig erachtet. Fügen wir hinzu, daß sie daran gar nicht gedacht und es doch vielleicht zu bereuen haben dürften.

Pinchinat marschiert an der Spitze und behält die Böschungen der Straße scharf im Auge. Wo diese von rechts und links her sehr eingeengt erscheint, ist ein unerwarteter Ueberfall weniger zu fürchten. Als Bruder Lustig wandelt ihn immer einmal das Verlangen an, seinen Kameraden »einen gelinden Schrecken einzujagen«, z. B. dadurch, daß er plötzlich stehen bleibt und mit vor Schreck bebender Stimme murmelt:

»Halt!... Da unten... was seh' ich da?... Halten wir uns fertig, Feuer zu geben!«

Wenn der Weg sich aber durch einen dichten Wald hinzieht, inmitten der Mammuthbäume, der hundertfünfzig Fuß hohen Sequoias, jener Pflanzenriesen des californischen Landes... dann vergeht ihm selbst die Lust zum Scherzen. Hinter jedem dieser ungeheuern Stämme können sich bequem zehn Mann verbergen.[21] Sollten sie hier nicht das Aufblitzen eines hellen Scheines, dem ein trockner Knall folgt, zu sehen, nicht das schnelle Pfeifen einer Kugel zu hören bekommen? An solchen, für einen nächtlichen Ueberfall wie geschaffenen Stellen heißt es die Augen offen halten. Und wenn man zum Glück nicht mit Banditen zusammenstößt, so rührt das daher, daß diese ehrsame Zunft aus dem Westen Amerikas ganz verschwunden ist, oder sich jetzt nur noch Finanzoperationen an den Märkten der Alten und der Neuen Welt widmet. Welches Ende für die Nachkommen eines Karl Moor, eines Johann Sbogar! Und wem sollten derlei Gedanken kommen, wenn nicht unserm Yvernes? Entschieden – meint er – ist das Stück der Decoration nicht werth!

Plötzlich bleibt Pinchinat wie angewurzelt stehen.

Frascolin thut desgleichen.

Sebastian Zorn und Yvernes gesellen sich sofort zu beiden.

»Was giebt es? fragt die zweite Violine.

– Ich glaubte, etwas zu sehen,...« antwortet die Bratsche.

Diesmal handelt es sich nicht um einen Scherz seinerseits. Offenbar bewegt sich eine Gestalt zwischen den Bäumen hin.

»Eine menschliche oder thierische? erkundigt sich Frascolin.

– Das weiß ich selbst nicht.«

Was jetzt am besten zu thun sei, das unterfing sich niemand zu sagen. Dicht aneinander gedrängt, starren alle laut- und bewegungslos vor sich hin.

Durch einen Wolkenspalt fließen die Strahlen des Mondes auf den Dom des dunkeln Waldes herab, dringen durch die Aeste der Sequoias und erreichen noch den Erdboden. Im Umkreis von hundert Schritten ist dieser etwas sichtbar.

Pinchinat hat sich nicht getäuscht. Zu groß für einen Menschen, kann diese Masse nur einem gewaltigen Vierfüßler angehören. Doch welchem Vierfüßler?... Einem Raubthiere?... Jedenfalls einem solchen... doch welchem Raubthiere?

»Ein Plantigrade! sagt Yvernes.

– Zum Teufel mit dem Vieh, murmelt Sebastian Zorn mit verhaltener, aber grimmiger Stimme, und mit dem Vieh meine ich mehr Dich, Yvernes!... Kannst Du nicht wie andre vernünftige Menschen reden? Was ist denn das, ein Plantigrade?

[22] – Ein Thier, das auf vier Tatzen, und zwar auf den ganzen Sohlen läuft, erklärt Pinchinat.

– Ein Bär!« setzt Frascolin hinzu.

Es war in der That ein Bär, und zwar ein ganz mächtiges Exemplar. Löwen, Tigern oder Panthern begegnet man in den Wäldern Nieder-Californiens nicht. Deren gewöhnliche Bewohner sind nur die Bären, mit denen, wie man zu sagen pflegt, nicht gut Kirschen essen ist.

Man wird sich nicht verwundern, daß unsre Pariser in voller Uebereinstimmung den Gedanken hatten, diesem Plantigraden den Platz zu überlassen, der ja eigentlich »bei sich zu Hause« war. So drängt sich unsre Gruppe denn noch dichter zusammen und marschiert langsam, doch in strammer Haltung und das Aussehen von Fliehenden vermeidend, mit dem Gesicht nach dem Raubthiere gewendet rückwärts.

Der Bär trottet kurzen Schrittes den Männern nach, wobei er die Vordertatzen gleich Telegraphenarmen bewegt und in den Pranken schwerfällig hin- und her schwankt. Allmählich kommt er näher heran und sein Verhalten wird etwas feindseliger... sein heiseres Brummen und das Klappen der Kinnladen sind ziemlich beunruhigend.

»Wenn wir nun alle nach verschiednen Seiten Fersengeld gäben? schlägt Seine Hoheit vor.

– Nein, das lassen wir bleiben, antwortet Frascolin. Einer von uns würde doch von dem Burschen gehascht und müßte allein für die andern zahlen.«

Diese Unklugheit wurde nicht begangen, und es liegt auch auf der Hand, daß sie hätte schlimme Folgen haben können.

Das Quartett gelangt so als »Bündel« an die Grenze einer minder dunkeln Waldparcelle. Der Bär hat sich jetzt bis auf zehn Schritte genähert. Sollte er den Ort für günstig zu einem Angriff halten?... Fast scheint es so, denn er verdoppelt sein Brummen und beschleunigt seinen Schritt noch mehr.

Die kleine Gruppe weicht deshalb noch schneller zurück, und die zweite Violine mahnt dringend:

»Kaltes Blut!... Den Kopf nicht verlieren!«

Die Lichtung ist überschritten und der Schutz der Bäume wieder erreicht. Vermindert ist die Gefahr hierdurch doch eigentlich nicht. Von einem Stamme zum andern schleichend, kann das Thier die Verfolgten plötzlich anspringen, ohne [23] daß diese seinem Angriffe zuvorzukommen vermögen, und das mochte der Bär wohl auch vorhaben, als er sein Brummen einstellte und sich etwas zusammenkrümmend fast still hielt....

Da ertönt eine laute Musik in der dicken Finsterniß, ein ausdrucksvolles Largo, in dem die ganze Seele des Künstlers aufzugehen scheint.

Yvernes ist es, der die Violine aus dem Etui gezogen hat und sie unter mächtigem Bogenstriche erklingen läßt. Wahrlich, ein Geniestreich! Warum sollten auch Musiker ihr Heil nicht bei der Musik gesucht haben? Sammelten sich die von den Accorden Amphions bewegten Steine nicht freiwillig um Theben an? Legten sich nicht die mit lyrischem Sinne begabten wilden Thiere besänftigt zu Orpheus' Füßen nieder? Nun, hier kam man zu dem Glauben, daß dieser californische Bär unter atavistischer Beeinflussung ebenso künstlerisch beanlagt gewesen sei, wie seine Kameraden aus der Sage, denn seine Wildheit erlischt unter der hervortretenden Neigung für Melodien, und ganz entsprechend dem Zurückweichen des Quartetts folgt er diesem in gleichem Tempo nach und läßt wiederholt ein leises Zeichen dilettantischer Befriedigung hören. Es fehlte gar nicht viel, daß er »Bravo!« gerufen hätte.

Eine Viertelstunde später befindet sich Sebastian Zorn mit seinen Gefährten am Saume der Waldung. Sie überschreiten ihn, während Yvernes immer flott drauf losgeigt.

Das Thier hat Halt gemacht. Es scheint keine Lust zu haben, noch weiter mitzutrotten; dagegen schlägt es die plumpen Vordertatzen aneinander.

Da ergreift auch Pinchinat sein Instrument und ruft:

»Den Bärentanz! Und in flottem Tempo!«

Während nun die erste Violine die weitbekannte Melodie in Dur mit vollen Bogenstrichen heruntergeigt, begleitet sie die Bratsche scharf und falsch in Moll...

Da fängt das Thier zu tanzen an, hebt einmal die rechte, einmal die linke Tatze hoch auf, dreht und schwenkt sich hin und her und läßt die kleine Gesellschaft unbehelligt sich weiter auf der Straße entfernen.

»Bah! stößt Pinchinat hervor, das war nur ein Circusbär!

– Thut nichts, antwortet Frascolin, der Teufelskerl, der Yvernes, hat doch eine famose Idee gehabt.

– Nun trabt aber davon... allegretto, mahnt der Violoncellist, und ohne Euch umzusehen.«

[24] Es ist gegen neun Uhr abends, wo die vier Jünger Apolls heil und gesund in Freschal eintreffen. Sie haben die letzte Wegstrecke in stark beschleunigtem Schritte zurückgelegt, obgleich der Bär ihnen nicht mehr folgte.

Etwa vierzig Häuschen oder richtiger Hütten aus Holz rund um einen mit Buchen bestandnen Platz... das ist Freschal, ein vereinsamtes Dorf, das gegen zwei Meilen von der Küste liegt.


Laute Beifallsbezeugungen tönten aus den Fenstern heraus. (S 29.)

Unsre Künstler schlüpfen zwischen zwei, von großen Bäumen beschatteten Wohnstätten hindurch, gelangen damit nach einem freien Platze, in dessen Hintergrunde [25] sich der bescheidne Glockenthurm eines Kirchleins erhebt, sie treten zusammen, als wollten sie ein Musikstück aus dem Stegreif vortragen, und bleiben an der Stelle stehen, um zu berathschlagen.

»Das... das soll ein Dorf sein? fragt Pinchinat.

– Na, Du hast doch nicht erwartet, hier eine Stadt von der Art New-Yorks oder Philadelphias zu finden? erwidert Frascolin.

– Unser Dorf liegt aber bereits im Bett! bemerkt Sebastian Zorn wegwerfend.

– O, wir wollen ein schlummerndes Dorf ja nicht erwecken! seufzt Yvernes melodisch.

– Im Gegentheil, laßt es uns munter machen!« ruft Pinchinat.

Freilich, wenn sie die Nacht nicht unter freiem Himmel zubringen wollten, blieb ihnen am Ende nichts anders übrig.

Im übrigen ist der Ort völlig verlassen und todtenstill – kein Laden geöffnet, kein Licht hinter einem Fenster. Für das Schloß Dornröschens wären hier alle Vorbedingungen ungestörtester Ruhe gegeben gewesen.

»Wo ist denn nun das Gasthaus? fragt Frascolin.

– Ja, das Gasthaus, von dem der Kutscher sprach, wo seine verunglückten Fahrgäste freundliche Aufnahme und gutes Nachtlager finden sollten?«...

Und der Gastwirth, der sich beeilen würde, dem noch schlimmer verunglückten Coachman Hilfe zu senden?... Sollte der arme Kerl das alles nur geträumt haben?... Oder – eine andre Hypothese – sollten sich Sebastian Zorn und seine Gesellschaft verirrt haben?... Wäre das gar nicht die Dorfschaft Freschal?...

Diese verschiednen Fragen verlangen schleunige Beantwortung. Es ergiebt sich also die Nothwendigkeit, einen der Landesbewohner zu befragen und, um das zu können, an die Thür eines der kleinen Häuser zu klopfen... womöglich an die des Gasthofs, wenn ein glücklicher Zufall diesen entdecken läßt.

Die vier Musiker beginnen also eine Untersuchung der finstern Ortschaft und streifen an den Häuserfronten hin, um vielleicht irgendwo ein heraushängendes Schankzeichen zu erspähen. Von einem Gasthofe findet sich aber keine Spur.

Giebt es auch keine Herberge, so ist doch gar nicht anzunehmen, daß sich nicht wenigstens eine gastfreundliche Hütte fände, und da man hier nicht in Schottland ist, kann man auf amerikanische Weise vorgehen. Welcher Eingeborene [26] von Freschal würde es wohl abschlagen, ein oder auch zwei Dollars für die Person für ein Abendessen und ein Nachtlager anzunehmen?

»Also vorwärts, wir klopfen, sagte Frascolin.

– Doch im Takte, setzte Pinchinat hinzu, und zwar im Sechsachteltakte!«

Hätten sie auch im Drei- oder Viervierteltakte gepocht, der Erfolg wäre doch derselbe gewesen. Keine Thür, kein Fenster öffnet sich, und das Concert-Quartett hatte schon ein Dutzend Häuser in gleicher Weise um Antwort ersucht.

»Wir haben uns getäuscht, erklärt Yvernes. Das ist gar kein Dorf, sondern ein Friedhof, und was man hier schläft, ist der ewige Schlaf... Vox clamantis in deserto.

– Amen!« antwortet Seine Hoheit mit der tiefen Stimme eines Kirchencantors.

Was war nun zu thun, da dieses Grabesschweigen beharrlich fortdauert? Etwa nach San Diego zu weiter zu marschieren? Die Musiker kommen vor Hunger und Erschöpfung bald um. Und dann, welchen Weg sollten sie, ohne Führer und in stockfinstrer Nacht, einschlagen?... Sollten sie vielleicht versuchen, ein andres Dorf zu erreichen?... Ja, welches denn? Nach Aussage des Coachman lag kein weiteres an der Küste. Voraussichtlich verirrten sie sich dabei nur noch mehr. Am rathsamsten erschien es, den Tag abzuwarten. Und doch, ein halbes Dutzend Stunden ohne Obdach hinzubringen, unter einem Himmel, der sich mit dicken Wolken überzieht, die früher oder später mit einer Sündfluth drohen, das kann man doch niemand, auch nicht Künstlern, zumuthen.

Da kam Pinchinat auf einen Gedanken. Seine Gedanken sind zwar nicht immer die besten, sprudeln aber massenhaft in seinem Gehirn auf. Der jetzige hatte sich übrigens der Zustimmung des weisen Frascolin zu erfreuen.

»Kameraden, sagte er, warum sollte das Mittel, das gegen einen wilden Bären von Erfolg war, nicht auch gegenüber einem californischen Dorfe erfolgreich sein? Wir haben jenen Plantigraden durch ein bischen Musik gezähmt... erwecken wir nun das Landvolk hier durch ein lärmendes Concert, wobei wir's an einem Forte und einem Allegro nicht fehlen lassen...

– Das wäre des Versuchs werth,« meinte Frascolin.

Sebastian Zorn hat Pinchinat nicht einmal seine Worte vollenden lassen, sondern bereits das Violoncell aus dem Kasten geholt, es auf der eisernen Spitze aufgerichtet vor sich hingestellt, und steht, da er keinen Sitz zur Verfügung hat, mit dem Bogen in der Hand schon bereit, dessen klingendem Bauche alle darin aufgespeicherten Töne zu entlocken.

[27] Fast gleichzeitig sind seine Kameraden fertig, seinem Beispiele, wohin es sei, zu folgen.

»Das H-moll-Quartett von Onslow, ruster. Anfangen! Ein paar Takte umsonst!«

Dieses Quartett von Onslow kannten sie auswendig, und geübte Streichmusikanten brauchten gewiß auch keine Beleuchtung dazu, ihre geschickten Finger über das Griffbrett eines Violoncells, zweier Violinen und einer Bratsche gleiten zu lassen.

So folgen sie denn alle ihrer künstlerischen Eingebung. Noch nie haben sie wohl in den Casinos oder auf den Bühnen des amerikanischen Bundesstaates mit mehr Talent und Innigkeit gespielt. Da ertönt eine wahrhaft himmlische Harmonie, der menschliche Wesen, wenn sie nicht gerade mit Taubheit geschlagen sind, unmöglich widerstehen können. Ja, befanden sie sich auch, wie Yvernes vermuthete, auf einem Kirchhof, so hätten sich die Gräber öffnen, die Todten aufrichten müssen und die Skelette hätten gewiß die Hände zusammengeschlagen....

Und dennoch bleiben die Häuser geschlossen, die Schläfer erwachen auch jetzt nicht. Das Musikstück endigt mit den Prachtsätzen seines mächtigen Finale, ohne daß Freschal ein Lebenszeichen von sich giebt.

»Da sitzt doch der Teufel drin! polterte Sebastian Zorn auf dem Gipfel der Wuth hervor. Bedarf es denn für die Ohren dieser Wilden eines Charivari, wie für den Bären?... Auch gut, wir fangen noch einmal von vorne an, doch Du, Yvernes spielst in D-, Du, Frascolin in E. und Pinchinat in G-dur. Ich selbst bleibe in H-moll, und nun aus Leibeskräften los!«

Das gab aber einen Mißklang zum Trommelfellzersprengen! Es erinnerte an das improvisierte Orchester, das der Prinz von Joinville dereinst in einem unbekannten Dorfe des brasilianischen Gebietes dirigierte. Es klang, als ob man auf »Essigkannen« eine entsetzliche Symphonie mit verkehrtem Bogenstrich executiert hätte.

Pinchinat's Gedanke erwies sich übrigens als vortrefflich. Was ein ganz ausgezeichneter musikalischer Vortrag nicht erzielte, das erzielte dieses gräuliche Durcheinander. Freschal fängt an aufzuwachen. Da und dort erhellen sich die Fenster. Die Bewohner des Dorfes sind also nicht todt, da sie jetzt Lebenszeichen verrathen. Sie sind auch nicht taub, da sie hören und lauschen.

»Die Leute werden uns mit Aepfeln bombardieren, sagt Pinchinat während einer Pause, denn trotz mangelndem Einklang des Tonstücks ist dessen Takt doch eingehalten worden.

[28] – O, desto besser; dann essen wir sie;« antwortet der praktische Frascolin.

Und auf Commando Sebastian Zorn's beginnt das kakophonische Concert von neuem. Nach Beendigung desselben mit einem mächtigen »Dis«-Accord in vier verschiedenen Tonlagen halten die Musiker ein.

Nein, mit Aepfeln wirft hier keiner aus den zwanzig oder dreißig geöffneten Fenstern, sondern laute Beifallsbezeugungen, kräftige Hurrahs und scharftönende Hips schallen daraus hervor. Die freschalischen Ohren haben sich jedenfalls noch niemals eines solchen musikalischen Hochgenusses erfreut, und es unterliegt keinem Zweifel, daß jetzt jedes Haus willig ist, so unvergleichliche Virtuosen gastlich aufzunehmen.

Doch während diese sich ihrer musikalischen Verzückung völlig hingaben, ist ein Zuschauer und Zuhörer, ohne daß sie seine Annäherung bemerkten, bis auf wenige Schritte herangetreten. Diese aus einer Art elektrischen Kremsers ausgestiegene Persönlichkeit wartet an einer Ecke des Platzes. Es ist ein hochgewachsener, wohlbeleibter Mann, soweit das bei der Dunkelheit zu erkennen war.

Während sich dann unsre Pariser Kinder noch fragen, ob sich nach den Fenstern auch die Thüren der Häuser öffnen werden, um sie aufzunehmen – was mindestens noch ungewiß ist – nähert sich der neue Ankömmling noch weiter und spricht in liebenswürdigstem Tone und im reinsten Französisch:

»Ich bin Kunstliebhaber, meine Herren, und eben jetzt so glücklich gewesen, Ihnen Beifall zollen zu dürfen.

– Während unsres letzten Musikstücks? erwidert Pinchinat ironisch.

– Nein, meine Herren, während des ersten; ich habe das Quartett von Onslow selten in so vollendeter Weise spielen hören.«

Der Mann ist offenbar ein Kenner.

»Mein Herr, antwortet ihm Pinchinat im Namen seiner Gefährten, wir sind Ihnen für Ihre Anerkennung sehr verbunden. Hat unsre zweite Nummer Ihre Ohren zerrissen, so kommt das daher...

– Mein Herr, fällt ihm der Unbekannte ins Wort und schneidet damit einen Satz ab, der jedenfalls sehr lang geworden wäre, ich habe niemals mit gleicher Vollendung so falsch spielen hören. Ich durchschaue es aber, weshalb Sie zu diesem Auswege griffen: Sie wollten die wackern Bewohner von Freschal, die schon im tiefsten Schlafe liegen, aufwecken. Nun, meine Herren, gestatten Sie mir, Ihnen das anzubieten, was Sie mit jenem seltsamen Mittel erstrebten...

[29] – Gastliche Aufnahme? fragt Frascolin.

– Gewiß, eine ultraschottische Gastfreundschaft. Irre ich mich nicht, so steht vor mir das Concert-Quartett, das in unserm herrlichen Amerika überall berühmt ist, und gegen das letzteres mit seinem Enthusiasmus nicht gegeizt hat...

– Verehrter Herr, glaubt Frascolin hier einflechten zu müssen, wir fühlen uns aufs höchste geschmeichelt. Doch... die gastliche Aufnahme... wo könnten wir die durch Ihre Güte finden?

– Zwei Meilen von hier.

– In einem andern Dorfe?

– Nein... nein, in einer Stadt.

– Einer bedeutenderen Stadt?...

– Gewiß.

– Erlauben Sie, man hat uns gesagt, daß hier und vor San Diego keine Stadt liege...

– Ein Irrthum... wirklich ein Irrthum, den ich nicht zu erklären vermag.

– Ein Irrthum?... wiederholt Frascolin.

– Ja, meine Herren, und wenn Sie mir nur folgen wollen, verspreche ich Ihnen einen Empfang, wie er sich für solch hervorragende Künstler gebührt.

– Ich denke, das erschiene annehmbar, ließ sich Yvernes vernehmen.

– Ganz meine Ansicht, bestätigt Pinchinat.

– Halt, halt... noch einen Augenblick, ruft Frascolin; niemals schneller, als der Leiter des Orchesters.

– Das bedeutet?... fragt der Amerikaner.

– Daß wir in San Diego erwartet werden, antwortet Frascolin.

– In San Diego, fügt der Violoncellist hinzu, wo die Stadt uns zu einer Reihe von musikalischen Matinées engagirt hat, deren erste bereits übermorgen Sonntag stattfinden soll.

– Ah so!« versetzt der Fremde mit dem Ausdruck der Enttäuschung.

Gleich darauf ergreift er jedoch wieder das Wort:

»Nun, das thut nichts, meine Herren, setzt er hinzu. Binnen eines Tages werden Sie Zeit genug haben, eine Stadt zu sehen, die des Besuches werth ist, und ich verpflichte mich, Sie bis zur nächsten Station zurückzubefördern, so daß Sie am Sonntag in San Diego sein können.«

In der That, das Anerbieten ist ebenso verführerisch, wie unter den gegebenen Umständen willkommen. Das Quartett kann sicher sein, in einem guten Hôtel ein [30] treffliches Zimmer zu finden, ohne von den weitern Vortheilen zu reden, die sie von und durch diesen zuvorkommenden Herrn erwarten dürfen.

»Nehmen Sie meinen Vorschlag an, meine Herren?

– Mit Vergnügen, versichert jetzt Sebastian Zorn, den der Hunger und die Ermüdung bestimmen, eine derartige Einladung nicht abzuweisen.

– Also abgemacht! erwidert der Amerikaner. Wir brechen sofort auf, sind binnen zwanzig Minuten am Ziele, und ich weiß, daß Sie mir dafür Dank wissen werden.«

Selbstverständlich hatten sich nach den Hurrahs, die der executierten Katzenmusik folgten, die Fenster der Häuser sogleich wieder geschlossen. Die Lichter erloschen und Freschal verfiel aufs neue in tiefen Schlaf.

Von dem Amerikaner geführt, begeben sich die Musiker nach dem Kremser, bringen darauf ihre Instrumente unter und nehmen im hintern Theile des Gefährtes Platz, während sich ihr gefälliger Führer ganz vornhin neben den Mechaniker setzt. Dann wird ein Hebel umgelegt, die elektrischen Accumulatoren treten in Wirkung, der Wagen rückt von der Stelle und kommt sehr bald in rasche Bewegung nach Westen hinaus.

Nach einer Viertelstunde leuchtet ein ausgebreiteter weißlicher Schein auf, ein die Augen blendendes Durcheinander von leuchtenden Strahlen. Da liegt also eine Stadt, von deren Vorhandensein unsre Pariser gar keine Ahnung hatten.

Der Kremser hält an und Frascolin sagt:

»Aha, da wären wir ja an der Küste.

– An der Küste... nein, entgegnet der Amerikaner. Das ist nur ein Strom, den wir zu überschreiten haben.

– Doch auf welche Weise? fragt Pinchinat.

– Mittelst der Fähre hier, die gleich unsern Wagen aufnimmt.«

In der That liegt vor ihnen eines der in den Vereinigten Staaten so häufigen Ferry-boats, auf das der Wagen sammt Insassen hinüberrollt. Ohne Zweifel wird dieses Ferry-boat durch Elektricität angetrieben, denn es stößt keinen Dampf aus, und schon zwei Minuten später legt es nach Ueberschreitung des Wassers an der Quaimauer eines Bassins im Hintergrunde eines Hafens an.

Der Kremser rollt nun durch über Land führende Alleen weiter und dringt in eine Parkanlage ein, über die hoch oben angebrachte elektrische Lampen helles Licht ausgießen.

[31] Am Gitter dieses Parks öffnet sich ein Thor, der Zugang zu einer breiten und langen, mit tönenden Platten belegten Straße. Fünf Minuten später steigen unsre Künstler am Vorbau eines eleganten Hôtels aus, wo sie auf ein Wort des Amerikaners hin mit vielversprechender Zuvorkommenheit empfangen werden. Man geleitet sie sofort nach einer luxuriös ausgestatteten Tafel, und sie nehmen – wie sich wohl voraussetzen läßt, mit bestem Appetit – ein reichliches Abendessen ein.

Nach Beendigung desselben führt sie der Oberkellner nach einem sehr geräumigen Zimmer mit mehreren Glühlampen, die durch niederzulassende Schirme in mild leuchtende Nachtlampen verwandelt werden können. Die Erklärung aller dieser Wunder von dem kommenden Morgen erwartend, schlummern sie endlich in den die vier Zimmerecken einnehmenden bequemen Betten ein und schnarchen mit der außergewöhnlichen Uebereinstimmung, der das Concert-Quartett seinen künstlerischen Ruhm verdankt.

3. Capitel
Drittes Capitel.
Ein redseliger Cicerone.

Am frühen Morgen, gegen sieben Uhr, erschallen nach täuschender Nachahmung des Tones einer Trompete – gleich dem ersten Signal bei der Reveille eines Regiments – im gemeinschaftlichen Zimmer folgende Worte oder richtiger Rufe:

»Allons!... Hopp!... Auf die Füße... und in zwei Tempos!«... womit Pinchinat den jungen Tag einleitet.

Yvernes, das bequemste Mitglied des Quartetts, hätte gewiß drei, oder noch lieber vier, Tempos vorgezogen, um sich aus den molligen Hüllen des Bettes zu schälen. Doch auch er muß dem Beispiele seiner Kameraden folgen und die horizontale Lage gegen die verticale Haltung vertauschen.

»Wir haben keine einzige Minute zu verlieren! bemerkt Seine Hoheit.

– Freilich, schließt Sebastian Zorn sich ihm an, denn morgen müssen wir unbedingt in San Diego sein.

[32] – Schon recht, erwidert Yvernes, ein halber Tag wird ja ausreichen, die Stadt unsers liebenswürdigen Amerikaners zu besuchen.

– Was mich verwundert, läßt sich Frascolin vernehmen, ist, daß überhaupt eine so bedeutende Stadt in der Nähe von Freschal liegt!... Wie mocht' es nur kommen, daß unser Coachman davon kein Sterbenswörtchen gesagt hat?


»Ganz zu Ihren Diensten und Befehlen, meine Herren!« (S. 35.)

– Die Hauptsache bleibt doch, daß wir hier sind, alter G-Schlüssel,« bemerkt Pinchinat.

[33] Durch zwei große Fenster dringt reichliches Licht ins Zimmer, das auf etwa eine Meile Länge Aussicht nach einer schönen, mit doppelter Baumreihe geschmückten Straße bietet.

Die vier Freunde beginnen nun in einem behaglichen Nebenraume ihre Toilette, übrigens eine kurze und leichte Arbeit, denn alles ist hier nach den neuesten Verbesserungen eingerichtet: Drehhähne für warmes und kaltes Wasser zur beliebigen Mischung, Waschgeschirre, die sich durch Achsendrehung selbstthätig entleeren, Fuß- und Handwärmer, Zerstäuber mit wohlriechenden Flüssigkeiten, die nach Belieben in Function treten, durch den elektrischen Strom bewegte Ventilatoren, mechanisch bewegte Bürsten, so daß man an die einen nur den Kopf, an die andern die Kleidung oder die Stiefeln zu halten braucht, um erstere gereinigt, letztere blank gewichst zu bekommen.

Des weiteren, ohne die elektrische Uhr und die elektrischen Oelfläschchen, die sich durch einen Fingerdruck nach Bedarf ergießen, zu rechnen, setzen Klingeltasten oder Telephone die verschiednen Theile der ganzen Anlage mit dem Zimmer in sofortige Verbindung.

Und Sebastian Zorn nebst seinen Kameraden kann von hier aus nicht allein mit dem Hôtel sprechen, sondern auch mit den verschiednen Theilen der Stadt, ja vielleicht gar – das ist wenigstens Pinchinat's Ansicht – mit jeder beliebigen Stadt der Vereinigten Staaten.

»Wenn nicht der beiden Welten,« setzt Yvernes hinzu.

In der Erwartung, sich hiervon noch später zu überzeugen, läßt sich zwei Minuten nach drei Viertel acht Uhr in englischer Sprache folgende telephonische Mittheilung vernehmen:

»Calistus Munbar entbietet seinen Guten Morgen allen verehrlichen Mitgliedern des Concert-Quartetts und ersucht sie, sobald sie dazu fertig sind, herunter zu kommen, um im Dining-room des Excelsior-Hôtels das erste Frühstück einzunehmen.

– Excelsior-Hôtel! rief Yvernes. Der Name dieser Caravanserei klingt vielversprechend!

– Calistus Munbar, das ist unser so ungemein zuvorkommender Amerikaner, bemerkt Pinchinat, und der Name ist großartig!

– Liebe Freunde, ruft der Violoncellist, dessen Magen ebenso selbstwillig ist wie sein Eigenthümer, da der Morgenimbiß aufgetragen ist, wollen wir frühstücken, und nachher...

[34] – Nachher... spazieren wir durch die Stadt, fällt Frascolin ein. Doch welche Stadt in aller Welt kann das sein?«

Da unsre Pariser ihre Morgentoilette schon so ziemlich vollendet haben, antwortet Pinchinat telephonisch, daß sie sich binnen fünf Minuten die Ehre geben werden, Herrn Calistus Munbar's Einladung nachzukommen.

Bald darauf begeben sie sich nach dem Personenaufzug, der sich sofort in Bewegung setzt und sie in die monumentale Vorhalle des Hôtels hinunter befördert. An der Rückseite der Flur liegt die Thür nach dem Dining-room, einem großen, in reichem Goldschmuck erglänzenden Saale.

»Ganz zu Ihren Diensten, meine Herren, ganz zu Ihrem Befehl!«

Der Herr vom vorigen Abend ist es, der diesen Satz von zehn Wörtern ausspricht. Er gehört dem Typus von Persönlichkeiten an, von denen man sagen kann, daß sie sich gleich selbst vorstellen. Erscheint es nicht, als ob man mit ihnen schon lange oder richtiger, schon »von jeher« bekannt wäre?

Calistus Munbar kann zwischen fünfzig und sechzig Jahre zählen, sieht aber höchstens wie ein mittlerer Vierziger aus. Er ist über mittelgroß, ziemlich beleibt und hat starke Gliedmaßen. Gesund und kräftig, zeigt er sichre Bewegungen – kurz, er »platzt« vor Gesundheit, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist.

Dem Sebastian Zorn und seinen Collegen sind solche Leute – deren giebt es ja in den Vereinigten Staaten nicht so wenige – schon oft in den Weg gelaufen. Der gewaltige, kugelrunde Kopf Calistus Munbar's strotzt von noch blondem, üppigem Haar, das auf-und abschwankt, wie Baumlaub unter dem Winde; sein Teint ist recht frisch; der ziemlich lange, rothgelbe Bart läuft in zwei Spitzen aus; den Schnurrbart hat er wegrasiert; der an den Lippenwinkeln etwas hinausgezogene Mund erscheint lächelnd, sogar scherzhaft; die Zähne gleichen blendendweißem Elfenbein; die an der Spitze etwas verdickte Nase, mit leicht beweglichen Flügeln und mit zwei lothrechten Falten unter der Stirn solid befestigt, trägt einen Klemmer, der von einer seinen, gleich einem Seidenfaden schmiegsamen silbernen Schnur gehalten wird. Hinter den Gläsern des Klemmers blitzt ein bewegliches Auge mit grünlicher Iris auf, deren Pupille wie von Kohlengluth erleuchtet aussieht. Dieser Kopf ist mit den Schultern durch einen wirklichen Stiernacken verbunden und der Rumpf auf fleischigen Ober-, nebst tüchtigen Unterschenkeln über etwas großen Füßen aufgebaut.

Calistus Munbar trägt ein weites, katechufarbenes Jacket von Diagonalstoff. Aus der Tasche an der Seite lugt der Zipfel des Taschentuchs hervor. Die stark[35] ausgeschnittne Weste wird von drei goldnen Knöpfen geschlossen gehalten. Von einer Tasche derselben zur andern hängt bogenförmig eine schwere Kette, die an dem einen Ende einen Chronometer, am andern einen Pedometer trägt, ohne die Breloques, die in ihrer Mitte klimpern und klirren. Dieser Goldschmuck wird noch vervollständigt durch einen wahren Rosenkranz von Ringen, womit die vollen, rosenrothen Finger verziert sind. Das tadellos weiße, steife und glanzgeplättete Hemd läßt drei schöne Diamanten sehen und läuft in einen breit zurückgeschlagenen Kragen aus, unter dem eine nicht recht zu bezeichnende Cravatte, mehr nur ein braunrother Galon, herabhängt. Das Beinkleid aus streifigem Stoffe mit weiten Falten verengert sich nur über den mit Aluminiumagraffen geschlossenen Schuhen.

Die Physiognomie dieses Yankee ist im höchsten Maße ausdrucksvoll – die Physiognomie der Leute, die an nichts zweifeln und »die noch ganz andre Dinge gesehen haben«, wie man zu sagen pflegt. Der brave Mann weiß offenbar, was er will, und ist obendrein energisch, was man an der Spannkraft seiner Muskeln und an der sichtbaren Zusammenziehung seines Masseters erkennt. Endlich lacht er gern, und das recht laut, doch mehr durch die Nase als durch den Mund, also in einer Art Kichern, einem hennitus, wie es die Physiologen nennen.

Das ist dieser Calistus Munbar. Beim Eintritt des Quartetts lüftet er den breitkrämpigen Hut, dem eine Feder à la Ludwig XIII. nicht übel angestanden hätte. Er drückt den vier Künstlern die Hände und führt sie dann nach einer Tafel, worauf der Theekessel siedet und der landesübliche Braten dampft. Er spricht unausgesetzt und läßt überhaupt keine Frage aufkommen – vielleicht um einer Antwort auszuweichen – indem er die Vorzüge seiner Stadt hervorhebt, die wunderbare Gründung derselben rühmt, ohne Unterlaß in seinem Monologe fortfährt und diesen nach Beendigung des Frühstücks mit den Worten schließt:

»Wollen Sie mir nun gefälligst folgen, meine Herren! Doch eine Warnung...

– Und die wäre? fragt Frascolin.

– Es ist hier strengstens verboten, auf den Straßen auszuspucken.

– Das ist unsre Gewohnheit nie gewesen, protestiert Yvernes.

– Desto besser, so werden Sie vor Geldstrafen gesichert sein.

– In Amerika... und nicht ausspucken!« murmelt Pinchinat mit einem Tone, in dem sich Ueberraschung und Unglauben vermischen.

[36] Es wäre schwierig gewesen, sich einen Führer zu verschaffen, der gleichzeitig ein Erklärer wie Calistus Munbar gewesen wäre. Er kennt diese Stadt gründlichst. Hier giebt es kein Hôtel, das er nicht zu nennen, kein Haus, von dem er nicht zu sagen wüßte, wer es bewohnte, giebt es keinen Vorüberkommenden, der ihn nicht freundlich begrüßt hätte.

Die ganze Stadt ist sehr regelmäßig angelegt. Alleen und Straßen, letztere auch mit Schutzdach über den Trottoirs, schneiden sich, wie die Linien eines Schachbretts, in rechten Winkeln. Gleichmäßigkeit beherrscht den ganzen geometrischen Plan; doch auch an Abwechslung fehlt es nicht, denn die Häuser folgen, was Styl und äußeres Aussehen wie innere Einrichtung betrifft, keiner andern Regel, als der Phantasie der Architekten. Mit Ausnahme einiger, mehr dem Handel dienenden Straßen, bilden die Häuser der übrigen mehr eine Art Paläste mit ihren, von eleganten Nebengebäuden begrenzten Vorhöfen, dem architektonischen Reichthum ihrer Façaden, mit der luxuriösen Ausstattung der Wohnräume und den Gärten oder richtiger den Parken, die zu jedem Grundstück gehören. Immerhin fällt es auf, daß die Bäume darin nirgends ihre volle Entwicklung erreicht haben. Dasselbe gilt für die, an den Durchschnittsstellen der Hauptverkehrsadern ausgesparten Squares, auf denen man zwar Rasenflächen von entzückender Frische findet, während die Baumgruppen mit ihrem Gemisch von Arten aus der gemäßigten und der heißen Zone dem Erdboden noch nicht genug Nährstoffe abgesaugt zu haben scheinen. Gerade diese Eigenthümlichkeit bildet einen scharfen Gegensatz zu dem Theile des westlichen Amerika, wo in der Nachbarschaft der großen californischen Städte geradezu Riesenwälder die Regel sind.

Das Quartett schlenderte so für sich hin, wobei sie das betreffende Stadtviertel jeder nach seiner Neigung in Augenschein nahmen, Yvernes angezogen von dem, was Frascolin weniger interessierte, Sebastian Zorn von dem, was Pinchinat mehr gleichgiltig ließ... alle jedoch höchst begierig, das Geheimniß zu durchdringen, das die ihnen unbekannte Stadt umhüllte. Die Verschiedenheit der Anschauungen mußte gerade eine Menge recht bezeichnender Beobachtungen ergeben. Uebrigens ist ja auch Calistus Munbar bei der Hand, der auf jede Frage eine Antwort weiß. Doch was sagen wir... eine Antwort?... Er wartet gar nicht ab, bis man ihn fragt, er spricht, plaudert, erklärt in einemfort. Seine Wörtermühle dreht sich schon beim leisesten Lufthauch.

Eine Viertelstunde nach dem Weggange aus dem Excelsior-Hôtel sagt Calistus Munbar:

[37] »Wir befinden uns jetzt in der dritten Alleestraße, und deren hat die Stadt dreißig. Diese hier, die an Verkaufsläden reichste, bildet unsern Broad-way, unsre Regent-stret, unsre Große Friedrichsstraße oder unsern Boulevard des Italiens. In ihren Magazinen und Bazaren findet man das Ueberflüssige neben dem Nothwendigen, alles, was für verfeinertes Wohlleben und modernen Comfort nur irgend verlangt werden kann.

– Die Magazine sehe ich wohl, bemerkt Pinchinat, doch keine Einkäufer...

– Vielleicht ist es noch zu früh am Morgen?... setzt Yvernes hinzu.

– Nein, das kommt daher, antwortet Calistus Munbar, daß die meisten Bestellungen telephonisch oder auch telautographisch erfolgen...

– Telautographisch?... Was bedeutet das? fragt Frascolin.

– Das bedeutet, daß wir vielfach den Telautographen benützen, einen sinnreichen Apparat, der die Handschrift ebenso überträgt, wie das Telephon die Sprache, ohne den Kinetographen zu vergessen, der alle Bewegungen nachbildet und für das Auge dasselbe ist, was der Phonograph für das Ohr ist – und endlich das Telephot, das jedes Bild wiedergiebt. Der Telautograph bietet eine weit größere Sicherheit als die einfache Depesche, mit der jeder Beliebige Mißbrauch treiben kann, deshalb können wir auf elektrischem Wege Bestellungen aufgeben und Rechnungen senden oder Verträge schließen...

– Auch Eheverträge vielleicht... unterbricht ihn Pinchinat ironischen Tones.

– Gewiß, Herr Bratschist. Warum sollte man sich nicht mittelst elektrischen Drahtes verheiraten können...

– Und auch wieder scheiden?...

– Auch wieder scheiden! Das kommt sogar noch häufiger vor!«

Der Cicerone lacht dazu so unbändig, daß alle Schmuckgegenstände an seiner Weste zittern und klirren.

»Sie sind recht lustiger Natur, Herr Munbar, sagt Pinchinat, der von der Heiterkeit des Amerikaners angesteckt wird.

– Warum nicht? Wie ein Schwarm Buchfinken an einem sonnigen Tage!«

Jetzt zeigt sich eine größere Querstraße. Es ist die Neunzehnte Alleestraße, aus der jeder Handelsverkehr verbannt ist. Durch dieselbe verlaufen, wie durch die andern, zwei Trambahngleise. Schnell rollen die Wagen darüber hin, ohne ein Körnchen Staub aufzuwirbeln, denn die mit einem unveränderlichen Belag von Karry oder australischem Jarraholz – warum nicht von brasilianischem Mahagoni? – versehene Straßenfläche ist so sauber, als hätte man sie mit[38] Smirgelpapier abgerieben. Frascolin, der alle physikalischen Erscheinungen scharf beobachtet, meint, daß sie unter den Füßen fast einen metallischen Klang hören lasse.

»Das sind offenbar großartige Eisenindustrielle! sagte er für sich. Nun stellen sie gar die Fahrwege aus Eisenguß her!«

Eben wollte er sich bei Calistus Munbar darüber näher unterrichten, als dieser ausrief:

»Sehen Sie sich dieses Hôtel an, meine Herren!«

Er zeigt dabei nach einem umfänglichen und großartigen Bauwerk, dessen Seitenflügel, die einen Schmuckhof begrenzen, durch ein Gitter aus Aluminium verbunden sind.

»Dieses Hôtel, man könnte sagen, dieser Palast wird von einer der ersten Familien der Stadt bewohnt. Ich erwähnte Ihnen bereits Jem Tankerdon. Der Mann ist Eigenthümer unerschöpflicher Petroleumquellen in Illinois und der reichste und deshalb der ehrbarste und verehrteste unsrer Mitbürger...

– Mit einem Vermögen von Millionen? fragt Sebastian Zorn.

– Pah! stieß Calistus Munbar hervor. Eine Million ist für uns so viel wie ein Dollar, und deren giebt's hier Hunderte! In unsrer Stadt wohnen manche überreiche Nabobs. Damit erklärt es sich, daß die Kaufleute in den Handelsvierteln bald ein Vermögen machen... ich meine die Detailhändler, denn von Großhändlern findet sich auf diesem, in der Welt einzig dastehenden Mikrokosmos kein einziger...

– Aber Industrielle? fragte Pinchinat weiter.

– Industrietreibende giebt es hier nicht!

– So doch wohl Rheder? ließ sich Frascolin vernehmen.

– Ebensowenig!

– Also lauter Rentiers? sagte darauf Sebastian Zorn.

– Nichts als Rentiers, neben Kaufleuten, die im besten Zuge sind, sich eine schöne Rente anzusammeln.

– Nun, aber Handwerker doch auch? bemerkte Yvernes.

– Wenn man Handwerker braucht, läßt man sie von auswärts kommen, und wenn die Leute fertig sind, kehren sie wieder zurück... natürlich mit einem hübschen Batzen Geld in der Tasche.

– Doch selbstverständlich, Herr Munbar, sagt Frascolin, haben Sie auch einige Arme in Ihrer Stadt, und wäre es nur, um die Rasse nicht ganz aussterben zu lassen.

[39] – Arme, mein Herr zweiter Geiger?... Von solchen würden Sie keinen einzigen entdecken!

– So ist das Betteln wohl strengstens verboten?...

– Zu einem solchen Verbote fehlte jede Veranlassung, da die Stadt Bettlern gar nicht zugänglich ist. So etwas paßt für die Städte der Union mit ihren Stiften, Asylen und Arbeitshäusern... und mit den Besserungsanstalten, die jene vervollständigen...

– Wollen Sie damit sagen, daß Sie keine Gefängnisse hätten?

– So wenig, wie wir Gefangene haben.

– Doch mindestens Verbrecher oder Uebelthäter?

– Diese ersuchen wir, in der Alten oder der Neuen Welt zu bleiben, wo sie ihrem Berufe unter günstigeren Umständen obliegen können.

– Wahrhaftig, Herr Munbar, ruft Sebastian Zorn, Ihren Worten nach würde man kaum glauben, sich in Amerika zu befinden.

– Da waren Sie noch gestern, Herr Violoncellist, antwortet dieser merkwürdige Cicerone.

– Gestern? versetzt Frascolin, bemüht, sich den Sinn dieser dunkeln Rede zu deuten.

– Gewiß! Heute befinden Sie sich in einer ganz unabhängigen, freien Stadt, auf die die Union gar kein Recht hat, die nur sich selbst regiert...

– Und deren Name lautet...? fragt Sebastian Zorn, bei dem schon die angeborne Reizbarkeit durchzubrechen anfängt.

– Deren Name? antwortet Calistus Munbar. Gestatten Sie mir, ihn vorläufig noch zu verschweigen.

– Und wann werden wir ihn erfahren?

– Wenn Sie den Besuch der Stadt vollendet haben, worüber sie sich übrigens sehr geschmeichelt fühlen wird.«

Dieser so zurückhaltende Amerikaner ist mindestens ein eigenartiger Mann. Alles in allem kommt nicht so viel darauf an. Vor der Mittagsstunde wird das Quartett seinen merkwürdigen Spaziergang vollendet haben, und wenn es den Namen der Stadt auch erst im Augenblick der Abreise davon erfährt, kann es sich ja wohl damit begnügen. Auffällig an der Sache ist nur eines: Wie kommt es, daß eine so bedeutende Stadt an der Küste Californiens liegt, ohne der Föderation der Vereinigten Staaten anzugehören, und ferner, wie sollte man es erklären, daß der Führer der Coach nicht darauf gekommen war, ihrer Erwähnung[40] zu thun? Das wichtigste bleibt es immerhin, daß die vier Künstler vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden in San Diego eintreffen, wo ihnen dieses Räthsel schon gelöst werden wird, im Falle, daß Calistus Munbar sich nicht dazu herbeiließe.

Diese wunderliche Persönlichkeit hat sich aufs neue ihrer wortreichen Beschreibungslust hingegeben, nicht ohne durchblicken zu lassen, daß sie sich auf weitere Erklärungen nicht einzulassen wünscht.

»Meine Herren, sagt der Amerikaner, hier stehen wir nun am Eingange zur Siebenunddreißigsten Avenue. Betrachten Sie die bezaubernde Perspective! Auch hier [41] giebt es keine Magazine oder Bazare, so wenig wie den Straßentrubel, der sonst die Handelsthätigkeit kennzeichnet. Nur große Privatwohnungen; die Insassen derselben sind aber nicht so vermögend, wie die der Neunzehnten Avenue, es sind mehr kleine Rentiers mit zehn bis zwölf Millionen...

– Arme Schlucker, nicht wahr? spöttelt Pinchinat, dessen Lippen sich zu einem mitleidigen Lächeln verziehen.


Man sah wohl die Magazine, aber keine Käufer. (S. 38.)

– Oho, Herr Bratschist, erwidert Calistus Munbar, einem andern gegenüber kann man immer ein halber Bettler sein. Ein Millionär ist ja schon reich gegen den, der nur hunderttausend Francs besitzt; er ist es aber nicht gegen den, der hundert Millionen sein eigen nennt!«

Wiederholt konnten unsre Künstler bemerken, daß von allen Wörtern, die ihr Cicerone gebrauchte, das Wort »Million« – ein Wort von wahrhaft zauberischer Wirkung – am häufigsten wiederkehrte. Beim Aussprechen desselben blies er die Backen so stark auf, daß es einen richtig metallischen Klang bekam. Es schien fast, als prägte er beim Sprechen schon Goldstücke aus. Sind es auch keine Diamanten, die seinen Lippen, wie dem Munde des Pathenkindes der Feen Perlen und Smaragde, entquellen, so sind es mindestens vollwerthige Goldstücke.

Noch immer spazieren Sebastian Zorn, Pinchinat, Frascolin und Yvernes durch die merkwürdige Stadt, deren geographische Bezeichnung ihnen noch unbekannt ist. Hier belebte Straßen mit einer Menge Menschen in höchst anständiger Kleidung, ohne daß das Auge jemals durch die Lumpen eines Verarmten verletzt wird. Ueberall Tramwagen, Karren und andre Gefährte, die alle mittelst Elektricität bewegt werden. Einzelne große Verkehrsadern sind mit beweglichen Trottoirs versehen, die mittelst einer endlosen Kette im Kreise laufen und worauf die Leute so lustwandeln, als ob sie in einem fahrenden Bahnzuge hin und her gingen, an dessen Eigenbewegung sie natürlich theilnehmen.

Außerdem verkehren besondre elektrische Wagen, die auf der Straße so sanft wie die Bälle auf der Billardtafel dahinrollen. Equipagen im eigentlichen Sinne des Wortes, also Wagen für ausschließliche Personenbeförderung, die von Pferden gezogen werden, trifft man nur in den allerreichsten Stadttheilen.

»Ah, da ist auch eine Kirche!« ruft Frascolin.

Er zeigt dabei nach einem sehr massigen Bauwerke ohne hervortretendem architektonischen Styl, eine Art »Savoyischer Pastete«, die man in die Mitte eines Platzes mit üppigen Rasenflächen gesetzt hat.

[42] »Das ist der protestantische Tempel, erklärt Calistus Munbar, während er vor dem Gebäude Halt macht.

– Giebt es in Ihrer Stadt auch katholische Kirchen? fragt Yvernes.

– O ja. Uebrigens muß ich Ihnen bemerken, daß wir in unsrer Stadt, obwohl es auf der Erde gegen tausend verschiedne Religionen giebt, nur dem Katholicismus oder dem Protestantismus huldigen. Es ist hier nicht so wie in den Vereinigten Staaten, die durch die Religion – wenn nicht schon durch die leidige Politik – veruneinigt werden und wo es ebensoviele Secten wie Familien giebt, wie z. B. Methodisten, Anglikaner, Presbyterianer, Anabaptisten, Wesleyaner u. s. w. – Hier leben nur Protestanten vom calvinistischen Bekenntniß oder römische Katholiken.

– Und welcher Sprache bedient man sich meist?

– Englisch und französisch werden gleich geläufig gesprochen.

– Unsern Glückwunsch dazu! sagt Pinchinat.

– Die Stadt ist deshalb, fährt Calistus Munbar fort, in zwei annähernd gleiche Hälften getheilt. Hier befinden wir uns...

– In der westlichen Hälfte, glaub' ich? fällt Frascolin ein, der sich nach dem Stande der Sonne orientiert.

– In der westlichen?... Nun ja, wenn Sie wollen...

– Wie?... Wenn ich will? erwidert die zweite Geige, sehr erstaunt über eine solche Antwort. Verändern sich denn die Himmelsrichtungen der Stadt nach dem Wunsche jedes Beliebigen?

– Ja und nein... antwortet Calistus Munbar. Doch davon später. Ich komme also auf diese Stadthälfte zurück... auf die westliche, wenn es Ihnen so beliebt, ausschließlich bewohnt von Protestanten, die auch hier immer praktische Leute geblieben sind, während die raffinierteren, mehr der Phantasie nachgebenden Katholiken die andre Hälfte einnehmen. Ich sagte Ihnen schon, daß das Gebäude vor uns der protestantische Tempel ist.

– So sieht er auch aus. Bei seinem schwerfälligen Baustyle kann das Gebet darin keine Erhebung empor zum Himmel, sondern muß eine Herniederbeugung zur Erde sein...

– Gut gebrüllt, Löwe! ruft Pinchinat. Doch in einer so modern ausgestatteten Stadt, Herr Munbar, kann man wohl auch die Predigt oder die Messe durch das Telephon anhören?

– Ganz richtig.

[43] – Und kann auch telephonisch beichten?...

– So wie man sich mittelst Telautographen verheiraten kann, und Sie werden zugeben, daß das eine sehr praktische Einrichtung ist.

– Das will ich meinen, Herr Munbar, bestätigt Pinchinat, praktisch aus dem ff!«

4. Capitel
Viertes Capitel.
Das verblüffte Concert-Quartett.

Um elf Uhr und nach einem so langen Spaziergange ist es gestattet, Hunger zu haben. Unsre Künstler machen von dieser Erlaubniß auch überreichlich Gebrauch. Ihre Magen knurren im Ensemble und sie selbst harmonieren alle darin, um jeden Preis frühstücken zu müssen.

Das ist auch die Ansicht Calistus Munbar's, der ebenso wie seine Gäste der täglichen Nahrungszufuhr bedarf. Da fragten sich die Künstler, ob sie bis nach dem Excelsior-Hôtel zurückkehren sollten.

Ja, denn in der Stadt scheint es nicht viele Restaurants zu geben und offenbar zieht es jedermann vor, sich auf sein Home zu beschränken. Der Verkehr von Touristen aus beiden Welten ist allem Anscheine nach auch sehr gering.

Binnen wenigen Minuten befördert ein Tramwagen die Hungernden nach ihrem Hôtel, wo sie an einer vollbedeckten Tafel Platz nehmen. Hier zeigt sich ein erstaunlicher Gegensatz zu den gewöhnlichen amerikanischen Mahlzeiten, bei denen die Vielheit der Gerichte über deren mangelnde Güte hinwegtäuschen muß. Das Rind- und Hammelfleisch ist vorzüglich; das Geflügel zart und duftend; der Fisch von verlockender Frische. Dazu giebt es, statt des Eiswassers in den Restaurants der Union, verschiedne treffliche Biere und Weine, die unter den Sonnenstrahlen der Rebenhügel von Médoc und Burgund gereift waren.

Pinchinat und Frascolin thun diesem Frühstück alle Ehre an, mindestens ebensoviel wie Sebastian Zorn und Yvernes. Es versteht sich, daß Calistus Munbar nicht unterließ, es ihnen anzubieten, und es wäre doch unhöflich von ihnen gewesen, das nicht anzunehmen.

[44] Der Yankee, dessen Mühle es nie an Wasser fehlt, entwickelt übrigens einen bestrickenden Humor. Er spricht von allem, was die Stadt betrifft, nur nicht von dem, was seine Gäste gern erfahren hätten, d. h. welche die unabhängige Stadt ist, deren Namen er zu nennen zögert. Etwas Geduld, er wird ihn schon verrathen, wenn die Besichtigung des Ganzen zu Ende ist. Sollte er gar darauf ausgehen, das Quartett etwas berauscht zu machen, damit es den Abgang des Zuges nach San-Diego versäumte? Nein, doch nach der tüchtigen Mahlzeit trinken alle wacker drauf los, und ebenso sollte das Dessert noch mit einer Tasse Thee begossen werden, da erzittern die Fensterscheiben des Hôtels von einer gewaltigen Detonation.

»Was war das? fragte Yvernes emporschnellend.

– Beunruhigen Sie sich nicht, meine Herren, antwortet Calistus Munbar, das war die Kanone des Observatoriums.

– Wenn sie nur die Mittagsstunde bezeichnen soll, erwidert Frascolin nach seiner Uhr sehend, so behaupte ich, daß der Schuß zu spät fiel...

– Nein, Herr Bratschist, nein! Die Sonne geht hier ebensowenig wie anderswo vor oder nach!«

Dabei umspielt ein eigenthümliches Lächeln die Lippen des Amerikaners, seine Augen funkeln unter dem Binocle und er reibt sich recht sonderbar die Hände. Man möchte glauben, er beglückwünschte sich, einen guten Schelmenstreich ausgeführt zu haben. Frascolin, der sich von der trefflichen Bewirthung weniger als seine Kameraden gefangen nehmen läßt, sieht ihn mißtrauischen Blickes an, ohne sich deshalb mehr klar zu werden.

»Nun, liebe Freunde – Sie gestatten doch, daß ich mich dieser vertraulichen Anrede bediene – setzt er in liebenswürdigster Weise hinzu, wollen wir wieder aufbrechen, um noch den andern Theil der Stadt zu besuchen; ich käme in Verzweiflung, wenn Ihnen die geringste Einzelheit entginge. Wir haben keine Zeit zu verlieren...

– Um wie viel Uhr geht denn der Zug nach San-Diego ab? fragt Sebastian Zorn, immer besorgt, seine Engagements nicht durch verspätetes Eintreffen zu verfehlen.

– Ja, welch' Zeit? wiederholt Frascolin dringender.

– O... erst am Abend, antwortet Calistus Munbar mit dem linken Auge zwinkernd. Kommen Sie, meine Herren, kommen Sie! Sie werden es nicht bereuen, mich als Führer gehabt zu haben.«

[45] Wie hätte man einer so zuvorkommenden Persönlichkeit nicht folgen sollen? Die vier Künstler verlassen den Saal des Excelsior-Hôtels und schlendern die Straße hinaus. Der Wein muß doch in etwas zu vollem Strome geflossen sein, denn in den Beinen verspüren sie jetzt eine Art Zittern. Der Erdboden scheint eine Neigung zu haben, ihnen unter den Füßen zu entfliehen, obwohl sie sich nicht auf einem der seitwärts weiter gleitenden Trottoirs befinden.

»He! He! Halte mich ein – bischen, Chatillon! ruft taumelnd Seine Hoheit der Bratschist.

– Ich glaube, wir haben etwas zu viel getrunken, stammelt Yvernes, indem er sich die Stirn abtrocknet.

– Lassen Sie's gut sein, meine Herren Pariser, einmal ist ja nicht immer!... Wir mußten doch Ihre Ankunft begießen...

– Und haben dabei die Gießkanne bis auf den Grund geleert!« fällt Pinchinat ein, der sich dabei nach Kräften betheiligt hat und noch niemals so guter Laune war wie heute.

Unter Leitung Calistus Munbar's gelangen sie nun nach einem der Quartiere der zweiten Stadthälfte. Hier herrscht weit mehr Leben von minder puritanischem Anstrich, so als wenn man urplötzlich aus den Nordstaaten nach den Südstaaten der Union, aus Chicago nach New-Orleans, aus Illinois nach Luisiana versetzt worden wäre. Die Läden hier sind glänzender ausgestattet, die größern Wohnhäuser sind eleganter, die Villen comfortabler, die Paläste und Hôtels ebenso großartig, wie in dem protestantischen Stadttheile, und dazu noch von bestrickenderem Aussehen. Auch die Bevölkerung unterscheidet sich durch ihre Haltung, wie ihr Auftreten und Benehmen. Man möchte glauben, hier in einer Doppelstadt, ähnlich den bekannten Doppelsternen, zu sein, bis auf den Unterschied, daß sich die beiden Hälften nicht um einander drehen.

So ziemlich im Herzen der zweiten Hälfte angelangt, bleibt die Gruppe etwa in der Mitte der Fünfzehnten Avenue stehen und Yvernes ruft:

»Meiner Treu, das ist ein wirklicher Palast!

– Das Palais der Familie Coverley, antwortet Calistus Munbar. Nat Coverley, der Nebenbuhler Jem Tankerdon's...

– Und reicher als dieser? fragt Pinchinat.

– Das nicht, aber ebenso vermögend, erklärt der Amerikaner. Ein Ex-Banquier aus Neu-Orleans, der mehr Hunderte von Millionen als Finger an den Händen besitzt.

[46] – Ein hübsches Paar Handschuhe, lieber Herr Munbar!

– Wie Sie das nehmen wollen.

– Und die beiden Notabeln, Jem Tankerdon und Nat Coverley, sind natürlich Feinde...

– Mindestens Rivalen, die beide in städtischen Angelegenheiten ihr Uebergewicht geltend zu machen streben und auf einander eifersüchtig sind...

– Und sich schließlich auffressen werden? fragt Sebastian Zorn.

– Vielleicht, und wenn Einer den Andern verschlingt...

– Das wird Einem einen ordentlich verdorbnen Magen geben!« meint die Bratsche.

Calistus Munbar schüttelt sich vor Lachen über den Scherz.

Die katholische Kirche erhebt sich auf einem großen Platze, der ihre glücklich getroffenen Verhältnisse zu bewundern gestattet. In gothischem Styl erbaut, braucht man nicht zu weit zurückzuweichen, um sie betrachten zu können, denn die lothrechten Linien, denen jener Styl seine Schönheit verdankt, verlieren von weither gesehen ihren Charakter. Saint-Mary Church verdient Bewunderung wegen der Schlankheit ihrer Pinakeln, der Leichtigkeit ihrer Rosetten, wegen der Eleganz ihrer gerippten Wölbungen und der Schönheit ihrer Fenster mit verschlungenem Rankenwerk.

»Ein schönes Beispiel angelsächsischer Gothik! läßt sich Yvernes vernehmen, der ein begeisterter Liebhaber der Architektonik ist. Sie hatten Recht, Herr Munbar, die beiden Stadthälften gleichen einander ebensowenig, wie der Tempel der einen der Kathedrale der andern!

– Und doch, Herr Yvernes, sind die beiden Hälften von einundderselben Mutter geboren...

– So?... Aber nicht von demselben Vater? bemerkt Pinchinat dazwischen.

– Gewiß... auch von demselben Vater, meine vortrefflichen Freunde! Sie sind nur in verschiedner Weise hergestellt, indem sie den Bedürfnissen und Wünschen derer angepaßt wurden, die hier ein ruhiges, glückliches, sorgenloses Leben suchten – ein Leben, wie es keine andre Stadt, weder in der Alten, noch in der Neuen Welt zu bieten vermag.

– Beim großen Apoll, Herr Munbar, antwortet Yvernes, hüten Sie sich, unsre Neugier allzusehr zu reizen! Es erscheint, als ob Sie eine musikalische Phrase sängen, die die Tonica zu lange vermissen läßt...

[47] – Und damit schließlich das Ohr ermüdet, setzt Sebastian Zorn hinzu. Ich dächte, der Zeitpunkt wäre gekommen, wo Sie sich entschließen, uns den Namen dieser außergewöhnlichen Stadt nicht länger zu verschweigen.

– Noch nicht, werthe Herren, erwidert der Amerikaner, während er das Binocle auf dem Nasenrücken zurechtschiebt. Gedulden Sie sich bis zum Ende unsers Spaziergangs und lassen Sie uns jetzt weiter gehen...


Sie standen vor einem mit Blumen und Zierpflanzen verzierten Garten. (S. 50.)

– Ehe wir das thun, meldet sich Frascolin, dessen Gefühlen von Neugier sich eine unbestimmte Unruhe beimischt, hätte ich einen Vorschlag...


Das murmelnde Wasser glitt durch die Landschaft dahin. (S. 51.)

– Und der wäre?...

– Warum sollten wir nicht den Thurm der Saint-Mary-Church ersteigen? Von da aus hätten wir einen vollen Ueberblick...

– Nein, das nicht! wehrt Calistus Munbar ab und [48] schüttelt dazu das buschige Haupt, jetzt nicht... später einmal...

– Doch wann? fragt der Violoncellist, der ob dieser geheimnißvollen Ausflüchte langsam in die Wolle kommt.

– Nach Beendigung unsers kleinen Ausflugs, Herr Zorn.

[49] – Wir kehren demnach zu dieser Kirche zurück?

– Nein, liebe Freunde. Wir beschließen unsern Spaziergang durch einen Besuch des Observatoriums, dessen Thurm den der Saint Mary-Church um ein Drittel an Höhe überragt.

– Ich sehe aber nicht ein, fährt Frascolin dringender fort, warum wir die sich hier bietende Gelegenheit nicht benützen sollten...

– Weil... weil mir damit der Schlußeffect verdorben würde.«

Eine andre Antwort ist dem räthselhaften Manne nicht zu entlocken.

Da es das beste erscheint, sich ins Unvermeidliche zu fügen, werden die verschiednen Alleestraßen der zweiten Hälfte gewissenhaft durchwandert. Dann folgt ein Besuch der Handelsviertel, der der Schneider, Schuhmacher, Hutmacher, Fleischer, Gewürzkrämer, Bäcker, Fruchthändler u. s. w. Calistus Munbar, der von den meisten ihm begegnenden Personen gegrüßt wird, erwidert diese Grüße mit eitler Selbstgefälligkeit. Er ermüdet nicht in seinen Standreden, zeigt auf alles Bemerkenswerthe hin und seine Zunge schwingt im Munde eben so eifrig, wie der Klöppel einer Kirchenglocke am Feiertage.

Gegen zwei Uhr ist das Quartett an dieser Seite zur Grenze der Stadt gelangt, die von einem herrlichen, mit Blumen und Schlingpflanzen verzierten Gitter gebildet wird. Weiter draußen liegt offnes Land, dessen Kreislinie mit dem Horizonte zusammenfällt.

Hier macht Frascolin für sich eine Beobachtung, die er seinen Genossen noch nicht mittheilen zu sollen glaubt. Alles wird sich ja auf der Höhe des Thurmes vom Observatorium erklären. Diese Beobachtung geht dahin, daß die Sonne, statt sich in Südwest zu befinden, wo sie doch nach zwei Uhr nachmittags sein sollte, jetzt mehr im Südosten steht.

Ein so überlegender Geist wie Frascolin mußte darüber nothwendiger Weise erstaunen, und er fing schon an, sich »das Gehirn zu zermartern«, wie Rabelais sagt, als Calistus Munbar seinen Gedanken eine andre Richtung gab, indem er plötzlich ausrief:

»Meine Herren, die Trambahn wird in wenigen Minuten abgehen. Wir wollen nach dem Hafen aufbrechen...

– Nach dem Hafen? wiederholt Sebastian Zorn erstaunt.

– Ja, es handelt sich nur um eine Fahrt von höchstens einer Meile (1609 Meter), wobei Sie auch Gelegenheit finden, unsern Park zu bewundern.«

[50] Wenn es hier einen Hafen giebt, so muß er etwas ober- oder unterhalb der Stadt, an der Küste Nieder-Californiens liegen. Wo sollte man ihn sonst suchen, wenn nicht an irgend einem Punkte dieses Küstenstrichs?

Ein wenig betroffen nehmen die Künstler auf den Bänken eines eleganten Tramwagens Platz, in dem schon mehrere andre Fahrgäste sitzen.

Diese drücken Calistus Munbar die Hand – der Sapperment ist doch aller Welt bekannt – und die Dynamos des Wagens arbeiten mit gewohntem Eifer.

Calistus Munbar hatte Recht, die nächste Umgebung der Stadt als »Park« zu bezeichnen. Hier zeigen sich unendlich lange Alleen, saftig grüner Rasen, farbige, grade oder zickzackförmige Umschließungen, Fences genannt; rund um die abgegrenzten Flächen stehen Baumgruppen mit Eichen, Ahorn, Buchen, Kastanien- und Zirbelbäumen, Ulmen und Cedern, alle noch jung und von den verschiedensten Vögeln belebt. Das Ganze ist eine richtige englische Anlage mit plätschernden Springbrunnen und Blumenarrangements, die jetzt in frischester Frühlingspracht prangen, mit Strauchwerk der verschiedensten Arten, wie riesige, denen in Monte Carlo gleichenden Geranien, mit Orangen-, Citronen- und Olivengebüsch, mit Lorbeerrosen, Mastix, Aloes, Camelien, Dahlien, weißen Alexandrinerrosen, Hortensien, weißen und rosenrothen Lotosblumen, mit südamerikanischen Passionsblumen, reichen Sammlungen von Fuchsien, Salbei, Begunien, Hyacinthen, Tulpen, Crocus, Narcissen, persischen Ranunkeln, bärtiger Iris, Cyclamen, Orchideen, Pantoffelblumen, baumartigen Farrn, und ferner mit Vertretern der Tropenzone, wie indischem Blumenrohr, Palmen, Datteln, Feigen, Eukalypten, Mimosen, Bananen, Goyaven (indischen Birnen), Flaschenkürbissen, Cocosbäumen – kurz mit allem, was der Pflanzenfreund in den reichsten botanischen Gärten nur suchen kann.

Bei seiner Vorliebe für die alte Poesie muß sich Yvernes in die bukolischen Gefilde aus der Geschichte der Asträa versetzt wähnen. Wenn freilich auch die Lämmer den frischen Grasflächen nicht fehlen, röthliche Kühe zwischen den Umgrenzungen weiden und Damwild, Hirschkühe und andre graciöse Vierfüßler zwischen den Bäumen sich tummeln, so wird er doch die Schäfer D'Urfé's und dessen reizende Schäferinnen vermissen. Was den Lignon angeht, so wird dieser durch einen geschlängelten Flußlauf ersetzt, dessen murmelndes Wasser durch die leichthügelige Landschaft hingleitet.

Das Ganze erscheint nur wie künstlich geschaffen.

[51] Der ironische Pinchinat sieht sich deshalb zu der Bemerkung veranlaßt:

»Ah, das ist wohl alles, was sie an Flüssen angelegt haben?

– An Flüssen?... Wozu sollten sie dienen? antwortet Calistus Munbar.

– Nun, selbstverständlich, um Wasser zu haben.

– Wasser... das heißt eine im allgemeinen ungesunde, mikrobische und den Typhus gebärende Flüssigkeit?...

– Mag sein, man kann sie aber doch reinigen...

– Wozu sich erst damit bemühen, wenn man im Stande ist, ein hygienisches, von jeder Verunreinigung freies, auf Wunsch auch moussierendes oder eisenhaltiges Wasser zu erzeugen?

– Sie fabricieren also Ihr Wasser? erkundigt sich Frascolin.

– Gewiß, und wir liefern es kalt oder warm in die Wohnungen, ebenso wie wir Licht, Töne, Zeit, Wärme, Kälte, motorische Kraft, Antiseptica und Elektrisation durch Selbstleitung vertheilen...

– Dann darf man wohl auch annehmen, spöttelt Yvernes, daß Sie sich den nöthigen Regen erzeugen, um Ihre Rasenflächen und Blumen zu erfrischen?

– Wie Sie sagen, Herr erster Geiger, versichert der Amerikaner, während er mit den von Juwelen glitzernden Fingern durch den dichten Bart streicht.

– Also Regen auf Befehl! ruft Sebastian Zorn.

– Jawohl, liebe Freunde, Regen, den ein im Erdboden liegendes Röhrennetz in regelmäßig geordneter, vortheilhafter und praktischer Weise zu spenden und zu vertheilen gestattet. Ist das nicht weit besser als zu warten, bis es der Natur zu regnen beliebt, sich den Launen der Klimate zu unterwerfen, auf unpassende Witterung zu schimpfen, die einmal eine zu lange andauernde Nässe und dann wieder eine verzehrende Dürre bietet, ohne Abhilfe schaffen zu können?

– Halt, hier muß ich Sie festnageln, Herr Munbar! fällt Frascolin ein. Zugegeben, daß Sie sich Regen zu verschaffen vermögen, so werden Sie doch nicht im Stande sein, ihn zu verhindern, vom Himmel zu fallen.

– Vom Himmel? Was hat denn der damit zu schaffen?

– Nun, der Himmel oder, wenn Sie das lieber wollen, die Wolken, die sich entleeren, die atmosphärischen Strömungen mit ihrem Gefolge von Cyclonen, Tornados, Windstößen, Stürmen, Orkanen... Wenn z. B. die schlechte Jahreszeit kommt...

– Die schlechte Jahreszeit?... wiederholt Calistus Munbar.

– Ja, der Winter...

[52] – Der Winter?... Was ist denn das?

– Ich sagte: der Winter mit Frost, Schnee und Eis! ruft Sebastian Zorn, den die ironischen Antworten des Yankee in Wuth bringen.

– Kennen wir nicht!« versichert Calistus Munbar sehr gelassen.

Die vier Pariser sehen einander an. Haben Sie hier einen Narren oder einen Menschen vor sich; der sie nur foppen will? Im ersten Falle müßte er eingesperrt, im zweiten durch eine Tracht Prügel curiert werden.

Inzwischen rollen die Tramwagen mit mäßiger Schnelligkeit durch die bezaubernden Anlagen dahin. Sebastian Zorn und seine Genossen glauben zu bemerken, daß jenseits der Grenzen dieses großen Parks regelrecht angebaute Landstücke liegen, die mit ihren verschiednen Farben den Stoffmustern ähneln, wie man solche zuweilen an Schneiderläden ausgestellt findet. Jedenfalls sind das Felder mit Gemüsen, Kartoffeln, Kohl, Mohrrüben, Lauch, kurz mit allem, was zur gewöhnlichen Küche gehört.

Gern wären sie schon draußen im freien Lande gewesen, um zu sehen, was dieses eigenartige Gebiet an Korn, Weizen, Hafer, Mais, Gerste, Buchweizen und andern Körnerfrüchten hervorbrachte.

Dagegen zeigt sich eine große Werksanlage, deren eiserne Schronsteine die niedrigen, mit mattem Glas eingedeckten Dächer daneben überragen. Die von eisernen Stangen gehaltenen Schornsteine gleichen denen eines Dampfers, eines »Great Eastern«, dessen mächtige Schrauben von hunderttausend Pferdekräften bewegt werden, nur mit dem Unterschiede, daß ihnen statt des schwarzen Rauches nur dünne Wölkchen entsteigen, die die Lust nicht im mindesten verunreinigen.

Diese Anlage bedeckt eine Fläche von zehntausend Quadratyards, also fast einen Hektar. Es ist das erste industrielle Etablissement, das dem Quartett, seitdem es unter Führung des Amerikaners seine »Ausflüge macht«, hier vor Augen gekommen ist.

»Ah, was für eine Anlage ist das? fragt Pinchinat.

– Eine Fabrik mit Petroleum-Verdampfungsapparaten, antwortet Calistus Munbar, dessen spitziger Blick die Gläser seines Binocles zu durchbohren droht.

– Und was erzeugt man in dieser Fabrik?

– Elektrische Energie für den Park, das Feld und überhaupt für die ganze Stadt, wo sie in Kraft umgesetzt wird. Diese Werkstätten liefern auch den Strom für unsre Telegraphen, Telautographen, Telephone, Telephote, für die [53] Klingeln und Küchenösen, die Arbeitsmaschinen, Bogen- und Glühlampen, für unsre Aluminiummonde und unterseeischen Kabel...

– Ihre unterseeischen Kabel? fällt Frascolin lebhaft ein.

– Gewiß, für die, die die Stadt mit verschiednen Stellen der amerikanischen Küste verbinden...

– Und dazu war es nöthig, ein so ungeheures Werk zu errichten?

– Das will ich meinen, bei unserm großen Verbrauch an elektrischer... und auch an moralischer Energie! erwidert Calistus Munbar. Glauben Sie mir, meine Herren, es hat einer unberechenbaren Dosis von letzterer bedurft, um diese unvergleichliche, in der Welt ohne Rivalin dastehende Stadt zu gründen!«

Weithin in der Umgebung hört man das dumpfe Getös aus dem riesigen Werke, das mächtige Abblasen des Dampfes, das Stoßen der Maschinen, und fühlt man ein Zittern des Erdbodens als Beweis für die ungeheure Kraft, die alles übertrifft, was in der modernen Industrie bisher geleistet worden ist. Wer hätte ahnen können, daß eine solche Kraft zur Bewegung der Dynamos und zur Ladung der Accumulatoren nöthig gewesen wäre?

Der Wagen rollt weiter und hält nach etwa einer Viertelmeile Weges an der Station beim Hafen. Alle steigen aus, und ihr Führer, der wie immer von Lobpreisungen überfließt, geleitet sie nach den Quais, an denen Niederlagen und Docks errichtet sind. Der Hafen bildet ein Oval, geräumig genug, um etwa ein Dutzend Seeschiffe aufzunehmen. Es ist mehr ein Bassin als ein Hafen, das durch zwei auf Eisengerüsten ruhenden Piers gebildet und an jeder Seite mit einem kleinen Leuchtthurm ausgestattet ist, um das Einlaufen von Schiffen zu jeder Zeit zu ermöglichen.

Heute liegen in dem Bassin nur ein halbes Dutzend Dampfer, wovon die einen Petroleum zuführen, die andern Vorräthe für den täglichen Bedarf gebracht haben, und außerdem einige mit elektrischen Apparaten versehene größre Boote, die zum Fischfang auf hoher See verwendet werden.

Frascolin beobachtet, daß der Eingang zum Hafen nach Norden zu liegt, und schließt daraus, daß er das nördliche Ende einer jener Landspitzen einnehmen muß, die sich von der Küste Nieder-Californiens in den Stillen Ocean hinaus erstrecken. Er bemerkt auch, daß die Meeresströmung mit ziemlicher Intensität nach Osten hin verläuft, weil sie am Unterbau der Piers wie die an die Planken eines segelnden Fahrzeuges anklatschenden Wellen anschlägt – offenbar eine[54] Wirkung der steigenden Fluth, obwohl die Gezeiten an den Westküsten Amerikas nicht eben stark auftreten.

»Wo ist denn nun der Fluß, über den wir gestern mit dem Fährschiffe gekommen sind? fragt Frascolin.

– Dem wenden wir jetzt den Rücken zu,« begnügt sich der Yankee zu antworten.

Nun gilt es aber, mit der Zeit zu geizen, wenn die Gesellschaft noch zur Stadt zurückkehren will, um den Zug nach San Diego zu benützen.

Sebastian Zorn erinnert Calistus Munbar daran, und dieser erwidert:

»Fürchten Sie nichts, liebe Freunde, wir haben Zeit genug. Die Trambahn befördert uns, nachdem wir dem Ufer entlang gegangen sind, zur Stadt zurück. Sie hatten den Wunsch ausgedrückt, einen Ueberblick über diese Gegend zu haben, und vor Ablauf einer Stunde werden Sie den vom Thurme des Observatoriums aus genießen können.

– Sie stehen also dafür ein..., begann der Violoncellist noch einmal.

– Ich stehe dafür ein, daß Sie morgen bei Sonnenaufgang nicht mehr da sein werden, wo Sie augenblicklich sind!«

Mit dieser etwas erkünstelten Antwort mußten sie sich wohl oder übel begnügen. Uebrigens quält Frascolin die Neugier vielleicht noch mehr als die Andern. Es verlangt ihn, auf jenem Thurm zu stehen, von wo aus der Blick nach Aussage des Amerikaners sich über einen Horizont von wenigstens hundert Meilen Umfang erstreckt. Erlangt man dadurch keine Klarheit über die geographische Lage dieser merkwürdigen Stadt, so mußte man wohl für immer darauf verzichten.

Am hintern Theile des Hafenbassins mündet eine andre Trambahn, die längs des Meeres hin verläuft. Der abgehende Zug besteht aus sechs Wagen, in denen schon viele Fahrgäste sitzen. Diese Wagen werden von einer elektrischen Locomotive gezogen, deren Accumulatoren eine Capacität von zweihundert Volt-Ampères haben, und ihre Geschwindigkeit erreicht achtzehn Kilometer in der Stunde.

Calistus Munbar nöthigt das Quartett einzusteigen, und unsre Pariser konnten glauben, daß der Trambahnzug nur auf sie gewartet hätte.


Der Hafen konnte ein Dutzend Seeschiffe aufnehmen.(S. 54.)

Was sie von der Landschaft zu sehen bekommen, unterscheidet sich wenig von dem Parke, der sich zwischen Stadt und Hafen ausdehnt. Derselbe ebene und sorgfältig unterhaltene Erdboden. Grüne Wiesen und Felder, statt der Rasenflächen, das ist alles; Gemüsepflanzungen, doch keine Getreideäcker. Eben jetzt [55] ergießt sich, aus den unterirdischen Röhren hervorspringend, ein wohlthätiger, reichlicher Regen auf die langen, nach Winkel und Richtscheit angelegten Rechtecke.

Der Himmel hätte ihn gar nicht so genau berechnet und zweckentsprechend vertheilen können.

Die Gleise folgen dem Ufer, so daß sie das Meer auf der einen, das Land auf der andern Seite haben. So rollen die Wagen fast vier Meilen – gegen sechs Kilometer – dahin. Dann halten sie vor einer Batterie von zwölf [56] großen Geschützen, zu denen der Eingang die Aufschrift: »Rammsporn-Batterie« trägt.

»Hinterlade-Kanonen, die sich niemals nach der falschen Seite entladen, wie das bei den Geschützen des alten Europa so häufig vorkommt!« bemerkt Calistus Munbar dazu.

An dieser Stelle zeigt die Küste einen sehr scharfen Rand und bildet einen spitz auslaufenden Vorsprung, der dem Vordertheile eines Schiffsrumpfes, oder gar dem Sporn eines Panzerschiffes gleicht, an dem sich die Wellen zertheilen, [57] indem sie ihn mit ihrem weißen Schaum benetzen. Offenbar ist das eine Wirkung der Strömung, denn draußen bewegt sich das Wasser nur in langer, flacher Dünung, die mit dem Niedergange der Sonne noch weiter abzunehmen verspricht.


Die Propeller-Insel. (S. 59.)

Von diesem Punkte geht eine zweite Trambahnlinie nach dem Mittelpunkte der Stadt aus, während die erstere der Uferkrümmung weiter folgt.

Calistus Munbar steigt hier mit seinen Gästen um und meldet ihnen, daß sie nun geraden Weges nach der Stadt zurückkehren werden.

Die Promenade ist auch lang genug gewesen. Calistus Munbar zieht seine Uhr hervor, ein Meisterstück von Sivan in Genf... eine sprechende, phonographische Uhr. Er drückt daran auf einen Knopf und man hört sie deutlich sagen: Vier Uhr dreizehn Minuten.

»Sie vergessen doch nicht, daß wir den Thurm des Observatoriums besteigen wollen? meldet sich Frascolin.

– Vergessen, meine lieben und schon alten Freunde!... Eher würde ich meinen eignen Namen vergessen, der sich übrigens einiger Berühmtheit erfreut. Noch vier Meilen, und wir werden vor dem prächtigen Gebäude stehen, das am Ende der Ersten Avenue errichtet ist, die beide Hälften unsrer Stadt scheidet.«

Der Wagen ist abgegangen. Jenseits der Felder, auf die noch immer »der Nachmittagsregen« – so sagte der Amerikaner – niederrieselt, zeigt sich wieder der mit Barrièren umschlossene Park mit seinen Baumgruppen, Rasenflächen und Blumenkörben.

Da schlägt es halb fünf Uhr. Zwei Weiser zeigen die Stunde auf einem riesigen Zifferblatte, das, an einem viereckigen Thurme angebracht, etwa dem des Londoner Parlamentshauses ähnelt.

Am Fuße des Thurmes liegen die für die verschiednen Dienstzweige des Observatoriums bestimmten Gebäude. Einige derselben, die mit metallenen Kuppeln und verglasten Spalten in letzteren versehen sind, gestatten den Astronomen, den Lauf der Gestirne zu beobachten. Sie umschließen einen geräumigen Hof, in dessen Mitte sich der hundertfünfzig Fuß hohe Thurm erhebt. Von seiner obern Gallerie reicht der Blick auf fünfundzwanzig Kilometer weit hinaus, da der Horizont von keinem Hügel, keinem Berg verdeckt wird.

Seinen Gästen vorausgehend, schreitet Calistus Munbar durch eine Thür, die ihm ein Diener in reicher Livrée geöffnet hat. Im Hintergrunde der Hausflur befindet sich der mittelst Elektricität betriebene Aufzug. Das Quartett nimmt mit seinem Führer in dem Fahrstuhle Platz. Dieser steigt sofort sanft und gleichmäßig [58] in die Höhe. Nach fünfundvierzig Secunden hält er an der Plattform des Thurmes an.

Auf dieser Plattform erhebt sich eine riesige Flaggenstange, an der das Flaggentuch im schwachen Nordwinde flattert.

Welche Nationalität diese Flagge bezeichnet, vermögen unsre Pariser nicht zu ergründen. Auf den ersten Blick scheint es die amerikanische Flagge mit den wagrechten rothweißen Streifen zu sein; die obere innere Ecke enthält aber statt der siebenundsechzig Sterne, die zu jener Zeit am Firmament des Staatenbundes funkeln, nur einen einzigen: einen Stern oder vielmehr eine goldne Sonne, die von dem Himmelblau der Flaggenecke schimmert und mit dem Strahlenglanze des Tagesgestirns rivalisieren zu können scheint.

»Unsre Flagge, meine Herren, sagt Calistus Munbar, der ehrerbietig das Haupt entblößt.

Sebastian Zorn und seine Kameraden können nicht umhin, es ihm nachzuthun. Dann treten sie an die Brustwehr der Plattform heran, beugen sich hinaus..

Da entringt sich ihrer Brust ein lauter Aufschrei – erst der Ueberraschung und dann des hellen Zorns.

Vor ihren Blicken liegt das ganze Land, und dieses Land zeigt die Form eines regelmäßigen Ovals, das von einem Meereshorizonte eingefaßt ist. So weit der Blick schweifen kann, nirgends ist Land in Sicht.

Und doch sind Sebastian Zorn, Frascolin, Yvernes und Pinchinat gestern in der Nacht, nachdem sie das Dorf Freschal im Wagen des Amerikaners verlassen hatten, zwei Meilen weit stets dem Wege über Land gefolgt. Darauf haben sie, gleich im Wagen verbleibend, mittelst der Fähre nur einen Wasserlauf überschritten und sind dann wieder auf festes Land gekommen.

Hätten sie die Küste Californiens auf einem Schiffe verlassen, so müßten sie das doch bemerkt haben...

Frascolin wendet sich voller Erregung an Calistus Munbar.

»Wir sind doch auf einer Insel? fragt er.

– Wie Sie sagen, bestätigt der Yankee, dessen Mund sich zum verbindlichsten Lächeln verzieht.

– Und welche Insel ist das?

– Standard-Island.

– Und diese Stadt heißt...?

– Milliard-City.«

[59]
5. Capitel
Fünftes Capitel.
Standard-Island und Milliard-City.

Jener Zeit erwartete man noch einen unternehmenden Statistiker und gleichzeitigen Geographen, der die wirkliche Zahl der auf der Erdkugel verstreuten Inseln angegeben hätte. Es wird nicht übertrieben sein, wenn man diese Zahl zu mehreren Tausenden veranschlagt. Und unter diesen Inseln hätte sich keine einzige befunden, die den Wünschen der Gründer von Standard-Island und den Bedürfnissen seiner späteren Bewohner entsprochen hätte? Nein, keine einzige! Daher der »amerikamechanisch« praktische Gedanke, eine nach allen Seiten neue, künstliche Insel herzustellen, die die vollkommenste Leistung der modernen Metallurgie bilden sollte.

Standard-Island – was man etwa mit »Muster-Insel« übersetzen könnte – ist eine Schrauben- oder Propeller-Insel und Milliard-City ihre Hauptstadt. Woher dieser Name stammt?... Offenbar daher, daß die Stadt die der Milliardäre, der Gould's, der Vanderbilt's und der Rothschild's ist. Man wird hier einwenden, daß das Wort »Milliarde« in der englischen Sprache nicht vorkommt. Die Angelsachsen der Alten und der Neuen Welt sagen noch immer: a thousand millions, tausend Millionen. Milliarde ist ein französisches Wort. Dennoch ist es seit einigen Jahren in die Volkssprache Großbritanniens und der Vereinigten Staaten übergegangen und auf die Hauptstadt Standard-Islands mit voller Berechtigung angewendet worden.

Eine künstliche Insel ist ja eine Idee, die an und für sich keine außergewöhnliche zu nennen ist. Mit hinreichender Menge von Material, das in einem Strome, einem See oder einem Meer versenkt wird, liegt es für Menschen nicht außer der Möglichkeit, eine solche herzustellen. Das hätte hier aber nicht genügt. Mit Rücksicht auf ihre Bestimmung, auf die Anforderungen, denen sie entsprechen sollte, mußte diese Insel ihre Lage verändern können, also schwimmfähig sein. Hierin lag eine Schwierigkeit, die jedoch nicht über die Leistungsfähigkeit der Werkstätten für Eisenbearbeitung hinausging, denen Maschinen von sozusagen unbegrenzter Kraft zu Gebote standen.

[60] Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Amerikaner bei ihrer Vorliebe für das Große, ihrer Bewunderung für das »Enorme«, den Plan entworfen, mehrere hundert Kilometer vom Festlande in offner See ein riesenhaftes, durch Anker festgehaltenes Floß zu bauen. Das wäre, wenn auch keine Stadt, so doch im Atlantischen Meere eine Station geworden, mit Restaurants, Hôtels, Theatern, Clublocalen u. s. w., wo die Touristen alle Annehmlichkeiten der beliebtesten Badeorte gefunden hätten. Eben dieses Project war nun hier, nur in mehr vollkommener Weise, zur Ausführung gebracht... statt des festliegenden Flosses hatte man eine bewegliche Insel geschaffen.

Sechs Jahre vor der Zeit, wo unsre Geschichte beginnt, war eine amerikanische Gesellschaft unter der Firma Standard-Island Company limited mit einem Capitale von fünfhundert Millionen Dollars (zwei Milliarden Mark), getheilt in fünfhundert Antheilscheine, gegründet worden, um die künstliche Insel herzustellen, die den Nabobs der Vereinigten Staaten alle die Vortheile bieten sollte, welche den an die Stelle gebundnen Gebieten der Erdkugel fehlen. Die Antheilscheine wurden schnell untergebracht, so zahlreich sind in Amerika die ungeheuern Vermögen, die der Ausbeutung der Eisenbahnen oder Bankoperationen, dem Ertrage von Petroleumquellen oder dem Handel mit gepöckeltem Schweinefleisch entsprangen.

Die Herstellung der Insel nahm vier Jahre in Anspruch. Es dürfte hier angebracht sein, die wichtigsten Größenverhältnisse, die innere Einrichtung und die Apparate zur Fortbewegung anzugeben, die ihr gestatten, immer die angenehmsten Theile der ungeheuern Fläche des Stillen Weltmeers aufzusuchen.

Schwimmende Dörfer giebt es in China auf dem Yang-Tse-Kiang, in Brasilien auf dem Amazonenstrome, in Europa auf der Donau und wenn man will, in kleinerem Maßstabe auf vielen schiffbaren Gewässern. Das sind aber nur für kurze Zeit berechnete Constructionen mit einigen Häuschen, die auf langen Flößen errichtet wurden. Am Bestimmungsorte angelangt, wird der Holzbau auseinandergenommen, die Häusergruppe abgebrochen und das Dörfchen hat ausgelebt.

Mit der Insel, von der wir hier reden, liegt die Sache ganz anders; sie sollte auf dem Meere schwimmen... für immer, soweit das Werk der Menschenhand eben Bestand hat.

Wer weiß denn, ob die Erde nicht eines Tages zu klein werden wird für ihre Bewohner, deren Anzahl im Jahre 2072 der Rechnung nach auf sechstausend Millionen steigen dürfte, wie es Ravenstein und andre Gelehrte mit erstaunlicher [61] Sicherheit behaupten? Wenn das Festland dann überfüllt ist, muß man sich doch entschließen, als Wohnstätte das Meer zu Hilfe zu nehmen.

Standard-Island ist eine Insel aus Stahlplatten, und die Tragfähigkeit und Widerstandskraft ihres Rumpfes wurden unter Berücksichtigung des ungeheuern Gewichtes, das darauf lasten sollte, berechnet. Sie ist aus zweihundertsiebzigtausend Einzelbehältern zusammengesetzt, von denen jeder sechzehn Meter siebzig Centimeter hoch und je zehn Meter lang und breit ist. Die Oberfläche jedes Behälters mißt also zehn Meter an jeder Seite oder umfaßt ein Ar, gleich hundert Quadratmetern. Alle durch Bolzen und Nieten miteinander verbundene Behälter bilden die etwa siebenundzwanzig Millionen Quadratmeter oder siebenundzwanzig Quadratkilometer große Insel. Bei der ihr gegebenen ovalen Gestalt mißt sie sieben Kilometer in der Länge und fünf Kilometer in der größten Breite, und hat in runder Zahl einen Umfang von achtzehn Kilometern. Zur Vergleichung diene, daß die Befestigungslinie von Paris neununddreißig, die alte Mauer um die Stadt dreiundzwanzig Kilometer lang ist. Der eingetauchte Theil des Rumpfes hat bei voller Belastung etwa zehn Meter, der über Wasser stehende gegen sieben Meter Höhe. Daraus ergiebt sich, daß das Volumen von Standard-Island vierhundertzweiunddreißig Millionen Cubikmeter mißt und sein Deplacement (Wasserverdrängung), gegen drei Fünftel des Volumens, zweihundertneunundfünfzig Millionen Cubikmeter erreicht.

Der ganze untertauchende Theil der Behälter ist mit einem, lange Zeit vergeblich gesuchten Präparate – der Erfinder desselben wurde dadurch Milliardär – bestrichen, das jedes Anlegen von Muscheln und Seethieren verschiedner Art an die vom Wasser bespülten Theile unbedingt verhindert.

Der »Untergrund« der neuen Insel ist gegen Formveränderung und Bruch vollständig gesichert, denn der stählerne Rumpf wird durch mächtige Querriegel versteift und auf das Vernieten und Verbolzen aller Theile wurde die denkbarste Sorgfalt verwendet.

Natürlich mußten zur Herstellung dieses riesenhaften Bauwerkes erst besondre Werfte geschaffen werden. Das übernahm die »Standard-Island Company«, nachdem sie die Magdalenenbucht nebst deren Uferland am Ausläufer der langen Halbinsel Nieder-Californien, ganz nahe dem Wendekreise des Krebses, zu diesem Zwecke erworben hatte. In dieser Bucht wurde die Arbeit ausgeführt, und zwar unter Leitung der Ingenieure der Standard-Island Company und unter der Oberleitung des berühmten William Terson, der wenige Monate nach [62] Vollendung seines Riesenwerkes ebenso mit Tod abging, wie Brunnel, nachdem er seinen, leider ziemlich nutzlosen »Great-Eastern« vom Stapel gelassen hatte. Standard-Island ist ja auch kaum etwas andres als ein modernisierter Great-Eastern, nur nach einem tausendfach vergrößerten Modell geschaffen.

Selbstverständlich konnte von einem wirklichen Stapellauf der Insel keine Rede sein. Sie wurde vielmehr stückweise hergestellt, indem man die einzelnen Stahlbehälter auf dem Wasser der Bucht selbst mit einander verband. Diese Stelle der amerikanischen Küste wurde auch der Nothhafen der beweglichen Insel, nach dem sie sich zur Vornahme etwaiger Reparaturen allemal begiebt.

Der Unterbau der Insel, ihr Rumpf, wie man sagen könnte, der, wie erwähnt, aus zweihundertsiebzigtausend Einzelbehältern besteht, wurde, mit Ausnahme des für die Stadt in der Mitte bestimmten und deshalb besonders verstärkten Theiles, mit einer dicken Schicht guter Erde überschüttet. Diese Humusdecke genügt für die Vegetation, die auf Rasenflächen, Blumenbeete, Gesträuche, einige Baumgruppen, Weideplätze und Gemüsefelder beschränkt ist. Es war nicht rathsam erschienen, auf diesem künstlichen Erdboden auch noch Getreide und Futter für Schlachtthiere erbauen zu wollen, und so wird der Bedarf an beiden durch regelmäßige Zufuhr gedeckt. Dagegen hatte man Vorsorge getroffen, wenigstens die nöthige Milch, den Bedarf an Eiern und Geflügel von jener Einfuhr unabhängig zu machen.

Drei Viertel des Bodens von Standard-Island, d. h. etwa einundzwanzig Quadratkilometer, sind für die Cultur von Nutzpflanzen und für Rasenflächen bestimmt, die in immerwährendem Grün prangen, während die intensiv ausgebeuteten Felder Gemüse und Früchte liefern und künstliche Wiesen einigen Viehheerden als Weideplätze dienen. Hier bedient man sich eifrig der Elektrocultur, d. h. der Mitwirkung permanenter elektrischer Ströme, die das Wachsthum der Pflanzen überraschend befördern und Gemüse von kaum glaublicher Größe hervorbringen helfen. So züchtet man z. B. hier Radieschen von fünfundvierzig Centimeter Länge und erntet Mohrrüben von drei Kilo Gewicht. Die Zier- und Küchengärten, sowie die Obstanlagen können mit den schönsten in Virginien und Luisiana wetteifern. Kein Wunder: auf der Insel, die mit Recht das »Juwel des Stillen Oceans« genannt wird, spart man keine Kosten, um alles in vollendetster Weise durchzuführen.

Ihre Hauptstadt Milliard-City nimmt ungefähr ein Fünftel der Oberfläche ein, bedeckt also gegen fünf Quadratkilometer oder fünfhundert Hektar, bei einem[63] Umfange von neun Kilometern. Unsre Leser, die ja Sebastian Zorn und seine Kameraden auf deren Spaziergange begleitet haben, kennen sie schon so weit, daß sie sich darin schwerlich verirren würden. Uebrigens verirrt man sich überhaupt nicht in amerikanischen Städten, wenigstens nicht, wenn sie gleichzeitig das Glück und das Unglück haben, neueren Ursprungs zu sein – das Glück, wegen der Vereinfachung des Verkehrs und das Unglück wegen ihres vollständigen Mangels an künstlerischer Bedeutung. Wir wissen, daß Milliard-City ein Oval bildet, das durch eine centrale Verkehrsader, die Erste Avenue, die etwas über drei Kilometer lang ist, in zwei Hälften getheilt wird. Das an dem einen Ende derselben aufragende Observatorium hat am andern als Pendant das großartige Stadt- oder Rathhaus. In diesem finden sich die Amtsräume für die Behörden, für Wasser-und Wegebau, für Anpflanzungen und Promenaden, für die städtische Polizei, den Zoll, die Markthallen, für Beerdigungswesen, Hospize, die verschiedenen Schulen, sowie für die Kirchensachen und die Künste in bequemster Weise vereinigt.

Und wie stark ist die Bevölkerung auf diesem künstlichen Stückchen Erde von achtzehn Kilometer Umfang?

Die Erde zählt den derzeitigen Angaben nach zwölf Städte – vier davon in China – mit mehr als einer Million Einwohner. Die Schraubeninsel hat deren nur gegen zehntausend – lauter Eingeborne der Vereinigten Staaten. Man wollte es vermeiden, daß jemals internationale Streitigkeiten unter den Bürgern aufloderten, die auf diesem Werke neuester Art Ruhe und Erholung suchten. War es doch schon genug, wenn nicht zu viel, daß sie in religiöser Beziehung nicht zu einunddemselben Banner hielten. Es wäre aber zu schwierig gewesen, nur den Yankees aus dem Norden, den Backbordbewohnern von Standard-Island, oder umgekehrt den Amerikanern aus dem Süden, den Steuerbordbewohnern, das Recht vorzubehalten, sich auf dieser Insel häuslich niederzulassen. Darunter hätten die Interessen der Standard-Island Company gar zu empfindlich gelitten.


Die stückweise Herstellung der Insel. (S. 63.)

Nach Fertigstellung des metallenen Unterbaues und Herrichtung des für die Stadt reservierten Theiles zur Bebauung, nach der Annahme des Planes für die Straßen und Avenuen beginnen die Baulichkeiten aus dem Boden zu wachsen. Hier erheben sich Prachtgebäude oder einfache Wohnstätten, dort für den Detailhandel bestimmte Häuser, öffentliche Bauwerke, Kirchen und Tempel, nirgends aber jene Wohnhäuser mit siebenundzwanzig Stockwerken, jene häßlichen »Skyscrapers«, d. h. »Wolkenkratzer«, wie man sie in Chicago findet. Das verwendete [64] [67]Baumaterial ist gleichzeitig leicht und widerstandsfähig. Das nicht oxydirbare Metall, das in den Constructionen vorherrscht, ist das Aluminium, das fast siebenmal so leicht ist wie Eisen von gleichem Volumen – das Metall der Zukunft, wie es schon Sainte-Claire Deville genannt hat – und das allen Anforderungen an ein solides Bauwerk entspricht. Mit dem Metall verband man künstlichen Stein, Cementwürfel, die sich bequem anpaßten. Man verwendete auch gläserne, hohlgeblasene Werkstücke, die also wie Flaschen hergestellt waren, und vereinigte sie durch ganz dünne Mörtelschichten – durchsichtige Bausteine, mit denen das Ideal, ein Haus aus Glas, zu erreichen wäre. In der Hauptsache herrschte aber doch die metallene Armatur vor, wie man sie heutigen Tages in den Erzeugnissen der Schiffsbaukunst findet. Standard-Island ist ja schließlich nichts andres als ein ungeheuer vergrößerter Schiffskörper.

Das Ganze ist Eigenthum der Standard-Island Company. Alle Bewohner der künstlichen Insel sind, wie groß auch ihr Vermögen sei, nur Abmiether. Uebrigens wurde bezüglich des Comforts und der Zweckmäßigkeit hier alles vorgesehen, was die unglaublich reichen Amerikaner nur erwarten konnten, diese Leute, neben denen die Souveräne Europas und die Nabobs Indiens nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Wenn statistisch nachgewiesen ist, daß der Goldvorrath der Erde achtzehn Milliarden und der Silbervorrath zwanzig Milliarden beträgt, so besitzen die Bewohner dieses Juwels des Stillen Weltmeers davon in der That einen recht beträchtlichen Theil.

Von Anfang an hat sich das ganze Unternehmen übrigens finanziell vorzüglich gestaltet. Einzelhäuser und Wohnungen wurden zu gradezu fabelhaften Preisen vermiethet, so daß solche zuweilen mehrere Millionen übersteigen, denn nicht so wenige Familien waren in der beneidenswerthen Lage, derartige Summen alljährlich nur für ihr Unterkommen anzulegen. Die Company erzielte damit schon aus dieser einen Quelle einen Ueberschuß. Hiernach wird jedermann zugestehen, daß die Hauptstadt von Standard-Island den ihr beigelegten Namen mit Recht verdiente.

Von jenen überreichen Familien abgesehen, giebt es hier mehrere hundert andre, deren Miethzins hundert. bis zweihunderttausend Francs beträgt und die sich mit solchen bescheidnen Verhältnissen begnügen. Die noch übrige Einwohnerschaft umfaßt dann Lehrer jedes Faches, Lieferanten, Angestellte, Dienst boten und Fremde, deren Zufluß nur gering ist und denen nicht gestattet wird, [67] sich in Milliard-City oder sonstwo auf der Insel anzusiedeln. Von Advocaten giebt es nur wenige, wodurch auch Processe nur selten sind; Aerzte noch weniger, wodurch die Sterblichkeit auf eine lächerlich tiefe Stufe herabsinkt. Jeder Bewohner kennt übrigens sehr genau seine Constitution, seine am Dynamometer gemessene Muskelkraft, seine mittelst Spirometer festgestellte Lungencapacität (Athmungsgröße), die am Sphygmometer beobachtete Zusammenziehungsfähigkeit seines Herzens und endlich seine am Magnetometer ablesbare allgemeine Lebenskraft. In der Stadt giebt es übrigens weder Schankstätten, Cafés oder Restaurationen, überhaupt nichts, was den Alkoholismus befördern könnte. Niemals ist hier ein Fall von Dypsomanie – sagen wir für die des Griechischen nicht kundigen Leser: von Trunksucht – vorgekommen. Vergessen wir nicht anzuführen, daß der Stadt elektrische Energie, Licht, mechanische Kraft, Wärme, verdichtete und verdünnte, sowie kalte Luft, Druckwasser geliefert und ihr pneumatische Telegramme und telephonische Nachrichten durch öffentliche Werke übermittelt werden. Geht jemand mit Tode ab auf dieser Schraubeninsel, die jeder klimatischen Unbill entzogen und gegen jede Beeinflussung durch Mikroben geschützt ist, so geschieht das, weil man, wenn die früher aufgezognen Federn der Lebensmaschinerie nach langer, langer Zeit abgelaufen sind, doch eben einmal sterben muß.

Auch Soldaten giebt es auf Standard-Island, nämlich eine Truppe von fünfzig Mann unter dem Befehle des Colonel Stewart, denn man durfte nicht außer Acht lassen, daß die weiten Gebiete des Stillen Oceans nicht immer sicher sind. In der Nachbarschaft gewisser Inselgruppen ist es ein Gebot kluger Vorsicht, sich gegen Ueberfälle durch mancherlei Seeräuber sicher zu stellen. Daß diese Miliz einen sehr hohen Sold bezieht und der gewöhnliche Mann sich besser steht, als ein höherer Officier im alten Europa, ist ja selbstverständlich. Die Anwerbung dieser Soldaten, die auf öffentliche Kosten untergebracht, ernährt und gekleidet werden, geht ohne Schwierigkeiten vor sich. Der gleich einem Krösus bezahlte Anführer der Truppe hat dabei nur die Qual der Wahl.

Auf Standard-Island existiert auch eine Polizei – nur einige schwache Rotten, die aber völlig hinreichen für die Sicherheit einer Stadt in der keine Ursache vorliegt, diese Sicherheit gestört zu sehen. Es bedarf ja stets besondrer Genehmigung der obersten Verwaltungsbehörde, um sich hier häuslich niederzulassen. Die »Küsten« sind Tag und Nacht durch eine Abtheilung Zollbeamter überwacht. Nur in den Häfen ist eine Landung überhaupt möglich. Wie sollten Uebelthäter also Eingang finden? Was etwa Leute beträfe, die sich erst hier [68] Ungebührlichkeiten zu Schulden kommen ließen, so würden solche kurzer Hand verhaftet, abgeurtheilt und im Westen oder Osten des Großen Oceans irgendwo an der Neuen oder Alten Welt ausgesetzt werden, so daß sie nach Standard-Island niemals zurückkehren könnten.

Wir bedienten uns des Ausdrucks: Die Häfen von Standard-Island; deren giebt es in der That zwei, und zwar an beiden Enden der kurzen Durchschnittslinie des Ovals, das die Schraubeninsel bildet. Der eine heißt Steuerbord-, der andre Backbordhafen, entsprechend den im Seewesen gebräuchlichen Bezeichnungen.

Auf keinen Fall ist eine Unterbrechung der regelmäßigen Zufuhren zu befürchten. Das kann nicht vorkommen, weil jene Häfen auf einander entgegengesetzten Seiten liegen. Sollte nun der eine in Folge schlechter Witterung unzugänglich sein, so steht doch der andre den Schiffen offen, die die Insel also bei jeder Windrichtung anlaufen können. Entweder im Backbord- oder im Steuerbordhafen treffen also die verschiednen, nothwendigen Waaren ein, das Petroleum mit Specialdampfern, Mehl und Feldfrüchte, Wein, Bier und andre beliebte Getränke, ferner Thee, Kaffee, Chocolade, Gewürze, Conserven u. s. w. – Hier landet man auch Rinder, Hammel und Schweine von den besten Märkten Amerikas, wodurch der Bedarf an frischem Fleisch gedeckt wird, und überhaupt alles, was selbst die verwöhntesten Feinschmecker von Nahrungs- und Genußmitteln nur wünschen können. Ebenso erfolgt hier der Import von Stoffen, Leinenwaaren und Modeartikeln, wie sie der raffinierteste Dandy und die eleganteste Weltdame nur verlangen können. Alle diese Gegenstände kauft man dann bei den Zwischenhändlern auf Standard-Island... zu welchem Preise, wollen wir lieber verschweigen, um nicht die Ungläubigkeit des freundlichen Lesers zu erwecken.

Dagegen liegt die Frage nahe, wie ein regelmäßiger Dampferverkehr möglich war zwischen der Küste Amerikas und einer Insel mit Propellern, die sich selbst fortbewegte und sich heute in dieser Gegend, und morgen zwanzig Meilen weiter befand?

Die Antwort ist sehr einfach. Standard-Island segelt nicht aufs Geradewohl umher. Die Ortsveränderung der Insel erfolgt nach einem von der obersten Verwaltungsbehörde festgesetzten Programme, nachdem darüber die Anschauung der Meteorologen des Observatoriums eingeholt war. Ihre Fahrt ist ein Spaziergang mit nur geringen gelegentlichen Abweichungen durch den Theil des Stillen Oceans, der die herrlichsten Inselgruppen umschließt, und unter möglichster Vermeidung [69] schroffen Witterungswechsels, dieser mächtigsten Ursache für vielerlei Lungenkrankheiten. Deshalb konnte Calistus Munbar auch auf eine diesbezügliche Frage antworten: »Winter?.. Kennen wir nicht!« Standard-Island bewegt sich nur zwischen fünfunddreißig Grad nördlicher und fünfunddreißig Grad südlicher Breite. Bei siebzig Breitengraden oder etwa vierzehnhundert Seemeilen steht ihm ein prächtiges Wassergebiet offen. Die andern Schiffe wissen also das Juwel des Großen Oceans stets zu finden, da seine Ortsveränderung zwischen jenen reizenden Inseln, die ebensoviele Oasen in der grenzenlosen Wasserwüste des Großen Oceans bilden, stets im voraus festgestellt ist.

Doch auch ohnedem wären andre Schiffe nicht darauf hingewiesen, die Schraubeninsel hier oder dort auf gutes Glück zu sachen, obwohl die Compagnie deshalb nicht die fünfundzwanzig – sechzehntausend Meilen langen – Kabel in Anspruch nahm, die derEastern Extension Australasia and China Co. gehören. Nein, die Schraubeninsel darf von niemand abhängig sein! Das erreichte man durch Vertheilung von mehreren hundert Bojen auf den befahrenen Meerestheilen, Bojen, die das Ende elektrischer Kabel tragen, welche mit der Madeleinebucht in Verbindung stehen. Diese Bojen läuft man an, verbindet deren Kabel mit den Apparaten des Observatoriums und sendet nun die nöthigen Depeschen ab. Dadurch werden die Vertreter der Compagnie in der Madeleinebucht bezüglich geographischer Länge und Breite der Lage von Standard-Island immer auf dem Laufenden erhalten. So erkärt es sich, daß der Dienst der Proviantschiffe mit wirklicher »Eisenbahnverläßlichkeit« von statten geht.

Daneben giebt es aber noch eine andre wichtige Frage, die einer Lösung werth ist.

Wie verschafft man sich denn das nöthige Süßwasser für die vielfachen Bedürfnisse der Bevölkerung?

Das Wasser?... O, das gewinnt man durch Destillation in zwei besondern Anstalten neben den Häfen. Durch ein Röhrensystem wird es nach den Häusern geleitet und unter den Feldern hingeführt. So dient es für wirthschaftliche Zwecke wie zur Straßenbesprengung und fällt als wohlthätiger Regen auf die Felder und Rasenflächen, die damit den Launen der Witterung entzogen sind. Und dieses Wasser ist nicht allein süß, sondern sogar destilliert, elektrolysiert und hygienisch vorzüglicher als die reinsten Quellen der beiden Welten, aus denen ein Tropfen in der Größe eines Stecknadelkopfes, noch fünfzehn Milliarden Mikroben enthalten kann.

[70] Noch bleibt uns übrig zu erklären, wie die Ortsveränderung der ganzen Anlage vor sich geht. Einer großen Schnelligkeit bedarf sie nicht, da die Insel binnen sechs Monaten über die angegebenen Breitengrade und über den Raum zwischen dem hundertdreißigsten und dem hundertfünfundvierzigsten Längengrad nicht hinauskommen soll. Zwanzig bis fünfundzwanzig Seemeilen binnen vierundzwanzig Stunden, mehr verlangt Standard-Island nicht. Eine solche Fortbewegung hätte man mittelst Zugseil erreichen können, wenn man etwa ein Kabel aus jener indischen, Bastin genannten Faser hergestellt hätte, die sehr fest und gleichzeitig so leicht ist, daß sie sich im Wasser schwimmend und gesichert gegen Verletzungen durch Scheuern am Meeresgrunde erhalten hätte. Dieses Kabel hätte sich dann über Cylinder, die durch Dampfkraft gedreht würden, aufgerollt, und Standard-Island wäre mittelst »Tauerei« vor- und rückwärts gegangen, wie noch heute hie und da Schiffe auf den Flüssen der Alten und der Neuen Welt. Dieses Kabel hätte aber außerordentlich lang und stark sein müssen und wäre doch vielfachen Havarien ausgesetzt gewesen, und dann bedeutete eine solche Anordnung nur eine »gefesselte Freiheit« mit dem Zwang, einer unveränderlichen Linie zu folgen – wenn sich's aber um die Freiheit handelt, bestehen die Bürger des freien Amerika unerschütterlich auf ihrem Scheine.

Glücklicher Weise haben die Elektrotechniker so große Fortschritte in ihrem Fache gemacht, daß man von der Elektricität, der Seele des Weltalls, so gut wie Alles verlangen kann. Ihr fiel daher auch die Aufgabe zu, die künstliche Insel fortzubewegen. Zwei Anlagen genügen, Dynamos von fast unbegrenzter Leistungsfähigkeit, die elektrische Energie in Form eines Gleichstromes von zweitausend Volt liefern, in Bewegung zu setzen. Diese Dynamos wirken auf ein mächtiges System von Propellern, die in der Nähe beider Häfen angebracht sind. Sie entwickeln jedes fünf Millionen Pferdekraft – Dank den Hunderten von Kesseln, geheizt mit Petroleum-Briquets, die weit weniger Raum einnehmen und weniger rußen als Steinkohlen, zugleich aber viel mehr Wärme entwickeln. Die betreffenden Werke unterstehen der Leitung der beiden Hauptingenieure, der Herren Watson und Somwah, denen zahlreiche Mechaniker und Heizer zur Seite stehen, während die Oberleitung in den Händen des Commodore Ethel Simcoë ruht. Von seiner Amtswohnung im Observatorium aus steht der Commodore mit den beiden Elektricitätswerken in telephonischer Verbindung. Er bestimmt nach dem vorher festgestellten Reiseplane den Cours der künstlichen Insel. Von da war auch in der Nacht vom 25. zum 26. der Befehl ausgegangen, mit [71] Standard-Island die Küste Californiens anzulaufen, in deren Nähe es sich zur Zeit des Antritts seiner jährlichen Reise eben befand.

Wer von unsern Lesern sich nun im Geiste darauf mit einschifft, der wird den verschiedenen Vorkommnissen auf dieser Fahrt über den Stillen Ocean mit beiwohnen und es hoffentlich nicht zu bereuen haben.


Die Propeller-Maschinen. (S. 71.)

Wir fügen hier ein, daß die größte Geschwindigkeit Standard-Islands, wenn seine Maschinen ihre zehn Millionen Pferdekraft entwickeln, acht Knoten (zwei geographische Meilen) in der Stunde erreicht. Die gewaltigsten Wogen, [72] die der Sturm aufwühlt, haben auf die Insel keine Wirkung. Durch ihre Größe entgeht sie jedem Schwanken vom Seegange und deshalb giebt es darauf auch keine Seekrankheit.


Der Commodore Ethel Simcoë (S. 71.)

Während der ersten Tage »an Bord« empfindet man höchstens ein schwaches Erzittern, daß die Rotation der Schrauben im Unterbau hervorbringt. Mit einem Sporn von sechzig Meter am Vorder- und am Hintertheile ausgerüstet, zertheilt die Insel die Wellen ohne Schwierigkeit und durchläuft die ungeheure Meeresfläche ohne jeden fühlbaren Stoß.

[73] Natürlich dient die in den beiden Werken erzeugte elektrische Energie außer der Fortbewegung von Standard-Island auch noch andern Zwecken. Mit ihr werden Land, Park und Stadt erleuchtet. Sie unterhält hinter den Riesenlinsen der Leuchtthürme die mächtige Lichtquelle, deren Strahlen die Anwesenheit der Schraubeninsel bis weit hinaus verkünden und jeder möglichen Collision vorbeugen. Sie liefert die verschiednen Zweigströme, die telegraphischen, telephotischen, telautographischen und telephonischen Zwecken dienen, ebenso, wie sie die Bedürfnisse der Privathäuser und der Handelsquartiere befriedigt. Sie versorgt auch die künstlichen Monde von je fünftausend Kerzen Leuchtkraft, die jeder eine Kreisfläche von hundert Meter Durchmesser erhellen.

Zur Zeit, von der wir reden, befindet sich dieses außergewöhnliche Bauwerk auf seiner zweiten Reise über den Großen Ocean. Vor einem Monate hatte es die Madeleinebay verlassen und sich nach dem fünfunddreißigsten Breitengrade begeben, um seine Fahrt, etwa in der Höhe der Sandwich-Inseln, anzutreten. Eben befand es sich nahe der Küste von Nieder-Californien, als Calistus Munbar durch telephonische Mittheilung erfuhr, daß sich das Concert-Quartett nach der Abreise von San Francisco nach San Diego begeben wollte, und ihm der Gedanke kam, sich die ser hervorragenden Künstler für die Dauer der Reise sozusagen zu bemächtigen. Wir wissen schon, wie er das ausführte, wie er sie auf der, nur wenige Kabellängen von der Küste verankerten Schraubeninsel einschiffte, und wie in Folge seines gelungenen Streichs den Dilettanten von Milliard-City der Genuß einer vorzüglichen Kammermusik in Aussicht gestellt war.

Das ist also jenes neunte Weltwunder, jenes des zwanzigsten Jahrhunderts würdige Meisterstück menschlichen Geistes, dessen unfreiwillige Gäste zwei Violinen, eine Bratsche und ein Violoncell sind und die Standard-Island nach den westlichen Theilen des Pacifischen Oceans entführt.

[74]
6. Capitel
Sechstes Capitel.
Eingeladene.... Inviti.

Wenn man auch annehmen darf, daß Sebastian Zorn, Frascolin, Yvernes und Pinchinat Leute waren, die über nichts erstaunten, so wurde es diesen doch schwer, in gewiß begründetem Unwillen dem Calistus Munbar nicht an die Kehle zu springen. Es soll Einer nur in dem Glauben leben, auf dem Boden des westlichen Amerika umherzuwandeln, und dann erkennen, daß man ihn aufs hohe Meer hinausbefördert! Man soll sich für einige zwanzig Meilen von San Diego entfernt halten, wo man am nächsten Tage zu einem Concert erwartet wird, und dann ganz schlankweg hören, daß man auf einer schwimmenden Insel immer weiter davon hinwegtreibt! Wahrhaftig, ein Ueberfall wäre zu verzeihen gewesen.

Zu seinem Glücke hatte sich der Amerikaner einem solchen ersten Wuthausbruche zu entziehen gewußt. Sich die Ueberraschung oder richtiger die Verblüffung des Concert-Quartetts zunutze machend, verläßt er die Plattform des Thurmes, betritt den Fahrstuhl und ist damit vorläufig vor den Vorwürfen und etwaigen Handgreiflichkeiten der vier Pariser geschützt.

»Solch ein Schurke! ruft das Violoncell.

– Solch ein Unthier! fällt die Bratsche ein.

– Oho... wenn wir's ihm zu verdanken haben, ein reines Wunder kennen zu lernen... läßt sich die erste Violine vernehmen.

– Du willst ihn doch nicht gar noch entschuldigen? meint die zweite Geige.

– Hier giebt's keine Entschuldigung, ruft Pinchinat, und wenn sich auf Standard-Island noch Gerechtigkeit findet, lassen wir ihn verdonnern, diesen Malefizkerl von Yankee!

– Und wenns noch einen Henker giebt, brüllt Sebastian Zorn, dann lassen wir ihn aufknüpfen!«

Um so schöne Vorsätze auszuführen, gilt es freilich zuerst, zum Niveau der Einwohner von Milliard-City hinab zu gelangen, da hundertfünfzig Fuß hoch in der Luft natürlich keine Polizei thätig ist. Das konnte ja in wenigen Augenblicken [75] geschehen sein, wenn ein Abstieg möglich war. Der Fahrstuhl des Aufzugs ist aber nicht wieder herauf gekommen und nirgends findet sich etwas wie eine Treppe. Das Quartett befindet sich also auf der Höhe des Thurmes außer Verbindung mit der übrigen Menschheit.

Nach dem ersten Ausbruche der Enttäuschung und der Wuth sind Sebastian Zorn, Pinchinat und Frascolin, die Yvernes seiner Bewunderung überlassen, endlich völlig still geworden und rühren sich nicht von der Stelle. Ueber ihnen flattert die Flagge an der langen Fahnenstange. Sebastian Zorn wandelt eine grimmige Lust an, die Hißleine zu durchschneiden und die Flagge wie die eines sich ergebenden Kriegsschiffes zu senken. Immerhin erscheint es besser, sich nicht in eine vielleicht schlimm auslaufende Geschichte einzulassen, und seine Kameraden halten ihn noch zurück, als er schon mit einem scharf geschliffenen Bowiemesser herumfuchtelt.

»Achtung, wir wollen vor allem nicht uns ins Unrecht versetzen, mahnt der kluge Frascolin.

– Du ergiebst Dich also in unsre elende, lächerliche Lage? fragt Pinchinat.

– Das nicht... doch wir wollen sie nicht noch mehr complicieren.

– Und unser Gepäck, das inzwischen nach San Diego unterwegs ist! bemerkt der Bratschist, die Arme kreuzend.

– Und unser für morgen angesetztes Concert! ruft Sebastian Zorn.

– Das geben wir durchs Telephon!« antwortet der erste Geiger, dessen Scherz nicht geeignet ist, die Reizbarkeit des kochenden Violoncellisten abzustumpfen.

Das Observatorium nimmt, wie wir wissen, die Mitte eines großen Vierecks ein, an dem die Erste Avenue ausmündet. Am andern Ende dieser drei Kilometer langen Hauptverkehrsader, die die beiden Hälften von Milliard-City scheidet, erblicken die Künstler eine Art monumentalen Palast, der von einem leichten und sehr eleganten Wartthurm überragt wird. Sie sagen sich, daß das der Sitz der Regierung, die Residenz der obersten Stadtbehörde sein werde, wenn Milliard-City überhaupt einen Bürgermeister und andre Beamte hat. Sie täuschen sich hierin nicht. Eben jetzt beginnt die Uhr jenes Wartthurms ein herrliches Glockenspiel, dessen Klänge auf den Wellen des Windes bis zum Thurme hier herübergelangen.

»Hört!... Das geht aus D-dur, sagt Yvernes.

– Und im Zweivierteltact,« setzt Pinchinat hinzu.

Da schlägt der Wartthurm fünf Uhr.

[76] »Und wann essen wir, ruft Sebastian Zorn, wie wirds mit dem Schlafen? Sollen wir etwa wegen des Spitzbuben von Munbar hier auf der Plattform des Thurmes die Nacht in freier Luft zubringen?«

So scheint es allerdings, denn der Fahrstuhl kommt nicht wieder herauf, um die Gefangnen zu erlösen.

In jenen niedrigen Breiten dauert die Dämmerung nur kurze Zeit, und das Strahlengestirn stürzt wie ein Geschoß nach dem Horizonte hinab. Blickt das Quartett nach den äußersten Grenzen des Himmels hinaus, so schimmert ihm nur das unbegrenzte Meer, ohne ein Segel, ohne eine Rauchsäule entgegen. Ueber das Stück Land unter ihm rollen die Tramwagen an der Peripherie der Insel oder eilen von einem Hafen zum andern hin. Zur Stunde ist der Park noch sehr belebt. Oben vom Thurme aus würde man ihn für einen riesigen Blumenkorb ansehen, worin Azaleen, Clematis, Jasmin, Glycinen, Passionsblumen, Begunien, Hyacinthen, Dahlien, Camelien und hunderte von Rosensorten blühen. Da strömen Spaziergänger hinzu... gemachte Männer und junge Leute, nicht solche »Zierbengel«, wie sie leider in europäischen Großstädten so viele herumlaufen, sondern gesunde, kräftige Jünglinge. Frauen und junge Mädchen, meist in strohgelber Toilette – dem dafür unter den Tropen beliebtesten Farbentone – leiten schlanke, mit Seidendecken geschützte Windspiele mit goldigen Halsbändern an weicher Schnur. Da und dort folgt diese Gentry den feinsandigen Alleen, die sich durch den Park hinwinden. Hier sieht man die Einen auf die Polster der elektrischen Straßenbahnwagen hingestreckt, dort ruhen Andre auf den von dichtem Grün überdachten Bänken. Noch weiter draußen widmen sich junge Gentlemen dem Lawn-tennis, dem Croquet, Golf- oder dem Fußballspiele, während andre auf muntern Ponies dem Polo obliegen. Ganze Schaaren von Kindern – von jenen amerikanischen Kindern, die sich so schnell entwickeln und bei denen, vorzüglich bei den kleinen Mädchen, eine ausgesprochene Individualität so bezeichnend hervor tritt – tummeln sich auf den Rasenplätzen. Dazwischen trotten Reiter auf eleganten Pferden oder sieht man hier und da übermüthig lustige Gartengesellschaften.

Auch den Handelsvierteln fehlt es zur Stunde nicht an Besuch.

Die beweglichen Trottoirs gleiten mit ihrer Last längst der Hauptstraße dahin. Am Fuße des Thurmes, in dem Viereck des Observatoriums, gehen viele Personen hin und her, deren Aufmerksamkeit die Gefangnen wohl erregen könnten. Pinchinat und Frascolin rufen auch wiederholt laut hinunter. Daß sie gehört[77] wurden, erkennt man daraus, daß manche Arme sich emporstrecken, ja auch einzelne Worte dringen bis zu ihnen hinaus.

Niemand zeigt die geringste Ueberraschung oder scheint sich über die Gruppe auf der Plattform irgendwie zu verwundern. Die oben verständlichen Worte bestehen in einem »Good bye», einem »How do You do?«, einem »Guten Tag« oder andern landläufigen Höflichkeitsausdrücken. Es scheint, als ob die ganze Bevölkerung von dem Eintreffen der vier Pariser, die Calistus Munbar empfangen hatte, völlig unterrichtet sei.

»He... he... die machen sich über uns noch lustig! sagt Pinchinat.

– Das scheint mir auch so!« stimmt ihm Yvernes bei.

So verrinnt eine Stunde – eine Stunde, aber alle Rufe nach unten bleiben nutzlos. Die dringlichen Bitten Frascolin's haben eben so wenig Erfolg, wie das Schmähen und Schelten Sebastian Zorn's. Die Zeit zum Essen rückt immer näher, der Park wird von Spaziergängern, die Straße von müßigen Flaneuren immer leerer. Es ist zum toll werden!

»Wir gleichen ohne Zweifel, sagt Yvernes, romantischen Erinnerungen nachhängend, jenen profanen Gästen, die ein böser Geist an einen geheiligten Ort verlockt hat, und die nun den Tod erleiden müssen, weil sie etwas gesehen hatten, was ihre Augen nicht sehen durften...

– Und hier läßt man uns den Qualen des Hungers erliegen! seufzt Pinchinat.

– Nicht ohne daß wir alles mögliche versucht haben werden, um unsre Existenz zu verlängern! erklärt Sebastian Zorn.

– Und wenn wir gezwungen sind, einer den andern aufzuzehren, dann kommt Yvernes zuerst an die Reihe! sagt Pinchinat.

– Wie es Euch beliebt!« stöhnt die erste Geige mit schwacher Stimme und senkt schon den Kopf, um den Todesstreich zu empfangen.

Da dringt vom Thurme unten ein Geräusch heraus. Der Fahrstuhl gleitet nach oben und hält im Niveau der Plattform an. Bei dem Gedanken, Calistus Munbar wieder auftauchen zu sehen, bereiten sich die Gefangnen schon, ihn nach Gebühr zu empfangen...

Der Fahrstuhl ist leer.

Gut, so ist die Sache aufgeschoben; die Gefoppten werden den saubern Herrn schon finden. Jetzt gilts nur, eiligst nach der Erde hinab zu gelangen, und das einzige Mittel dazu ist, im Fahrstuhl Platz zu nehmen.

[78] Das geschieht denn auch sofort. Sobald der Violoncellist nebst Genossen sich in dem Behälter befinden, setzt dieser sich in Bewegung und langt binnen kaum einer Minute unten im Thurme an.

»Und nun, ruft Pinchinat mit dem Fuße stampfend, befinden wir uns nicht einmal auf natürlichem Boden!« (Im Original ein Wortspiel da »sol« ebenso Boden, Erdboden heißt, wie es das » der Tonleiter bezeichnet.)

Für derartige Kalauer war der Zeitpunkt freilich schlecht gewählt. Es erfolgt auch keine Antwort darauf. Die Thür ist offen. Alle vier treten hinaus. Der innere Hof ist menschenleer. Sie schreiten darüber hin und folgen einer Alleestraße.

Einzelne Personen kommen an den Fremdlingen vorüber, ohne diesen irgendwelche Beachtung zu schenken. Auf eine Bemerkung Frascolin's, der vor allem Klugheit empfahl, muß Sebastian Zorn auf alles Schimpfen und Wettern verzichten. Bei den Behörden nur wollen sie Gerechtigkeit sachen. Das läuft ihnen ja nicht davon. Man beschließt also, erst nach dem Excelsior-Hôtel zu gehen und da den nächsten Morgen abzuwarten, um dann in der Eigenschaft als freie Männer seine Rechte geltend zu machen. Das Quartett wandert also die Erste Avenue hinauf.

Haben unsre Pariser denn das Privilegium, die öffentliche Aufmerksamkeit zu erwecken?... Ja und nein. Man sieht sie wohl an, doch nicht in auffallender Weise, höchstens so, als gehörten sie zu den seltenen Touristen, die Milliard-City zuweilen besuchen. Unter dem Drucke ganz außergewöhnlicher Verhältnisse sind sie selbst nicht gerade bei rosiger Laune und bilden sich ein, weit mehr angestarrt zu werden, als es wirklich der Fall ist. Andrerseits wird man es verzeihlich finden, daß ihnen diese »segelnden Insulaner« etwas närrisch erscheinen, diese Leute, die sich freiwillig von ihresgleichen trennten und nun auf dem größten Ocean der Erdkugel umherirren. Mit ein wenig Phantasie könnte man glauben, sie gehörten einem andern Planeten unsres Sonnensystems an. Das ist wenigstens die Ansicht Yvernes', den sein überreiztes Hirn leicht nach nur erdachten Welten versetzt.

Pinchinat begnügt sich dagegen zu sagen:

»Alle diese Leute haben meiner Treu das richtige Millionäraussehen und scheinen mir unter den Nieren, ganz wie ihre Insel, einen kleinen Propeller mit herumzutragen.«

Inzwischen macht sich der Hunger immer mehr geltend. Seit dem Frühstück ist geraume Zeit verflossen und der Magen pocht auf sein Recht. Also schnellstens [79] nach dem Excelsior-Hôtel!


Die Kameraden halten ihn mit Gewalt zurück. (S. 76.)

Morgen sollten die nöthigen Schritte erfolgen, um mittelst eines der Steamer von Standard-Island nach San Diego zurückbefördert zu werden, nachdem Calistus Munbar von Rechtswegen eine reichlich bemessene Entschädigungssumme erlegt hätte.

Auf dem Wege durch die Erste Avenue bleibt Frascolin aber vor einem prächtigen Gebäude stehen, dessen Front in goldenen Lettern die Aufschrift »Casino« trägt. Rechts von der stolzen Säulenreihe, die den Haupteingang schmückt, erblickt man durch die mit Arabesken verzierten Spiegelscheiben eines Restaurants [80] eine Menge Tische, von denen an verschiedenen gespeist wird, während ein zahlreiches Personal diensteifrig hin und her eilt.

»Hier giebts etwas zu essen!« ruft die zweite Violine mit einem Blicke auf die hungrigen Kameraden.

Darauf erfolgt von Pinchinat nur die lakonische Antwort:

»Hineintreten!«

Einer nach dem andern betreten sie das Restaurant. Man scheint ihre Gegenwart in dem luxuriösen, von den Fremden meist aufgesuchten Etablissement [81] nicht besonders zu bemerken. Fünf Minuten später vertilgen die Halbverhungerten schon mit Begierde die ersten Schüsseln einer vortrefflichen Mahlzeit, wozu Pinchinat – und der versteht sich darauf – die Speisenfolge aufgestellt hat. Glücklicher Weise ist der Geldbeutel des Quartetts gut gespickt, und wenn er auf Standard-Island auch abmagert, so werden die Einnahmen in San Diego ihn schon bald wieder aufschwellen lassen.


Calistus Munbar war lächelnd in den Saal getreten. (S. 83.)

Die Küche ist ganz ausgezeichnet und der in den Hôtels von New-York und San Francisco weit überlegen, und die Speisen werden hier in und auf elektrischen Oefen bereitet, die eine sehr genaue Regelung der Hitze ermöglichen. Auf die Suppe mit conservierten Austern, die Fricassés, den Sellerie und den hier stets aufgetischten Rhabarberkuchen folgen ganz frische Fische, Rumsteaks von unvergleichlicher Zartheit, Wild, das jedenfalls den Prairien und Wäldern Californiens entstammt, und Gemüse, die aus den intensiven Culturen der Insel selbst herrühren. Als Getränk giebt es nicht das in Amerika allgemein gebräuchliche Eiswasser, sondern verschiedne Biere und Weine, die für die Kellereien von Milliard-City aus den Geländen von Burgund, Bordeaux und des Rheins, natürlich mit hohen Unkosten, bezogen waren.

Dieses Menu bringt unsre Pariser auf andre Gedanken. Vielleicht betrachten sie das Abenteuer, in das sie gerathen sind, schon unter günstigerem Lichte. Bekanntlich haben ja alle Orchestermusiker einen guten Zug. Was aber bei denen natürlich erscheint, die bei der Handhabung von Blasinstrumenten ihre Lunge tüchtig anstrengen, ist weniger zu entschuldigen bei denen, die Streichinstrumente spielen. Doch gleichviel: Yvernes, Pinchinat, selbst Frascolin fangen an, das Leben rosenroth und in dieser Stadt der Milliardäre selbst goldfarbig zu sehen. Nur Sebastian Zorn allein widersteht der Versuchung und läßt seinen Ingrimm nicht durch die feurigen Gewächse Frankreichs ertränken.

Kurz, das Quartett ist bemerkbar »angehaucht«, wie man im alten Gallien sagt, als die Stunde kommt, die Rechnung zu verlangen. Von dem Oberkellner des Hôtels, der in schwarzer Kleidung erscheint, wird sie Frascolin, als dem Cassierer, eingehändigt.

Die zweite Violine wirst einen Blick darauf, erhebt sich, sinkt zurück, erhebt sich wieder, reibt sich die Augen und starrt nach der Decke.

»Was fehlt Dir denn? fragt Yvernes verwundert.

– Es läuft mir ein Frostschauer durch Mark und Bein, antwortet Frascolin.

[82] – Es ist wohl theuer hier?

– Mehr als theuer. Der Spaß kostet zweihundert Francs...

– Für alle Vier?

– Nein, für jeden!«

In der That: Hundertsechzig Dollars, nicht mehr und nicht weniger, und im Einzelnen beläuft sich die Nota für die Vorspeise auf fünfzehn Dollars, für den Fisch auf zwanzig, für die Rumsteaks auf fünfundzwanzig Dollars, für den Medoc und den Burgunder auf dreißig Dollars für die Flasche, und für das übrige im Verhältniß hierzu.

»Donnerwetter! platzt die Bratsche heraus.

– Diese Räuber!« schimpft Sebastian Zorn.

Die französisch hervorgestoßenen Worte versteht der Oberkellner zwar nicht, er bemerkt aber doch, daß hier etwas Besondres vorgehen müsse. Wenn sich indeß ein Lächeln auf seine Lippen schleicht, so ist es nur das der Verwunderung, nicht das der Geringschätzung. Er findet es ganz natürlich, daß ein Diner für vier Personen hundertsechzig Dollars kostet. Das ist einmal der Preis auf Standard-Island.

»Kein Aufhebens machen! sagt Pinchinat, Frankreich blickt auf uns! Bezahlen...

– Und sei es wie es sei, fällt Frascolin ein, schnell fort nach San Diego. Uebermorgen besäßen wir nicht einmal so viel, um ein Butterbrod bezahlen zu können.«

Darauf zieht er die Brieftasche, entnimmt dieser eine stattliche Anzahl Papierdollars, die zum Glück auch in Milliard-City gelten, und will sie eben dem Oberkellner einhändigen, als eine Stimme ruft:

»Diese Herren sind gar nichts schuldig!«

Es war die Stimme Calistus Munbar's.

Der Yankee war eben ruhig lächelnd, in gewohnter guter Laune in den Saal getreten.

»Er! fuhr Sebastian Zorn auf, den die Lust anwandelte, jenem an die Kehle zu springen und diese zu drücken, wie er den Hals seines Violoncells beim Forte drückt.

– Beruhigen Sie sich, lieber Zorn, begann der Amerikaner. Wollten Sie mir gefälligst Alle in den Salon folgen, wo der Kaffee aufgetragen ist? Dort können wir in Ruhe plaudern, und nach Schluß unsers Gesprächs...

[83] – Erwürge ich Sie! fiel ihm Sebastian Zorn ins Wort.

– Nein... Sie werden mir die Hände küssen...

– Ich werde Ihnen gar nichts küssen!« polterte der Violoncellist, der vor Wuth einmal blaß und einmal blauroth wurde.

Kurze Zeit darauf haben sich's die Gäste Calistus Munbar's auf weichen Sophas bequem gemacht, während sich der Yankee auf einem Schaukelstuhle wiegt.

Hier stellt er sich nun seinen Gästen formgerecht in folgender Weise vor:

»Calistus Munbar, aus New-York, fünfzig Jahre alt, Urenkel des berühmten Barnum, zur Zeit Oberintendant der Künste auf Standard-Island, verantwortlich für alles, was Malerei, Sculptur, Musik und im allgemeinen alle Unterhaltungen in Milliard-City angeht. Da Sie mich nun kennen, meine Herren...

– Sind Sie, fragt Sebastian Zorn, nicht zufällig auch Polizeispitzel mit der Verpflichtung, fremde Leute in Fallen zu locken und sie darin wider ihren Willen zurückzuhalten?

– Uebereilen Sie sich mit meiner Beurtheilung nicht, Sie reizbares Violoncell, und warten Sie erst das Ende ab.

– Wir wollen warten, erwidert Frascolin ernsten Tones, warten und Sie anhören.

– Meine Herren, nimmt Calistus Munbar, sich eine graciöse Haltung gebend, wieder das Wort, ich wünsche mit Ihnen bei dem jetzigen Gespräch nur die musikalische Frage zu erörtern, so wie diese zur Zeit auf unsrer Schraubeninsel liegt. Theater besitzt Milliard-City allerdings noch nicht, doch wenn sie das wollte, würden solche wie durch Zauberschlag aus ihrem Boden aufwachsen. Bisher haben unsre Mitbürger ihre musikalischen Bedürfnisse durch vervollkommnete Apparate befriedigt, wodurch sie über dramatische und lyrische Meisterschöpfungen auf dem Laufenden erhalten wurden. Wir hören die alten und neuen Componisten, die Tagesgrößen der Schauspielkunst, die beliebtesten Künstler mittelst des Phonographen, wann und so oft es uns gefällt...

– Eine Drehorgel, Ihr Phonograph! warf Yvernes verächtlich ein.

– Doch nicht in der Weise, wie Sie das glauben mögen, mein Herr erster Violinist, antwortet der Oberintendant. Wir besitzen Apparate, die mehr als einmal die Indiscretion begangen haben, Ihnen zu lauschen, wenn Sie sich in Boston oder Philadelphia hören ließen. Wenn es Ihnen Spaß macht, können Sie sich hier mit eignen Händen applaudieren.«

[84] Jener Zeit haben die Erfindungen des berühmten Edison nämlich den höchsten Grad der Vollendung erreicht. Der Phonograph ist keineswegs mehr der Musikkasten oder die Spieldose, dem und der er ursprünglich gar zu sehr glich. Dank seinem geistvollen Erfinder bewahrt er jetzt das ephemere Talent der Schauspieler, Instrumentisten oder Sänger für die Bewunderung kommender Geschlechter mit der gleichen Treue auf, wie die Werke der Bildhauer und Maler aufbewahrt bleiben. Ein Echo etwa ist der Apparat geworden, doch ein Echo, treu wie eine Photographie, das alle Nuancen, alle Feinheiten des Gesangs oder Spiels in unveränderter Reinheit wiedergiebt.

Calistus Munbar ergeht sich hierüber mit solcher Wärme, daß es auf seine Zuhörer einen tiefen Eindruck macht.

Er spricht von Saint-Saëns, von Reyer, Ambroise Thomas, von Gounod, Massenet und Verdi, von den unvergänglichen Meisterwerken eines Berlioz, Meyerbeer, Halévy, Rossini, Beethoven und Mozart wie ein Mann, der alle aus dem Grunde kennt, sie zu schätzen weiß und der sich schon lange Zeit bemüht hat, ihren Ruhm noch zu verbreiten, so daß man ihm mit Vergnügen zuhört. Von der schon etwas ablaufenden Wagnerepidemie scheint er jedoch nicht besonders gelitten zu haben.

Als er einmal aussetzt, um Athem zu schöpfen, macht sich Pinchinat die Pause gleich zunutze.

»Das ist ja alles ganz schön und gut, sagt er; Ihre Milliard-City hat aber nie etwas andres gehört, als Sachtelmusik, als conservierte Melodien, die man ihr wie conservierte Sardinen oder Salt-beef zusendet...

– Verzeihen Sie, Herr Bratschist...

– Ja, ja, ich verzeihe Ihnen, bleibe aber doch dabei, daß Ihre Phonographen immer nur Dagewesenes enthalten, daß in Milliard-City niemals ein Künstler in dem Augenblick der Ausübung seiner Kunst gehört werden kann...

– Da möcht' ich noch einmal um Verzeihung bitten.

– Unser Freund Pinchinat verzeiht Ihnen gewiß so oft, wie Sie es wünschen, bemerkt Frascolin. Sein Einwurf ist aber dennoch richtig. Ja, wenn Sie sich mit den Theatern Amerikas und Europas in unmittelbare Verbindung setzen könnten...

– Halten Sie das für unmöglich, lieber Frascolin? ruft der Oberintendant, der die Bewegungen seines Schaukelstuhles hemmt.

[85] – Sie behaupten das wirklich?

– Ich sage nur, daß das ausschließlich eine Geldfrage ist, und unsre Stadt ist reich genug, um sich alle Liebhabereien, jedes Verlangen bezüglich der lyrischen Kunst gewähren zu können. Das ist auch bereits geschehen...

– Aber wie?

– Mittelst der Theatrophone, die im Concertsaale des Casinos aufgestellt sind. Die Gesellschaft besitzt ja zahlreiche unterseeische Kabel, die den Großen Ocean durchziehen und von denen das eine Ende an der Madeleinebay ausläuft und das andre durch unsre großen Bojen schwimmend erhalten wird. Wünscht nun einer unsrer Mitbürger einen Sänger der Alten oder Neuen Welt zu hören' so fischt man eines jener Kabel auf und benachrichtigt telephonisch die Beamten an der Madeleinebay. Diese stellen dann die Verbindung mit Europa oder Amerika her. Man verbindet die Drähte oder Kabel mit dem oder jenem Theater, dem oder jenem Concertsaale, und unsre, hier im Casino weilenden Dilettanten wohnen den entferntesten Aufführungen bei und applaudieren...

– Ja, da draußen hört man ihre Beifallsbezeugungen aber gar nicht! ruft Yvernes.

– Da muß ich um Verzeihung bitten, lieber Herr Yvernes, gewiß hört man sie mittelst einer vorhandenen Rückleitung.«

Hierauf verliert sich Calistus Munbar in transscendentale Erörterungen über die Musik nicht allein als Kunst, sondern auch als therapeutisches Agens. Nach dem Systeme I. Harford's, von der Westminster-Abtei, haben die hiesigen Milliardäre mit der Ausnützung der lyrischen Künste schon ganz erstaunliche Erfolge erzielt. Dieses System gewährleistet ihnen einen Zustand vollkommener Gesundheit. Die Musik übt eine Reflexwirkung auf die Nervencentren aus, ihre harmonischen Vibrationen helfen zur Erweiterung der arteriellen Gefäße und beeinflussen den Blutumlauf, den sie nach Bedarf beschleunigen oder verlangsamen. Sie bewirkt eine Anregung der Herzthätigkeit und der Athembewegungen je nach Klangfarbe und Intensität des Tones, wobei sie gleichzeitig die Ernährung der Gewebe unterstützt. Deshalb hat man in Milliard-City auch Einrichtungen getroffen, durch die beliebige Mengen musikalischer Energie auf telephonischem Wege in die Einzelwohnungen geleitet werden können.

Das Quartett hört ihm mit offnem Munde zu. Noch nie hat es über seine Kunst von medicinischem Standpunkte aus reden hören, und wahrscheinlich ist es darüber nicht gerade entzückt. Nichtsdestoweniger geht der phantastische [86] Yvernes sofort auf diese Theorien ein, die übrigens – man denke an den berühmten Harfenisten David – bis zur Zeit des Königs Saul zurückreichen.

»Jawohl, jawohl!... ruft er nach der letzten Tirade des Oberintendanten, das ist ganz richtig. Es gehört nur eine gute Diagnose dazu! Wagner und Berlioz z. B. sind indiciert für anämische Constitutionen...

– Gewiß, und Mendelssohn oder Mozart für sanguinische Temperamente, bei denen sie das Strontiumbromür vortheilhaft ersetzen!« fügt Calistus Munbar hinzu.

Da mischt sich Sebastian Zorn ein und schleudert einen rauhen Mißklang in diese hochfliegende Plauderei.

»Um alles das handelt es sich gar nicht, ruft er barsch. Warum haben Sie uns überhaupt hierher geführt?

– Weil die Saiteninstrumente es sind, die grade die mächtigste Wirkung ausüben.

– Wirklich? Also um Ihre männlichen und weiblichen Nervenkranken zu beruhigen, haben Sie unsre Reise unterbrochen, uns verhindert, in San Diego einzutreffen, wo wir morgen ein Concert geben sollen...

– Ja, ja, deshalb, meine vortrefflichen Freunde!

– Und Sie erblickten in uns nichts andres, als musikalische Carabiner, als lyrische Apotheker? ruft Pinchinat.

– O nein, meine Herren, versichert Calistus Munbar sich erhebend. Ich betrachtete Sie nur als Künstler von großem Talent und weitreichendem Renommée. Die Hurrahs, die dem Concert-Quartett bei seinen Reisen durch Amerika entgegendröhnten, sind auch bis zu unsrer Insel gedrungen. Da glaubte die Standard-Island Company den Zeitpunkt gekommen, die Phonographen und Theatrophone einmal durch wirkliche Virtuosen mit Fleisch und Bein ersetzen und den Milliardesern den unbeschreiblichen Genuß einer unmittelbaren Vorführung der Meisterwerke der Kunst verschaffen zu sollen. Sie wollte dabei und vor der Errichtung eines Opernorchesters mit der Kammermusik den Anfang machen. Dabei dachte sie an Sie, die hervorragendsten Vertreter dieser Musikgattung, und mir gab sie den Auftrag, Sie um jeden Preis hierher zu schaffen, im Nothfalle, Sie zu entführen. Sie sind also die ersten Künstler, die in Standard-Island auftreten werden, und ich überlasse es Ihnen, sich auszudenken, welcher Empfang Ihnen bevorsteht!«


Sebastian Zorn will durchaus nach San Diego abreisen. (S. 92.)

[87]

Yvernes und Pinchinat fühlen sich von den enthusiastischen Worten des Oberintendanten tief ergriffen. Daß die Geschichte auf eine Mystification hinauslaufen könnte, kommt ihnen gar nicht in den Sinn. Der mehr überlegende Frascolin fragt sich, ob dieses Abenteuer wirklich ernst zu nehmen sei. Doch warum sollte auf dieser ganz außergewöhnlichen Insel nicht auch alles andre ein außergewöhnliches Aussehen haben? Nur Sebastian Zorn beharrt dabei, sich nicht zu ergeben.

»Nein, mein Herr, ruft er, man bemächtigt sich fremder Leute nicht in dieser Weise ohne deren Einwilligung!... Wir werden gegen Sie Klage erheben....

[88] [91]– Klage... wo Sie, Undankbare, mir tausendmal danken sollten? erwidert der Oberintendant.

– Und es wird uns eine Entschädigung zugesprochen werden, mein Herr...

– Eine Entschädigung... wo ich Ihnen hundertmal mehr zu bieten habe, als Sie erhoffen könnten...

– Um was handelt es sich?« fragt der praktische Frascolin.

Calistus Munbar zieht sein Portefeuille hervor und entnimmt ihm ein Blatt Papier mit dem Stempel von Standard-Island, das er den vier Künstlern vor Augen hält.

»Ihre vier Unterschriften unter diesen Contract, sagt er, und die ganze Angelegenheit ist geregelt.


Der Rauchsalon im Casino. (S. 95.)

– Etwas unterschreiben, ohne es gelesen zu haben? antwortet die zweite Violine. Das geschieht nie und nirgends!

– Sie dürsten aber keine Ursache haben, es zu bereuen, fährt Calistus Munbar fort, der jetzt so heiter wird, daß er von oben bis unten wackelt. Doch meinetwegen, gehen wir ordnungsmäßig zuwege. Hier habe ich einen Engagementsvertrag, den die Compagnie Ihnen anbietet, ein Engagement für ein Jahr von heute ab, das Sie verpflichtet zur Aufführung derselben Kammermusikstücke, die Ihre Programme in Amerika enthielten. Nach zwölf Monaten wird Standard-Island an der Madeleinebay zurück sein, und Sie werden da zeitig genug eintreffen...

– Für unser Concert in San Diego, nicht wahr? ruft Sebastian Zorn, für San Diego, wo man uns mit Pfeifen empfangen wird...

– Nein, meine Herren, mit Hips und Hurrahs! Künstler, wie Sie, zu hören, fühlen sich alle Leute gar zu geehrt und sind glücklich, wenn sich solche hören lassen... selbst mit einem Jahre Verspätung!«

Mit einem solchen Mann soll einer nun etwas anfangen!

Frascolin ergreift das Blatt und durchliest es aufmerksam.

»Ja, welche Garantie wird uns geboten? fragt er.

– Die Garantie der Standard-Island Company, bestätigt durch die Unterschrift unsres Gouverneurs, des Herrn Cyrus Bikerstaff.

– Und die Bedingungen sind genau so, wie sie hier stehen?

– Ganz genau, also eine Million Francs....

– Für uns Vier? fällt Pinchinat ein.

[91] – Für jeden Einzelnen, antwortet Calistus Munbar lächelnd, und diese Summe steht noch außer Verhältniß zu Ihren Verdiensten, die doch niemand voll zu bezahlen vermöchte!«

Liebenswürdiger kann einer doch nicht wohl sein. Dennoch erhebt Sebastian Zorn Widerspruch. Er will um keinen Preis annehmen, sondern unbedingt nach San Diego abreisen, so daß Frascolin große Mühe hat, seine Entrüstung zu dämpfen.

Gegenüber dem Angebote des Oberintendanten erscheint indeß etwas Mißtrauen am Platze. Ein Engagement auf ein Jahr mit dem Honorar von einer Million Francs für jeden der Künstler... durften sie das ernst nehmen? Ja, ganz ernst, wie Frascolin versichern konnte, als er fragte: »Und das Honorar ist zahlbar?...

– Vierteljährlich, und hier bringe ich es für die ersten drei Monate.«

Aus ganzen Stößen von Bankscheinen, die sein Portefeuille zum Platzen füllen, formt Calistus Munbar vier Packete mit je fünfzigtausend Dollars oder zweihundertfünfzigtausend Francs, die er Frascolin und dessen Kameraden einhändigt.

Das ist so ein amerikanisches Geschäftsverfahren.

Nun geht die Sache dem Sebastian Zorn doch etwas näher. Da die schlechte Laune bei ihm aber niemals ihre Rechte aufgiebt, bemerkt er weiter:

»Ganz schön; doch bei dem Preise, in dem auf Ihrer Insel alles steht und wo man fünfundzwanzig Francs für ein Rebhuhn bezahlt, da wird man jedenfalls hundert Francs für ein Paar Handschuhe und fünfhundert Francs für ein Paar Stiefeln anlegen müssen?...

– O, Herr Zorn, die Compagnie legt auf solche Kleinigkeiten kein Gewicht, erklärt Calistus Munbar, und sie wünscht, daß die Künstler des Concert-Quartetts während ihres hiesigen Aufenthalts von allen Unkosten frei bleiben.«

Womit konnte man auf ein so großmüthiges Angebot anders antworten, als mit der Namensunterschrift unter den Contract?

Frascolin, Pinchinat und Yvernes bequemen sich dazu ohne Zögern. Nur Sebastian Zorn brummt, daß das ganze ein Unsinn sei, sich auf einer beweglichen Insel einzuschiffen, das habe keinen Verstand... man werde schon sehen, wie die Geschichte endigen würde u. s. w. – Schließlich ließ er sich aber doch herbei, mit zu unterzeichnen.

[92] Wenn Frascolin, Pinchinat und Yvernes nach Erfüllung dieser Formalität dem Calistus Munbar auch nicht die Hände küßten, so drückten sie sie ihm wenigstens herzlichst. Vier Händedrücke, jeder zu einer Million!

So ließ sich das Concert-Quartett also auf ein Abenteuer sondergleichen ein und unter genannten Umständen wurden die vier Künstler die Gäste – inviti – Standard-Islands.

7. Capitel
Siebentes Capitel.
Hinaus nach Westen.

Standard-Island gleitet sanft über das Wasser des Stillen Oceans, der zu dieser Jahreszeit seinem Namen alle Ehre macht. An diese ruhige Fortbewegung seit vierundzwanzig Stunden gewöhnt, bemerken Sebastian Zorn und seine Kameraden gar nicht, daß sie weiter segeln. So mächtig die Hunderte, von zehn Millionen Pferdekräften bewegten Schrauben auch sind, verbreiten sie durch den metallnen Unterbau der Insel doch kaum ein leises Zittern. Milliard-City bleibt unbewegt und spürt auch nichts von dem Seegange, dem sonst die größten Panzerschiffe der Kriegsmarine unterliegen. In den Wohnungen oder auf den Schiffen benützt man hier keine Schwebelampen. Wozu auch? Die Häuser von London, Paris oder New-York stehen auf ihrem Grund ja auch nicht fester und sicherer.

Nach mehrwöchigem Aufenthalt in der Madeleinebay hatte der Rath der Notabeln von Standard-Island, den der Präsident zusammenrief, das Programm für die Jahresreise entworfen. Die Schraubeninsel sollte die hauptsächlichsten Inselgruppen des östlichen Stillen Oceans besuchen, und zwar inmitten jener hygienischen Atmosphäre, die so reich an Ozon, an verdichtetem Sauerstoff ist, der durch Elektrisierung weit wirksamere Eigenschaften besitzt, als der gewöhnliche Sauerstoff der Luft. Da der ganze Apparat völlig frei beweglich ist, zieht er daraus Nutzen, und so begiebt er sich auf Wunsch nach Westen oder nach Osten, nähert sich der Küste Amerikas, wenn es ihm beliebt, oder streift nach Gefallen längs der Ostküsten Asiens dahin. Standard-Island geht, wohin es [93] will, und macht sich seine Seefahrt so angenehm wie möglich. Selbst wenn es ihm beliebte, den Stillen Ocean gegen den Atlantischen Ocean zu vertauschen, wenn es um das Cap Horn oder das Cap der Guten Hoffnung segeln wollte, brauchte es nur die betreffende Richtung einzuschlagen, und weder Strömungen noch Stürme würden ihm hinderlich sein, sein Ziel zu erreichen.

Es kommt jedoch gar nicht in Frage, jene entfernten Meere aufzusuchen, wo das Juwel des Stillen Oceans das nicht finden würde, was dieser Ocean ihm inmitten seiner endlosen Inselgruppen bietet. Hier ist Raum genug, um die verschiedensten Fahrten zu unternehmen. Die Propeller-Insel kann von einem Archipel zum andern segeln. Ist sie auch nicht mit dem Instinct der Thiere begabt, diesem sechsten Sinne der Orientation, der jene dahinführt, wohin ihre Bedürfnisse sie rufen, so wird sie dafür von sichrer Hand und nach einem Programm geführt, das lange vorher erwogen und einstimmig angenommen worden war. Bisher ist es hierüber zu keiner Meinungsverschiedenheit zwischen den Bewohnern des Steuerbords und des Backbords gekommen.

Augenblicklich steuert man entsprechend einem gefaßten Beschlusse nach Westen auf die Gruppe der Sandwichinseln zu. Bei mäßiger Schnelligkeit wird die Zurücklegung der Zwölfhundertmeilen-Strecke, die jene Inselgruppe von der Stelle trennt, wo das Quartett sich einschiffte, etwa binnen einem Monat vollendet sein, bis es Standard-Island beliebt, einen andern Archipel der südlichen Halbkugel anzulaufen.

Am Morgen dieses denkwürdigen Tages verläßt das Quartett das Excelsior-Hôtel und richtet sich häuslich in einigen, ihm zur Verfügung gestellten Zimmern des Casino ein – natürlich in einer geräumigen, prächtig ausgestatteten Wohnung. Vor deren Fenstern zieht sich die Erste Avenue hin. Sebastian Zorn, Frascolin, Pinchinat und Yvernes haben jeder sein eignes Zimmer an den Seiten des gemeinschaftlichen Salons. Der Hof des Etablissements gewährt ihnen angenehmen Schatten durch seine in voller Belaubung stehenden Bäume, und Kühlung durch seine plätschernden Springbrunnen. An der einen Seite dieses Hofes liegt das Museum von Milliard-City, an der andern der Concertsaal, wo die Pariser Künstler die Echos der Phonographen und die Uebertragungen der Theatrophone so glücklich ersetzen.

Täglich zwei-, drei- oder so viele male, wie sie es wünschen, wird ihnen im Restaurant aufgetragen, wonach es ihnen gelüstet, ohne daß der Oberkellner ihnen seine fast unglaublichen Rechnungen dafür vorlegt.

[94] Als sie an diesem Morgen noch im Salon beisammen waren, ehe sie sich zum Frühstück hinunterbegaben, fragte Pinchinat:

»Nun, Ihr Violinen, was sagt Ihr nun darüber, wie es uns ergangen ist?

– O, es ist ein Traum, antwortete Yvernes, ein Traum, in dem wir für eine Million für das Jahr befangen bleiben...

– Nein, es ist die reine, schöne Wirklichkeit, erwiderte Frascolin. Suche nur in Deiner Tasche, und Du wirst das erste Viertel der Million schon entdecken.

– Wenn man nur wüßte, wie die Sache ausläuft.. Meiner Ansicht nach, ganz schlecht, ruft Sebastian Zorn, der unbedingt Dornen in dem Rosenbette, worauf man ihn gelegt hat, finden will.

– Und übrigens unser Gepäck?«...

Ja freilich, das Gepäck mußte in San Diego ausgeliefert sein, von wo es nicht zurückkommen konnte, und die Eigenthümer es auch nicht zu holen im Stande waren. Im Ganzen machte das nicht viel aus: einige Reisesäcke mit Leibwäsche, Toilettegegenständen, Kleider zum Wechseln und das officielle Costüm der Künstler, wenn sie öffentlich auftraten... das war Alles.

Darüber brauchten sie sich jedenfalls nicht zu beunruhigen. Binnen achtundvierzig Stunden war diese etwas abgenutzte Garderobe durch eine andre ersetzt, die man den vier Künstlern zur Verfügung stellte, ohne daß sie fünfzehnhundert Francs für einen Anzug oder fünfhundert Francs für ihre Stiefletten zu bezahlen gehabt hätten.

Höchst befriedigt, diese peinliche Angelegenheit zu so gutem Ende geführt zu haben, macht es sich Calistus Munbar zur Pflicht, bei dem Quartett gar keinen Wunsch erst aufkommen zu lassen. Einen zuvorkommenderen Oberintendanten konnte man sich gar nicht vorstellen. Er bewohnte ebenfalls Räumlichkeiten des Casinos, dessen einzelne Abtheilungen unter seiner Leitung stehen, und die Compagnie honoriert ihn dafür in einer Weise, wie es seiner Würde entspricht. Die Summe wollen wir lieber verschweigen.

Das Casino enthält auch Lese- und Spielsäle; Baccarac, Trente et quarante, Roulette, Poker und andre Hazardspiele sind aber strengstens untersagt. Man findet hier ferner ein Rauchetablissement, von wo auch durch eine unlängst gegründete Gesellschaft der Rauch von präpariertem Tabak unmittelbar in die Wohnungen geleitet wird. Dieser Rauch, der in der Hauptanstalt in großen Brennöfen hergestellt und von allem Nicotin befreit wird, steht durch Röhren, die in Bernsteinmundstücken endigen, jedem Liebhaber zur Verfügung. Man braucht [95] daher nur die Lippen anzulegen und ein Zählwerk registriert den täglichen Verbrauch.

In dem Casino, wo die Musikfreunde sich an den Tönen aus weiter Ferne berauschen können, woneben jetzt auch noch die Concerte des Quartetts stattfinden, befinden sich endlich die Sammlungen von Milliard-City. Liebhabern der Malerei bietet das an alten und neuen Bildern reiche Museum zahlreiche, für hohe Preise erstandene Meisterwerke der italienischen, holländischen, deutschen und französischen Schule, um die es die Sammlungen von Paris, London, München, Rom und Florenz beneiden könnten, Gemälde von Raphael, da Vinci, Giorgione, Correggio, Dominiquin, Ribeira, Murillo, Ruysdael, Rembrandt, Rubens, Cuyp, Frans Hals, Hobbema, Van Dyck, Holbein u. A., sowie unter den modernen von Fragonard, Ingres, Delacroix, Scheffer, Cabat, Delaroche, Regnaut, Couture, Meissonier, Millet, Rousseaux, Jules Duprè, Brascassat, Makart, Turner, Troyon, Corot, Daubigny, Baudry, Bonnat, Car. Duran, Jules Lesvebre, Volton, Breton, Binet, Yon, Cabanel u. s. w. Um ihnen eine ewige Dauer zu sichern, sind die Gemälde in völlig luftleeren Glasbehältern untergebracht. Zu bemerken ist, daß die Impressionisten, die Futuristen und ähnliche in dieses Museum noch keinen Eingang gefunden haben, das wird aber wahrscheinlich nicht lange so fortdauern und Standard-Island dürfte einem Einfalle der niedrigeren, verfallenden Kunst auch nicht mehr entgehen. Das Museum enthält ferner Statuen von hohem Werthe, Marmorarbeiten der größten alten und neueren Bildhauer, die im Hofe des Casinos Aufstellung fanden. Dank dem hier herrschenden Klima ohne Regen und Nebel können Gruppen, Statuen und Büsten der Witterung ganz gefahrlos ausgesetzt bleiben. Daß alle diese Wunder viele Besucher fänden, daß die Nabobs von Milliard-City ausgesprochenen Geschmack für die Werke der Kunst bewiesen, daß bei ihnen künstlerischer Sinn besonders entwickelt wäre, möchten wir nicht gerade behaupten. Zu bemerken wäre höchstens, daß die Steuerbordhälfte mehr Liebhaber zählt als die Backbordhälfte. Alle sind dagegen völlig einig, wenn es sich um die Erwerbung eines Meisterstückes handelt, und dann sind ihre unvergleichlichen Gebote stets im Stande, solche jedem Herzog von Aumale, jedem Chauchard der Alten und der Neuen Welt zu entwinden.

Am meisten besucht sind im Casino die Lesezimmer mit den Revuen, den europäischen und den amerikanischen Zeitungen, die die Dampfer von Standard-Island. welche den regelmäßigen Dienst zwischen diesem und der Madeleinebay [96] versehen, immer herschaffen.


Die Wogen schlugen donnernd an dem metallnen Numpf empor. (S. 101.)

Wenn sie durchblättert, gelesen und wieder gelesen sind, kommen sie nach den Regalen der Bibliothek, wo mehrere tausend Bücher stehen, die ein mit fünfundzwanzigtausend Dollars besoldeter Bibliothekar in Ordnung hält, und er ist vielleicht der Beamte der Insel, der am wenigsten zu thun hat. Die Bibliothek enthält auch eine Anzahl phonographischer Bücher; damit erspart man sich die Mühe des Lesens, man drückt nur auf einen Knopf und hört sofort die Stimme eines vortrefflichen Vortragenden, so als ob Legouvé etwa Racine's »Phädra« laut vorläse.

[97] Was »örtliche« Zeitungen angeht, so werden diese in den Ateliers des Casinos unter der Aufsicht zweier Chefredacteure gesetzt und gedruckt. Die eine ist das »Starboard-Chronicle« für die Steuerbordstadt, die andre, der »New-Herald«, für die Backbordstadt. Die Chronik beider Blätter bringt verschiedne Nachrichten, berichtet über die Ankunft der Packetboote, über Vorkommnisse auf dem Meere und Begegnungen mit Schiffen, ferner Handelsnachrichten für die Kaufleute, die täglichen Bestimmungen der Länge und Breite, die Entscheidungen der Notabelnversammlung, die Verordnungen des Gouverneurs und die Vorkommnisse auf dem Standesamte: Geburten, Eheschließungen, Todesfälle – von letzteren nur sehr wenige. Diebstähle oder gar Mordthaten kommen nicht vor, die Gerichte haben nur mit Civilangelegenheiten, höchstens mit Streitigkeiten unter Einzelnen zu thun. Artikel über Hundertjährige sieht man niemals, weil die Erreichung eines so langen Lebens hier kein Privilegium Einzelner ist.

Was die ausländliche Politik angeht, hält man sich durch die Mittheilungen von der Madeleinebay auf dem Laufenden, wo die in den Tiefen des Stillen Oceans versenkten Kabel Landanschluß haben. Die Milliardeser sind auf diese Weise über Alles unterrichtet, was auf der ganzen Welt vorgeht, wenn das nur irgend von größerem Interesse ist. Wir bemerken hierbei auch, daß das »Starboard-Chronicle« und der »New-Herald« sich gegenseitig nicht mit rauhen Händen anfassen. Bisher haben sie sich wenigstens gut vertragen, obwohl niemand dafür stehen kann, daß sich das nicht einmal ändern könnte. Bei großer Toleranz und weitgehender Nachsichtigkeit auf religiösem Gebiete, bestehen Protestantismus und Katholicismus auf Standard-Island friedlich nebeneinander. In Zukunft, wenn sich vielleicht die häßliche Politik mit einmengt, wenn Geschäftsinteressen Die oder Jene mehr aufreizen, wenn bei irgendwelchen Fragen die Eigenliebe wachgerufen wird... wer weiß?...

Außer diesen beiden Tagesblättern giebt es noch Wochen- und Monatsblätter, die Artikel aus fremden Zeitungen wiedergeben, wie die der Nachfolger eines Sarcey, Charmes, Fournel, Deschamps, Fouquier, France und andrer Kritiker von hohem Ansehen. Dazu erscheinen illustrierte Magazine, ohne ein Dutzend andrer Blätter zu rechnen, die, für einzelne Kreise bestimmt oder des Abends auf den Straßen ausgeboten, die gewöhnlichen kleinen Nachrichten bringen. Sie haben keinen andern Zweck, als einen Augenblick zur Unterhaltung zu dienen, den Geist und... sogar den Magen anzuregen. Ja, einzelne sind wirklich auf eine Art Kuchenteig mit Chocoladentinte gedruckt. Hat man sie gelesen, so verzehrt [98] man sie als erstes Frühstück, dabei wirken die einen mehr stärkend, die andern etwas schwächend, und der Körper befindet sich dabei ganz wohl. Das Quartett hält diese Erfindung für ebenso bequem wie practisch.

»Da giebt es ja leichtverdauliche Lectüre! bemerkte Yvernes.

– Und eine nahrhafte Literatur! antwortete Pinchinat. Kuchenbäckerei und Literatur vermengt, das stellt sich der hygienischen Musik recht passend an die Seite!«

Jetzt drängt sich die Frage auf, über welche Hilfsquellen die Schraubeninsel gebietet, um ihre Einwohnerschaft in einem Wohlleben zu erhalten, mit dem sich keine Stadt der beiden Welten zu messen vermag. Ihre Einkünfte müssen sich auf eine kaum glaubliche Summe belaufen, wenn man bedenkt, wie viel hier auf jeden Theil der öffentlichen Verwaltung und auf die Bezahlung auch der niedrigsten Beamten verwendet wird.

Die Künstler erkundigten sich hierüber bei dem Oberintendanten.

»Eigentliche Geschäfte, erklärte dieser, betreibt man hier nicht. Wir haben keinen Board of Trade, keine Börse, keine Industrie, und Handel nur insoweit, als ihn die Bedürfnisse der Insel unentbehrlich machen. So werden wir den Fremden auch nie etwas Aehnliches wie den Weltjahrmarkt von Chicago 1893 oder die Pariser Ausstellung von 1900 zu bieten haben. Nein, die mächtige Religion der Busineß existiert bei uns nicht und wir stoßen nie den Ruf Go ahead aus, außer wenn unser Juwel des Stillen Oceans sich auf den Weg machen soll. Geschäften also im eigentlichen Sinne verdanken wir die nöthigen Hilfsmittel zur Unterhaltung Standard-Islands nicht, sondern den Zollgebühren. Die Zolleinnahmen allein decken alle Ansprüche unsers Budgets...

– Und das beträgt? fragte Frascolin.

– Zwanzig Millionen Dollars, meine werthen Herren!

– Hundert Millionen Francs, ruft die zweite Geige, und das für eine Stadt von zehntausend Seelen!...

– Ganz recht, lieber Frascolin, eine Summe, die uns die Zollgebühren liefern. Städtische Eingangsabgaben haben wir nicht, da die örtliche Production zu unbedeutend ist. Nein, nichts als die Zölle, die in den beiden Häfen erhoben werden. Das erklärt Ihnen auch den hohen Preis aller Consumartikel – und doch bedeutet das nur eine verhältnißmäßige Theuerung, denn die Preise, so wie sie sind, entsprechen bequem den Mitteln, über die hier jedermann verfügt.«

So redet sich Calistus Munbar wiederum warm, lobt seine Stadt und seine Insel... gleich einem Stücke eines höhern Planeten, das, ein schwimmendes [99] Paradies, mitten in den Stillen Ocean gefallen ist, worauf sich alle Weisen geflüchtet haben, und wenn das wahre Glück nicht hier wohnt, so trifft man es überhaupt nirgends. Es klingt als ob er sagen wollte:

»Immer herein, meine Damen und Herren! Wollen Sie sich mit Billetten versehen! Alles schon stark besetzt. Wer wünscht noch ein Billet?«... u. s. w.

In der That, Platz giebt es nur sehr wenig und die Billette sind theuer! Bah, der Intendant wirst mit Millionen herum, die in dieser Stadt der Milliardäre eben die Münzeinheit bilden.

Im Laufe dieser Tirade, bei der die Sätze wie ein Wasserfall hervorsprudeln und durch Handbewegungen mit wahrhaft semaphorischem Eifer begleitet werden, erfährt das Quartett nun Näheres über die verschiednen Zweige der Verwaltung, zuerst über die Schulen mit freiem, aber obligatorischem Unterricht, der von Lehrern, die gleich Ministern bezahlt werden, ertheilt wird. Hier lernt man todte und lebende Sprachen, Geschichte und Geographie, Physik und Mathematik, sowie gesellige Künste, und zwar besser als an sonst welcher Universität oder Akademie der Alten Welt, wenn man Calistus Munbar glauben darf. In Wahrheit drängen sich die Zöglinge nicht besonders zu den öffentlichen Unterrichtsstunden, und wenn die jetzige Generation noch etwas Färbung von den Studien an den Colleges der Vereinigten Staaten erkennen läßt, so wird doch die nächste jedenfalls mehr Renten als Gelehrsamkeit aufzuweisen haben. Das ist ein wunder Punkt, doch wahrscheinlich können menschliche Wesen nur verlieren, wenn sie sich von der übrigen Menschheit absondern.

Damit ist nicht gesagt, daß nicht Einzelne dann und wann nach andern Ländern und nach den Weltstädten Europas reisten. Gewiß wird ein kleinerer Theil gelegentlich von Neugierde getrieben, zu sehen, was die Erde sonst zu bieten hat. Sie ermüden aber und langweilen sich dabei, es fehlt ihnen die gleichmäßige Existenz, die sie von Standard-Island her gewöhnt sind; sie leiden von der Wärme wie von der Kälte und holen sich den Schnupfen, der in Milliard-City unbekannt ist. So kehren sie voller Ungeduld bald nach ihrer Insel zurück, ohne von ihren Reisen irgendwelchen Vortheil gehabt zu haben. Sie gingen als Gepäckstücke fort, kamen als solche wieder, und fügen wir hinzu: sie werden auch nur Gepäckstücke bleiben.

Was Fremdlinge anbelangt, die der Ruf von Standard-Island, dieses neunten Weltwunders – seit der Eiffelthurm, wie die Leute sagen, das achte darstellt – hierherlocken könnte, so meinte Calistus Munbar, daß diese niemals [100] besonders zahlreich sein werden. Man legt hier auch keinen großen Werth darauf, obwohl man daraus noch eine neue Einnahmequelle hätte machen können. Im vergangnen Jahre waren die meisten der Besucher amerikanischer Herkunft. Von andern Nationen sah man fast niemand, außer einigen Engländern, die man allemal an ihren aufgestreiften Hosen erkennt, die sie in dieser Weise unter dem Vorwande tragen, daß es in London regne. Großbritannien sieht übrigens die Schöpfung von Standard-Island mit scheelen Augen an, da es seiner Ansicht nach die freie Schiffsbewegung störe, und es würde sich freuen, wenn jenes wieder verschwände. – Deutsche finden nur einen lauen Empfang, da sie, wenn sie hier erst festen Fuß faßten, aus Milliard-City jedenfalls bald ein zweites Chicago machen würden. Franzosen werden von der Gesellschaft mit der meisten Sympathie aufgenommen, da man von ihnen nichts fürchtet, doch weiß das Quartett nicht, ob bisher ein Franzose schon auf Standard-Island erschienen ist.

»Das ist nicht wahrscheinlich, meint Pinchinat.

– Wir sind dazu nicht reich genug, setzt Frascolin hinzu.

– Um als Rentner hier zu leben, das ist möglich, antwortete der Oberintendant, dagegen als Beamter, Lehrer...

– Nun, wohnt denn ein Landsmann von uns in Milliard-City? fragte Yvernes.

– Jawohl, einer.

– Und wer ist dieser Glückliche?

– Herr Athanase Dorémus.

– Was macht denn dieser Athanase Dorémus hier? ruft Pinchinat.

– Er ist Tanz- und Anstandslehrer und bezieht von der Stadt einen recht beträchtlichen Gehalt, ohne seine Privatstunden zu erwähnen...

– Die nur ein Franzose zu geben im Stande ist!« erklärt der Bratschist.

Das Quartett ist nun nach allen Seiten über die Verhältnisse auf Standard-Island unterrichtet. Die vier Freunde können sich daher ganz dem Reize der Fahrt hingeben, die sie nach dem Westen des Stillen Oceans entführt. Ginge die Sonne nicht heute an diesem und morgen an jenem Punkte der Insel auf, je nach der Richtung, in der diese auf Anordnung des Commodore Simcoë weitergleitet, so könnten Sebastian Zorn und seine Kameraden sich auf festem Lande zu befinden glauben. Im Laufe der nächsten vierzehn Tage wurde es wohl zweimal sehr stürmisch, denn das kommt auch auf dem Stillen Ocean trotz seines Namens vor. Die Wogen schlugen donnernd an dem metallenen Rumpfe [101] empor und schäumten dann wie an einem Ufer hinauf – Standard-Island erzitterte aber nicht einmal bei diesem Aufruhr der Elemente. Die Wuth derselben ist ohnmächtig gegen dasselbe. Der Menschengeist hat die Natur besiegt. Vierzehn Tage später, am 11. Juni, findet die erste Kammermusikaufführung statt, die mittelst Placaten mit elektrischen Buchstaben längs der großen Alleestraße angekündigt wurde Selbstverständlich sind die Musiker vorher dem Gouverneur und den ersten Personen der Stadt vorgestellt worden. Cyrus Bikerstaff hat sie sehr herzlich empfangen. Die Journale haben an die Erfolge des Concert-Quartetts bei dessen Reisen durch die Vereinigten Staaten erinnert und den Oberintendanten warm beglückwünscht, daß es ihm gelungen sei, sich der Künstler, wenn auch auf etwas seltsame Weise, zu versichern. Welche Freude, diese Herren, wenn sie die Meisterstücke aller Zeiten vortragen, nicht allein hören sondern auch sehen zu können! Welcher Genuß für die Kenner!

Wenn die vier Pariser für das Casino in Milliard-City gegen eine fabelhafte Gage angestellt sind, so darf man nicht glauben, daß deren Concerte dem Publicum etwa unentgeltlich dargeboten wurden. Weit gefehlt. Die Behörde hofft damit eine große Einnahme zu erzielen, ganz wie die amerikanischen Impresarios, deren Sängerinnen oft einen Dollar für den Tact oder gar für jede Note kosten. Hier bezahlt man schon von jeher für die theatrophonischen und phonographischen Concerte im Casino und wird an diesem Tage noch weit mehr zahlen. Die Plätze haben alle denselben Preis: Zweihundert Dollars (oder tausend Francs) für den Stuhl, und Calistus Munbar schmeichelt sich, den Saal ganz ausgefüllt zu sehen.

Er hat sich nicht getäuscht, alle Plätze sind vergriffen. Der reizende Saal des Casinos enthält deren freilich nur hundert, und wenn man diese etwa versteigert hätte, so läßt sich gar nicht sagen, wie hoch die Einnahme wohl gestiegen wäre. Dergleichen war auf Standard-Island aber nicht Gebrauch. Für Alles, was einen Kaufwerth hat, wird der Preis vorher bestimmt, sonst könnte es bei den ungeheuern hier vertretenen Vermögen leicht zu unmäßigen Preissteigerungen kommen, was man möglichst zu vermeiden wünschte. Immerhin sei die Bemerkung eingeflochten, daß, wenn die reichen Steuerbordbewohner aus Liebe zur Kunst ins Concert gehen, die reichen Backbordbewohner es ihnen nur aus gesellschaftlicher Rücksicht gleichthun.

Als Sebastian Zorn, Pinchinat, Yvernes und Frascolin vor die Zuschauer und Zuhörer aus New-York, Chicago, Philadelphia und Baltimore traten, war [102] es ihrerseits keine Uebertreibung, wenn sie sagten: Da steht ein Publicum, das Millionen werth ist. Heute Abend ist ein solcher Ausspruch hinter der Wahrheit weit zurückgeblieben. Man bedenke nur: da saßen in der ersten Reihe der Fauteuils Jem Tankerdon, Nat Coverley und deren Familien; auf den andern Plätzen eine Menge Kunstfreunde, die, wenn sie auch unter der Milliarde blieben, doch einen »schweren Sack« voll besaßen, wie Pinchinat treffend bemerkte.

»Nun vorwärts!« sagte der Quartettdirigent, als die Stunde gekommen war, sich auf der Estrade zu zeigen.

Und damit gehen sie, kaum mehr, ja nicht einmal so erregt, als wenn sie hätten vor einem Pariser Publicum auftreten sollen, das zwar weniger Geld in der Tasche, doch gewiß mehr Kunstsinn gehabt hätte.

Hatten Sebastian Zorn, Yvernes, Frascolin und Pinchinat auch noch keinen Unterricht bei ihrem Landsmann Dorémus genommen, so war ihr Auftreten doch nicht minder correct. Sie erschienen dabei in weißer Cravatte zu fünfundzwanzig Francs, perlgrauen Handschuhen zu fünfzig Francs, Oberhemd zu siebzig Francs, Stiefeln zu hundertachtzig Francs, Weste zu zweihundert Francs, in schwarzen Beinkleidern zu fünfhundert und in schwarzem Frack zu tausendfünfhundert Francs, natürlich auf Kosten der Stadtverwaltung. Man empfängt sie mit Beifallsrufen, mit lautem Händeklatschen auf Seite der Steuerbordbewohner und etwas discreter auf Seite der Backbordbewohner – das ist so Sache des Temperaments.

Das Programm des Concerts enthält vier Nummern, wozu ihnen die durch den Oberintendanten reich ausgestattete Bibliothek des Casinos die Noten geliefert hat, nämlich:

Erstes Quartett in E-moll: Op. 12 von Mendelssohn.

Zweites Quartett in F-dur: Op. 16 von Haydn.


Sebastian Zorn, Yvernes, Pinchinat und Frascolin zeigen sich auf der Terrasse (S. 105.)

Zehntes Quartett in E-moll: Op. 74 von Beethoven.

Fünftes Quartett in A-dur: Op. 10 von Mozart.

Die Solisten übertrafen sich selbst in diesem mit Milliarden vollgepfropften Saal an Bord einer schwimmenden Insel und über einer Wasserfläche, deren Tiefe an dieser Stelle des Großen Oceans über fünftausend Meter erreichte. Sie erzielen einen großen und wohlverdienten Erfolg, vorzüglich von Seiten der Dilettanten der Steuerbordhälfte. An diesem denkwürdigen Abend hätte man den Oberintendanten sehen müssen: er jauchzt vor Vergnügen. Es sieht aus, als spielte er selbst auf zwei Geigen, einer Bratsche und einem Violoncell. Welch' [103] glückliches Debüt für die Vertreter der herrlichen Kammermusik – und für deren Impresario!

Doch nicht allein der Saal ist gänzlich gefüllt, auch vor dem Casino wogt noch eine gewaltige Menschenmenge. Sehr, sehr viele haben sich beim besten Willen kein Plätzchen mehr verschaffen können, und außerdem mochte doch der hohe Preis auch noch manche abgeschreckt haben. Diese »Zaunbilletinhaber« hören die Musik nur von fern, so als ob sie aus dem Kasten des Phonographen oder aus dem Schalltrichter des Telephons erklänge; ihre Beifallsbezeugungen sind [104] deshalb aber nicht minder lebhaft. Noch betäubender werden dieselben jedoch, als sich Sebastian Zorn, Yvernes, Pinchinat und Frascolin nach Beendigung des Concerts auf der Terrasse des linken Pavillons zeigen. Die Erste Avenue ist von glänzenden Lichtstrahlen übergossen. Die elektrischen Monde werfen einen Glanz hinab, um den die bleiche Selene sie beneiden könnte.


Die Vorstellung des Quartetts bei Cyrus Bikerstaff. (S. 107.)

Dem Casino gegenüber, auf dem Trottoir und etwas seitwärts erregen zwei Leute die Aufmerksamkeit Yvernes'. Da steht ein Mann mit einer Frau am Arme. Der etwas unter mittelgroße Mann mit seinen, doch ernsten, fast traurigen [105] Gesichtszügen mag etwa fünfzig Jahre zählen. Die etwas jüngre, große, stolz erscheinende Frau zeigt unter einem Hute bereits weiß gewordnes Haar.

Betroffen über ihre reservierte Haltung, macht Yvernes den Calistus Munbar auf das Paar aufmerksam.

»Wer sind diese Leutchen? fragt er.

– Diese Leute?... antwortete der Oberintendant, um dessen Lippen ein verächtliches Lächeln spielt. O das sind überspannte Musiknarren.

– Warum haben sie sich denn keinen Platz im Casino gesichert?

– Wahrscheinlich, weil er ihnen zu theuer gewesen ist.

– Ihr Vermögen ist also klein?

– Sie haben kaum zweimalhunderttausend Francs Rente.

– Pah! machte Pinchinat... Und wer sind denn die armen Teufel?

– Der König und die Königin von Malecarlien.«

8. Capitel
Achtes Capitel.
Unterwegs.

Nachdem sie diesen außergewöhnlichen schwimmenden Apparat geschaffen hatte, mußte die Standard-Island Company auch noch für eine doppelte Verwaltung, eine solche für maritime und eine andre für städtische Angelegenheiten Sorge tragen.

Die erste hat als Director oder vielmehr als Kapitän, wie wir wissen, den Commodore Ethel Simcoë von der Flotte der Vereinigten Staaten. Ein Mann von fünfzig Jahren und erfahrener Seemann, kennt er gründlich alle Theile des Stillen Oceans, seine Stürme und Klippen, wie seine unterseeischen Korallenbauten. Er ist also wie dazu geschaffen, die Schraubeninsel und mit ihr die reichen Existenzen, für die er vor Gott und der Compagnie die Verantwortung hat, mit sichrer Hand zu führen.

Der andre Theil der Verwaltung, der der städtischen und civilen Angelegenheiten, liegt in den Händen eines Gouverneurs. Cyrus Bikerstaff ist ein Yankee [106] aus Maine, einem der föderierten Staaten, die sich während des Secessionskriegs am wenigsten an dem brudermörderischen Kampfe betheiligten. Mit Cyrus Bikerstaff hatte man also eine glückliche Wahl getroffen, da er als Bindemittel zwischen den beiden Stadthälften am meisten geeignet war.

Der Gouverneur, der fast sechzig Jahre zählt, ist unbeweibt. Er ist ein etwas kalter Mann mit der nöthigen self control, unter phlegmatischem Aeußern doch sehr energisch, in seiner reservierten Haltung sehr englisch, dabei hat er das Benehmen eines Gentlemans und die Discretion eines Diplomaten, die in allen seinen Worten und Thaten hervortritt. In jedem andern Lande als auf Standard-Island würde er eine sehr hervorragende und deshalb hochgeschätzte Rolle spielen. Hier ist er nichts anders, als der erste Beamte der Gesellschaft. Uebrigens ist er, obgleich sein Gehalt die Civilliste manches kleinen europäischen Herrschers übertrifft, nicht reich und kann in Folge dessen neben den Nabobs von Milliard-City nicht hervortreten.

Cyrus Bikerstaff ist nicht allein Gouverneur, sondern auch Bürgermeister der Hauptstadt. Als solcher residiert er im Stadthause am Ende der Ersten Avenue, gegenüber dem Observatorium, wo der Commodore Ethel Simcoë seine Amtswohnung hat. Hier befinden sich seine Bureaux für die Standesamtssachen, für die Geburten, die zahlreich genug sind, um die Zukunst der Insel sicherzustellen; für die Sterbefälle – die Todten werden nach dem Friedhofe der Madeleinebay überführt – und für die Eheschließungen, die nach dem Codex von Standard-Island vor der kirchlichen Einsegnung erst civilrechtlich geschlossen werden müssen. Hier werden auch die andern Verwaltungsangelegenheiten erledigt, und niemals ist über die Amtsführung eine Klage laut geworden. Das macht dem Bürgermeister und seinen Beamten alle Ehre. Als ihm Sebastian Zorn, Pinchinat, Yvernes und Frascolin durch den Oberintendanten vorgestellt wurden, nahmen sie davon einen recht günstigen Eindruck mit hinweg, den Eindruck, den die Individualität eines guten und gerechten Mannes, eines practischen Geistes, der weder zu Vorurtheilen, noch zu chimären neigt, immer hervorzubringen pflegt.

»Meine Herren, redete er sie an, wir schätzen es als ein Glück, Sie hier zu haben. Vielleicht ist unser Oberintendant nicht ganz correct gegen Sie vorgegangen, ich hoffe aber, daß Sie ihm das verzeihen werden. Uebrigens sollen Sie sich über uns in keiner Weise zu beklagen haben. Wir erwarten von Ihnen nur zwei Concerte monatlich und gewähren Ihnen völlige Freiheit, etwaige private [107] Einladungen anzunehmen. Wir begrüßen in Ihnen Künstler von höchstem Werthe und werden niemals vergessen, daß Sie die ersten Musiker waren, die wir zu empfangen die Ehre hatten.«

Das Quartett ist über diese Aufnahme ganz entzückt und giebt auch gegen Calistus Munbar seiner Befriedigung Ausdruck.

»Ach ja, es ist ein recht liebenswürdiger Mann, unser Cyrus Bikerstaff, antwortet der Oberintendant mit leichtem Achselzucken. Es ist nur bedauerlich, daß er nicht eine oder zwei Milliarden besitzt...

– Freilich, niemand ist vollkommen hienieden!« bemerkt Pinchinat.

Der Gouverneur-Bürgermeister von Milliard-City hat zwei Adjuncte, die ihn in der sehr einfachen Verwaltung der Schraubeninsel unterstützen. Unter diesen steht noch eine kleine Anzahl gebührend honorierter Beamter, die den einzelnen Fächern vorstehen. Ein Stadtrathscollegium giebt es nicht. Wozu auch? An dessen Stelle fungiert eine Notabelnversammlung von etwa dreißig Personen, die durch Intelligenz und Vermögen dazu am besten qualificiert erscheinen. Bei vorliegenden wichtigen Angelegenheiten tritt diese Versammlung zusammen, z. B. wenn es sich um die Reiseroute handelt, die im Interesse der allgemeinen Hygiene eingehalten werden soll.

Wie sich unsre Pariser überzeugen konnten, gab es da zwar Meinungsverschiedenheiten und zuweilen Schwierigkeiten zu überwinden. Bisher vermochte Cyrus Bikerstaff aber durch seine kluge Intervention stets die einander entgegenstehenden Interessen zu vereinen und die Eigenliebe seiner Mitbürger zu besiegen.

Natürlich ist einer der beiden Adjuncte Protestant, Barthelemy Ruge, der andre Katholik, Hubley Harcourt, beide aus den obern Beamten der Standard-Island Company hervorgegangen und beide stehen Cyrus Bikerstaff mit gleichem Eifer zur Seite.

So liegen seit achtzehn Monaten, in der Fülle ihrer Unabhängigkeit, ohne alle diplomatischen Beziehungen, frei auf der weiten Fläche des Stillen Oceans, unbehelligt nach allen Seiten und unter selbst gewähltem Himmel die Verhältnisse der künstlichen Insel, auf der das Quartett ein ganzes Jahr verweilen soll. Mag es dabei auch manchem Abenteuer entgegengehen, mag ihm die Zukunft die oder jene Ueberraschung bereiten, keiner davon malt sie sich aus oder fürchtet sich davor, was der Violoncellist auch sagen möge, denn alles spielt sich hier in bestgeregelter Ordnung ab. Und doch sollte man meinen, daß der Menschengeist mit [108] der Erschaffung dieses Wohnsitzes, den er dem ungeheuern Weltmeer anvertraute, die ihm vom Schöpfer gezognen Grenzen überschritten hätte.

Die Fahrt geht nach Westen weiter. An jedem Tage wird zur Zeit des Meridiandurchgangs der Sonne von den, unter dem Befehle des Commodore Ethel Simcoë stehenden Officieren des Observatoriums das Besteck gemacht. Ein vierfaches Zifferblatt an den Seiten des Stadthausthurmes zeigt nach geographischer Länge und Breite genau die augenblickliche Lage der Insel an, und diese Angabe wird nach den Hôtels, den öffentlichen Gebäuden und nach den Privatwohnungen telegraphisch ebenso übermittelt wie die richtige Tageszeit, die bei dem Fortschreiten nach Westen sich natürlich jeden Tag ändert. Die Milliardeser können also jeden Augenblick wissen, welchen Punkt Standard-Island auf seiner Fahrt eben einnimmt.

Abgesehen von dieser unmerkbaren Fortbewegung über den Ocean, unterscheidet sich Milliard-City in keiner Weise von den Großstädten der Alten und der Neuen Welt. Das öffentliche und private Leben geht ganz in gleicher Weise vor sich. Im Ganzen wenig beschäftigt. benützen unsre Künstler ihre erste Muße zur Besichtigung alles dessen, was dieses wunderbare Juwel des Stillen Oceans enthält. Die Tramwagen befördern sie nach jedem Punkte der Küste. Die beiden Elektricitätswerke erregen ihre höchste Bewunderung durch ihre so übersichtliche Einrichtung, die Leistungsgröße ihrer auf eine zweifache Reihe von Propellern wirkenden Maschinen, sowie durch die erstaunliche Disciplin ihres Personals, dem in dem einen der Ingenieur Watson, in dem andern der Ingenieur Somwah vorsteht. In regelmäßigen Zwischenräumen laufen im Back- oder Steuerbordhafen von Standard-Island – je nachdem dessen Lage den Zugang nach dem einen oder dem andern erleichtert – die im Dienste der Insel stehenden Dampfer ein.

Wenn der hartköpfige Sebastian Zorn sich weigert, alle diese Wunder anzuerkennen, wenn Frascolin seinen Gefühlen minder lauten Ausdruck verleiht, so lebt dafür der enthusiastische Yvernes in voller Wonne. Seiner Meinung nach wird das zwanzigste Jahrhundert nicht verstreichen, ohne daß die Meere von weitern schwimmenden Inseln belebt werden. Das wäre dann der Gipfelpunkt des Fortschritts und des Comforts der Zukunft. Welch' herrliches Bild, dann diese bewegliche Insel ihre Schwestern in Oceanien besuchen zu sehen! Pinchinat fühlt sich in der goldstrotzenden Umgebung hier ganz berauscht, wenn er nur von Millionen wie zu Hause von ein paar ärmlichen Louis-d'or reden hört. Banknoten wandern unausgesetzt von Hand zu Hand. Gewöhnlich führt man zwei-oder [109] dreitausend Dollars in der Tasche mit sich, und mehr als einmal spöttelt der Bratschist gegenüber Frascolin mit den Worten:

»Was?... Du hast nicht einmal fünfzigtausend Francs bei Dir?«

Mit der Zeit hatte das Concert-Quartett, das überall gute Aufnahme fand, auch einige Bekanntschaften angeknüpft. Wer hätte sich auf die Empfehlung Calistus Munbar's hin auch geweigert, den Künstlern in freundlichster Weise entgegenzukommen?

In erster Linie haben sie ihrem Landsmanne Athanase Dorémus, dem Tanz- und Anstandslehrer, einen Besuch abgestattet.

Dieser brave Mann haust in der Steuerbordstadt in einer bescheidnen, nur dreitausend Dollars Miethe kostenden Wohnung der Fünfundzwanzigsten Avenue. Als Aufwärterin hat er, für hundert Dollars monatlich, eine alte Negerin. Er ist entzückt, mit Franzosen, und zwar mit solchen, die Frankreich Ehre machen, in nähere Verbindung zu treten.

Ein Greis von reichlich siebzig Jahren, ist er etwas hager und eher klein, hat aber noch lebhafte Augen und volle Zähne, sowie üppiges Haar, das, wie der Bart, ganz weiß ist. Er geht ziemlich geziert, mit einer gewissen rhythmischen Cadenz, hält den Oberkörper ein wenig nach vorn, die Arme gerundet und die tadellos beschuhten Füße stets etwas auswärts. Unsre Künstler hören ihn gern plaudern, und er thut das nicht minder gern, denn seine Grazie wird nur von seiner Schwatzhaftigkeit erreicht.

»Wie glücklich bin ich, meine lieben Landsleute, wie glücklich bin ich – das wiederholt er bei dem ersten Besuche zwanzigmal – wie glücklich bin ich, Sie zu sehen! Welch herrlicher Gedanke von Ihnen, sich auf unsrer Insel niederzulassen! Sie werden das nicht bereuen, denn jetzt, nachdem ich mich hier eingewöhnt habe, begreife ich gar nicht mehr, wie es möglich ist, in andrer Weise zu leben!

– Und wie lange sind Sie schon hier, Herr Dorémus? fragt Yvernes.

– Seit achtzehn Monaten, antwortet der Tanzlehrer, der die Füße in die zweite Position bringt. Ich war mit bei der Gründung Standard-Islands. In Folge ausgezeichneter Empfehlungen, die mir von New Orleans aus zu Gebote standen, nahm Herr Cyrus Bikerstaff, unser verehrter Gouverneur, meine Dienste ohne Zögern an. Von jenem gesegneten Tage ab hat das Honorar, das mir für die Leitung einer höheren Tanzakademie bewilligt wurde, mir erlaubt, hier...

[110] – Als Millionär zu leben! vollendet Pinchinat den Satz.

– O, was hierzulande nur ein Millionär ist...

– Ja, ja... weiß schon... lieber Landsmann! Doch nach dem, was wir vom Oberintendanten gehört haben, scheint Ihre Akademie nicht sehr besucht zu werden.

– Ich habe freilich nur Zöglinge aus der Stadt, meist recht junge Leute. Die jungen Amerikaner glauben, schon mit der ihnen nothwendigen Portion Grazie geboren zu sein. Viele junge Leute ziehen es auch vor, im Geheimen Unterricht zu nehmen, und so bringe ich ihnen denn privatim die schönen französischen Umgangsformen bei!«

Er lächelt bei seinen Worten, ziert sich wie eine alte Kokette und übertrifft sich selbst in graziösen Stellungen.

Athanase Dorémus, ein Picarde von Santerre, hat Frankreich in früher Jugend verlassen, um sich in den Vereinigten Staaten, in New-Orleans anzusiedeln. Hier, unter der ursprünglich französischen Bevölkerung Luisianas hat es ihm nicht an Gelegenheit gefehlt, seine Talente zu verwerthen. In die vornehmsten Familien eingeführt erzielte er recht schöne Erfolge und konnte sogar einiges Vermögen ansammeln, das ihm freilich eines schönen Tages durch einen amerikanischen Krach geraubt wurde. Das war zur Zeit, als die Standard-Island Company sich aufthat, ihre Prospecte versendete und durch vielfache Annoncen sich an alle steinreichen Leute wendete, denen Eisenbahnen, Petroleumquellen oder der Handel mit lebenden oder gepöckelten Schweinen unermeßliche Schätze in den Schoß geworfen hatten. Da kam Athanase Dorémus der Gedanke, sich dem Gouverneur der neuen Stadt als Tanzlehrer für deren Einwohner anzubieten. Zum Glück in der aus New Orleans stammenden Familie Coverley eingeführt und Dank der Empfehlung des Hauptes derselben, der unter den Steuerbordstädtern von Milliard-City zu den ersten Notabeln zählen sollte, wurde er angenommen, und so kam es, daß sich ein Franzose, sogar ein Picarde, unter den Angestellten Standard-Islands befand. Wohl ertheilte er seine Stunden mehr im eignen Privatzimmer, und die Spiegelwände im Saale des Casinos warfen nur das Bild des Lehrers allein zurück, doch das war ohne Bedeutung, da sich sein Honorar deshalb nicht verringerte.

Im Ganzen ist es ein braver Mann, wenn auch etwas lächerlich, überspannt und von sich eingenommen, denn er ist überzeugt, neben der Erbschaft eines Vestris oder Saint Léon auch die Traditionen eines Brummel und eines Lord [111] Seymour zu besitzen. Für das Quartett ist er überdies ein Landsmann, eine Eigenschaft, die einige tausend Meilen weit von Frankreich allemal einen gewissen Werth hat.

Die vier Pariser müssen ihm ihre letzten Abenteuer berichten, ihm erzählen, unter welchen Umständen sie nach der Schraubeninsel gekommen sind, wie Calistus Munbar sie zu sich »an Bord« – das ist der richtige Ausdruck – geschleppt und wie das »Fahrzeug« einige Stunden nach ihrer Einschiffung die Anker gelichtet hat.

»Das wundert mich von unserm Oberintendanten gar nicht, erklärt der alte Tanzmeister, solche Streiche liebt er und hat noch ganz andre ausgeführt. Es ist ein richtiger Abkömmling Barnum's und er wird die Compagnie noch in Verlegenheit bringen... so ein Herr sans-gêne, der recht gut etwas Anstandsunterricht gebrauchen könnte... einer jener Yankees, die sich in einen Polsterstuhl hinflegeln und die Beine ans Fensterbrett stemmen.

Nicht eigentlich bösartig, meint er sich doch alles erlauben zu können. Uebrigens, meine lieben Landsleute, denken Sie ja nicht daran, ihm eines auszuwischen, denn abgesehen von Ihrem Aerger, das Concert in San Diego verpaßt zu haben, werden Sie sich wegen Ihres Aufenthalts in Milliard-City nur zu beglückwünschen haben. Man wird hier auf Sie Rücksichten nehmen, die Sie gewiß zu schätzen verstehen...

– Vorzüglich am Ende jedes Vierteljahrs!« fällt Frascolin ein, den die Wichtigkeit seiner Function als Cassierer der kleinen Truppe immer mehr einleuchtet.

Auf die ihm vorgelegte Frage über die Rivalität der beiden Stadthälften, bestätigt Athanase Dorémus vollständig, was Calistus Munbar darüber gesagt hat. Seiner Ansicht nach bildet diese einen dunkeln Punkt am Horizont und droht sogar mit einem spätern Sturme. Zwischen den Steuer- und den Backbordbewohnern kann es wohl einmal zu Streitigkeiten kommen. Die Familien Tankerdon und Coverley zeigen gegeneinander eine immer zunehmende Eifersucht, und das könnte zu einem Aufeinanderplatzen führen, wenn sie nicht durch irgend etwas auf freundlicheren Fuß kommen...

»Nun, wenn dabei die Insel nicht zerplatzt, braucht es uns ja nicht zu beunruhigen... bemerkt Pinchinat.

– Wenigstens so lange wir darauf eingeschifft sind, setzt der Violoncellist hinzu.


Die Officiere des Observatoriums machen das Besteck. (S. 109.)

– O, die ist fest und dauerhaft, liebe Landsleute! versichert Athanase Dorémus. Seit den achtzehn Monaten, die sie auf dem Meere schwimmt, ist ihr noch nie ein nennenswerther Unfall zugestoßen. Nur ganz unbedeutende Reparaturen, um deren willen sie nicht einmal die Madeleinebay anzulaufen brauchte, mach [112] ten sich gelegentlich nöthig. Vergessen Sie nicht, daß sie aus Stahlplatten besteht! –

Das sagt ja alles, und wenn Stahlplatten nicht die beste Sicherheit auf Erden bieten, auf welches Metall soll man sich dann verlassen? Der Stahl ist doch ursprünglich Eisen, und unsre ganze Erdkugel ist ja schließlich weiter nichts, [113] als eine ungeheure Kohlen-Eisenverbindung. Standard-Island aber bildet eine Erde im Kleinen.

Pinchinat fragt nun weiter, was der Tanzlehrer wohl von dem Gouverneur Cyrus Bikerstaff denke.

»Ist der auch aus Stahl?

– Ja, Herr Pinchinat, antwortet Athanase Dorémus. Ausgerüstet mit großer Energie, ist er ein höchst gewandter Verwaltungschef. Leider genügt es in Milliard-City nicht, aus Stahl...

– Nein, man muß hier aus Gold sein, wirst Yvernes dazwischen.

– Ganz richtig, sonst... zählt man hier nicht!«

Es ist in der That so. Trotz seiner hohen Stellung gilt Cyrus Bikerstaff doch nur als Beamter der Compagnie. Er führt den Vorsitz in verschiednen städtischen Aemtern, ist beauftragt, die Zollgebühren einzunehmen, die öffentliche Wohlfahrt zu überwachen, die Straßen säubern und die Anpflanzungen pflegen zu lassen, Klageschriften u. dgl. entgegenzunehmen – mit einem Wort, der Gefahr zu trotzen, sich den größten Theil der Einwohner zu Feinden zu machen – sonst aber weiter nichts. Auf Standard-Island muß man »zählen«, und der Tanzlehrer hat gesagt, daß Cyrus Bikerstaff nicht mit »zählt«.

Seine Stellung verpflichtet ihn übrigens, als Vermittler zwischen den beiden Parteien aufzutreten, eine versöhnliche Haltung zu bewahren und nichts zu thun, was vielleicht der einen angenehm, der andern aber unangenehm wäre. Eine nicht leicht durchführbare Politik.

Schon beginnen Ideen aufzutauchen, die zu einem Conflict zwischen beiden Hälften führen könnten. Wenn die Steuerbordstädter sich auf Standard-Island nur in der Absicht niederließen, hier ihren Reichthum in Ruhe zu genießen, so fangen die Backbordstädter schon wieder an, an Geschäftsunternehmungen zu denken. Sie möchten die Insel zu einem riesigen Handelsschiffe verwandelt sehen, das mächtige Frachten nach den Niederlassungen von Oceanien beförderte; sie fragen, warum jede Industrie aus Standard-Island verbannt bleibt... kurz, obwohl sie noch nicht ganz zwei Jahre hier weilen, verfallen diese Yankees, mit Tankerdon an der Spitze, schon wieder in ihre Geschäftsmanie. Beschränken sie sich auch jetzt noch auf bloße Worte, so fühlt sich der Gouverneur Cyrus Bikerstaff doch etwas beunruhigt, wenn er auch die Hoffnung trägt, eine Verschlimmerung der Sachlage verhindern und jeder tiefern Störung einer Anlage vorbeugen zu können, die ganz ausschließlich für die Ruhe ihrer Bewohner geschaffen worden war.

[114] Bei der Verabschiedung von Athanase Dorémus verspricht das Quartett, seinen Besuch zu wiederholen. Gewöhnlich begiebt sich der Tanzlehrer des Nachmittags nach dem Casino, wo er sich aber zurückzieht. Um nicht der Nachlässigkeit geziehen zu werden, wartet er da und richtet vor den unbenützten Spiegeln des Saales alles für zu ertheilenden Unterricht ein.

Inzwischen gleitet die Schraubeninsel immer weiter nach Westen und ein wenig nach Südwest, um den Sandwich-Archipel anzulaufen. Unter den die heiße Zone begrenzenden Breitengraden herrscht schon eine recht hohe Temperatur. Die Milliardeser würden sie ohne die Milderung durch die Seewinde nur schwer ertragen haben.

Zum Glück sind die Nächte kühl, und selbst in den Hundstagen behalten die Bäume und Rasenplätze in Folge der Erfrischung mit künstlichem Regen ihr anmuthiges Grün. Jeden Mittag wird die von dem Zifferblatte am Stadthause abzulesende Ortsbestimmung nach den verschiednen Stadtvierteln telegraphiert. Am 17. Juni befindet sich Standard-Island unter 155 Grad westlicher Länge und 27 Grad nördlicher Breite, und nähert sich somit dem Wendekreise.

»Man möchte sagen, daß das Tagesgestirn die Insel im Schlepptau hat, declamiert Yvernes, oder, wenn Ihr wollt, eleganter, daß sie als Gespann die Rosse des göttlichen Apollo benützt!«

Eine ebenso richtige, wie poetische Bemerkung, die Sebastian Zorn mit Achselzucken hinnimmt. Es paßte ihm eben nicht, den wider Willen Geschleppten zu spielen.

»Und dann, wiederholt er immer wieder, werden wir ja sehen, wie die Geschichte endigt!«

Nur selten versäumt das Quartett einen täglichen Spaziergang im Parke, zur Stunde, wo daselbst die meisten Leute lustwandeln. Zu Pferde, zu Fuße und zu Wagen giebt sich hier alles, was zu den Notabeln Milliard-Citys zählt, ein Stelldichein. Die Weltdamen zeigen dabei ihre dritte tägliche Toilette, die vom Kopf bis zu den Füßen von gleicher Farbe und meist aus der gerade dieses Jahr modernen indischen Seide hergestellt ist. Oft tragen sie auch künstliche Seide aus Cellulose, die sehr glänzend schillert, oder selbst künstliche Baumwolle, die aus den Fasern der Tanne und des Lärchenbaumes gewonnen wird.

»Paßt auf, ruft deshalb Pinchinat, Ihr werdet es noch erleben, daß man Gewebe aus Epheuholz für treue Seelen und aus Trauerweide für trostlose Witwen herstellen wird!«

[115] Keinesfalls würden die reichen Milliardeserinnen aber diesen Stoffen ihre Gunst schenken, wenn sie nicht aus Paris kämen, und ebensowenig diesen Toiletten, wenn sie nicht den Stempel des Schneiderkönigs der Hauptstadt trügen, jenes Mannes, der das Axiom aufgestellt hat: »Die Frau ist weiter nichts als eine Frage der Form!«

Zuweilen bewegen sich auch der König und die Königin von Malecarlien durch die summende Menschenmenge. Das seiner Souveränität beraubte Paar flößt unsern Künstlern eine aufrichtige Theilnahme ein. Welche Gedanken bestürmen sie beim Anblick des Arm in Arm dahin wandelnden hohen Paares!.. Sie sind gegenüber vielen ihrer Mitbürger nur arm zu nennen, sie verleugnen aber einen gewissen Stolz, eine angeborne Würde niemals und ähneln etwa Philosophen, die sich über die Vorurtheile der Welt erhaben fühlen. Im Grunde fühlen sich die Amerikaner von Standard-Island doch geschmeichelt, einen König zum Mitbürger zu haben, und begegnen ihm mit aller seiner frühern Würde zukommenden Ehrerbietung. Auch das Quartett grüßt respectvoll Ihre Majestäten, wenn es diesen in den Avenuen der Stadt oder in den Alleen des Parkes begegnet. Der König und die Königin zeigen sich dankbar empfänglich für diese echt französische Ehrenbezeugung. Im Ganzen aber zählen Ihre Majestäten ebenso wenig, wie Cyrus Bikerstaff... vielleicht gar noch etwas weniger.

Wahrlich, Reisende, die sich vor dem Meere fürchten, sollten diese Art der Fortbewegung auf einer schwimmenden Insel wählen. Da hätten sie keine Seekrankheit zu gewärtigen und würden von keinem Sturme belästigt. Mit seinen zehn Millionen Dampf-Pferdekräften an den Seiten kann so ein Standard-Island von keiner Windstille zurückgehalten werden und ist mächtig genug, auch gegen widrige Winde aufzukommen. Wenn Zusammenstöße sonst eine Gefahr bedingen, so ist eine solche hier ganz ausgeschlossen. Desto schlimmer möchten sich jene gestalten für Schiffe, die mit vollem Dampf oder unter allen Segeln an diese Eisenküsten stoßen. Derartige Unfälle sind aber kaum zu fürchten wegen der Leuchtfeuer in beiden Häfen, wie am Vorder- und Hintertheile und wegen des elektrischen Lichtes der Aluminiummonde, die die Atmosphäre in der Nacht erhellen. Von den Stürmen ist gar nicht zu reden; eine solche Insel ist in der Lage, ihnen Zügel anzulegen.

Wenn ihr Spaziergang Pinchinat und Frascolin aber bis zum Vorder- oder Hintertheile der Insel, nach der Rammsporn- oder der Achterbatterie führt, erkennen sie beide, daß es hier an Vorgebirgen, Landspitzen, Buchten und [116] an einem flachen Strande gänzlich fehlt. Die Küste besteht nur aus einem Aufbau von Stahlplatten, die durch Millionen von Nieten und Schrauben miteinander verbunden sind. Wie würde es ein Maler beklagen, keine alten, zerrissenen Felsen zu finden, an deren Fuße die steigende Fluth mit dem Tang und dem Varec spielt! Ja, die Schönheiten der Natur vermag man durch kein Wunderwerk der Industrie zu ersetzen. Trotz seiner Neigung zum Bewundern muß Yvernes das doch zugeben. Der Stempel des Weltenschöpfers ist es, an dem es dieser künstlichen Insel gebricht.

Am Abend des 25. Juni überschritt Standard-Island den Wendekreis des Krebses an der Schwelle der Tropenzone im Stillen Ocean Zu derselben Stunde gab das Quartett im Saale des Casinos sein zweites Concert. Wir bemerken hierzu, daß nach dem ersten großen Erfolge der Eintrittspreis erhöht worden war.

Trotzdem erwies sich der Saal noch zu klein. Die Musikfreunde stritten sich um die Plätze. Offenbar muß gerade die Kammermusik der Gesundheit sehr zuträglich sein, und gewiß erlaubt sich niemand, ihre therapeutische Wirkung anzuzweifeln. Diesmal gab es – gemäß dem Recepte – lauter »Lösungen« von Mozart, Beethoven und Haydn.

Die Vortragenden ernteten einen stürmischen Applaus, und doch hätten ihnen Pariser Bravos gewiß mehr Genugthuung bereitet. Mangels derselben begnügen sich Yvernes, Pinchinat und Frascolin mit Milliardeser Hurrahs, für die Sebastian Zorn noch immer eine stolze Verachtung empfindet.

»Was kann man denn mehr verlangen, sagt Yvernes zu ihm, wenn man den Wendekreis überschreitet?«

Und als sie das Casino verlassen, wen bemerken sie da inmitten der armen Teufel, die keine dreihundert Dollars für einen Sitz im Saale anlegen konnten?... Den König und die Königin von Malecarlien, die bescheiden an der Hausthür stehen.

[117]
9. Capitel
Neuntes Capitel.
Die Gruppe der Sandwich-Inseln.

Diesen Theil des Stillen Oceans durchzieht eine unterseeische Gebirgskette, die man von Westnordwest nach Ostsüdost neunhundert Meilen weit verfolgen könnte, wenn sich die viertausend Meter tiefen Abgründe, die sie von andern oceanischen Ländern trennen, einmal entleerten. Von dieser Kette ragen nur acht Gipfel empor: Nühau, Kaouaï, Oahu, Molokaï, Lanaï, Mauï, Kaluhani und Hawaï. Diese acht ungleich großen Inseln bilden den Hawaïchen Archipel oder die Gruppe der Sandwich-Inseln, und reichen über die Grenzen der Tropen nur mit dem Felsen- und Klippengewirre hinaus, das sich nach Westen hin fortsetzt.

Während sie Sebastian Zorn brummen und sich in einen Winkel zurückziehen lassen, da er gegen alle Naturmerkwürdigkeiten gleichgiltig ist, unterhalten sich Pinchinat, Yvernes und Frascolin über die Reise, wie folgt:

»Wahrhaftig, sagte der eine, ich bin nicht böse darüber, die Sandwich-Inseln einmal zu besuchen. Da wir nun einmal über den Großen Ocean fahren, halt' ich es wenigstens für richtig, davon möglichst viel Erinnerungen mit heimzunehmen.

– Und ich füge hinzu, meinte ein andrer, daß wir dadurch einmal die Pawnies, Sioux und die übrigen gar zu civilisierten Indianer des Farwest los werden, und es mißfällt mir gar nicht, einmal mit leibhaftigen Wilden – mit Menschenfressern zusammenzutreffen.

– Die Hawaïner sind das also noch immer? fragte der dritte.

– Wir wollen es hoffen, antwortet Pinchinat ernsthaft. Ihre Großväter waren es, die den Capitän Cook verzehrten, und wenn die Großväter einen so berühmten Seefahrer gekostet haben, ist wohl anzunehmen, daß die Enkel an Menschenfleisch auch noch Geschmack finden.«

Man wird zugeben, der Bratschist sprach sehr unrespectierlich von dem berühmten englischen Seemanne, der diesen Archipel 1778 entdeckte.

[118] Aus diesem Gespräche geht hervor, daß unsre Künstler durch die Zufälle bei ihrer Fahrt mit mehr waschechten Eingebornen zusammenzutreffen hofften, als mit den Exemplaren, die im Jardin d'Acclimatisation zur Schau gestellt werden, und diese jedenfalls in ihrer Heimat sehen zu können erwarteten. Sie empfinden daher eine gewisse Ungeduld, dort anzukommen, und warten jeden Tag darauf, daß die Wachposten auf dem Observatorium die ersten Höhen der Hawaïschen Inseln melden.

Das geschieht am Morgen des 6. Juli. Sofort verbreitet sich diese Nachricht und die Anzeigetafel des Casinos zeigt die telautographische Inschrift:

»Standard-Island in Sicht der Sandwich-Inseln«

Freilich ist man noch fünfzig (See-) Meilen entfernt, doch die höchsten Bergspitzen der Gruppe, die der Insel Hawaï, welche über viertausendzweihundert Meter emporsteigen, sind bei klarem Wetter schon aus dieser Entfernung sichtbar.

Von Nordosten kommend, steuert der Commodore Ethel Simcoë auf Oahu mit der Hauptstadt Honolulu zu, die gleichzeitig die Hauptstadt des ganzen Archipels ist. Diese Insel ist die dritte der geographischen Breite nach; Nühau, ein großes Viehgehege, und Kaouaï liegen nordwestlich davon. Oahu ist nicht die größte der Sandwich-Inseln, da sie nur sechzehnhundertachtzig Quadratkilometer mißt, während Hawaï sich fast über siebzehntausend ausdehnt. Die Gesammtoberfläche der übrigen Inseln beträgt nur dreitausendachthundert Quadratkilometer.

Natürlich haben die Pariser Künstler seit dem Tage der Abfahrt angenehme Verbindungen mit den obern Beamten von Standard-Island angeknüpft. Alle, der Gouverneur, der Commodore Simcoë, der Oberst Stewart, wie die Oberingenieure Watson und Somwah haben sich beeilt, ihnen theilnahmsvoll entgegenzukommen. Bei ihren häufigen Besuchen des Observatoriums verweilen sie oft stundenlang auf dessen Plattform. Da erscheint es nicht auffällig, daß Yvernes und Pinchinat, die wißbegierigsten der Truppe, sich auch am heutigen Tage daselbst eingefunden hatten, und gegen zehn Uhr vormittags beförderte sie der Aufzug nach »dem Top des Mastbaums«, wie der Bratschist sich ausdrückte.

Der Commodore Ethel Simcoë befand sich schon oben, und indem er den beiden Freunden sein Fernrohr lieh, machte er sie auf einen Punkt am südwestlichen Horizonte zwischen den niedrigen Dünsten am Himmel aufmerksam.

»Das ist der Mauna Loa von Hawaï, sagt er, oder es ist der Mauna Kea, beide sehr schöne Vulcane, die die Insel 1852 und 1855 mit einem siebenhundert[119] Quadratkilometer großen Lavastrome bedeckten und deren Krater 1880 noch siebenhundert Millionen Cubikmeter Eruptivstoffe auswarfen.

– Herrlich! antwortet Yvernes. Glauben Sie, Commodore, daß wir das Glück haben werden, einem solchen Schauspiele beizuwohnen?

– Das weiß ich nicht, Herr Yvernes, antwortet Ethel Simcoë, Vulcane sind nicht auf Bestellung thätig...

– O, und dies eine Mal auch nicht?... fährt Pinchinat fort. Wäre ich so reich wie die Herren Tankerdon oder Coverley, so veranstaltete ich mir Eruptionen nach Belieben auf eigne Kosten...

– Nun, wir wollen unser Heil versuchen, erwidert der Commodore lächelnd, vielleicht machen sie das Unmögliche möglich, um Ihnen gefällig zu sein.«

Pinchinat erkundigt sich hierauf nach der Volksmenge der Sandwich-Inseln. Der Commodore erklärt ihm, daß die Bevölkerung, obwohl sie zu Anfang des Jahrhunderts zweimalhunderttausend Seelen betrug, jetzt auf die Hälfte davon zurückgegangen sei.

»Schön, Herr Simcoë! Hunderttausend Wilde sind auch noch genug, und wenn sie tüchtige Cannibalen geblieben sind und den frühern Appetit behalten haben, dann verzehren sie alle Milliardeser von Standard-Island als Gabelfrühstück!«

Die Schraubeninsel besucht den Hawaï-Archipel heute nicht zum ersten Male. Schon im vorigen Jahre ist sie, angelockt durch das heilsame milde Klima, in diese Gegend gekommen. Von Amerika begeben sich Kranke deshalb nicht so selten hierher, und es fehlt nur noch, daß auch europäische Aerzte ihren Patienten den Genuß der Luft des Großen Oceans verordnen. Warum sollte das nicht geschehen? Honolulu liegt zur Zeit ja nur fünfundzwanzig Tagereisen von Paris, und wenn es sich darum handelt, die Lungen mit einem Sauerstoff zu versorgen, den man nirgends anderswo athmen kann...

Am Vormittag des 9. Juli trifft Standard-Island in Sicht der Inselgruppe ein. Fünf Meilen nach Südwesten hin zeigt sich Oahu. Darüber ragen an der Ostseite das Diamond-Head, ein alter Vulcan, der die Rhede dahinter beherrscht, und noch ein andrer Berggipfel hervor, den die Engländer Bowl de Punch (die Punschbowle) genannt haben.


Die Propeller-Insel im Hafen von Hawaï (S. 126.)

Der Commodore bemerkt dazu, daß John Bull, wenn diese riesige Terrine mit Gin oder Brandy gefüllt wäre, sie gewiß ohne Bedenken ausleeren würde.

Standard-Island fährt zwischen Oahu und Molokaï hindurch, ganz wie ein Schiff, das durch sein Steuerruder gelenkt wird, während man sich hier dazu der[120] [123] combinierten Wirkung der Propeller an beiden Längsseiten der Insel bedient. Nach Umschiffung des Südostcaps von Oahu hält die Propeller-Insel, mit Rücksicht auf ihren großen Tiefgang, schon zehn Kabellängen vom Ufer entfernt an. Wie man die Insel, um ihr die nöthige Bewegungsfreiheit zu sichern, ziemlich weit vom Ufer entfernt hält, so geht diese auch nicht im strengen Sinne des Wortes »vor Anker«, was bei dem über hundert Meter tiefen Grunde an sich unausführbar gewesen wäre, sondern man hält sie mittelst ihrer nach Bedarf nach vor- oder rückwärts arbeitenden Maschinen während ihres Aufenthalts hier, unbeweglich wie die Sandwich-Inseln selbst, an einer Stelle fest.

Das Quartett betrachtet die Höhen, die sich seinen Blicken bieten. Von der Seeseite her bemerkt man nur Baumdickichte und Gruppen von Orangenbäumen neben andern prächtigen Species aus der Flora der gemäßigten Zonen. Nach Westen hin zeigt sich durch eine schmale Oeffnung der hohen Uferwand ein kleiner Binnensee, der Perlensee, eine Art sumpfiger, von Kratermündungen unterbrochener Ebene.

Oahu bietet einen reizenden Anblick, und die von Pinchinat so ersehnten Anthropophagen haben sich über den Schauplatz ihrer Thätigkeit wahrlich nicht zu beklagen. Huldigen sie noch immer ihren cannibalischen Instincten, so bleibt dem Bratschisten gar nichts zu wünschen übrig.

Da ruft dieser plötzlich:

»Großer Gott, was seh' ich da?

– Nun, was denn! fragt Frascolin.

– Da unten... Kirchthürme...

– Ja freilich... Thürme... und auch Façaden von Palästen, sagt Yvernes.

– Dort können sie doch unmöglich den Capitän Cook aufgezehrt haben?

– Wir liegen gewiß gar nicht vor den Sandwich-Inseln, meint Sebastian Zorn achselzuckend. Der Commodore hat sich in der Richtung geirrt...

– Ganz unzweifelhaft!« versichert Pinchinat.

Nein! Der Commodore hat sich nicht geirrt. Das ist Oahu, und die Stadt, die mehrere Quadratkilometer einnimmt, ist Honolulu.

Ja seit den Zeiten des großen englischen Seefahrers hat sich hier alles gewaltig verändert. Die Missionäre überboten sich in frommem Eifer. Methodisten, Anglikaner und Katholiken förderten das Werk der Civilisation und triumphierten über das Heidenthum der alten Kanaken. Dabei verschwindet die Ursprache des Landes mehr und mehr vor der angelsächsischen Zunge, und der Archipel [123] beherbergt Amerikaner, Chinesen – die meisten im Dienste von Grundeigenthümern, so daß schon eine Rasse von Halb-Chinesen, die der Hava-Pake, entstanden ist – und Portugiesen in Folge des Seeverkehrs zwischen den Sandwich-Inseln und Europa.

Eingeborne giebt es jedoch auch noch, wenigstens genug für unsre Künstler, obgleich sie durch die aus China herübergebrachte Lepra (den Aussatz) stark decimiert sind. Den Typus von Menschenfleischliebhabern repräsentieren sie allerdings nicht mehr.

»O Du Localfärbung, ruft die erste Geige, welche Hand hat Dich von der modernen Palette abgeschabt!«

Freilich, Zeit, Civilisation und der Fortschritt, der ja ein Gesetz der Natur ist, haben diese Färbung fast ganz verwischt. Das zeigte sich zu jedermanns Leidwesen deutlich, als eines der elektrischen Boote von Standard-Island an der langen Klippenreihe vorüberglitt und Sebastian Zorn nebst seinen Kameraden ans Land brachte.

Zwischen zwei spitzwinklig zulaufenden Pfahldämmen liegt hier ein kleiner Hafen, der durch ein Amphitheater von Bergen gegen gefährliche Winde gestützt ist. Seit 1794 haben sich die Klippen, die die Meereswogen vor ihm brechen, um einen Meter gehoben, doch hat er genug Wasser, um Schiffen von achtzehn bis zwanzig Fuß Tiefgang das Anlegen an den Quais zu gestatten.

»Enttäuschung!... Enttäuschung! murmelt Pinchinat. Es ist wirklich beklagenswerth, daß man auf der Reise um so viele Illusionen ärmer wird!

– Und man also besser thut, hübsch zu Hause zu bleiben! meint der Violoncellist, die Achseln zuckend.

– Nein! ruft der immer enthusiastische Yvernes, welches Bild kann sich mit dem unsrer stählernen Insel vergleichen, wenn sie, wie jetzt, den oceanischen Archipelen einen Besuch abstattet?«

Wenn sich aber der sittliche Charakter der Sandwichianer zum Kummer unsrer Künstler so bedauerlich verändert hat, so ist das wenigstens mit dem Klima nicht der Fall. Es gehört noch immer zu den heilsamsten in dieser Gegend des Großen Oceans, obwohl die Inselgruppe in einem Meerestheile liegt, der als das »Meer der Wärme« bezeichnet wird. Steigt der Thermometer bei Nordwind auch ziemlich hoch und entfesselt der Südwind zuweilen die heftigen, hier »Kouas« genannten Stürme, so übersteigt die Mitteltemperatur Honolutus doch kaum einundzwanzig Centigrad. Darüber darf man sich an der Grenze der[124] Tropenzone gewiß nicht beklagen. Die Einwohner thun das auch nicht, und wie gesagt, suchen viele kranke Amerikaner den Archipel zu ihrer Wiedergenesung auf.

Je mehr das Quartett indeß in die Geheimnisse dieses Archipels eindringt, desto mehr schwinden auch seine Illusionen. Die guten Leute behaupten, mystisiciert worden zu sein, wo sie sich doch nur selbst anklagen sollten, sich dieser Mystification ausgesetzt zu haben.

»Das ist wieder der Calistus Munbar, der uns in die Tinte geritten hat!« behauptet Pinchinat in Erinnerung an die Aussage des Oberintendanten, wonach die Sandwich-Inseln die letzte Zufluchtsstätte wild lebender Eingeborner im Großen Ocean seien.

»Was wollen Sie denn, liebe Freunde? antwortet er mit den Augen zwinkernd auf ihre bittern Vorwürfe. Das alles hat sich seit meinem letzten Hiersein so sehr verändert, daß ich gar nichts wiedererkenne!

– Possenreißer!« erwidert Pinchinat und klopft ihn scherzend auf den wohlgepflegten Leib.

Immerhin darf man es als bestimmt annehmen, daß sich alle hier wahrnehmbaren Veränderungen mit verblüffender Schnelligkeit vollzogen haben. Bis vor kurzem erfreuten sich die Sandwich-Inseln einer 1837 gegründeten constitutionellen Monarchie mit zwei Kammern, einer Art von Herren- und Abgeordnetenhauses. Die erste Kammer wurde nur durch die Bodeneigenthümer, die zweite durch alle des Lesens und Schreibens kundigen Bürger gewählt. Jede Kammer bestand aus vierundzwanzig Mitgliedern, die aber gemeinschaftlich vor dem aus vier Staatsräthen bestehenden königlichen Ministerium berathschlagten.

»Hier gab es also gar einen König, sagte Yvernes, einen constitutionellen König, statt eines Affen mit Federschmuck, dem alle Fremden ihre unterthänigen Ehrenbezeugungen erwiesen!

– Ich bin überzeugt, setzte Pinchinat hinzu, daß diese Majestät nicht einmal Ringe durch die Nase hatte... und daß sie sich von den geschicktesten Dentisten der Welt sogar falsche Zähne einsetzen ließ.

– Ach, diese traurige Civilisation! jammerte die erste Violine. Die frühern Kanaken brauchten kein künstliches Gebiß, wenn sie ihre Kriegsgefangnen schmunzelnd verzehrten!«

Der freundliche Leser verzeihe unserm Phantasten diese Anschauung der Dinge. Es hat in Honolulu ja einen König gegeben, oder wenigstens eine Königin, Liliuokalani, die jetzt entthront ist und die gegenüber einer Thronprätendentin, [125] der Prinzessin Kaiulani, für die Rechte ihres Sohnes, des Prinzen Adey, entschlossen eintrat.

Kurz, lange Zeit herrschte in dem Archipel eine revolutionäre Bewegung, anz wie in manchen Staaten Amerikas und Europas, denen er also auch in dieser Beziehung ähnelt. An eine wirksame Intervention der hawaiischen Armee und an eine Zeit toller Pronunciamentos war deshalb nicht wohl zu denken, denn diese »Armee« bestand nur aus zweihundertfünfzig Conscribierten nebst ebenso vielen Freiwilligen, und fünfhundert Mann richten nicht viel aus, wenigstens nicht inmitten des Großen Oceans.

Dagegen waren die Engländer da, die die Vorgänge überwachten. Die Prinzessin Kaiulani erfreute sich, wie es scheint, der Sympathie Großbritanniens. Andrerseits zeigte sich Japan bereit, die Schutzherrschaft über die Inseln zu übernehmen, und es hatte auch Parteigänger unter den Kulis, die auf den Pflanzungen in großer Anzahl beschäftigt sind...

Nun und die Amerikaner? wird man fragen. Eine solche Frage bezüglich einer damals ganz nahe liegenden Intervention richtete Frascolin auch an Calistus Munbar.

»Die Amerikaner? antwortet der Oberintendant. O, sie gelüstet nach keinem Protectorate. Wenn sie auf den Sandwich-Inseln für ihre Dampfer der Pacificlinien eine Flottenstation haben, so werden sie nicht mehr verlangen.«

Dennoch hatte der König Kamehameha 1875 bei Gelegenheit eines Besuches des Präsidenten Grant in Washington den Archipel unter den Schutz der Vereinigten Staaten gestellt. Als Cleveland siebzehn Jahre später aber den Entschluß faßte, die Königin Liliuokalani wieder einzusetzen, nachdem auf den Sand wich-Inseln ein republikanisches Regiment unter der Präsidentschaft Sanford Dole's eingeführt war, da regnete es aus beiden Ländern die heftigsten Proteste.

Nichts vermag eben zu ändern, was im Schicksalsbuche der Völker einmal geschrieben steht, ob diese Völker nun alten oder neuen Ursprungs sind, und der Hawaïsche Archipel bildet deshalb seit dem 4. Juli 1894 eine Republik unter der Präsidentschaft Doles und seiner Nachfolger.

Der Aufenthalt Standard-Islands hier ist auf zehn Tage bemessen. Viele seiner Bewohner benutzen das, um Honolulu und dessen Umgebungen zu besuchen. Die Familien Coverley und Tankerdon, die ersten Notabeln von Milliard-City, begeben sich alle Tage im Boote nach dessen Hafen. Andrerseits kennt, obwohl die Schraubeninsel schon vorher einmal hier lag die Bewundrung der Einwohner [126] von Hawaï keine Grenzen und sie stürmen in hellen Haufen herbei, dieses Wunderwerk zu besichtigen. Cyrus Bikerstaff's Polizei, die bezüglich der Zulassung Fremder immer streng ist, hält darauf, daß die Gäste zur festgesetzten Stunde wieder heimkehren. Bei derartigem Sicherheitsdienste dürfte es jedem Unberufnen schwer fallen, ohne besondre, nicht leicht erhältliche Genehmigung auf dem Juwel des Stillen Oceans länger zu verweilen. Uebrigens herrschen auf beiden Seiten gute Beziehungen, obwohl man jeden officiellen Empfang zwischen den Inseln vermeidet.

Das Quartett unternimmt einige recht interessante Ausflüge. Die Eingebornen gefallen unsern Parisern. Ihr Typus ist deutlich ausgesprochen, ihr Teint bräunlich, ihr Gesichtsausdruck gleichzeitig sanft und etwas stolz, und obgleich die Leute jetzt in einer Republik leben, sehnen sie sich doch vielleicht nach ihrer ehemaligen wilden Unabhängigkeit zurück.

»Die Luft unsres Landes ist frei,« lautet ein dortiges Sprichwort; sie selbst sind es nicht mehr.

Nach der Unterwerfung des Archipels durch Kamehameha und während der 1837 errichteten constitutionellen Monarchie wurde jede zugehörige Insel durch einen besondern Gouverneur regiert. Jetzt, unter der Republik, sind die Inseln noch in Haupt- und Nebenbezirke eingetheilt.

»Ei, ruft Pinchinat, da fehlen ja nur noch die Präfecten, Unterpräfecten und die Präfecturbeisitzer nebst der Constitution des Jahres VIII!

– Mich verlangt es, von hier wegzukommen!« knurrt Sebastian Zorn.

Das wäre unrecht gewesen, ohne vorher die landschaftliche Schönheit Oahus bewundert zu haben. Diese ist überraschend, wenn auch ohne reiche Flora. Das Küstengebiet zeitigt Cocospalmen und andre Arten, Brodbäume, Aleuriten, die zur Oelgewinnung dienen, ferner Ricinus-, Stechapfel- und Indigopflanzen. In den von den Bergwässern durchzognen und von einem üppigen, Menervia genannten Strauche erfüllten Thälern bilden sich viele Gesträche zu richtigen Bäumen aus, wie Chenopodien, Halapepen und riesige Asparagineen.


Wie ein Gewirr von Schlangen ziehen die Lianen durch das Astwerk hin. (S. 127.)

Die bis auf zweitausend Meter hinausreichende Waldzone wird von verschiednen Holzarten, von hohen Myrtaceen, kolossalen Rumexarten und von Lianen gebildet, die sich wie ein Gewirr von Schlangen durch das Astwerk hinziehen. Was die Bodenerzeugnisse angeht, die die Hauptausfuhr bilden, so bestehen diese aus Reis, Cocosnüssen und Zuckerrohr.


Ein verdächtiges Fahrzeug. (S. 130.)

Zwischen den Inseln herrscht ein lebhafter Schiffsverkehr, da alle Producte nach Honolulu geschafft werden, um von hier [127] aus, meist nach Amerika, zur Ausfuhr zu gelangen. Auch die Fauna zeigt wenig Verschiedenheit. Wenn die Kanaken in intelligenteren Rassen unterzugehen drohen, so erleiden doch die Thierarten keine Veränderung. Es finden sich davon nur Schweine, Ziegen und Hühner als Hausthiere, wilde Thiere gar nicht, höchstens einige Paare Wildschweine; Mosquitos, deren man sich nur mit Mühe erwehren kann, zahlreiche Scorpione und viele Arten ungefährlicher Eidechsen; ferner Vögel, die niemals singen, wie der Oo, die Drepanis pacifica mit schwarzem Gefieder und geschmückt mit den gelben Federn, aus denen der berühmte Mantel Kamehameha's [128] hergestellt war, an welchem neun Generationen von Eingebornen gearbeitet hatten.

Der Antheil des Menschen an diesem Archipel besteht darin, ihn, und zwar nach amerikanischem Muster, civilisiert zu haben, nämlich durch gelehrte Gesellschaften, obligatorische Lehranstalten, die bei der 1878er Ausstellung einen Preis erhielten, durch reiche Bibliotheken und eine in englischer und kanakischer Sprache erscheinende Journalistik. Unsre Pariser konnten darüber nicht staunen, denn die Notabeln des Archipels sind in der Mehrzahl Amerikaner und ihre Sprache ist [129] hier ebenso eingeführt wie ihre Münzsorten. Diese Notabeln ziehen mit Vorliebe nur Chinesen aus dem Himmlischen Reiche in ihre Dienste, entgegen dem Verfahren in Westamerika, wo man sich dieser Geißel mit dem bezeichnenden Namen der »Gelben Pest« zu erwehren bemüht.

Natürlich gleiten seit dem Eintreffen Standard-Islands vor der Hauptstadt von Oahu zahlreiche Boote mit Neugierigen um jenes herum. Bei so herrlichem Wetter und stiller See giebt es gar nichts Schöneres als eine Fahrt von etwa zwanzig Kilometern eine Kabellänge von dieser vernieteten und verbolzten »Küste« hin, auf der die Zollbeamten eine so strenge Ueberwachung ausüben.

Unter jenen Booten hätte man auch ein leichtes Fahrzeug bemerken können, das jeden Tag im Gewässer der Schraubeninsel umhersegelt. Es ist eine Art malayischer Ketsch mit zwei Masten, eckigem Achterschiff und einer Besatzung von zehn Mann unter dem Befehle eines Kapitäns von sehr energischem Aussehen. Der Gouverneur schenkt der Sache aber keine Beachtung, obgleich jene Hartnäckigkeit verdächtig erscheinen konnte. Jene Leute hören nämlich nicht auf, die Insel in ihrem ganzen Umfange zu besichtigen, segeln von dem einen Hafen zum andern und suchen die Anordnung des Ufers auszukundschaften. Doch wenn sie auch Schlimmes im Schilde führten, konnte die Besatzung von zehn Mann gegen eine Bevölkerung von zehntausend Menschen doch nichts ausrichten. Niemand bekümmert sich also um das Verhalten der Ketsch, ob diese nun am Tage hin und her segelt oder die Nacht über auf dem Meere bleibt. Auch das Marineamt von Honolulu wird wegen dieser Sache nicht interpelliert.

Am Morgen des 10. Juli verläßt Standard-Island die Insel Oahu, macht zuerst eine Schwenkung und gleitet dann nach Südwesten hin, um nach den andern hawaïschen Inseln zu gelangen. Dabei kommt ihm die von Osten nach Westen verlaufende Aequatorialströmung zu statten, deren Richtung der der Meeresströmung im Norden des Archipels gerade entgegengesetzt ist.

Zur Freude derjenigen seiner Bewohner, die sich nach dem Backborduser begeben haben, steuert Standard-Island zwischen den Inseln Molokaï und Kaouaï hindurch. Ueber der letzteren, einer der kleinsten der Gruppe, erhebt sich ein Vulcan bis achtzehnhundert Meter, der Nirhau, der eben etwas rauchigen Dampf ausstößt. Das Ufer an seinem Fuße besteht aus Korallengebilden mit einer Dünenkette dahinter. Von jenen tönt das Echo fast mit metallischem Klange zurück, wenn der Wogenschwall der Brandung daran schlägt.

[130] Bei Einbruch der Nacht befindet sich die Schraubeninsel noch immer in dem engen Canale, hat aber unter der kundigen Führung des Commodore Simcoë nichts zu fürchten. Zur Stunde, wo die Sonne hinter den Höhen von Lanaï unterging, hätten die Wachen die Ketsch nicht sehen können, die gleich nach der Abfahrt Standard-Islands den Hafen verlassen hatte und sich immer in dessen Nähe zu halten suchte. Doch es kümmerte sich, wie gesagt, so wie so niemand um das unscheinbare malayische Fahrzeug.

Bei Tagesanbruch erschien die Ketsch nur noch wie ein weißer Punkt am Horizonte.

Im Laufe dieses Tages steuert man zwischen Kaluhani und Mauï weiter. Die letztere, mit Lahaïna als Hauptstadt und einem von Walfischfängern vielbesuchten Hafen, ist ihrem Umfange nach die zweite des Archipels. Fast dreitausend Meter hoch steigt darauf der Haleahala, das Haus der Sonne, in die Lüste empor.

Die beiden nächsten Tage fährt man längs der Kästen der großen Insel Hawaï hin, deren Berge, wie erwähnt, die höchsten der ganzen Inselgruppe sind. In der Bucht von Kealakeacua war es, wo der Kapitän Cook, den die Eingebornen erst wie einen Gott empfangen hatten, 1779 ermordet wurde, ein Jahr nach seiner Entdeckung dieses Archipels, dem er zu Ehren des berühmten britischen Ministers den Namen Sandwich gegeben hatte. Hilo, der auf der Ostseite gelegene Hauptort derselben, wird nicht sichtbar, dagegen zeigt sich Kailu, das an der Westküste liegt.

Die Insel Hawaï besitzt siebenundfünfzig Kilometer Eisenbahnen, die meist nur zum Waarentransporte dienen, und das Quartett kann den weißen Dampf ihrer Locomotiven sehen.

»Das fehlte gerade noch!« ruft Yvernes.

Am nächsten Tage hat das Juwel des Stillen Oceans diese Gegenden hinter sich gelassen, während die Ketsch die Spitze von Hawaï umschifft, über die der Mauna-Loa, der Große Berg, viertausend Meter emporragt.

»Betrogen, wettert Pinchinat, betrogen sind wir und bestohlen!

– Ja freilich, stimmt ihm Yvernes bei, wir hätten hundert Jahre früher kommen sollen. Dann befänden wir uns aber nicht auf dieser wundervollen Schraubeninsel.

– Einerlei! Weit schlimmer, daß wir hier Eingeborne in Jaquets mit umgeschlagenem Kragen gefunden haben, statt der Wilden im Federschmuck, die [131] uns dieser Schlingel von Munbar versprochen hatte! Nein, ich gebe der Zeit des Kapitän Cook den Vorzug!

– Und wenn die Cannibalen Dich nun auch aufgezehrt hätten, Freund Bratschist? bemerkte Frascolin.

– O, da bliebe mir doch der Trost, in meinem Leben... einmal um meiner selbst willen geliebt worden zu sein!«

10. Capitel
Zehntes Capitel.
Die Passage der Linie.

Vom 23. Juni ab wendet sich die Sonne wieder der südlichen Halbkugel zu, und damit ist die Zeit gekommen, die Gegend zu verlassen, wo es nun bald stürmische und rauhe Witterung geben wird. Mit der Bewegung des Tagesgestirns nach der Aequinoctiallinie hin, empfiehlt es sich, ihm möglichst zu folgen. Jenseits derselben herrscht ein angenehmes Klima und trotz ihrer Namen, October, November, December, Januar und Februar bringen diese Monate daselbst gerade die warme Jahreszeit. Die Strecke, die die Hawaï-Inseln von den Marquisen trennt, beträgt dreitausend Kilometer. Standard-Island muß diese Entfernung bald durchmessen und nimmt deshalb die größtmögliche Geschwindigkeit an.

In diesem Theile des Meeres liegt das eigentliche Polynesien. Bei einem Flächenraume von fünf Millionen Quadratkilometern finden sich hier fünf Gruppen, die aus hundertzwanzig Inseln und Eilanden bestehen. Es sind das die Gipfel unterseeischer Berge, deren Kette sich von Nordwest nach Südost bis zu den Marquisen und zur Insel Pitcairn hinzieht, wobei sie mehrere, fast parallele Verzweigungen ausschickt.

Wenn man sich vorstellt, daß dieses weite Becken sich plötzlich entleerte, wenn der von Kleophas befreite hinkende Teufel diese Wassermassen ebenso abhübe, wie die Hausdächer in Madrid, da würde sich den Blicken eine wunderbare Landschaft zeigen. Keine Schweiz, kein Norwegen, kein Tibet könnte sich an Größe mit ihr messen. Von diesen unterseeischen Bergen, deren meiste vulcanischer Natur [132] sind, bestehen einige andre – madreporischen Ursprunges – aus einer kalkigen oder hornartigen Masse, die einst in concentrischen Schichten von Polypen, den so einfach organisierten Strahlenthieren, denen eine ungeheure Productionskraft innewohnt, abgesondert wurden. Die jüngsten dieser Inseln haben nur auf ihrem Gipfel eine leichte Pflanzendecke; die andern, bei denen die Vegetation von oben bis nach unten reicht, sind die ältern, wenn sie auch korallischen Ursprungs sind. Unter den Fluthen des Großen Oceans verbirgt sich also ein ganzes Gebirgssystem. Standard-Island gleitet über dessen Gipfel hinweg etwa wie ein Ballon zwischen den Spitzen der Alpen oder des Himalaya – nur wird es nicht von der Luft, sondern vom Wasser getragen.

Doch wie es in der Atmosphäre breite Strömungen giebt, so kennt man auch solche auf der Oberfläche dieses Oceans. Die große Strömung geht von Osten nach Westen, während mehr in der Tiefe zur Zeit, wenn die Sonne nach dem Wendekreise des Krebses geht, zwei Gegenströmungen beobachtet werden. An den Kästen von Tahiti hat man auch vier Arten von Fluth, die nicht überall gleichzeitig eintreten und deshalb die Ebbe fast unmerkbar machen. Das Klima der einzelnen Archipele ist sehr verschieden. Die bergigen Inseln halten die Wolken auf, die ihren Regen auf sie ergießen; die niedrigeren sind mehr trocken, weil alle Dämpfe von den herrschenden Winden aufgelöst und weggetrieben werden.

Wie zu erwarten, besaß die Bibliothek des Casinos eine reiche, sogar vollständige Sammlung von Karten über den Stillen Ocean, die Frascolin, der Ernsthafteste der Truppe, häufig studiert. Yvernes zieht es vor, auf alle Zwischenfälle der Fahrt zu achten, die künstliche Insel zu bewundern und dergleichen, er hat aber offenbar wenig Neigung, sein Gehirn mit geographischen Kenntnissen zu beschweren. Pinchinat nimmt alles von der heitern oder phantastischen Seite. Sebastian Zorn kümmert sich ganz und gar nicht um die Fahrt, weil er an dieser sehr gegen seinen Willen theilnimmt.

Frascolin ist also der Einzige, der sich eingehend von Polynesien unterrichtet, die Hauptinselgruppe desselben, die niedrigen Inseln, die Marquisen, die Pomotu- und die Gesellschafts-Inseln, die Inseln Cook's. die Tonga- und Samoa-, sowie die Austral-Inseln, die Wallis- und Fanning-Inseln studiert, ohne von den einzeln liegenden Nine, Tokolau, Phönix, Manahiki, der Oster-Insel und von Sala y Gomez und andern zu reden. Er erfährt dabei, daß die Herrschaft in den meisten dieser Archipele, selbst in denen, die unter Protectorat stehen, in [133] den Händen mächtiger Häuptlinge liegt, deren Einfluß niemals bestritten worden ist, und daß die armen Classen den reichen vollständig unterworfen sind. Er lernt, daß außer der, allerdings am meisten verbreiteten katholischen Religion, die Eingebornen auch noch dem Brahmanismus, dem Islam und dem Protestantismus huldigen. Er lernt dabei, daß die Sprache der Eingebornen, die ein sehr einfaches Alphabet haben, da es nur aus dreizehn bis siebzehn Lautzeichen besteht, schon jetzt mit dem Englischen stark vermischt ist und später in diesem ganz aufzugehen droht; ebenso, daß die Bevölkerung Polynesiens unleugbar im Abnehmen ist, was gewiß bedauerlich erscheint, da der Typus der Kanaken – das Wort bedeutet »Mann« – wirklich schön zu nennen ist. Polynesien verliert an ethnographischem Interesse sicher ganz ungemein durch das wachsende Uebergewicht der fremden Rassen. Ueber alles das erhält er Aufklärung, vorzüglich durch häufige Gespräche mit dem Commodore Ethel Simcoë, und wenn ihn seine Kameraden über etwas ähnliches fragen, so ist er nie um eine Antwort verlegen.

Pinchinat nennt ihn darum schon gar nicht mehr anders als den »Larousse der Tropenzonen«.

Derart sind also die Inselgruppen, zwischen denen Standard-Island seine reiche Einwohnerschaft spazieren führt. Sie verdient wirklich den Namen der glücklichen Insel, denn Alles, was das leibliche und soweit es möglich, das geistige Glück sichern kann, ist hier vorgesehen, und darum erscheint es um so bedauerlicher, daß diese Sachlage durch Rivalitäten, Eifersüchteleien und dergleichen gestört zu werden droht, durch Meinungsverschiedenheiten, die Milliard-City in zwei Feldlager ebenso trennt, wie es in zwei Stadthälften getheilt ist. Für unsre Künstler, die hieran ja unbetheiligt sind, verspricht der Streit wenigstens recht interessant zu werden.

Jem Tankerdon ist durch und durch Yankee. Er hat ein großes Gesicht mit röthlichem Barte, kurzes Haar und trotz seiner sechzig Jahre noch sehr lebhafte Augen. Von hohem Wuchse, hat er einen mächtigen Torso und kräftige Gliedmaßen. Er ähnelt ein wenig den Trappern in den Prairien, obwohl er, was die Fallen angeht, niemals andre aufgestellt hat als die, durch die er die Millionen von Schweinen in seine Speicher von Chicago eintrieb. Er ist ferner etwas heftig von Charakter, obschon man erwarten sollte, daß die Stellung, die er hier einnahm, ihn hätte etwas abschleifen sollen; leider fehlte es ihm aber an der ersten Erziehung. Darum liebt er es auch, mit seinem Reichthum zu [134] glänzen, und hat, wie man zu sagen pflegt, »eine klingende Tasche«. Dennoch scheint sie ihm immer noch nicht voll genug zu sein, denn er denkt mit einer Anzahl andrer Bewohner seiner Bordseite daran, die frühern Geschäfte wieder aufzunehmen.

Mrs. Tankerdon ist eine Amerikanerin wie alle, eine gute, ihrem Manne sehr ergebne Frau, eine vortreffliche Mutter, voll Liebe zu ihren Kindern und wie es scheint, bestimmt, eine zahlreiche Nachkommenschaft zu haben. Hat man zwei Milliarden unter seinen directen Nachkommen zu vertheilen, so kann man deren schon ein Dutzend haben, sie werden ja trotzdem noch anständig versorgt sein.

Von dieser ganzen Gesellschaft zog nur der älteste Sohn die Aufmerksamkeit unsrer Künstler auf sich, und gerade dieser sollte in unsrer Geschichte noch eine gewisse Rolle spielen. Walter Tankerdon, eine elegante Erscheinung mit mäßigen Anlagen, doch mit gewinnendem Auftreten und hübschen Gesichtszügen, hatte mehr von Mrs. Tankerdon als von dem Familienoberhaupt an sich. Ausreichend unterrichtet, denn er hat Europa und Amerika durchstreift, reist er noch jetzt zuweilen, fühlt sich aber immer wieder nach Standard-Island zurückgezogen. Mit allen sportlichen Uebungen vertraut, steht er, wenn es sich um Polo, Golf oder Crocket handelt, an der Spitze der Milliardeser Jugend. Auf sein ihm einmal zufallendes Vermögen bildet er sich gar nichts ein und ist von Herzen wirklich ein guter Mensch. Wegen Mangels an bedürftigen Leuten auf der Insel, hat ihm freilich jede Gelegenheit gefehlt, sich als Wohlthäter zu erweisen. Immerhin ist es zu wünschen, daß seine Brüder und Schwestern ihm gleichen. Letztere sind noch zu jung, um an eine Heirat zu denken, er aber zählt nahe an die Dreißig, und hat alle Ursache dazu. Ob er wohl daran denkt? Das wird sich im weitern zeigen. Ein greller Contrast besteht zwischen der Familie Tankerdon, der ersten auf der Backbordhälfte, und der Familie Coverley, der hervorragendsten auf der Steuerbordhälfte. Nat Coverley ist von feinerem Schlage als sein Rival, er verräth die französische Abstammung seiner Vorfahren. Sein Vermögen entstammt weder den Eingeweiden des Erdbodens in Gestalt von Petroleumansammlungen, noch den dampfenden Eingeweiden der Schweinerasse. Ihn haben industrielle Unternehmungen, Eisenbahnen und Bankgeschäfte zu dem gemacht, was er ist. Er denkt nur daran, seine Reichthümer in Frieden zu genießen – und macht auch kein Hehl daraus – und er würde sich jedem Versuche, das Juwel des Oceans in eine riesige Fabrik oder ein ungeheures Handelshaus umzuwandeln, mit allen Kräften widersetzen. Groß und gut gewachsen, mit hübschem Kopf, [135] vollem, ins Graue schillerndem Haare, trägt er einen Vollbart, dessen Braun sich schon einzelne Silberfäden beigemischt haben. Von kühlem Charakter und vornehmen Manieren, nimmt er den ersten Rang unter den Notabeln ein, die in Milliard-City die Ueberlieferungen der höchsten Gesellschaftskreise Südamerikas bewahren. Er liebt die Künste, versteht sich auf Malerei und Musik, bedient sich gern der unter den Steuerbordbewohnern viel angewendeten französischen Sprache, hält sich auf dem Laufenden bezüglich der amerikanischen und europäischen Literatur und ruft seine Bravos und Bravas, wenn die roheren Typen aus dem Far-West und aus Neu-England ihre Hurrahs und Hips ertönen lassen.

Mrs. Coverley, die zehn Jahre jünger ist als ihr Mann, hat eben – und ohne sich groß darüber zu beklagen – die Schwelle der Vierzig überschritten. Eine elegante vornehme Dame, rührt sie aus einer der halbcreolischen Familien des alten Luisiana her, und ist eine ausgezeichnete Pianistin – denn man darf nicht glauben, daß ein Reyer des 20. Jahrhunderts das Piano aus Milliard-City verbannt hätte. In ihrem prächtigen Hause in der Fünfzehnten Avenue hat das Quartett ja häufig Gelegenheit, mit ihr zu musicieren, und kann nicht umhin, sie wegen ihrer musikalischen Talente zu beglückwünschen.

Der Himmel hat den Ehebund der Coverley's nicht so reich gesegnet wie den der Tankerdon's. Drei Töchter sind die einzigen Erbinnen eines ungeheuern Vermögens, womit Mr. Coverley nicht so prahlt, wie sein Rival. Sie sind sehr hübsch und an Freiern wird es ihnen aus den besten Kreisen der Alten wie der Neuen Welt gewiß nicht fehlen, wenn sie sich einmal verheiraten wollten. In Amerika ist eine so große Mitgift übrigens gar nicht so selten. Vor wenigen Jahren erst war mehrfach von der kleinen Miß Terny die Rede, um die sich wegen ihrer siebenhundertfünfzig Millionen junge Männer schon bewarben, als sie nur – zwei Jahre zählte. Hoffentlich hat sich das Kind nach seinem Geschmack verheiratet, so daß es nicht nur die reichste, sondern auch die glücklichste aller Ehefrauen in den Vereinigten Staaten geworden ist.

Die älteste Tochter der Familie Coverley, Diana oder vertraulich nur Dy genannt, zählt kaum zwanzig Jahre. Sie ist eine sehr schöne Erscheinung, in der sich die körperlichen und seelischen Eigenschaften ihres Vaters und ihrer Mutter vereinigt wiederfinden. Mit reizenden blauen Augen, einem reichen Haar von einer zwischen braun und blond liegenden Färbung, rosigem Teint, eleganter und graziöser Haltung, erscheint es erklärlich, daß sie den jungen Herren in Milliard-City in die Augen sticht, und daß diese die Eroberung des »unzählbaren [136] Schatzes« – hier ein mathematisch richtiger Ausdruck – gewiß Fremden nicht überlassen werden. Es ist sogar anzunehmen, daß Mr. Coverley in einer Verschiedenheit der Religion kein Hinderniß einer Verbindung sehen würde, wenn er dadurch das Glück seiner Tochter gesichert wüßte.


Frascolin auf der Rammspornbatterie. (S. 138.)

In der That ist es bedauerlich, daß gesellschaftliche Eifersüchteleien die beiden sonst am besten für einander geschaffenen Familien von Standard-Island trennen. Walter Tankerdon erschien ja mehr als jeder andre geeignet, der Gatte Dy Coverley's zu werden.

[137] Hieran ist aber leider gar nicht zu denken. Eher würde Standard-Island in zwei Theile zerschmettert und führen die Backbordbewohner mit einer Hälfte, die Steuerbordbewohner mit der andern Hälfte ab, ehe ein solcher Ehecontract zu Stande käme.

»Wenn nicht die Liebe in der Geschichte dennoch den Ausschlag giebt!« sagte zuweilen der Oberintendant, der unter seinem goldnen Klemmer mit den Augen zwinkerte.

Es scheint aber nicht so, als ob Walter Tankerdon eine besondre Zuneigung für Dy Coverley – oder umgekehrt – empfände. Wenn es doch der Fall wäre, so legten sich wenigstens Beide eine ungeheure Zurückhaltung auf, die selbst die Neugierde der vornehmen Welt von Milliard-City täuschte.

Ungefähr dem hundertsechzigsten Meridian folgend, segelt die Propeller-Insel weiter nach dem Aequator hinunter. Vor ihr liegt jetzt der Theil des Stillen Oceans, der die wenigsten Inseln und Eilande aufweist und dessen Tiefe bis auf zwei Lieues – eine Tiefe von sechstausend Metern – reicht, aus der mit der Sonde jene merkwürdigen Muscheln oder Zoophyten herausgebracht werden, die so beschaffen sind, daß sie den ungeheuern, auf sechshundert Atmosphären geschätzten Wasserdruck auszuhalten vermögen.

Fünf Tage später gelangt Standard-Island nach einer Gruppe, die englisches Besitzthum ist, obwohl sie die der Amerikanischen Inseln genannt wird. Nachdem es Palmyra und Suncarung zur Rechten gelassen, nähert es sich bis auf fünf Meilen Fanning, einer der zahlreichen und hier der wichtigsten Guanolagerstätten des Archipels. Im übrigen haben die mehr kahlen Berge dem Vereinigten Königreich bisher noch keinen besondern Nutzen gebracht. Es hat aber seinen Fuß auf diese Stelle gesetzt, und jedermann weiß, daß der große Fuß Englands gewöhnlich unverwischbare Eindrücke hinterläßt.

Jeden Tag, wenn seine Kameraden den Park oder das benachbarte Feld durchstreifen, begiebt sich Frascolin, den alle Einzelheiten dieser merkwürdigen Fahrt lebhaft interessieren, nach der Rammspornbatterie. Hier trifft er häufig mit dem Commodore zusammen, und Ethel Simcoë belehrt ihn gern über alle eigenthümlichen Meereserscheinungen. Sind diese von einigem weitern Interesse, so unterläßt es die zweite Geige nie, auch den Andern davon Mittheilung zu machen.

Ein solches Ereigniß trat z. B. in der Nacht vom 30. zum 31. Juli ein.

Am Nachmittage schon wurde eine große, mehrere Quadratmeilen bedeckende Akalephenbank gemeldet. Die Bevölkerung hatte noch nie Gelegenheit gehabt,[138] solchen Mengen von Medusen zu begegnen, denen verschiedne Naturforscher den Namen Oceanien gegeben haben. Diese Thiere haben nur ein sehr eingeschränktes Leben und grenzen mit ihrer halbkugligen Gestalt schon an die Pflanzenwelt. So beutegierig die Fische im allgemeinen sind, scheinen sie jene doch mehr als Blumen anzusehen, denn keiner bedient sich derselben als Nahrung. Die der heißen Zone des Stillen Weltmeers eigenthümlichen Oceanien zeigen sich ausschließlich in Gestalt vielfarbiger Schirme, die durchsichtig und mit Fühlfäden ausgestattet sind. Sie messen nicht mehr als zwei bis drei Centimeter. Wie viele Milliarden gehören also dazu, eine Bank von solcher Ausdehnung zu füllen!

Bei Erwähnung dieser Zahlen in Gegenwart Pinchinat's antwortete dieser:

»Ei was, den steinreichen Notabeln von Standard-Island, bei denen die Milliarde Scheidemünze ist, kann das auch nicht besonders imponieren!«

Später am Abend hat sich ein Theil der Einwohnerschaft nach dem »Vorderkastell«, das heißt nach der Terrasse begeben, die die Rammspornbatterie überragt. Die Tramwagen sind überfüllt, elektrische Wagen strotzen von Neugierigen. Elegante Wagen haben die Nabobs der Stadt hierher gebracht. Die Coverley's und die Tankerdon's fahren in einiger Entfernung von einander. M. Jem grüßt nicht M. Nat, der auch wieder M. Jem nicht grüßt. Beide Familien sind übrigens vollzählig zur Stelle. Yvernes und Pinchinat haben das Vergnügen, mit Mrs. Coverley und deren Tochter, die sie stets freundlich empfangen, zu plaudern. Vielleicht ärgert sich Walter Tankerdon im Stillen, an der Unterhaltung nicht theilnehmen zu können, und vielleicht hätte auch Miß Dy Coverley gern mit dem jungen Manne gesprochen. Doch das hätte vielleicht einen hellen Aufruhr erregt und in den beiden Zeitungen der Insel wären darüber gewiß indiscrete Anschuldigungen zu lesen gewesen.

Nach Eintritt vollständiger Dunkelheit, so viel von einer solchen bei den sternenhellen Nächten der Tropenzone die Rede sein kann, scheint es, als ob das Meer bis tief hinunter aufleuchte. Die ganze Wasserfläche glänzt von phosphorescierendem Schein, von röthlichen oder blauen Lichtreflexen, die aber nicht nur auf den Wellenkämmen spielen, sondern vom Wasser selbst auszugehen scheinen. Dieser Lichtschein wird so stark, daß man dabei wie bei einem entfernten Nordlicht sogar lesen kann. Es sieht aus, als ob der Stille Ocean, nach dem er sich am Tage mit den Strahlen der Sonne gesättigt hatte, diese in der Nacht zurückerstatten wolle.

[139] Bald schneidet der Bug von Standard-Island in die Masse der Akalephen ein und theilt sie längs des metallnen Ufers in zwei Ströme. Nach wenigen Stunden ist die Schraubeninsel von einem Gürtel von Noctiluken umschlossen, dessen Lichtquelle sich noch immer nicht verändert. Die Erscheinung glich einer Aureole, dem Strahlenkranze um die Bilder der Heiligen, wie man ihn um das Haupt Jesu Christi immer zu sehen gewöhnt ist. Das Phänomen dauert bis zum Anbruch des Tages, wo es beim ersten Frühroth endlich erlischt.

Sechs Tage später berührt das Juwel des Stillen Oceans den großen, gedachten Kreis unsres Sphäroids, der, wenn wirklich aufgezeichnet, den Horizont in zwei gleiche Hälften theilen würde. Hier kann man zu gleicher Zeit beide Pole des Himmels sehen, den nördlichen, der durch den flammenden Polarstern, und den südlichen, der durch das glänzende Kreuz, wie die Brust eines Soldaten, mit dem südlichen Kreuz geschmückt ist. Wir fügen hier ein, daß an den verschiednen Stellen des Aequators die Sterne jeden Tag eine zum Horizont perpendiculäre Kreislinie zu beschreiben scheinen. Will man stets gleich lange Tage und Nächte haben, so muß man sich nach Inseln oder Festländern begeben, die vom Aequator durchschnitten werden.

Seit seiner Abfahrt vom Hawaï-Archipel hat Standard-Island eine Strecke von etwa sechshundert Kilometern zurückgelegt. Es ist jetzt das zweitemal, daß es sich von einer Hemisphäre zur andern begiebt, wobei es die Linie das erstemal in der Richtung von Norden nach Süden und jetzt in umgekehrter Folge durchschnitt. Gelegentlich dieser »Passage« wird für die Bewohner von Milliard-City ein Fest veranstaltet. Im Tempel und in der Kathedrale sollen Gottesdienste abgehalten, im Park sollen Spiele aller Art veranstaltet werden. Von der Plattform des Observatoriums wird ein Feuerwerk abgebrannt werden, das bezüglich seines Glanzes mit dem der Sterne wetteifern kann.

Der Leser erkennt, daß es sich hierbei um eine Nachahmung der Aufführungen handelt, die auf Schiffen stattfinden, wenn sie den Aequator berühren, ein Seitenstück zu der gewöhnlichen »Linien-Taufe«. Dieser Tag wird immer gewählt, um die Kinder zu taufen, die seit der Abfahrt von der Madeleinebay geboren worden waren. Einer gleichen Taufceremonie haben sich die Fremden zu unterziehen, die die Linie noch nicht passiert hatten.

»Da kommen wir diesmal daran, sagte Frascolin zu seinen Kameraden, wir werden schon die Taufe erhalten!

– Bleibt mir damit vom Leibe! ruft Sebastian Zorn mit lebhafter Empörung.

[140] – Ja, mein alter Baßkratzer, erwidert Pinchinat, da gießt man uns aus einem großen Eimer ungeweihtes Wasser über den Kopf, setzt uns auf schaukelnde Bretter, von denen wir in Wasserkufen fallen, und dann erscheint der Herr Meeresgott der Tropen mit seinem Gefolge von Possenreißern, um uns das Gesicht gemüthlich einzutheeren!

– Sie werden doch nicht glauben, ruft Sebastian Zorn, daß ich mich dieser Harlequinade unterwerfe!...

– Das wird nicht zu umgehen sein, sagte Yvernes. Jedes Land hat seine Sitten, und wer es besucht, muß sich ihnen unterwerfen...

– Nur dann nicht, wenn man ein unfreiwilliger Gast darin ist!« erklärt der unbeugsame Chef des Concert-Quartetts.

Nun, er hätte sich beruhigen können wegen dieser Harlequinade, mit der sich manche Schiffe beim Passieren der Linie ergötzen. Er braucht auch das Erscheinen des Tropengottes nicht zu fürchten. Ihn und seine Kameraden wird niemand mit Seewasser taufen, sondern mit Champagner der besten Marke. Ebenso wird es niemand einfallen, ihnen den Aequator zu zeigen, den man schon vorher auf das Objectiv des Fernrohres gezeichnet hatte. Dergleichen paßt für Matrosen auf der Fahrt, nicht für die ernsten Leute von Standard-Island.

Das Fest findet am Nachmittag des 5. Juli statt. Außer den Zollwächtern, die ihren Posten nie verlassen dürfen, haben alle Beamten Urlaub erhalten. In der Stadt und in den Häfen ruht jede Arbeit – selbst die Schrauben bewegen sich nicht. Die Accumulatoren enthalten eine solche Menge Volts, daß diese für die Beleuchtung und die elektrischen Wagen ausreichen. Standard-Island liegt deshalb aber nicht völlig still, eine Strömung führt es nach der Linie, die beide Erdhälften scheidet. Gesänge und Gebete steigen in den beiden Kirchen zum Himmel und die Orgeln erklingen mit voller Kraft. Im Park, wo man sich allerlei Sportübungen hingiebt, herrscht nachher eitel Lust und Freude. Heute sind alle Classen hier vermischt. Die reichsten großen Herren und Walter Tankerdon an der Spitze verrichten im Golf und Lawntennis wahre Wunder. Wenn die Sonne lothrecht unter den Horizont gesunken und die nur fünfundvierzig Minuten dauernde Dämmerung zu Ende ist, wird das Feuerwerk prasselnd emporsteigen, und eine mondlose Nacht wird dieses glänzende Schauspiel unterstützen.

Im großen Saale des Casinos wird das Quartett in der erwähnten Weise, und zwar von Cyrus Bikerstaff's eigner Hand, getauft. Der Gouverneur bietet[141] ihm die schäumenden Gläser und der Champagner fließt in Strömen. Fleißig schlürfen die Künstler den edlen Cliquot und Röderer. Sebastian Zorn hat gewiß keine Ursache, sich über diese Taufe zu beklagen, die ihn in keiner Weise an das salzige Wasser erinnert, mit dem seine Lippen nach der Geburt benetzt wurden.

Die Pariser bringen ihren Dank für alle Freundlichkeiten dadurch dar, daß sie die besten Stücke ihres Repertoires aufspielen. Das siebente Quartett in E- Dur, Op. 59 von Beethoven, das vierte Quartett in A-moll, Op. 10 von Mozart, das vierte Quartett in Des-Dur, Op. 17 von Haydn und ein herrliches Werk von Mendelssohn. Die Zuhörer erweisen sich im höchsten Grade dankbar, man drängt sich an den Thüren und erwürgt sich fast im Saale, die Musikstücke müssen zwei- auch dreimal wiederholt werden, und der Gouverneur überreicht den Vortragenden dafür eine goldne, mit Diamanten eingefaßte Medaille, die auf der einen Seite das Wappen von Milliard-City zeigt, auf der andern in französischer Sprache die Inschrift:


Dem Concert-Quartett gewidmet

von der Gesellschaft, den Stadtbehörden und der

Einwohnerschaft von Standard-Island.


Wenn alle diese Ehrenbezeugungen dem unversöhnlichen Violoncellisten nicht zu Herzen gehen, kommt das entschieden daher, daß ihm ein beklagenswerther Charakter eigen ist, was seine Kameraden ihm auch öfters ins Gesicht sagen.

»Warten wir erst das Ende ab!« Das ist dann, während er mit fiebernden Händen im Barte wühlt, seine ganze Antwort.

Um zehn Uhr fünfunddreißig Minuten des Abends – die Astronomen von Standard-Island haben es ausgerechnet – befindet sich die Schraubeninsel gerade über der Linie. In diesem Augenblick soll von der Rammspornbatterie ein Kanonenschuß gelöst werden. Ein Draht verbindet die Batterie mit dem elektrischen Apparat in der Mitte des Observatoriums. Für denjenigen Notablen, dem es zufällt, die furchtbare Detonation durch Schließung des Stromes hervorzubringen, ist das eine ganz besondre Befriedigung der Eigenliebe.

Am heutigen Tage machen darauf zwei Persönlichkeiten Anspruch – natürlich Jem Tankerdon und Nat Coverley. Cyrus Bikerstaff kommt dadurch in die größte Verlegenheit. Zwischen dem Stadthause und den beiden Hälften der Stadt haben darüber schon peinliche Verhandlungen stattgefunden, ohne zu [142] einer Einigung zu führen. Auf Einladung des Gouverneurs hat sich auch Calistus Munbar dabei betheiligt. Doch trotz seiner bekannten Geschicktlichkeit und seines diplomatischen Geistes vermag der Oberintendant leider gar nichts auszurichten. Jem Tankerdon will einmal nicht vor Nat Coverley, und dieser nicht vor jenem zurücktreten. Alle erwarten eine heftige Scene.

Diese entwickelt sich auch sofort, als die beiden »Chefs« sich begegnen. Der Apparat steht nur fünf Schritte weit entfernt, es braucht nur einer den Knopf daran mit dem Finger zu drücken...

Ueber diese Schwierigkeiten unterrichtet, hat sich eine große, neugierige Volksmenge in der Nähe angesammelt.

Nach dem Concert haben sich auch Sebastian Zorn, Yvernes, Frascolin und Pinchinat nach dem Square begeben, um zu sehen, wie der Wettstreit enden wird. Bei der Stimmung, wie sie unter den Anhängern der beiden Männer herrscht, hat dieser Streit eine gewisse Bedeutung für die Zukunft.

Die beiden Notabeln treten vor, ohne sich auch nur durch eine schwache Neigung des Kopfes zu begrüßen.

»Ich erwarte, mein Herr, beginnt Jem Tankerdon, daß Sie mir nicht die Ehre streitig machen werden...

– Ganz dasselbe erwarte ich von Ihnen, mein Herr, erwidert Nat Coverley.

– Ich werde nicht zugeben, daß mir dieselbe hier öffentlich vorenthalten wird...

– Und ich ganz ebenso...

– Nun, wir werden la sehen!« ruft Jem Tankerdon, indem er schon einen Schritt nach dem Apparat hin thut.

Nat Coverley thut aber auch einen. Die Parteigänger der beiden Notabeln fangen an sich einzumischen. Von beiden Seiten her schallen aufhetzende Rufe. Natürlich ist Walter Tankerdon bereit, für die Rechte seines Vaters einzutreten, doch da er die Miß Coverley erblickt, hält er sich ein wenig bei Seite und fühlt sich offenbar nicht wenig verlegen.


Man gab sich im Parke den Sportübungen hin. (S. 141.)

Der Gouverneur ist, obwohl er den Oberintendanten zur Hilfe an der Seite hat, in heller Verzweiflung, die weiße Rose von York und die rothe von Lancaster nicht zu einem Sträußchen vereinigen zu können, denn wer konnte vorhersagen, ob dieser beklagenswerthe Wettstreit hier nicht ebenso traurige Folgen haben werde, wie der im 15. Jahrhundert für die englische Aristokratie.


Ein elektrisches Boot bringt die geretteten Schiffbrüchigen. (S. 147.)

Inzwischen nähert sich die Minute, wo die Spitze vom Standard-Island den Aequator schneiden soll. Bis auf eine Viertelsecunde genau berechnet, kann es [143] sich räumlich höchstens um einen Irrthum von acht Metern handeln. Jeden Augenblick kann nun von Observatorium aus das verabredete Signal gegeben werden.

»Halt! da kommt mir ein Gedanke! flüstert Pinchinat.

– Und der wäre?... fragt Yvernes.

– Ich werde den ganzen Apparat umzuwerfen versuchen, da werden die Kampfhähne wohl einig werden...

[144] [147]– Nein, thu' das nicht!« mahnte Frascolin, den Bratschisten mit kräftigem Arme aufhaltend.

Kurz, niemand weiß, wie die Sache ausgelaufen wäre, da donnert plötzlich eine Detonation durch die Luft...

Sie rührte jedoch nicht von der Rammspornbatterie her. Es war ein Kanonenschuß draußen auf dem Meere, den man deutlich hörte.

Die Menschenmenge schweigt.

Was kann diese Entladung eines Feuerschlundes zu bedeuten haben, der nicht zur Artillerie von Standard-Island gehört?

Ein aus dem Steuerbordhafen einlaufendes Telegramm bringt sofort die Erklärung.

Aus der Entfernung von zwei bis drei Meilen hat ein in Gefahr befindliches Schiff seine Nothlage gemeldet und verlangt Hilfe.

Ein glücklicher unerwarteter Zufall! Jetzt denkt keiner mehr daran, sich um den elektrischen Tastenknopf zu streiten oder die Linie feierlich zu begrüßen. Dazu gebricht es an Zeit. Die Linie ist passiert und der beabsichtigte Schuß in der Seele des Geschützes stecken geblieben. Für die Ehre der Familien Tankerdon und Coverley offenbar die erwünschteste Lösung des Knotens. Das Publicum strömt vom Square fort, und da die Tramwagen nicht mehr im Gange sind, wälzt sich alles zu Fuß nach dem Steuerbordhafen.

Gleich nach dem Krachen des Nothschusses hat der Hafencommandant die nöthigen Rettungsmaßregeln eingeleitet. Eines der im Hafen vertäuten elektrischen Boote ist bereits ausgelaufen, und als die Menschenmenge hier anlangt, bringt es schon die geretteten Schiffbrüchigen, deren Fahrzeug sehr bald in den Abgründen des Großen Oceans verschwand.

Dieses Fahrzeug war die malayische Ketsch, die Standard-Island schon seit der Abfahrt von den Sandwich-Inseln verfolgte.

[147]
11. Capitel
Elftes Capitel.
Die Marquisen-Inseln.

Am Morgen des 29. August läuft das Juwel des Stillen Oceans zwischen dem Archipel der Marquisen – unter 7 Grad 55 Minuten bis 10 Grad 30 Minuten südlicher Breite und 141 Grad bis 243 Grad 6 Minuten westlicher Länge von Paris – ein. Von der Gruppe der Sandwich-Inseln aus hat es eine Strecke von dreitausendfünfhundert Kilometern zurückgelegt.

Den auch vorkommenden Namen Mendana hat diese Gruppe davon, daß ein gleichnamiger Spanier deren südlichen Theil im Jahre 1595 entdeckte. Den Namen »Inseln der Revolution« führt sie davon, daß der Kapitän Marchand 1791 ihren nordwestlichen Theil besuchte; die Bezeichnung Archipel von »Nuka-Hiva« endlich von dem Namen der größten, dazu gehörigen Insel. Mit vollem Rechte könnte sie endlich den Namen Cook's führen, denn dieser berühmte Seemann lief schon 1774 hier ein.

Frascolin, der diese Mittheilungen vom Commodore Simcoë erhält, findet sie ganz logisch richtig, fügt aber hinzu:

»Man könnte sie ebensogut den »Französischen Archipel« nennen, denn auf den Marquisen befinden wir uns auch ein wenig in Frankreich.«

Ein Franzose erscheint in der That berechtigt, die elf Inseln und Eilande als ein heimisches Geschwader, das im Stillen Ocean verankert wäre, zu betrachten. Die größten wären dann die erstclassigen Schiffe »Nuka-Hiva« und »Hiva-Oa«; die mittleren die Kreuzer verschiedenen Ranges »Hiaou«, »Uapou« und »Uauka«; die kleinsten endlich die Avisos »Motane«, »Fatou-Hiva« und »Taou-Ata«, während die Eilande und Atolls einfache Pinassen und Boote wären – nur das alle nicht beweglich sind.

Am 1. Mai 1842 nahm der Befehlshaber des Geschwaders im Großen Ocean, der Contreadmiral Dupetit-Thouars, im Namen Frankreichs von dem Archipel Besitz. Zwei bis dreitausend Meilen trennen ihn von Amerika, Neuseeland, China, den Molukken und den Philippinen. Verdiente das Vorgehen des Contreadmirals nun Lob oder Tadel? Die Opposition tadelte, die Regierungskreise [148] lobten es. Jedenfalls erhielt Frankreich dadurch eine Flottenstation, wo seine Hochseefischer Zuflucht finden und sich verproviantieren können, und die dem Panamacanal, wenn er jemals vollendet wird, eine gewisse commercielle Bedeutung verleihen dürfte. Dieses Gebiet sollte durch die Besitznahme oder Unterschutzstellung von Pomotou und der Gesellschaftsinseln, die dessen natürliche Verlängerung bilden, erweitert werden. Da sich der britische Einfluß über den Nordwesten des ungeheuern Oceans erstreckt, wäre es recht wünschenswerth, daß der französische ihm im Südwesten die Wage hielte.

»Haben wir hier denn auch hinreichende militärische Kräfte? fragt Frascolin seinen gefälligen Cicerone.

– Bis 1859, antwortet der Commodore Simcoë befand sich auf Nuka-Hiva eine Abtheilung Marinesoldaten. Seit der Zurückziehung derselben ist die Behütung der Flagge den Missionären anvertraut, die sich diese nicht rauben lassen werden, ohne sie zu vertheidigen.

– Und heutigen Tages?...

– Finden Sie nur in Taio-Haë einen Residenten und einige Gendarmen und eingeborne Soldaten unter dem Befehle eines Officiers, der gleichzeitig die Functionen eines Schiedsrichters versieht.

– Bei Streitigkeiten der Eingebornen?

– Der Eingebornen und Colonisten.

– Es giebt also auch Colonisten auf Nuka-Hiva?

– Ja... etwa zwei Dutzend.

– Nicht einmal genug, ein volles Harmonieorchester zu bilden!«

In der That zählt der Archipel der Marquisen, der bei einer Länge von hundertfünfundneunzig Meilen und einer Breite von achtundvierzig Meilen eine Oberfläche von dreizehntausend Quadratkilometern hat, nicht mehr als vierundzwanzigtausend Bewohner. Das macht also einen Colonisten auf tausend Eingeborne.

Ob die Bevölkerung zunehmen wird, wenn ein neuer Verkehrsweg Nord- und Südamerika scheidet, muß die Zukunft lehren. Was aber die Bevölkerung Standard-Islands betrifft, so hat diese seit kurzer Zeit durch die am 5. August erfolgte Rettung der Mannschaft von der Ketsch einen Zuwachs erfahren.

Es sind zehn Mann, außer dem Kapitän. Dieser, ein Mann von energischem Aussehen, zählt gegen vierzig Jahre und nennt sich Sarol. Seine Matrosen sind kräftige Burschen, die von den äußersten Inseln Melanesiens herstammen. Vor [149] drei Monaten hatte sie Sarol mit einer Ladung Koprah nach Honolulu geführt. Als sich Standard-Island in dessen Nähe zehn Tage lang aufhielt, erregte die künstliche Insel das Erstaunen der Leute ebenso, wie das überall der Fall war. Wenn sie es auch, bei der Schwierigkeit, Zutritt zu erhalten, nicht besuchten, so segelte die Ketsch doch sehr häufig aus, um es aus möglichster Nähe zu besichtigen, wobei sie kaum eine halbe Kabellänge weit von der Küste diese umkreiste. Die fortwährende Anwesenheit dieses Fahrzeugs hatte ebensowenig einen Verdacht erweckt, wie der Umstand, daß es nur wenige Stunden nach dem Commodore Simcoë ebenfalls in See ging.

Als der Nothschuß ertönte, lag die Ketsch nur zwei bis drei Meilen weit draußen, und das ihr zu Hilfe eilende Rettungsboot gelangte noch zur rechten Zeit zu ihr hin, um den Kapitän und seine Leute aufzunehmen. Diese sprechen geläufig englisch, was bei Eingebornen des westlichen Stillen Oceans nicht zu verwundern ist, da daselbst der britische Einfluß das unbestrittene Uebergewicht hat. Sie erzählen, durch welche Umstände sie in Noth gerathen und daß die elf Malayen, wenn die Schaluppe nur wenige Minuten später an Ort und Stelle anlangte, vom Ocean verschlungen worden wären.

Nach Aussage der Leute war die Ketsch vierundzwanzig Stunden vorher, in der Nacht vom 4. zum 5. August, von einem Dampfer angerannt worden. Obwohl die Positionslichter des Kapitäns Sarol in Ordnung waren, waren sie von jenem doch nicht bemerkt oder nicht beachtet worden. Die Collision mochte für den Steamer ohne jede Bedeutung gewesen sein, denn er setzte ungestört seinen Weg fort, wenn er es – was ja leider so häufig vorkommt! – nicht etwa noch vorzog, mit vollem Dampf davonzufahren, »um sich kostspieligen und unangenehmen Schadenersatzansprüchen zu entziehen«.

Dieser Anprall aber, der für ein großes Schiff mit eisernem Rumpfe, das sehr schnell dahineilt, nichts zu bedeuten hatte, wurde dem Malayenfahrzeuge zum Verderben. Vor dem Fockmaste getroffen, kann man sich kaum erklären, daß es nicht sofort versunken war. Es hielt sich jedoch längere Zeit über dem Wasser, doch so, daß sich die Besatzung an die Schanzkleidung anklammern mußte. Bei einigermaßen schlimmem Wetter hätte keiner den Wellen widerstehen können, die dann über das halbe Wrack gestürmt wären. Zum Glück verlief hier die Strömung nach Osten und führte es damit mehr in die Nähe von Standard-Island. Immerhin spricht der Commodore seine Verwunderung darüber aus, daß die halb untergesunkene Ketsch sich noch bis in die Nähe des Steuerbordhafens habe treibend erhalten können.

[150] »Ich begreife das ebensowenig, antwortet der Malaye. Ihre Insel kann binnen vierundzwanzig Stunden nicht weit von der Stelle gekommen sein.

– Das ist vielleicht die einzig annehmbare Erklärung, erwidert der Commodore Simcoë. Doch gleichviel, Sie sind noch gerettet worden, das ist ja schließlich die Hauptsache.«

Es war übrigens die höchste Zeit gewesen, denn kaum hatte sich die Schaluppe von der Ketsch wieder um eine Viertelmeile entfernt, als diese vollends in die Tiefe versank.

So lautete der Bericht des Kapitäns Sarol, erst gegenüber dem Officier, der die Rettung bewerkstelligte, und dann gegenüber dem Commodore Simcoë, sowie dem Gouverneur Bikerstaff, nachdem man den Kapitän und seine Mannschaft mit dem Nothwendigsten versorgt hatte.

Nun entstand die Frage nach der Wiederheimführung der Schiffbrüchigen. Diese segelten nach den Neuen Hebriden, als die Collision stattfand. Standard-Island, das nach Südosten steuert, kann seinen Curs unmöglich ändern und nach Westen hin umkehren. Cyrus Bikerstaff bietet den Verunglückten deshalb an, sie in Nuka-Hiva ans Land zu setzen, wo sie ein nach den Neuen Hebriden segelndes Schiff abwarten könnten.

Der Kapitän und seine Leute sehen einander an. Sie scheinen sehr niedergeschlagen zu sein. Jenes Anerbieten betrübt die armen Leute, die mit der Ketsch und ihrer Fracht all ihr Hab und Gut verloren haben. Auf den Marquisen müßten sie doch eine unbestimmt lange Zeit warten, und wovon sollten sie da ihr Leben fristen?

»Herr Gouverneur, beginnt deshalb der Kapitän bittenden Tones, Sie haben uns gerettet und wir wissen nicht, wie wir unsre Dankbarkeit dafür zu erkennen geben sollen. Dennoch aber müssen wir Sie bitten, uns die endliche Heimkehr unter günstigeren Umständen zu ermöglichen.

– Ja, wie denken Sie das? fragt Cyrus Bikerstaff.

– In Honolulu hörten wir, daß Standard-Island nach einer Fahrt nach Süden sich nach den Marquisen, dann nach Pomotou und den Gesellschaftsinseln begeben werde, um endlich nach dem westlichen Theile des Stillen Oceans zu steuern.

– Das ist richtig, bestätigt der Gouverneur, und sehr wahrscheinlich setzt es seine Fahrt auch noch bis zu den Fidschi-Inseln fort, ehe es nach der Madeleinebay zurückkehrt.


Sarol vor dem Commodore Simcoë. (S. 150.)

[151]

– Oh, die Fidschi-Inseln, fährt der Kapitän fort, die sind englisches Besitzthum, und dort werden wir leichter Gelegenheit finden, nach den nicht mehr entfernten Neuen Hebriden zu gelangen. Wollten Sie uns also bis dorthin mitnehmen...


Die Touristen drangen in die Bestände der verschiedensten Bäume ein. (S. 157.)

– Darüber kann ich nichts versprechen, unterbricht ihn der Gouverneur. Es ist uns ausdrücklich untersagt, Fremden Passage zu gewähren. Warten wir also bis zur Ankunft in Nuka-Hiva. Dort werde ich mittelst Kabels bei der Direction in der Madeleinebay anfragen, und wenn sie dem zustimmt, nehmen wir Sie bis zu den Fidschis mit.«

[152] So kam es also, daß die Malayen an Bord von Standard-Island waren, als dieses am 29. August in Sicht der Marquisen eintraf.

Dieser Archipel liegt im Bereiche der Passatwinde, ebenso wie der von Pomotou und der Gesellschaftsinseln, denen diese Winde eine milde Temperatur und ein sehr gefundes Klima sichern.

Der Commodore Simcoë trifft in den ersten Morgenstunden vor der nordwestlichen Gruppe derselben ein. Er erblickt zuerst ein sandiges Atoll, das die Karten als das Koralleneiland bezeichnen und gegen welches das Meer bei der [153] gleichmäßig anhaltenden Strömung mit ungemeiner Heftigkeit anbrandet. Dieses Atoll bleibt zur Linken liegen, und bald signalisieren die Wachen eine erste Insel, Fetouou, deren Steilküsten gegen vierhundert Meter emporsteigen. Hinter dieser erscheint das sechshundert Meter hohe Hiaou, das von dieser Seite einen trostlosen Anblick bietet, während es auf der andern, die mit üppigem Grün bedeckt ist, zwei für kleinere Fahrzeuge zugängliche Buchten aufweist.

Frascolin, Yvernes und Pinchinat haben, Sebastian Zorn mit seiner ewigen schlechten Laune sich selbst überlassend, mit Ethel Simcoë und einigen seiner Officiere auf dem Thurme Platz genommen.

Hiaou bleibt ebenfalls an der Backbordseite liegen, ohne daß hier Halt gemacht wird. Man fährt dafür nach der Hauptinsel der Gruppe, von der diese ihren Namen erhalten hat und der sich jetzt das wunderbare Standard-Island angliedern soll, unmittelbar weiter.

Am frühen Morgen des 30. August sind unsre Pariser wieder auf dem Posten. Schon am Vorabend waren die Höhen von Nuka-Hiva sichtbar gewesen. Bei klarem Wetter zeigen sich die Bergketten desselben bereits in einer Entfernung von achtzehn bis zwanzig Lieues, denn einzelne Gipfel davon übersteigen zwölfhundert Meter Meereshöhe und gleichen einem riesigen Rücken längs der ganzen Küste.

»Sie sehen hier schon, bemerkt der Commodore Simcoë, eine allgemeine Eigenthümlichkeit dieses Archipels. Seine Berggipfel zeigen eine, mindestens unter dieser Zone auffällige Kahlheit, während die Vegetation, die in zwei Drittel der Höhe der Berge beginnt, bis auf den Grund der Thäler und Schluchten hinabreicht und sich bis zu dem weißen Sande des Ufers in prächtiger Entwicklung fortsetzt.

– Und dennoch, meint Frascolin, scheint es, daß gerade Nuka-Hiva von dieser allgemeinen Regel abweicht, wenigstens bezüglich des Pflanzenreichthums der mittelhohen Lagen. Es sieht mehr unfruchtbar aus...

– Nur weil wir von Nordwesten aus hierherkommen, belehrt ihn der Commodore. Sobald wir es im Süden umschifft haben, werden Sie über den Contrast erstaunen. Ueberall grünende Flächen, Wälder und dreihundert Meter hohe Wasserfälle...

– Ah, ruft Pinchinat, Wassermassen, die von der Spitze des Eiffelthurmes herabstürzen... das wäre schon etwas! Da könnte ja der Niagara eifersüchtig werden!

[154] – O nein, entgegnet Frascolin, der gleicht das durch seine Breite aus, denn sein Fall mißt volle neunhundert Meter von der amerikanischen bis zur canadischen Seite. Du mußt das doch wissen, Pinchinat, da wir ihn ja besucht haben.

– Ganz richtig, und ich bitte den Niagara hiermit um Verzeihung!« antwortet der Bratschist.

An diesem Tage gleitet Standard-Island in der Entfernung einer Meile längs der Küste hin. Ueberall zeigen sich kahle, bis zum centralen Plateau von Tovii aufsteigende Abhänge, überall eine Felsenküste, die nirgends einen Durchlaß zu bieten scheint. Nach Berichten des Seefahrers Brown soll es übrigens einige gute Ankerplätze geben, die in letzter Zeit aufgefunden worden sind.

Im Ganzen ist der Anblick von Nuka-Hiva, bei dessen Namen man an die herrlichsten Landschaftsbilder denkt, bisher ein recht trauriger. Doch – wie Dumoulin und Desgraz, die Begleiter Dumont d'Urville's bei dessen Reise nach Oceanien und dem Südpole, ganz richtig sagen, »alle Naturschönheiten drängen sich hier zusammen im Innern der Buchten und in den Thalschluchten der Verzweigungen der Bergkette, die sich im Mitteltheile der Insel erhebt«.

Nachdem Standard-Island, der öden Küste nahe, ihrem scharfen, nordwestlichen Ausläufer gefolgt ist, verändert es ein wenig seine Richtung durch Verminderung der Geschwindigkeit seiner Steuerbordschrauben, und umschifft das Cap Tchitchagoff, das von dem russischen Seefahrer Krusenstern seinen Namen erhalten hat. Die zurücktretende Küste bildet hier einen weiten Bogen, in dessen Mitte eine enge Fahrstraße Zugang nach dem Hafen von Taioa oder von Akani gewährt, von denen wenigstens der eine Schutz gegen die oft verheerenden Stürme des Großen Oceans bietet.

Der Commodore Simcoë hält sich auch hier nicht auf. Weiter südlich giebt es zwei andre Buchten, die von Anna Maria oder Taio-Haë in der Mitte und die des Comptroller oder der Taïpis an der Rückseite des Cap Martin, der äußersten Südostspitze der Insel. Hier vor Taio-Haë beabsichtigt man etwa zwölf Tage liegen zu bleiben.

Unfern von der Küste Nuka-Hivas zeigt die Sonde noch sehr große Tiefen. Am Eingange der Buchten finden sich vierzig bis fünfzig Faden Wasser. Man kann also bis sehr nahe an die Bucht von Taio-Haë herangehen, was im Laufe des Nachmittags des 31. August geschieht.

Kaum in Sicht des Hafens dröhnen Detonationen auf dessen rechter Seite und weißer Dampf wirbelt über die Steilküsten im Osten empor.

[155] »He, ruft Pinchinat, hier salutiert man unsre Ankunft mit Kanonendonner...

– O nein, antwortet Commodore Simcoë. Weder die Taïs noch die Happas, die Hauptstämme der Insel, besitzen Geschütze, womit sie nur den geringsten Salut abgeben könnten. Was Sie da hören, rührt von der Brandung des Meeres her, die in eine Höhle in halber Uferhöhe des Cap Martin einstürmt, und der dort sichtbare Dampf ist weiter nichts als Nebel von zerstäubten Wellen, die wieder nach außen schlagen.

– Das bedauere ich, sagt der Bratschist, denn ein Kanonenschuß ist dasselbe wie ein höflich abgenommener Hut.«

Die Insel Nuka-Hiva hat mehrere Namen – man könnte sagen, mehrere Taufnamen – die ihr von verschiednen, Pathen beigelegt wurden: die »Federale-Insel« durch Ingraham; die »Insel Beaux« durch Marchand; die »Insel Sir Henry Martin« durch Hergert; die »Insel Adam« durch Roberts und die »Insel Madison« durch Porter. Sie mißt siebzehn Seemeilen von Osten nach Westen, zehn von Norden nach Süden und hat einen Umfang von etwa vierundfünfzig Seemeilen. Ihr Klima ist sehr gesund. Die Temperatur daselbst ist zwar die der Tropenzonen, doch wird sie durch den Passatwind gemildert.

An diesem Halteplatze bedrohen Standard-Island weder schwere Windstöße, noch lästige Platzregen, denn in der Zeit vom April bis zum October herrschen hier die trocknen Südostwinde, die die Eingebornen Tuatuka nennen. Im October erreicht die Wärme, im November und December die Trockenheit den höchsten Grad. Von April bis October wehen die Winde nur von einer Richtung zwischen Norden und Osten her.

Was die Volkszahl des Archipels der Marquisen angeht, hat man von den Angaben der ersten Entdecker, die sie auf hunderttausend schätzten, sehr viel abziehen müssen.

Elisée Reclus nimmt, gestützt auf die besten Unterlagen, für die ganze Gruppe nur sechstausend Seelen an, wovon der größte Theil auf Nuka-Hiva allein entfällt. Zur Zeit Dumont d'Urville's zählte Nuka-Hiva zwar achttausend Bewohner; diese Zahl verminderte sich aber fortwährend. Die Ursache dazu liegt offen bar in der Vertilgung der Eingebornen – der Taïs, Happas, Taionas und Taïpis – durch lange Kriege, in der Entführung männlicher Individuen nach den Farmen in Peru, dem Mißbrauch geistiger Getränke, und – warum es verheimlichen? – in den Uebeln, die jede Eroberung mit sich bringt, selbst [156] wenn die Eroberer civilisierten Nationen angehören. – Während dieser Woche der Ruhe besuchen die Milliardeser sehr häufig Nuka-Hiva. Die vornehmsten Europäer, denen der Gouverneur von Standard-Island freien Zutritt gestattet, erwidern diese Besuche.

Auch Sebastian Zorn und seine Kameraden unternehmen weite Ausflüge, deren Reiz sie für die Anstrengung dabei reichlich entschädigt.

Die Bucht von Taio-Haë bildet einen Kreis mit schmalem Eingange, worin Standard-Island keinen Platz gefunden hätte, um so weniger, weil die Bucht noch von zwei Sandbänken getheilt wird. Die Sandbänke trennt wieder eine Art steiler Hügel, auf dem sich noch die Reste einer von Porter 1812 angelegten Befestigung erheben. Das war zur Zeit, wo der Genannte die Insel besetzte, wobei das Lager der Amerikaner auf der östlichen Sandbank aufgeschlagen war – eine Besitzergreifung, die von der Bundesregierung nicht gutgeheißen wurde.

An Stelle einer Stadt auf dem jenseitigen Ufer finden unsre Pariser nur ein recht bescheidnes Dorf, dessen Wohnhäuser unter Bäumen verstreut liegen. Dagegen münden hier prächtige Thäler, darunter das von Taio-Haë, worin viele Nuka-Hivaner wohnen. Es ist ein wahrer Hochgenuß, unter die dichten Bestände von Cocospalmen, Bananen, Casuarinen, Goyaven, Brodbäumen, Hibiscussträuchern und andern Arten einzudringen.

Die Touristen finden in den Hütten daselbst den freundlichsten Empfang. Da, wo sie vor hundert Jahren vielleicht aufgezehrt worden wären, können sie jetzt die aus Bananenmehl und Meiteig, dem gelblichen Satzmehl des Taro, hergestellten Brodkuchen kosten, die frisch ziemlich süß, altbacken aber säuerlich schmecken. Nach dem großen Rochen, der noch gegessen wird, und nach dem Haifischfleische, das die Eingebornen desto höher schätzen, je mehr es angefault ist, verspürten sie freilich keinen Appetit.

Athanase Dorémus begleitet sie zuweilen bei ihren Spaziergängen. Das Männchen hat diesen Archipel schon im vorigen Jahre besucht und macht sich jetzt als Führer nützlich. Wahrscheinlich ist er nicht besonders bewandert in der Naturgeschichte und verwechselt vielleicht die schöne Spondias cytherea, deren Früchte den Aepfeln gleichen, mit dem Pandanus odoratisimus, der dieses Beiwort völlig rechtfertigt, mit der Casuarina, deren Holz fast Eisenhärte hat, mit dem Hibiscus, dessen Rinde die Eingebornen zur Kleidung verwenden, mit dem Papayabaume oder mit der Gardenia florida. Das Quartett braucht jedoch nicht auf seine etwas verdächtigen Kenntnisse zurückzugreifen, wenn ihm die marquisanische [157] Flora prächtige Farren, stolze Polypoden, chinesische Rosenbäume mit rothen und weißen Blüthen, oder ihre Gramineen und Solaneen, darunter den Tabak, ihre Labiaten mit violetten Büscheln, die den jungen Mädchen der Insel als beliebter Schmuck dienen, die hohen Ricinusstauden, ihre Dracänen, ihr Zuckerrohr oder ihre Orangen- und Citronenbäume zeigte, die, erst vor Kurzem eingeführt, in dem sonnendurchwärmten, von zahlreichen Gebirgswässern benetzten Boden ganz vorzüglich gedeihen.

Da, eines Morgens, als das Quartett, einem Bergbache folgend, über das Dorf der Taïs bis zur Höhe der Gebirgskette aufgestiegen ist und sich ihm zu Füßen die Thäler der Taïs, der Taïpis und der Happas ausbreiten, da entringt sich ihm ein Ausruf der Bewunderung. Wären die Instrumente zur Hand gewesen, es hätte mit einem Meisterwerke der Musik auf diese Meisterwerke der Natur geantwortet, wenn auch ein paar Vögel die einzigen Zuhörer gewesen wären. Und sie ist obendrein so hübsch, die Kurukurutaube, die in diesen Höhen fliegt, so reizend, die kleine Salangane, und der Phaëton, der ständige Gast der Schluchten von Nuka-Hiva, flattert in gar so launischen Kreisen durch die laue Luft.

Von einem giftigen Reptil hat man auch tief drinnen in den Wäldern nichts zu fürchten. Kaum zwei Fuß lange Boas, die ebenso unschuldig sind wie eine Natter, und Simquen, deren azurblauer Schwanz mehr einer Blume ähnelt, kommen gar nicht in Betracht.

Die Eingebornen zeigen einen bemerkenswerthen Typus. Man erkennt an ihnen den asiatischen Charakter, als Beweis eines ganz andern Ursprungs, als dessen der übrigen oceanischen Völkerschaften. Von mittlerer Größe, sind sie sehr regelmäßig gebaut, stark in der Musculatur und breit in der Brust. Sie haben seine Gliedmaßen, ovales Gesicht, hohe Stirn, dunkle Augen mit langen Wimpern, eine Adlernase, weiße, regelmäßige Zähne, weder rothe noch weiße, sondern wie die Araber bräunliche Haut, und Gesichtszüge, worin sich Heiterkeit und Sanftmuth gleichzeitig widerspiegeln.

Tätowierungen kommen fast gar nicht mehr vor – jene Tätowierungen, die nicht durch Einschnitte in die Haut, sondern durch seine Stiche ausgeführt wurden, welche man mit Kohlenpulver von der Aleurita triloba einpuderte. Dieses Verfahren ist durch die... Baumwollstoffe der Missionäre außer Mode gekommen.

»Diese Leute, sagt Yvernes, sind ein recht schöner Menschenschlag, jetzt aber doch vielleicht minder schön als damals, wo sie nur mit einem Schurz [158] bekleidet, mit den Haaren als einzige Kopfbedeckung und Pfeil und Bogen schwingend umherzogen.«

Diese Bemerkung fiel gelegentlich eines Ausflugs nach der Comptrollerbucht in Gesellschaft des Gouverneurs. Eyrus Bikerstaff hatte seine Gäste nach genannter Bucht zu führen gewünscht, die ebenso wie La Valette verschiedne Häfen einschließt, und in den Händen der Engländer wäre Nuka-Hiva ohne Zweifel zum Malta des Stillen Oceans geworden. Hier siedelt der Stamm der Happas auf fruchtbarem Boden mit einem kleinen Flusse, der von einem rauschenden Wasserfalle gespeist wird. Hier spielten sich auch in der Hauptsache die Kämpfe des Amerikaners Porter mit den Eingebornen ab.

Die Bemerkung Yvernes' verlangte eine Antwort, und der Gouverneur gab sie, indem er sagte:

»Vielleicht haben Sie Recht, Herr Yvernes. Die Marquisaner sahen einst stattlicher aus mit dem Lendenschurz, dem Maro und dem Pareo mit leuchtenden Farben, dem Ahu bun, einer Art wehender Schärpe, und mit ihrer Tiputa, einer Art mexikanischen Ponchos. Gewiß kleidet sie das moderne Costüm nicht besonders gut. Doch, Verfall ist einmal die Folge der Civilisation. Zur selben Zeit, wo unsre Missionäre daran gehen, die Eingebornen zu bekehren, nöthigen sie sie auch, sich etwas weniger lückenhaft zu bekleiden.

– Thun sie denn da nicht recht daran, Herr Gouverneur?

– In Rücksicht auf gesellschaftliche Formen, ja; vom hygienischen Gesichtspunkte aus betrachtet, nein! Seit sie anständiger gekleidet gehen, haben diese wie andre Insulaner ebenso an angeborner Kraft, wie an natürlicher Heiterkeit verloren. Sie langweilen sich, und das zehrt an ihrer Gesundheit. Früher kannten sie keine Bronchitis, keine Lungenentzündung, keine Sckwindsucht...

– Und seit sie nicht mehr ganz nackt gehen, holen sie sich den Schnupfen! ruft Pinchinat.

– Ganz richtig; hier sehen wir eine ernste Ursache des Untergangs der Rasse.

– Woraus ich schließe, läßt der Bratschist sich vernehmen, daß Adam und Eva erst seit dem Tage gehustet und geniest haben, wo sie Rock und Hosen trugen, nachdem sie aus dem irdischen Paradies vertrieben waren, was uns, ihren entarteten und doch verantwortlichen Kindern, die schönen Brustkrankheiten eingebracht hat.

– Uns, Herr Gouverneur, fragt Yvernes, schien es so, als ob die Frauen dieses Archipels weniger schön wären als die Männer...

[159] – Ebenso wie auf den andern Inselgruppen, antwortet Cyrus Bikerstaff, und doch sehen Sie hier den vollendetsten Typus der Oceanier vor sich. Sollte das nicht ein Naturgesetz sein, das den Rassen, die sich dem Zustande der Wildheit nähern, gemeinschaftlich ist? Trifft es nicht ebenso für die Thierwelt zu, wo wir allemal sehen, daß die männlichen Thiere die weiblichen an physischer Schönheit übertreffen?

– O, ruft Pinchinat, man muß wirklich bis zu den Antipoden gehen, um eine derartige Beobachtung, deren Richtigkeit unsre hübschen Pariserinnen nie zugeben würden, zu machen!«

Unter der Bevölkerung Nuka-Hivas giebt es nur zwei Classen, die dem Gesetze des Tabu unterworfen sind. Dieses Gesetz wurde von den Starken gegen die Schwachen, von den Reichen gegen die Armen erfunden, um sich ihre Vorrechte und ihren Besitz zu erhalten.

Das Tabu hat als Farbe weiß, und Gegenstände, die »tabuiert« sind, z. B. geheiligte Orte, Grabdenkmäler oder Häuptlingswohnungen, dürfen die kleinen Leute nicht berühren. Deshalb giebt es eine »Tabu-Classe«, zu der die Priester, die Zauberer oder Touas, die Akarkis oder Civilhäuptlinge gehören, und eine nicht dadurch geschützte Classe, der die Frauen und das gemeine Volk zugezählt werden. Und es ist nicht allein verboten, unter dem Tabu stehende Gegenstände zu berühren, sondern man darf auch nicht einmal die Blicke darauf richten.

»Und dieses Gesetz, fügt Cyrus Bikerstaff hinzu, wird auf den Marquisen ebenso streng gehandhabt, wie auf Pomotou oder den Gesellschaftsinseln, und ich würde Ihnen nicht rathen, meine Herren, gegen dasselbe zu verstoßen.

– Hörst Du es, braver Zorn? sagt Frascolin. Hüte Deine Hände und nimm Deine Augen in Acht!«

Der Violoncellist begnügt sich mit einem Achselzucken, als gingen ihm derlei Dinge gar nichts an.

Am 5. September hat Standard-Island den Ankerplatz bei Taio-Haë wieder verlassen. Es läßt im Osten die Insel Houa-Houna (Kuhuga), die östlichste der ersten Gruppe, liegen, von der nur die grünen Höhen in der Entfernung sichtbar werden und der es an jedem Strande gebricht, da sie überall von senkrecht abfallenden Ufern begrenzt wird. Natürlich verlangsamt Standard-Island auf der Fahrt längs dieser Inseln seine Geschwindigkeit, denn wenn eine solche Masse schnell vorüberglitte, würde das eine Sturmfluthwelle erzeugen, die alle Boote auf's Land werfen und die Ufer überschwemmen müßte. Man hält sich [160] [163]auch auf einige Kabellängen entfernt von Uapou, das mit seinen vielen Basaltnadeln einen merkwürdigen Anblick bietet. Zwei Buchten, die eine mit dem Namen »Possession«, die andre mit der Bezeichnung »Bai de Bon-Accueil« verrathen hierdurch, daß sie Franzosen als Taufpathen gehabt haben. In der That hatte der Kapitän Marchand hier einmal die Flagge Frankreichs gehißt.


Kabelboje zur Herstellung der telephonischen Verbindung mit Amerika. (S. 163.)

Weiterhin und sich nach den Gewässern der zweiten Gruppe wendend, steuert Ethel Simcoë auf Hiva-Oa, oder mit ihrem spanischen Namen, die Insel Dominica zu. Vulcanischen Ursprungs und die größte des Archipels, mißt sie sechsundfünfzig Meilen im Umfange. Sehr deutlich kann man ihre aus schwärzlichem Gestein aufgebauten Steilufer sehen, ebenso wie die Wasserfälle, die sich von den mit üppigem Grün bedeckten Hügeln ihres Innern herabstürzen.

Eine Meerenge von drei Meilen Breite trennt diese Insel von Taou-Ata. Da Standard-Island diese nicht passieren konnte, mußte es letztere im Westen umschiffen, wo in die Bay Madre de Dios – auch Resolutions- oder Cooksbucht – die ersten europäischen Schiffe einliefen. Für diese Insel wäre es vortheilhafter. nicht so nahe bei Hiva-Oa zu liegen. Dann würde es weniger leicht zu Zank und Streit zwischen beiden kommen, und die Bewohner könnten sich nicht mit solcher Wuth hinschlachten, wie es jetzt der Fall ist.

Nachdem man noch an der unfruchtbaren, schutzlosen und unbewohnten Insel Motane vorübergekommen war, nimmt der Commodore Simcoë seine Richtung nach Fatou-Hiva, der alten »Insel Cook's«. Sie besteht eigentlich nur aus einem ungeheuern Felsen, auf dem es von Vögeln der Tropenzone wimmelt, aus einer Art Zuckerhut von drei Meilen Umkreis.

Das ist das letzte südwestliche Eiland, das die Milliardeser am 9. September nachmittags aus den Augen verlieren. Seiner Reiseroute gemäß steuert Standard-Island nun nach Südwesten, um zum Archipel von Pomotou zu gelangen, dessen mittleren Theil es durchschiffen soll. Die Witterung im September, der dem März der nördlichen Halbkugel entspricht, hält sich immer vorzüglich.

Am Morgen des 11. September hat eine Schaluppe des Backbordhafens eine der großen Bojen angelaufen, die eines der Kabel der Madeleinebay trägt. Das Ende des mit einer Guttaperchalage gänzlich isolierten Kupferdrahtes wird mit den Apparaten des Observatoriums verbunden, so daß nun eine telephonische Unterhaltung mit jenem Küstenpunkte Amerikas ermöglicht ist.

Die Direction der Standard-Island Company wird wegen der Schiffbrüchigen von der malayischen Ketsch darum befragt, ob dem Gouverneur zugestanden [163] wird, jene bis nach den Fidschi-Inseln mitzunehmen, von denen aus sie ihre Heimat leichter erreichen können.

Die Antwort lautet zustimmend, Standard-Island erhält sogar die Genehmigung, nach Westen bis zu den Neuen Hebriden zu gehen, um die Schiffbrüchigen daselbst ans Land zu setzen, vorausgesetzt, daß die Notabeln von Milliard-City dem zustimmen.

Cyrus Bikerstaff theilt das dem Kapitän Sarol mit, und dieser bittet den Gouverneur, den Directoren in der Madeleinebay dafür seinen Dank auszusprechen.

12. Capitel
Zwölftes Capitel.
Drei Wochen auf Pomoton.

Das Quartett würde fürwahr eine empörende Undankbarkeit beweisen, wenn es sich Calistus Munbar nicht dafür verpflichtet fühlte, es, wenn auch etwas verrätherischer Weise, nach Standard-Island gebracht zu haben. Die Pariser Künstler werden hier ja hochgeehrt, fast angebetet und von Milliard-City mehr als freigebig bezahlt. Sebastian Zorn brummt zwar unablässig weiter, denn ein Stacheligel wird sich niemals in eine Katze mit sammetweichem Fell verwandeln; jedoch Yvernes, Pinchinat und Frascolin selbst hätten sich nie ein herrlicheres Leben träumen lassen. Eine Reise ohne Gefahren und Beschwerden über den wundervollen Stillen Ocean! Ein heilsames und wegen der zweckmäßigen Ortsveränderung stets gleichbleibendes Klima. Konnten die vier Franzosen, so fragen wir jeden vernünftigen Menschen, sich wohl nach der Zeit zurücksehnen, wo sie die Städte der großen Republik bereisten, jetzt, wo sie hier, an den Eifersüchteleien der beiden Feldlager unbetheiligt, gleichsam die tönende Seele der Schraubeninsel bildeten, wo sie bei der Familie Tankerdon, der ersten auf der Backbordhälfte, ebenso freundliche Aufnahme fanden, wie bei der Familie Coverley, der ersten auf der Steuerbordseite, wo sie vom Gouverneur und dessen Adjuncten im Stadthause, vom Commodore Simcoë und seinen Officieren im Observatorium, vom Colonel Stewart und dessen Miliz so hochgeehrt wurden, wo sie die Feierlichkeiten [164] im Tempel ebenso wie die Ceremonien in der Saint-Mary Church unterstützten und sie ihnen wohlgewogne Leute in beiden Häfen, in den öffentlichen Werken, wie unter allen Beamten und Angestellten fanden? Wer könnte so sehr sein eigner Feind sein, daß er sie nicht darum beneidet hätte?

»Sie werden mir noch die Hände küssen!« hatte der Oberintendant bei ihrem ersten Gespräche mit diesem geäußert.

Und wenn sie es noch nicht gethan hatten und auch jetzt nicht thaten, so liegt das nur daran, daß man eine Männerhand überhaupt nicht küßt.

Eines Tages sagte Anastase Dorémus, in seiner Art der Glücklichste der Sterblichen, zu ihnen:

»Ich lebe nun fast zwei Jahre auf Standard-Island und würde es bedauern, daß es deren nicht schon sechzig wären, auch wenn man mir versicherte, daß ich nach sechzig Jahren noch hier weilte...

– O, Sie haben ja, fiel Pinchinat ein, allen Anspruch auf wenigstens hundert Jahre!

– Glauben Sie ja, Herr Pinchinat, daß ich diese Zeit gern abwarten werde. Warum sollte man auf Standard-Island sterben?

– Weil man am Ende überall einmal stirbt...

– Doch nicht hier, bester Herr; eben so wenig wie im himmlischen Paradiese!«

Was sollte man hiergegen sagen? Immerhin kam es von Zeit zu Zeit vor, daß selbst auf dieser reizenden Insel Einer die Augen schloß. Dann beförderten die Dampfer seine Ueberreste nach den fernen Friedhöfen der Madeleinebay. Entschieden soll man in dieser Welt nie ganz glücklich sein.

Immerhin schweben einige dunkle Punkte am Horizonte, ja sie nehmen nach und nach die Form mit Elektricität überladner Wolken an, die über kurz oder lang Unwetter und Stürme bringen können. Die beklagenswerthe Rivalität zwischen den Tankerdon's und den Coverley's, eine Rivalität, die sich immer mehr zuspitzt, wirkt allmählich beunruhigend. Ihre Parteigänger machen mit ihnen gemeinschaftliche Sache. Werden beide Theile einmal an einander gerathen? Ist Milliard-City von Unruhen und Aufruhr bedroht? Wird der Arm der Verwaltung kräftig und die Hand Cyrus Bikerstaff's fest genug sein, den Frieden zwischen diesen Monteccchi und Capuletti zu erzwingen? Wer konnte das wissen? Bei den beiden Rivalen, deren Eigenliebe ohne Grenzen zu sein schien, mußte man sich auf alles gefaßt machen.

[165] Seit dem Auftritte, zu dem es bei der Passage der Linie kam, sind die beiden Milliardäre erklärte Feinde. Ihre Freunde halten zu ihnen. Zwischen den beiden Inselhälften hat jeder Verkehr aufgehört. Schon von ferne weicht man einander aus und bei keiner Begegnung geht es ohne drohende Gesten und wilde Blicke ab. Es verbreitet sich sogar das Gerücht, daß der frühere Händler von Chicago und einige Backbordstädter ein großes Handelshaus zu gründen beabsichtigten, daß sie von der Compagnie die Genehmigung verlangt hätten, ungeheure Anlagen zu errichten, daß sie hunderttausend Schweine einführen und sie hier schlachten und pökeln und auf den verschiednen Archipelen des Großen Oceans verkaufen wollten...

Hiernach kann man sich wohl vorstellen, daß das Haus Tankerdon's und das Coverley's zu zwei Pulverkammern wurden, bei denen ein Fünkchen genügte, sie und Standard-Island mit ihnen in die Luft zu sprengen. Man darf ja nicht vergessen, daß es sich um ein über den Tiefen des Meeres schwimmendes Bauwerk handelte. Eine solche Explosion konnte freilich nur eine – wenn der Ausdruck erlaubt ist – »geistige« sein, sie legte dann aber doch noch die Gefahr nahe, daß die Notabeln bald daran denken würden, von hier wegzuziehen. Das wäre aber ein Entschluß, der die ganze Zukunft und jedenfalls die finanzielle Lage der Standard-Island Company schwer in Frage stellte.

Ueberall siedet und gährt es also und es drohen auch materielle Katastrophen. Wer weiß, ob die letzteren nicht unerwartet kommen werden!

Die Behörden hätten sich auch etwas weniger in Sicherheit einwiegen und den Kapitän Sarol mit seinen Malayen, die hier so gastliche Aufnahme gefunden hatten, etwas schärfer im Auge behalten sollen. Diese Leute benehmen sich nicht etwa verfänglich, sie sind mundfaul, halten sich beiseite und drängen nicht, Verbindungen anzuknüpfen, sondern genießen das Wohlergehen, dessen sie sich auf ihren wilden Neuen Hebriden mit Bedauern erinnern werden. Sie scheinen demnach zu keinem Verdachte Ursache zu geben? Und doch! Jeder aufmerksame Beobachter würde bemerkt haben, daß sie ohne Unterlaß Standard-Island durchstreifen, Milliard-City aufs genaueste kennen zu lernen sachen, so als wollten sie einen ausführlichen Plan davon aufnehmen. Man trifft sie im Park und auf dem Lande. Sie erscheinen oft im Backbord- wie im Steuerbordhafen und beobachten das Ein- und Auslaufen der Schiffe. Man sieht sie auf weiten Spaziergängen das Ufer aufmerksam betrachten, wo die Zollbeamten Tag und Nacht scharf aufpassen, und die Batterien besuchen, die die Insel am Vorder- und [166] am Hintertheile vertheidigen. Da die Malayen gar nichts zu thun hatten, erschien das alles ja ganz natürlich und veranlaßte niemand, gegen ihr Thun und Treiben Verdacht zu schöpfen.

Bei nur langsamer Fahrt gelangt der Commodore Simcoë allmählich weiter nach Süden. Yvernes, der sich ganz verändert hat, seitdem er ein »schwimmender Insulaner« geworden ist, überläßt sich ganz dem Genusse dieser Fahrt, dem sich auch Frascolin und Pinchinat nicht entziehen können. Sie verleben herrliche Stunden im Casino, wo man ihre vierzehntägigen Concerte mit Strömen von Gold honoriert. Jeden Morgen unterrichten sie sich aus den Zeitungen von Milliard-City, denen die neuesten Nachrichten durch die Kabel zugehen, über alle Vorkommnisse in der Gesellschaft, der Wissenschaft, der Kunst und der Politik. Bezüglich der letzteren ist vorzüglich zu bemerken, daß die englische Presse nie aufhört, sich über diese bewegliche Insel zu beklagen, die den Stillen Ocean als Gebiet für ihre Fahrten benützt. Auf Standard-Island, wie in der Madeleinebay legt man auf solche Nörgeleien freilich keinen Werth.

Wir erwähnen hier auch, daß Sebastian Zorn und seine Kameraden in den Nachrichten aus der Fremde schon seit mehreren Wochen lesen konnten, daß die amerikanischen Zeitungen ihr plötzliches Verschwinden meldeten, was bei dem Rufe, den das berühmte Concert-Quartett überall genoß, natürlich großes Aufsehen erregen mußte. San Diego hatte es am bestimmten Tage nicht zu sehen bekommen, und von San Diego war auch der erste Alarmruf ausgegangen. Eifrige Nachforschungen ergaben schließlich, daß die Künstler sich an Bord der Schraubeninsel befanden, wohin sie von der Küste Niedercalifornicus durch eine listige Ueberrumpelung verlockt worden waren. Da sie gegen diese Entführung aber keinen officiellen Widerspruch erhoben, kam es nicht zu einem diplomatischen Notenwechsel zwischen der Compagnie und der Bundesregierung. Das Quartett mochte ja wissen, daß es allemal willkommen war, wenn es ihm zurückzukehren beliebte.

Freilich mußten die beiden Violinen und die Bratsche dem Violoncell Schweigen gebieten, der nicht bös darüber gewesen wäre, wenn der Zwischenfall zu einer Kriegserklärung zwischen der Neuen Welt und dem Juwel des Stillen Oceans geführt hätte. Die Künstler hatten übrigens seit ihrer unfreiwilligen Einschiffung wiederholt nach Frankreich geschrieben, auch von ihren dadurch beruhigten Familien erhielten sie wiederholt Nachricht, denn alle Correspondenz wurde hier ebenso regelmäßig und sicher besorgt, wie etwa zwischen Hamburg und New-York.

[167] Eines Morgens – am 17. September – empfindet Frascolin, als er sich in der Bibliothek des Casinos befindet, das sehr natürliche Verlangen, die Karte des Pomotou-Archipels, dem sie zusteuern, zu studieren. Kaum hat er den Atlas aufgeschlagen und einen Blick auf diesen Theil des Großen Oceans geworfen, da ruft er ganz verblüfft:


Die Malayen beobachten alle Vorgänge auf der Propeller-Insel. (S 166.)

»Sapperment, wie wird es Ethel Simcoë anfangen, sich durch dieses Chaos hindurchzuwinden? Durch diesen Haufen von Inseln und Eilanden kann es für ihn kaum einen Weg geben... Das sind ja viele Hunderte!... Ein richtiger Haufen [168] von Kieselsteinen inmitten eines Sumpfes!... Er wird anstoßen, scheitern oder hier oder da sitzen bleiben Dann werden wir zu ansässigen Leuten in dieser Gruppe, die noch mehrgliedriger ist, als unser Morbihan der Bretagne!«


Die Insel Amann, deren Lagune mit dem Meere in Verbindung steht. (S. 171.)

Frascolin hat damit nicht Unrecht. Das Departement Morbihan zählt nur dreihundertfünfundsechzig Inseln – gerade so viel wie das Jahr Tage – der Archipel von Pomotou hat davon aber gut die doppelte Menge. Das sie umgebende Meer enthält freilich einen Gürtel von Korallenriffen, der – nach Elisée Reclus – wohl sechsundfünfzig Lieues Umfang hat.

[169] Bei Betrachtung der Karte wird aber jeder erstaunen, daß ein Schiff und noch weitmehr ein Bauwerk wie Standard-Island in diesen Archipel einzudringen wagt, denn er besteht zwischen dem siebzehnten und achtundzwanzigsten Grade südlicher Breite und dem hundertvierunddreißigsten und hundertsiebenundvierzigsten Grade westlicher Länge aus mindestens siebenhundert Inseln und Eilanden nur zwischen Mata-Hiva und der Insel Pitcairn.

Da ist es kein Wunder, daß diese Gruppen verschiedne Bezeichnungen erhalten haben, unter andern die des »Gefährlichen Archipels« oder des »Schlimmen Meeres«. Daneben führen sie aber noch den Namen der »Niedrigen Inseln«, der »Tuamotou-Inseln« (Entfernten Inseln), ferner der »Südlichen Inseln« und der »Der Nacht«, sowie den der »Geheimnißvollen Länder«. Was den Namen Pomotou oder Pamautou betrifft, der die »Unterworfnen Inseln« bedeutet, so hat eine 1850 in Papaëte, der Hauptstadt von Tahiti, zusammengetretene Versammlung dagegen Einspruch erhoben. Doch obwohl die französische Regierung dem 1852 Rechnung trug und unter vorgenannten Namen den Namen Tuamotou wählte, so dürfte es sich hier doch mehr empfehlen, die allgemeine bekannte Bezeichnung »Pomotou« beizubehalten.

So gefährlich die Schiffahrt hier auch sein mag, schreckt der Commodore Simcoë davor doch keinen Augenblick zurück. Er kennt diese Meere so genau, daß man sich auf ihn verlassen kann. Er steuert seine Insel so leicht wie ein Boot. Frascolin kann sich wegen Standard-Islands beruhigen; die Landspitzen von Pomotou werden den eisernen Rumpf desselben nicht einmal berühren.

Am Nachmittag des 19. melden die Wachen des Observatoriums das erste Auftauchen einer Gruppe in etwa zwölf Meilen Entfernung. Die Inseln hier sind nämlich auffallend niedrig. Ueberragen auch einige von ihnen das Meer um etwa vierzig Meter, so erheben sich vierundsiebenzig davon kaum eine halbe Toise und würden aller vierundzwanzig Stunden zweimal überfluthet werden, wenn die Gezeiten – Ebbe und Fluth – hier nicht gleich Null wären. Die übrigen sind bloße, von starker Brandung umtoste Atolls, Korallenbänke ohne jede Vegetation, einfache Klippen, die sich in derselben Richtung wie der Archipel fortsetzen.

Standard-Island kommt von Osten her nach der Gruppe, um die Insel Anaa anzulaufen, die als wichtigster Platz jetzt von Fakarava ersetzt ist, seitdem Anaa 1878 durch einen furchtbaren Cyclon zum Theil zerstört worden ist, wobei sehr viele Menschen umkamen und Verwüstungen bis zur Insel Kaukura hin angerichtet wurden.

[170] Zunächst bemerkt man aus drei Meilen Entfernung Vahitahi. Wegen der Strömungen und der weit nach Osten hinausreichenden Klippen gilt es in diesem gefährlichsten Theile des Archipels die größte Vorsicht zu beobachten. Vahitahi besteht eigentlich nur aus einer Anhäufung von Korallen mit drei bewaldeten Eilanden in der Umgebung, deren Hauptdorf auf dem nördlichsten liegt.

Am nächsten Morgen erblickt man die Insel Akiti, deren Klippen mit Bryonia, Purpurpfirsichen, einem gelblichen Grase und mit welligem Borretsch bedeckt sind. Sie unterscheidet sich von den andern Inseln dadurch, daß sie keine innere Lagune hat. Dadurch, daß sie die Durchschnittshöhe der übrigen übertrifft, ist sie schon aus etwas größrer Entfernung sichtbar.

Am nächsten Tage zeigt sich eine andre unbedeutende Insel, Amanu, deren Lagune mittelst zweier Durchbrüche mit dem Meere in Verbindung steht.

Während die Bevölkerung von Milliard-City nichts anders verlangt, als ungestört durch den Archipel hinzugleiten, den sie schon im Vorjahre besucht hat, und zufrieden ist, dessen Wunder im Vorüberfahren zu genießen, hätten sich Pinchinat, Yvernes und Frascolin gewünscht, daß hier einmal angehalten würde, was ihnen Gelegenheit gegeben hätte, die durch die Arbeit der Polypen entstandnen, also wie Standard-Island künstlichen Inseln näher zu besichtigen.

»Die unsrige, bemerkt dazu der Commodore Simcoë, hat nur die Fähigkeit der freien Fortbewegung...

– Leider gar zu sehr, erwiderte Pinchinat, weil sie niemals anhält.

– Sie wird bei den Inseln Hao, Anaa und Fakarava Halt machen, und Sie, meine Herren, werden Muße haben, diese zu durchstreifen.«

Auf die Frage nach der Art der Entstehung dieser Inseln, entwickelt Ethel Simcoë die fast allgemein angenommene Theorie, nach der sich der Boden dieses Theiles des Stillen Oceans um etwa dreißig Meter gesenkt habe. Auf dessen wasserüberdeckten Gipfeln hätten die Zoophyten, die Polypen eine feste Basis gefunden um ihre Korallenbauten aufzurichten. Nach und nach wären diese Bauten in Folge der Thätigkeit von Infusorien, die in größrer Tiefe nicht gedeihen konnten, bis über die Oberfläche emporgewachsen und hätten diesen Archipel gebildet, dessen Inseln in Barren und kleinere oder größere Atolls zerfallen. Unter letzteren versteht man alle, die noch eine innere Lagune aufweisen. Durch Sturm und Wellen wurden dann Pflanzenbestandtheile darauf geworfen, die schließlich eine Humusschicht bildeten. Als die Winde derselben hierauf auch Samenkörner zuführten, erhob sich die Vegetation auf den Korallenringen. [171] Der kalkhaltige Boden bedeckte sich mit Gräsern und Pflanzen, mit Büschen und Bäumen, wozu das warme Klima nicht wenig beitrug.

»Und wer weiß, rief Yvernes in einem Ausbruch von prophetischem Enthusiasmus, ob der vom Großen Ocean verschlungne Continent nicht einmal wieder zur Oberfläche heraufsteigt. Dann werden hier, wo Dampfer und Segler verkehren, vielleicht Schnellzüge dahineilen, die die Alte und die Neue Welt verbinden....

– Abwarten... abwarten, alter Jesaias!« ruft ihm Pinchinat respectlos zu.

Wie der Commodore Simcoë gesagt hatte, hielt Standard-Island am 23. September vor der Insel Hao an, der es sich bei der großen Wassertiefe sehr weit nähern konnte. Seine Boote bringen einige Besucher durch die rechte, von Cocosbäumen besetzte Einfahrt nach dem Lande. Hier muß man noch fünf Meilen zurücklegen, um nach dem größten, auf einem Hügel gelegnen Dorfe zu gelangen. Auch dieses zählt nur zwei- bis dreihundert Einwohner, meist Perlmutterfischer, die für tahitische Handelshäuser thätig sind. Hier giebt es in Ueberfluß jene Pandanus und Mikimikis-Myrthen, die ersten Bäume eines Bodens, auf dem jetzt das Zuckerrohr, die Ananas, der Taro, die Bryonia, der Tabak und vorzüglich die Cocospalme gedeihen, von welch' letzterer die Insel über vierzigtausend Exemplare enthält.

Dieser »Baum der Vorsehung« gedeiht fast ohne jede Pflege. Seine schwarze Nuß dient den Eingebornen als Nahrung und übertrifft als solche weit die Früchte des Pandanus. Mit ihr füttern sie ihre Schweine, ihr Geflügel und selbst ihre Hunde, die man wieder mit Vorliebe verspeist. Daneben liefert die Cocosnuß auch ein vortreffliches Oel, wenn sie, zerrieben und an der Sonne gedörrt, nur einem mäßigen Drucke ausgesetzt wird. Die Schiffe führen von hier ganze Ladungen jener Koprah nach dem Continente aus, wo man sie weit besser auszunützen versteht.

In Hao darf man sich über die Bevölkerung Pomotous kein Urtheil bilden wollen, dazu sind hier der Eingebornen zu wenige. Dagegen hat das Quartett jene besser auf Anaa beobachten können, vor dem Standard-Island am Morgen des 27. September eintrifft.

Anaa mit seinen prächtigen Wäldern erblickt man erst aus geringer Entfernung. Als eine der größten Inseln des Archipels hat es fünfzehn Meilen Länge und, an seiner madreporischen Basis gemessen, nenn Meilen Breite.

Wir erwähnten schon, daß es 1878 durch einen Cyclon verheert wurde, der es nöthig machte, den Hauptort des Archipels nach Fakarava zu verlegen.

[172] Bei dem so mächtigen Klima der Tropenzone hätte man freilich erwarten können, daß die angerichteten Schäden sich nach wenigen Jahren wieder ausglichen. In der That hat sich Anaa auch soweit erholt, daß es zur Zeit fünfzehnhundert Einwohner zählt.

Gegen Fakarava bleibt es indeß immer darum im Nachtheil, daß hier die Verbindung mit dem Meere nur durch eine enge Wasserstraße mit starker Strömung nach außen möglich ist, während die Lagune von Fakarava zwei breite Durchgänge, im Norden und im Süden, besitzt. Doch wenn sich der Hauptmarkt für Cocosöl auch nach letzterer Insel gewendet hat, so lockt das malerische Anaa doch noch alle Besucher an.

Nachdem Standard-Island sich unter den günstigsten Verhältnissen festgelegt hat, lassen sich viele Milliardeser nach dem Lande befördern. Sebastian Zorn und seine Kameraden sind unter den ersten, denn auch der Violoncellist hat sich bewegen lassen, an dem Ausfluge theilzunehmen.

Nachdem sie sich unterrichtet hatten, auf welche Weise diese Insel einst entstand – übrigens war das ganz ebenso, wie bei den übrigen zugegangen – wenden sie sich zuerst nach dem Dorfe Tuahora. Der Kalkrand oder der Korallenring hat hier eine Breite von vier bis fünf Metern, erhebt sich nach dem Meere zu ziemlich steil, fällt aber nach der Lagune zu, die wie in Rairoa und Fakarava etwa hundert Seemeilen Umfang hat, ziemlich sanft ab. Auf diesem Ring stehen tausende von Cocosbäumen, die den hauptsächlichsten, um nicht zu sagen, den einzigen Reichthum der Insel bilden.

Tuahora wird von einer sandigen, durch ihr glänzendes Weiß auffallenden Straße durchschnitten. Der französische Resident wohnt nicht mehr hier, seit Anaa seine Rolle als Hauptort ausgespielt hat. Die von einer schwachen Umwaltung geschützte Wohnung besteht aber noch heute, und über der Kaserne der kleinen Besatzung, die unter dem Befehl eines Marine-Sergeanten steht, weht die dreifarbige Fahne.

Die übrigen Wohnungen von Tuahora sind auch keine eigentlichen Hütten, sondern bequeme, gesunde, ziemlich gut ausgestattete Häuschen, die der Mehrzahl nach auf Korallengrund errichtet wurden. Pandanusblätter bilden ihre Bedachung, und das Holz dieses kostbaren Baumes diente zur Herstellung von Thüren und Fenstern. Da und dort sind sie von Gemüsegärten umgeben, für die die nöthige Erde erst weit herbeigeschafft werden mußte und die im allgemeinen einen reizenden Anblick gewähren.

[173] Vertreten die Eingebornen hier mit einer mehr schwärzlichen Haut auch keinen so ausgesprochnen Typus und ist ihre Physiognomie weniger ausdrucksvoll, ihr Charakter minder liebenswürdig als der der Bewohner der Marquisen, so dürfen sie doch als gute Muster der Bevölkerung im äquatorialen Ocean betrachtet werden. Intelligente und fleißige Arbeiter, wie sie es sind, leisten sie der physischen Degeneration, die die Eingebornen des Stillen Oceans bedroht, voraussichtlich auch bessern Widerstand.

Ihre Hauptindustrie besteht, wie Frascolin sich überzeugen konnte, in der Gewinnung des Cocosöls, woraus sich auch die überraschende Menge von Cocospalmen in den Pflanzungen des Archipels erklärt. Diese Bäume entwickeln sich hier ebenso leicht, wie die Korallenbildungen auf der Oberfläche der Atolle.

Sie haben aber einen Feind, den die Pariser Ausflügler auch kennen lernen sollten, als sie sich eines Tages auf dem Strand des innern Sees gelagert hatten, dessen grünes Wasser so auffallend gegen das Blau des Himmels absticht.

Da wird plötzlich erst ihre Verwunderung und dann ihr Entsetzen durch ein rasselndes Geräusch im Buschwerk erregt.

Was zeigt sich ihren Blicken? – Eine Crustacee von ungeheurer Größe.

Sofort springen sie auf die Füße und starren das Unthier an.

»Pfui, die häßliche Bestie! ruft Yvernes.

– Das ist eine Krabbe!« antwortet Frascolin.

In der That war es eine Krabbe (Taschenkrebs), und zwar der sogenannte Birgo der Eingebornen, von denen es auf der Insel so viele giebt. Ihre Vorderfüße bilden zwei kräftige Scheeren, womit sie die ihnen zur Nahrung dienenden Nüsse zu öffnen vermögen. Diese Birgos leben auf dem Lande in einer Art Dachsbauten, die sie zwischen den Baumwurzeln aushöhlen und mit Cocosfasern tapezieren.

Meist in der Nacht suchen sie die heruntergefallenen Nüsse, klettern jedoch im Nothfall auch auf die Bäume und werfen die Cocosnüsse selbst hinunter. Die Krabbe hier muß, wie Pinchinat sagt, furchtbar vom Hunger geplagt worden sein, da sie ihr dunkles Versteck am hellen Tage verlassen hatte.

Man läßt das Thier ungestört, um es bei seinem Thun und Treiben beobachten zu können. Dieses bemerkt eine große Nuß zwischen dem Gesträuch; von derselben entfernt es zunächst mit den Scheeren die Fasern der Schaale und schlägt und hämmert dann tüchtig auf die nackte Hülle. Nachdem die Nuß geöffnet ist, zieht der Birgo den Inhalt mit seinen sehr scharf zulaufenden Hinterfüßen heraus.

[174] »Offenbar, meint Yvernes, hat die Natur den Birgo zum Oeffnen der Cocusnüsse geschaffen.

– Ja, und die Cocosnuß, um dem Birgo als Nahrung zu dienen, setzt Frascolin hinzu.

– Und wenn wir nun die Absicht der Natur vereitelten, indem wir die Krabbe hindern, diese Nuß zu verzehren und diese Nuß von der Krabbe verzehren zu lassen? fällt Pinchinat ein.

– Ich bitte Euch, sie nicht zu belästigen, sagt Yvernes. Wir wollen auch bei Landkrabben keine schlechte Vorstellung von Parisern, die sich auf Reisen befinden, erwecken!«

Alle stimmten dem zu, und die Krabbe, die erst einen grimmigen Blick auf »Seine Hoheit« geworfen hat, belohnt mit einem dankbaren Blicke die erste Geige des Concert-Quartetts.

Nach sechsstündigem Aufenthalt vor Anaa steuert Standard-Island nach Norden weiter und durch das Gewirr von Inseln und Eilanden, durch die es der Commodore Simcoë mit kundiger Hand hindurchführt. Milliard-City ist während der Fahrt zu Gunsten der Küste und vorzüglich der Nachbarschaft der Rammspornbatterie ziemlich entvölkert. Immer sind Inseln in Sicht oder richtiger herrliche Blumenkörbe, die auf dem Wasser schwimmen, so daß man einen Blumenmarkt auf einem holländischen Canal vor Augen zu haben glaubt. Zahlreiche Piroguen tummeln sich in der Nähe der beiden Häfen umher, doch verwehren ihnen die Hafenbeamten nach strengem, darüber erhaltenem Befehl die Einfahrt. Viele eingeborne Frauen kommen sogar schwimmend herbei, wenn die bewegliche Insel nahe dem madreporischen Ufer dahingleitet. Daß sie die Männer nicht in den Booten begleiten, rührt daher, daß diese Fahrzeuge für das schönere Geschlecht von Pomotou unter Tabu stehen, so daß sie darin also nicht Platz nehmen dürfen.

Am 4. October hielt Standard-Island vor Fakarava, am südlichen Eingange zu demselben, an. Bevor die Boote zur Ueberführung von Besuchern abstoßen, erscheint der französische Resident im Steuerbordhafen, von wo aus der Gouverneur Befehl giebt, ihn nach dem Stadthause zu geleiten.

Die Zusammenkunft gestaltet sich sehr herzlich. Cyrus Bikerstaff hat das officielle Aussehen, das er bei Ceremonien dieser Art anzunehmen pflegt. Der Resident, ein alter Officier von der Marine-Infanterie, giebt ihm darin nichts nach, man kann sich unmöglich ein Paar ernstere, würdigere und höflichere Leute [175] als die beiden Herren vorstellen. Nach dem Empfang besichtigt der Resident Milliard-City, wobei ihn Calistus Munbar begleitet. In ihrer Eigenschaft als Franzosen schließen sich unsre Pariser mit Athanase Dorémus dem Oberintendanten an, und dem Residenten macht es eine wahre Freude, hier mit Landsleuten zusammenzutreffen.

Am nächsten Tag erwidert der Gouverneur dem alten Officier in Fakarava seinen Besuch und Beide nehmen wieder die officiellen Gesichter von gestern an. Ans Land gekommen, begiebt sich das Quartett nach der Residenz... eine sehr einfache Wohnstätte mit einer Garnison von einem Dutzend alter Seesoldaten. Ueber dem Laufe flattert die französische Flagge im warmen Winde.

Obwohl Fakarava die Hauptstadt des Archipels geworden ist, kann es sich, wie gesagt, mit Anaa doch nicht vergleichen. Das Dorf – denn den Namen einer Stadt verdient es nicht – liegt nicht so malerisch unter dem Grün der Bäume, und auch seine Bewohner sind minder seßhafter Natur. Abgesehen von der Fabrikation von Cocosöl, die in Fakarava selbst betrieben wird, beschäftigt sich die Einwohnerschaft mit dem Einsammeln von Perlenmuscheln. Der Vertrieb der Perlmutter, die sie dabei gewinnen, zwingt sie zu häufigem Besuche der Nachbarinsel Toau, wo die Bearbeitung derselben erfolgt. Als kühne Taucher zögern die Eingebornen nicht, bis zur Tiefe von zwanzig bis dreißig Metern hinabzugehen und sind nicht nur an den starken Druck, dem sie dabei unterliegen, sondern auch daran gewöhnt, den Athem länger als eine Minute anzuhalten.

Einzelnen Fischersleuten wurde es gestattet, ihre Beute von dem Fange, Perlmutter oder Perlen, selbst den Notabeln von Milliard-City anzubieten. An dergleichen Schmucksachen fehlt es den reichen Damen der Stadt zwar gewiß nicht, da es jedoch überaus schwierig ist, sich diese Naturproducte in rohem Zustande zu verschaffen und sich hier Gelegenheit dazu bietet, kaufen sie von den Fischern alles zu unglaublich hohen Preisen. Wenn Mrs. Tankerdon eine kostbare Perle erwirbt, muß Mrs. Coverley natürlich ihrem Beispiele folgen.


Eine Crustacee von ungeheurer Größe zeigte sich vor ihnen. (S. 174.)

Zum Glück kam es nicht zum gegenseitigen Ueberbieten auf ein- und denselben Gegenstand, denn niemand weiß, wie weit das gegangen wäre. Andre Familien lassen es sich auch nicht nehmen, es ihren Freunden nachzuthun, und heute hatten, wie man in der Seemannssprache zu sagen pflegt, die Fakaravier »eine vortreffliche Fluth«.

Nach zehn Tagen, am 13. October, setzt sich das Juwel des Stillen Oceans in früher Morgenstunde wieder in Bewegung. Von dem Hauptorte Pomotous [176] aus gelangt es nun nach der westlichen Grenze des Archipels. Dem Commodore Ethel Simcoë vermag die fast unglückliche Anhäufung von Inseln und Eilanden, Klippen und Atolls in keiner Weise in Verlegenheit zu bringen.

Er windet sich, ohne den geringsten Stoß erlitten zu haben, aus dem »Schlimmen Meere« heraus, und vor ihm liegt nun der Theil des Großen Oceans der durch einen Zwischenraum von vier Graden, den Archipel von Pomotou von dem der Gesellschaftsinseln trennt. Hier schwenkt das von [177] zehn Millionen Pferdekräften getriebene Standard-Island etwas nach Südwesten ab und steuert nun dem von Bougainville so begeistert gepriesenen, zauberhaft schönen Tahiti zu.

13. Capitel
Dreizehntes Capitel.
Auf Tahiti.

Der Archipel der Gesellschaftsinseln oder von Tahiti liegt zwischen 15°52' und 17°49' südlicher Breite und zwischen 150°8' und 156°30' westlicher Länge von Paris. Er bedeckt gegen zweitausendzweihundert Quadratkilometer.

Zwei gesonderte Gruppen bilden denselben: 1. Die Inseln des Windes, Taïti oder Tahiti-Tahaa, Tapamanoa, Eimeo oder Morea, Tetiaroa und Meetia, die unter französischer Schutzherrschaft stehen; 2. Die Inseln Unter dem Winde, Tubuai, Manu, Huahine, Raiatea-Thao, Bora-Bora, Mossy-Iti, Maupiti, Mapetia, Bellingshausen und Scilly, die von eingebornen Häuptlingen beherrscht werden. Die Engländer nennen sie Georgsinseln, obgleich ihr Entdecker Cook sie zu Ehren der Königlichen Gesellschaft in London den »Archipel der Gesellschaftsinseln« getauft hatte. Zweihundertfünfzig Seemeilen von den Marquisen gelegen, zählt diese Gruppe nach den neuesten Aufnahmen vierzigtausend eingeborne und fremde Bewohner.

Von Nordost aus ist Tahiti die erste der Inseln des Windes, die vor dem Auge der Seefahrer auftaucht. Die Wachposten des Observatoriums signalisieren sie auch schon aus weiter Ferne, da der Maiao oder Diademberg eintausendzweihundertneununddreißig Meter über das Meer emporragt.

Die Fahrt hierher ist ohne Unfall verlaufen. Unterstützt vom Passatwinde hat Standard-Island die prächtigen Gewässer durchschnitten, über denen die Sonne jetzt dem Wendekreis des Steinbocks zueilt. Noch zwei Monate und einige Tage, und sie wird ihn erreicht haben, wird darauf nach dem Aequator hin zurückkehren und auf der Schraubeninsel wird, mit der Sonne im Zenith, mehrere [178] Wochen lang eine starke Hitze herrschen, und schließlich wird diese jener in gemessner Entfernung nachfolgen.

Die Milliardeser sollen jetzt zum erstenmale bei Tahiti Aufenthalt nehmen. Vergangnes Jahr wurde die Fahrt zu spät angetreten. Sie waren nach Westen nicht weiter als bis Pomotou gekommen und dann gleich wieder nach dem Aequator hin umgekehrt. Der Archipel der Gesellschaftsinseln ist aber gerade der schönste im Stillen Ocean. Bei der Fahrt durch denselben sind unsre Pariser auch des Lobes übervoll über den Reiz der Fortbewegung eines Bauwerks, dem es freisteht, sich Lage und Klima nach Belieben auszuwählen.

»Ja, wir werden aber noch sehen, wie dieses unsinnige Abenteuer ausläugft! schloß Sebastian Zorn in gewohnter Weise.

– Ich wünschte nur, daß es niemals ein Ende nähme!« rief Yvernes.

Mit dem Morgenrothe des 17. Octobers trifft Standard-Island in Sicht von Tahiti, und zwar gegenüber dessen Nordküste, ein. Während der Nacht war der Leuchtthurm der Venusspitze gepeilt worden. Es wäre heute noch Zeit gewesen, bis vor die nordwestlich und jenseits dieser Landspitze gelegne Hauptstadt Papeete zu gelangen. Nun war aber der Rath der Notabeln zusammengetreten. Wie in allen solchen Fällen befehden sich darin zwei Parteien. Die eine, unter der Führung Jem Tankerdon's, spricht sich für einen westlichen, die andre, mit Nat Coverley, für einen östlichen Curs aus. Cyrus Bikerstaff, dem bei Meinungsverschiedenheiten die entscheidende Stimme zukommt, erklärt darauf, daß man nach Papeete mittelst Umschiffung der Insel im Süden gehen werde. Diese Entscheidung kann dem Quartett nur höchst gelegen kommen, denn sie gestattet ihm, die ganze Schönheit dieser Perle des Oceans, der Neuen Kythera Bougainville's, zu bewundern.

Tahiti hat eine Oberfläche von tausendundzweiundvierzig Quadratkilometern. Seine Bevölkerung, die sich 1876 auf siebentausend Eingeborne, dreihundert Franzosen und elfhundert andre Ausländer belief, zählt jetzt nicht mehr als siebentausend Köpfe. Geometrisch zeigt es genau die Form einer Kürbisflasche, deren weiten Theil die Hauptinsel bildet, welche mit dem von der Halbinsel Tatarapu gebildeten Halse durch den schmalen Isthmus von Taravao zusammenhängt.

Frascolin war es, der diesen Vergleich anstellte, da er eine in großem Maßstabe gehaltene Karte des Archipels studiert hat, und seine Kameraden finden jenen so zutreffend, daß sie Tahiti noch auf den neuen Namen »Die Kürbisflasche der Tropen« taufen.

[179] Seit Errichtung der Schutzherrschaft am 9. September 1842 zerfällt Tahiti administrativ in sechs Aemter, die in einundzwanzig Bezirke zerstückelt sind. Noch sind die Schwierigkeiten nicht vergessen, wozu es damals zwischen dem Admiral Dupetit-Thouars, der Königin Pomare und England kam, und zwar in Folge der Aufhetzungen jenes verächtlichen Bibel-Baumwollenhändlers, der sich Pritchard nannte und der in den »Guêpes« Alphonse Karr's so geistvoll carikiert wurde.

Doch das gehört der Geschichte an und es wird davon jetzt ebensowenig gesprochen, wie von den Thaten des angelsächsischen Krämers.

Standard-Island kann sich bis auf eine Meile an die Küste der Kürbisflasche der Tropen heranwagen. Diese Flasche ruht nämlich auf Korallenuntergrund, der ganz steil in die Tiefen des Oceans abfällt. Ehe man aber so nahe herankommt, haben die Milliardeser ihre imposante Masse, ihre von der Natur mehr als die der Sandwich-Inseln begünstigten Berge, ihre grünenden Gipfel und waldigen Thäler, ihre Pics, die wie die Pinakeln eines gothischen Domes aufstreben, und ihren Gürtel von Cocospalmen, der sich im Schaume der Brandung badet, bewundern können.

Im Laufe des Tages und während der Fahrt längs der Westküste haben alle Neugierigen vom Steuerbordhafen aus, das Lorgnon vor den Augen – natürlich führt ein jeder Pariser ein solches mit sich – die tausend Einzelheiten der Küste betrachten können; den Bezirk Papenoo, in dessen breiten Thale am Fuße der Berge man einen Fluß gewahrt, der sich an einer Stelle, wo sich auf der Strecke von einigen Meilen kein Riffgürtel erhebt, in den Ocean ergießt; ferner Hitiaa, einen recht sichern Hafen, von dem aus ungezählte Millionen von Orangen nach San-Francisco ausgeführt werden, und endlich Mahaena, wo die Eroberung der Insel 1845 nur nach heftigem Kampfe mit den Eingebornen ihren letzten Abschluß fand..

Des Nachmittags kommt man gegenüber der schmalen Landzunge von Taravao an. Die Halbinsel umschiffend, nähert der Commodore Simcoë sich dieser genug, um die fruchtbaren Gefilde von Tautira ebenso erkennen zu können, wie die zahlreichen Wasserläufe, die daraus eines der reichsten Gebiete des Archipels machen. Auf einem Teller von Korallen ruhend, sendet Tatarapu majestätisch die rauhen Abhänge seiner erloschenen Krater zum Himmel empor.

Mit dem nahen Untergange der Sonne kleiden diese sich noch einmal in glühenden Purpur, die Schattierungen werden milder und die Farben schmelzen [180] zu warmen, durchsichtigen Dünsten zusammen. Bald erscheint alles nur noch als unbestimmte Masse, von der aus der Duft der Orangen- und Citronenbäume sich mit dem Abendwinde verbreitet. Nach sehr kurzer Dämmerung ist es vollständig Nacht geworden.

Standard-Island umschifft noch die äußerste südwestliche Ecke der Insel und schwimmt mit Tagesanbruch vor der Westküste des Isthmus.

Der fleißig cultivierte und volkreiche Bezirk Taravao hat zwischen den Orangenwäldern treffliche Straßen, die ihn mit dem Bezirk Papeari verbinden. Auf seinem höchsten Punkte liegt ein Fort, das beide Seiten des Isthmus beherrscht und dessen wenige Kanonen außerhalb der Schießscharten eine nach unten weisende Mündung ihrer Rohre zeigen. Im Hintergrunde dehnt sich der Phaëtonhafen aus.

»Warum glänzt der Name jenes tollkühnen Lenkers des Sonnenwagens auf diesem Isthmus?« fragt sich Yvernes.

Bei langsamer Fahrt folgt man ihren, den Korallenuntergrund mehr aufweisenden Conturen, die die Westküste Tahitis kennzeichnen. Neue Bezirke von wechselndem Aussehen tauchen nach einander auf: Papeïri mit zuweilen sumpfigen Ebenen, Mataiea, der herrliche Hafen von Papeuriri, dann ein langes, von dem Vaihiriaflusse durchströmtes Thal, und im Hintergrunde ein fünfhundert Meter hoher Berg, der fast einem Waschtische mit einem einen halben Kilometer weiten Becken darauf ähnelt. Dieser alte, jedenfalls mit Süßwasser erfüllte Krater scheint mit dem Meere in gar keiner Verbindung zu stehen.

Nach dem Bezirke Ahauraono, wo Baumwolle in großer Menge gebaut, und nach dem von Papara, in dem ebenfalls starker Landbau getrieben wird, sieht man von Standard-Island aus und jenseit der Landspitze von Mara das große Thal von Paruvia, das sich vom Diademberge herabzieht und vom Punarun bewässert wird. Jenseit Taapunas, der Talaospitze und der Mündung der Faa wendet sich der Commodore Simcoë ein wenig nach Nordost, vermeidet geschickt das Eiland Motu-Uta und trifft am Abend um sechs Uhr vor dem Einschnitte ein, der den Zugang nach der Bay von Papeete bildet.

Am Eingange zeigt sich der in wunderlichen Windungen durch das Korallenriff verlaufende Canal, den bis zur Farentespitze kaum je gebrauchte Kanonen kennzeichnen. Selbstverständlich braucht Ethel Simcoë, Dank seinen Karten, hier keine Lootsen, wie die Walfängerschiffe, die vor dem Canale liegen. Bald erscheint ein Boot mit gelber Flagge. Es ist »die Sanität«, die Gesundheitspolizei, die im [181] Steuerbordhafen Erkundigungen einzieht. Man ist auf Tahiti sehr streng und niemand darf hier ans Land geben, ohne von dem Hafenarzte, der in Begleitung eines Officiers erscheint, dazu Erlaubniß erhalten zu haben.

Im Steuerbordhafen angelangt, setzt sich der Arzt sofort mit den Behörden von Standard-Island in Verbindung. Es handelt sich nur um eine Formalität. Kranke giebt es weder in Milliard-City, noch in dessen Umgebung. Jedenfalls sind alle epidemischen Krankheiten, wie Cholera, Influenza, Gelbes Fieber u. dgl., hier unbekannt. Nach Gebrauch wird also ein »reines Patent« gewährt. Doch da nach dem schwachen Versuche einer Dämmerung schon die Nacht hereinbricht, verschiebt man die Ausschiffung bis zum folgenden Morgen, und Standard-Island entschlummert in Erwartung des kommenden Tages.

Mit dem Morgenrothe krachen Schüsse. Die Rammspornbatterie begrüßt mit einundzwanzigfachem Donner die Inselgruppe und Tahiti, die Hauptstadt des französischen Protectorats. Gleichzeitig hebt und senkt sich auf dem Thurme des Observatoriums dreimal die rothe Flagge mit goldner Sonne.

Von der Batterie an der Spitze der großen Einfahrt nach Tahiti wird der Salut Schuß für Schuß erwidert.

Schon zu früher Stunde ist der Steuerbordhafen sehr belebt. Die Trambahnen bringen eine große Menge Touristen, die nach der Hauptstadt des Archipels wollen, und Sebastian Zorn und seine Kameraden gehören darunter zu den ungeduldigsten. Da die Boote der Schraubeninsel nicht alle aufzunehmen vermögen, bieten sich sogleich Eingeborne an, die Fremden über die kurze, sechs Kabellängen messende Strecke zwischen dem Steuerbordhafen und der Insel zu befördern.

Der Gouverneur muß natürlich zuerst übergeführt werden, da er sich den Civil- und Militärbehörden Tahitis vorstellen und auch einen Besuch bei der Königin machen muß.

Gegen neun Uhr morgens nehmen Cyrus Bikerstaff, seine Adjuncten Barthelemy Ruge und Hubert Harcourt, alle in großer Uniform, in der Galaschaluppe Platz. Ihnen schließen sich noch die ersten Notabeln beider Stadthälften, darunter Nat Coverley und Jem Tankerdon, der Commodore Simcoë nebst seinen Officieren in glänzenden Uniformen, sowie Colonel Stewart nebst Begleitung an, und alle begeben sich nach dem nahen Hafen von Papeete.

Sebastian Zorn, Frascolin, Yvernes und Pinchinat, sowie Athanase Dorémus und Calistus Munbar besteigen mit noch einigen städtischen Beamten ein [182] andres Boot. Viele Canots und Piroguen der Eingebornen geben der officiellen Welt von Milliard-City das Geleite.

Der Hafen von Papeete ist ganz ausgezeichnet und von solcher Tiefe, daß selbst die größten Schiffe darin vor Anker gehen können. Er hat drei Zugänge: den sogenannten Canal, der siebzig Meter breit und achtzig lang, doch durch eine kleine, mit Baken bezeichnete Untiefe verengt ist, und daneben den Canal von Tanoa im Osten und den von Tapuna im Westen des ersteren.

Majestätisch gleiten die elektrischen Schaluppen vor dem mit Villen und Lusthäusern bedeckten Strande und längs der Quais mit den daran vertäuten Schiffen hin. Die Landung erfolgt am Fuße eines schönen Springbrunnens, der gleichzeitig als Sammelbecken dient und von den rauschenden Rios der benachbarten Berge, unter denen einer den semaphorischen Apparat trägt, überreichlich gespeist wird.

Cyrus Bikerstaff und sein Gefolge verlassen ihr Boot unter dem Zulaufe der eingebornen und fremdländischen Bevölkerung, die das Juwel des Stillen Oceans als das außerordentlichste Wunderwerk des menschlichen Geistes mit lautem Jubel begrüßt.

Nachdem der erste Enthusiasmus beim Empfange verrauscht ist, begeben sich die Neuangekommenen nach dem Palaste des Gouverneurs von Tahiti.

Calistus Munbar, der in seiner nur für besondre Ceremonien bestimmten Galatracht ganz prächtig aussieht, ladet das Quartett ein, ihn zu begleiten, und dieses beeilt sich, dem Wunsche des Oberintendanten Folge zu leisten.

Das französische Protectorat erstreckt sich nicht nur auf die Inseln Tahiti und Morea, sondern auch auf die benachbarten Gruppen. Der Chef desselben ist ein hoher Civilbeamter mit einem ihm unterstellten Befehlshaber, der die Heeres- und Marineangelegenheiten besorgt, die Finanzen der Colonie und der Stadt überwacht und die gerichtliche Verwaltung ordnet. Dem Generalsecretär des Chefs fallen die Civilangelegenheiten des Landes zu. Auf den Inseln, wie auf Morea, auf Fakarava im Pomotouarchipel und auf dem zu Nuka-Hiva gehörigen Taio-Haë befinden sich stellvertretende Residenten und ein Friedensrichter, der zum Ressort der Marquisen gehört. Seit 1861 besteht auch ein berathender Ausschuß für Handel und Landwirthschaft, der jährlich einmal in Papeete zusammentritt. Hier befindet sich auch die Direction der Artillerie und die Leitung des Geniewesens. Die Garnison setzt sich aus Abtheilungen der Colonial-Gendarmerie und der Marine-Artillerie und- Infanterie zusammen. Ein Pfarrgeistlicher [183] nebst einem Vicar, die von der Inselverwaltung berufen werden, und neun auf die verschiednen Gruppen vertheilte Missionäre überwachen die Ausübung des katholischen Cultus. Die Pariser können wirklich glauben, in Frankreich, in einem heimatlichen Hafen zu sein, und das gewährt ihnen eine große Befriedigung.


Das große Thal von Paruvia. (S. 181.)

Die Dörfer der verschiednen Inseln werden von einer Art eingebornem Gemeinderath verwaltet. In diesem führt ein Tavana den Vorsitz, und ihn unterstützen ein Richter, ein Mutoï Häuptling und zwei von den Bewohnern erwählte Beisitzer.


[184]
Die Landung erfolgt am Fuße eines Springbrunnens. (S. 183.)

Im Schatten herrlicher Bäume wandelt die ganze Gesellschaft nach dem Gouvernementspalaste. Ueberall erheben sich schön gewachsene Cocospalmen, Perubalsambäume mit röthlichem Laubwerk und ganze Haine von Orangenbäumen, Goyaven, Kautschukbäumen u. s. w. Der Palast steht inmitten dieses Grüns, das er kaum mit dem Dache überragt. Er zeigt in seiner Façade ein elegantes Aeußere und besteht aus einem Erd- und einem Obergeschoß. Hier haben sich die höchsten Beamten versammelt und die Colonial-Gendarmerie macht die Honneurs.

[185] Der Civilgouverneur empfängt Cyrus Bikerstaff in einer so liebenswürdigen Weise, wie sie dieser in den englischen Archipelen der weitern Umgebung gewiß nicht zu bemerken gehabt hätte. Er dankt ihm dafür, Standard-Island in die Gewässer des Archipels geführt zu haben, und hofft, daß der Besuch, den Tahiti leider zu erwidern nicht im Stande sei, sich alljährlich wiederholen werde. Die Zusammenkunft währt eine halbe Stunde und endigt mit der Abmachung, daß Cyrus Bikerstaff die hiesigen Behörden am nächsten Tage im Stadthause von Milliard-City erwarten werde.

»Gedenken Sie einige Zeit bei Papeete zu verweilen? fragt der Civilgouverneur.

– Etwa vierzehn Tage lang, antwortet Bikerstaff.

– Dann werden Sie das Vergnügen haben, eine französische Flottendivision zu sehen, die gegen Ende dieser Woche eintreffen dürfte.

– Wir werden uns glücklich schätzen, Herr Gouverneur, sie auf unsrer Insel freundlichst zu empfangen.«

Cyrus Bikerstaff stellt die Personen seines Gefolges vor, seine Adjuncten, den Commodore Ethel Simcoë, den Befehlshaber der Miliz, die verschiednen Beamten, den Oberintendanten der schönen Künste und die Künstler des Concert-Quartetts, die hier einen Empfang finden, wie er Landsleuten zukommt.

Zu einiger Verlegenheit kommt es wegen der Vertreter der beiden Hälften von Milliard-City. Wie soll man der Eigenliebe Jem Tankerdon's und Nat Coverley's gleichzeitig genug thun, die beide das Recht haben... »Gleichzeitig zu marschiren«, bemerkt Pinchinat, einen berühmten Vers Scribe's parodierend.

Diese Schwierigkeit wird von dem Civilgouverneur selbst überwunden. Von der Rivalität der beiden berühmten Milliardeser unterrichtet, entwickelt er solchen Takt, solche diplomatische Gewandtheit, daß die Sache so glatt verläuft, als wenn sie schon im voraus geregelt gewesen wäre. Ohne Zweifel hätte der Chef eines englischen Protectorats bei gleicher Gelegenheit noch Feuer ins Pulver geworfen, um der Politik des Vereinigten Königreichs einen Dienst zu erweisen. Zu einem ähnlichen Fehlgriff kommt es hier im Palaste des Civilgouverneurs nicht, und hochbefriedigt von dem Empfange zieht sich Cyrus Bikerstaff mit seinem Gefolge zurück.

Es versteht sich von selbst, daß Sebastian Zorn und seine Kameraden die Absicht hatten, den schon ganz außer Athem gerathenen Athanase Dorémus seine Wohnung in der Fünfundzwanzigsten Avenue wieder aufsuchen zu lassen.

[186] Sie selbst wollten so viel wie möglich in Papeete verweilen, dessen Umgebungen besuchen, Ausflüge nach den wichtigsten Bezirken unternehmen und auch die Halbinsel Tatarapu durchwandern, kurz, sie wollten die »Kürbisflasche des Stillen Oceans« bis zum letzten Tropfen leeren.

Von dem von ihnen gefaßten Beschlusse machen sie auch Calistus Munbar Mittheilung und der Oberintendant billigt ihn in allen Stücken.

»Ich empfehle Ihnen nur, sagt er, achtundvierzig Stunden zu warten, bevor Sie sich aufmachen.

– Ja, warum denn nicht heute? fragt Yvernes, der schon vor Ungeduld brennt, den Wanderstab zu ergreifen.

– Weil die Behörden von Standard-Island erst noch der Königin ihre Aufwartung machen wollen und es angezeigt erscheint, daß auch Sie Ihrer Majestät und deren Hofe vorgestellt werden.

– Und morgen?... fragt Frascolin weiter.

– Morgen wird der Civilgouverneur des Archipels den Behörden von Standard-Island den erhaltnen Besuch erwidern, und es gehört sich doch...

– Daß auch wir dabei sind, antwortet Pinchinat. Nun gut, wir werden zur Stelle sein, Herr Oberintendant.

Vom Palast des Gouverneurs aus begiebt sich Cyrus Bikerstaff mit seinem Gefolge nach dem Ihrer Majestät – eine einfache Promenade unter Bäumen hin, die kaum eine Viertelstunde in Anspruch nimmt.

Die königliche Wohnung liegt sehr schön in dichter grüner Umgebung.

Sie bildet ein Viereck mit zwei Stockwerken, dessen Dach nach Art der Schweizerhäuser noch zwei übereinanderliegende Reihen von Veranden überdeckt. Von den obern Fenstern aus umfaßt der Blick ausgedehnte Anpflanzungen, die bis zur Stadt heranreichen, und darüber hinaus schimmert ein Theil des Meeres. Es ist im Ganzen eine reizende, zwar nicht luxuriöse aber anheimelnde Wohnstätte.

Die Königin hat durch die Annahme der französischen Schutzherrschaft von ihrem Ansehen nichts verloren. Weht auch die Fahne Frankreichs von den Masten der im Hafen von Papeete liegenden oder auf der Rhede verankerten Schiffe ebenso wie von den öffentlichen Gebäuden, so leuchten über dem königlichen Palaste doch noch immer die alten Farben des Archipels, die Flagge mit rothweißen Querstreifen und dem dreifarbigen Jack in der obern innern Ecke.

[187] Im Jahre 1706 entdeckte Quiros die Insel Tahiti, der er den Namen »Sagittaria« beilegte. Nach ihm vervollständigten Wallis 1767 und Bougainville 1768 die Erforschung der Gruppe. Zur Zeit der Entdeckung herrschte hier die Königin Oberea, und nach ihrem Ableben tauchte in der Geschichte Oceaniens die Dynastie der Pomares auf.

Pomare I. (1762 bis 1780), der zuerst unter dem Namen Otoo (d. i. der schwarze Reiher) regiert hatte, vertauschte diesen später gegen den Namen Pomare.

Sein Sohn, Pomare II. (1780 bis 1819), empfing 1797 die ersten englischen Missionäre mit großem Wohlwollen und bekehrte sich zehn Jahre darauf selbst zur christlichen Kirche. Das war eine Zeit der Uneinigkeit und harter Kämpfe, unter denen die Bevölkerung des Archipels von hunderttausend Seelen auf sechzehntausend zurückging.

Pomare III., der Sohn des vorigen, regierte von 1819 bis 1827, und seine Schwester Aimata, die berühmte Pomare, der Schützling des elenden Pritchard, sie selbst geboren 1812, wurde Königin von Tahiti und der benachbarten Inseln. Da sie mit ihrem ersten Gatten Tapoa kinderlos blieb, verstieß sie diesen, um sich mit Ariifaaite zu vermählen. Aus dieser Verbindung ging 1840 Arione, der muthmaßliche Thronerbe, hervor, der aber mit fünfunddreißig Jahren verstarb. Vom nächsten Jahre an schenkte die Königin ihrem Gatten, einem der schönsten Männer der Insel, noch vier Kinder: eine Tochter, Teriimaevarna, seit 1860 Fürstin von Bora-Bora; den 1842 gebornen Prinzen Tamatoa, König der Insel Raiatea, den seine Unterthanen, empört über seine rohe Grausamkeit, vom Throne stürzten; den Prinzen Teriitapunui, geboren 1846, der leider schwer hinkte, und endlich 1848 den Prinzen Tuavira, der seine Erziehung in Frankreich erhielt.

Die Regierung der Königin Pomare verlief nicht immer ganz ruhig. Seit 1835 kamen die katholischen Missionäre mit den ältern protestantischen in Streit. Erst vertrieben, wurden jene durch eine französische Expedition wieder zurückgeführt. Vier Jahre später nahmen fünf Häuptlinge die französische Schutzherrschaft an. Pomare protestierte, die Engländer protestierten. Der Admiral Dupetit-Thouars verkündete die Absetzung der Königin und jagte Pritchard aus dem Lande, Ereignisse, die zu den mörderischen Kämpfen von Rapepa und Mahaena führten. Das Vorgehen des Admirals wurde jedoch nicht völlig gebilligt, Pritchard erhielt fünfundzwanzigtausend Francs Schadenersatz und dem Admiral Bruat wurde der Auftrag ertheilt, die Sache zum guten Ende zu führen.

[188] Tahiti unterwarf sich 1846 und Pomare bequemte sich 1847 am 19. Juni zur Annahme des Schutzvertrages unter Anerkennung ihrer Souveränität über die Inseln Raiatea, Huahine und Bora-Bora. Auch dann kam es noch zu Unruhen. 1852 wurde die Königin gestürzt und die Republik proclamiert. Schließlich setzte das französische Gouvernement die Königin wieder auf den Thron und diese verzichtete auf drei ihrer Kronen: zu Gunsten ihres ältesten Sohnes auf die von Raiatea und Tahaa, zu Gunsten des zweiten auf die von Huahine, und zu Gunsten ihrer Tochter auf die Krone von Bora-Bora.

Gegenwärtig sitzt eine ihrer weiblichen Nachkommen, Pomare VI, auf dem Throne des Archipels.

Der mittheilsame Frascolin rechtfertigt bei jeder Gelegenheit den ihm verliehnen Namen eines Larousse des Stillen Oceans. Er berichtet seinen Kameraden diese biographischen und historischen Einzelheiten mit der Behauptung, daß es sich immer empfehle, die Leute, zu denen man geht und mit denen man spricht, genauer zu kennen. Yvernes und Pinchinat antworten, daß er recht daran gethan habe, sie in die Genealogie der Pomares einzuweihen, unbekmmmert um Sebastian Zorn's Erklärung, »daß ihm so etwas ganz gleichgiltig sei«.

Der leicht erregbare Yvernes fühlt sich von dem Reize der poetischen Natur Tahitis ganz ergriffen. Er erinnert sich der begeisterten Reiseberichte Bougainville's und Dumont d'Urville's und verhehlt gar nicht seine Erregung bei dem Gedanken, der Souveränin dieses neuen Kythera, einer wirklichen, echten Königin Pomare, gegenübertreten zu sollen, deren Namen allein schon...

»Die ,Hustennuß' bedeutet, fällt ihm Frascolin ins Wort.

– Sehr schön! ruft Pinchinat. Das klingt, als wenn einer von einer Göttin des Schnupfens, einer Kaiserin der Koryza spräche. Da gilt es, das Taschentuch nicht zu vergessen!«

Yvernes ist wüthend über die Spottreden des kühnen Witzbolds, die Andern lachen aber so aus vollem Herzen, daß die erste Geige schließlich in die allgemeine Heiterkeit mit einstimmt.

Der Empfang des Gouverneurs von Standard-Island, der Behörden und der Abordnung der Notabeln geht mit großer Feierlichkeit vor sich. Der Mutoï der Chef der Gendarmerie, macht dabei die Honneurs, wobei ihm auch Eingeborne zur Seite treten.

Die Königin Pomare VI. ist jetzt zweiundvierzig Jahre alt. Wie ihre Familie, trägt sie ein Staatskleid von rosenrother Farbe, die die tahitische Bevölkerung [189] vor allem liebt. Sie nimmt die Ehrenbezeugungen Cyrus Bikerstaff's mit leutseliger Würde – wenn dieser Ausdruck erlaubt ist – und mit einem Anstand entgegen, dessen sich keine Majestät Europas zu schämen gehabt hätte. Sie antwortet huldvoll und im reinsten Französisch, denn diese Sprache herrscht jetzt auf den Gesellschaftsinseln beiweitem vor. Sie gab auch dem lebhaften Wunsche Ausdruck, Standard-Island, von dem man in allen Gegenden des Stillen Oceans spreche, persönlich kennen zu lernen, und hoffte, daß dessen Anwesenheit hier nicht die letzte sein werde. Jem Tankerdon wird von ihr besonders ausgezeichnet, was Nat Coverley natürlich nicht besonders angenehm empfindet. Die Erklärung dafür liegt darin, daß die königliche Familie protestantisch und Jem Tankerdon die hervorragendste Persönlichkeit der protestantischen Hälfte von Milliard-City ist.

Auch das Concert-Quartett wird bei der Vorstellung nicht vergessen. Die Königin geruht, dessen Mitgliedern zu sagen, daß sie sie gerne hören würde. Diese verneigen sich ehrerbietig und versichern, daß sie Ihrer Majestät jederzeit zur Verfügung stehen würden und es der Oberintendant als seine Pflicht erachten werde, den Wunsch der Souveränin zu erfüllen.

Nach der eine halbe Stunde währenden Audienz werden allen beim Verlassen des Palastes wieder die gleichen Ehren, wie beim Betreten desselben, erwiesen.

Nun geht es nach Papeete zurück. Nur beim Militärcasino wird Halt gemacht, da hier die Officiere zu Ehren des Gouverneurs und der Elite der Milliardeser Einwohner einen Lunch veranstaltet haben. Der Champagner fließt in Strömen, ein Toast jagt den andern, und es ist bereits sechs Uhr, wo die Boote von den Quais Papeetes abstoßen, um nach dem Steuerbordhafen heimzukehren.

Am Abend finden sich die Pariser Künstler im Saale des Casinos zusammen.

»Da steht uns ein Concert bevor, beginnt Frascolin. Was werden wir vor Ihrer Majestät spielen? Wird sie für Mozart oder Beethoven wohl Verständniß haben?

– Da spielt man etwas von Offenbach, Varney, von Lecoq oder Audran! meint Sebastian Zorn.

– O nein, doch die Bambula wäre ganz angezeigt!« erwidert Pinchinat, der sich nach dem Takte dieses Negertanzes in den Hüften wiegt.

[190]
14. Capitel
Vierzehntes Capitel.
Von einem Fest zum andern.

Die Insel Tahiti ist bestimmt, zum regelmäßigen Ruheplatz Standard-Islands zu werden. Vor der Fortsetzung ihrer Fahrt nach dem Wendekreis des Steinbocks gedenken seine Bewohner sich jedes Jahr im Gewässer von Papeete aufzuhalten. So freundlich von den französischen Behörden wie von den Eingebornen empfangen, wollen sie sich dadurch dankbar erweisen, daß sie jenen ihre Thüren oder vielmehr ihre Häfen weit öffnen. Militärs und Civilisten von Papeete strömen in Folge dessen herbei, durchstreifen die Felder, den Park und die Avenuen, doch nie ereignet sich dabei ein Zwischenfall, der das bisherige vorzügliche Einvernehmen hätte stören können. Bei ihrem Weggange muß die Polizei freilich darauf achten, daß die hiesige Bevölkerung sich durch das Zurückbleiben einiger Tahitier, die doch auf der schwimmenden Insel nicht Wohnung nehmen dürfen, nicht heimlich vermehrt hat.

Natürlich genießen die Milliardeser für dieses Entgegenkommen auch die Freiheit, alle Inseln der Gruppe zu besuchen, vor denen es dem Commodore Simcoë etwa anzuhalten beliebt.

Veranlaßt durch das längere Verweilen hier denken schon einzelne reiche Familien daran, sich in der Umgebung von Papeete Villen zu miethen, und einige haben sich solche sogar im voraus gesichert. Sie denken sich daselbst ebenso häuslich einzurichten, wie Großstädter, die für den Sommer mit Kind und Kegel aufs Land ziehen, um hier als Grundbesitzer, Touristen, Ausflügler oder, wenn sie dafür Neigung haben, als Jäger zu leben, kurz, sie wollen da eine Villegiatur halten, ohne von diesem heilsamen Klima, dessen Temperatur zwischen April und December von vierzehn bis dreißig Centigrad schwankt, irgend etwas zu fürchten zu haben.

Unter den Notabeln, die ihre prächtigen Häuser verlassen und gegen noch bequemere und schönere Wohnungen auf dem Lande in Tahiti vertauschen, sind vor allem die Tankerdon's und die Coverley's zu nennen. Mr. und Mrs. Tankerdon nebst ihren Söhnen und Töchtern beziehen denn auch schon am nächsten Tage [191] ein reizendes Häuschen auf der Landspitze von Tatao. Mr. und Mrs. Coverley, Miß Diana und deren Schwestern vertauschen ebenfalls das Palais in der Fünfzehnten Avenue mit einer herrlichen Villa unter den Bäumen auf der Venusspitze. Die beiden Wohnungen liegen mehrere Meilen weit von einander, was Walter Tankerdon vielleicht für etwas weit hält. Es liegt freilich nicht in seiner Macht, die beiden Landspitzen der tahitischen Küste einander zu nähern. Uebrigens stehen sie durch fahrbare, gut erhaltne Straßen mit Papeete in bequemer Verbindung.

Frascolin bemerkt gegen Calistus Munbar, daß die beiden Familien in Folge ihrer Abwesenheit beim Besuche des Civilgouverneurs nicht gegenwärtig sein können.

»Desto besser, antwortet der Oberintendant, dessen Augen in geheimer Freude aufleuchten, da gehen wir allen Unannehmlichkeiten aus dem Wege. Käme der Vertreter Frankreichs zuerst zu den Coverley's, was würden dann die Tankerdon's, und wenn zu diesen, was würden dann die Coverley's dazu sagen?«

Cyrus Bikerstaff kann sich wegen der Abwesenheit der beiden Familien nur Glück wünschen.

– Ist denn gar keine Hoffnung vorhanden, daß die Rivalität dieser Familien endlich einmal aufhört? sagte Frascolin.

– Wer kann das wissen, erwiderte Calistus Munbar. Das hängt vielleicht nur von dem liebenswürdigen Walter und der reizenden Diana ab...

– Bisher scheint es freilich, daß dieser Erbe und diese Erbin... fällt Yvernes ein.

– Keine Angst! unterbricht ihn der Oberintendant, dazu genügt eine Gelegenheit, und wenn der Zufall eine solche nicht herbeiführt, so werden wir, zum Besten unsrer geliebten Insel, einmal selbst den Zufall spielen!«

Calistus Munbar führt dabei auf den Fersen eine Pirouette aus, die gewiß des Athanase Dorémus Beifall gefunden und einem Marquis des vorigen Jahrhunderts keine Schande gemacht hätte.


Der Empfang des Civilgouverneurs. (S. 192.)

Am Nachmittage des 20. October landen der Civilgouverneur, der Commandant, der Generalsecretär und die ersten Beamten des Protectorats am Quai des Steuerbordhafens, wo sie von dem Gouverneur mit den ihnen zukommenden Ehren empfangen werden. Von beiden Batterien donnern Kanonenschüsse. Bereitstehende Wagen mit französischen und Milliardeser Fahnen bringen sie nach der Stadt, wo der Empfangssaal des Stadthauses für diese Zusammenkunft hergerichtet [192] [195]ist. Während der Fahrt jubelt ihnen die Bevölkerung zu und vor der Auffahrt zum Stadthause werden einige officielle Begrüßungen ausgetauscht, die sich nur erträglich lange hinziehen.

Später folgt ein Besuch des Tempels, der Saint-Mary Church, des Observatoriums, der beiden Elektricitätswerke, der Häfen, des Parks und in Tramwagen eine Fahrt um die ganze Insel. Nach der Rückkehr wird im großen Saale des Casinos ein kleines, aber seines Mahl eingenommen , und die sechste Stunde kommt heran, ehe der Civilgouverneur mit seinem Gefolge und unter dem Donner der Geschütze von Standard-Island nach Papeete zurückkehrt, wohin er eine vortreffliche Erinnerung mitnimmt.

Am Morgen des 21. October lassen sich die vier Pariser wieder nach Papeete übersetzen. Sie haben niemand eingeladen, sie zu begleiten, nicht einmal den Tanz- und Anstandslehrer, dessen Beine so langen Wanderungen nicht einmal mehr gewachsen gewesen wären. Sie sind frei wie die Luft, wie Schüler in den Ferien, und glücklich, einen ordentlichen Fels-und Erdboden unter den Füßen zu haben.

In erster Linie handelt es sich um eine Besichtigung Papeetes. Die Hauptstadt des Archipels ist unbestreitbar hübsch zu nennen. Dem Quartett gewährt es ein wahres Vergnügen, unter den hohen Bäumen zu flanieren, die alle Häuser am Strande, die Magazine der Marine und die größten Handelsniederlassungen am Hafen überschatten. Dann begeben sie sich unter Benützung eines Railway amerikanischen Systems eine auf den Quai mündende Straße hinauf nach der innern Stadt.

Hier finden sie breite, ebenso wie in Milliard-City nach Winkel und Richtscheit angelegte Straßen zwischen Gärten in üppigem Grün. Sogar zu dieser frühen Morgenstunde herrscht schon ein reger Verkehr von Eingebornen wie von Europäern, und dieser Verkehr, der nach acht Uhr abends noch größer wird, dauert dann die ganze Nacht fort. Die Nächte in den Tropen und vorzüglich in Tahiti sind nicht dazu geschaffen, daß man sie im Bett zubringt, obgleich die Betten in Papeete nur aus einem Gitter von Stricken, die mit Cocosfasern verbunden sind, und einer Matratze aus Bananenblättern oder Baumwollsamen bestehn, von den Mosquitonetzen nicht zu reden, die den Schläfer gegen die schmerzhaften Stiche dieser blutgierigen Insecten schützen.

Was die Häuser angeht, ist es leicht, die europäischen von den tahitischen zu unterscheiden. Die ersteren, meist aus Holz gebaut und auf einer, einige Fuß[195] hohen Mauerwerksunterläge ruhend, lassen an Comfort nichts zu wünschen übrig. Die in der Stadt nur selten vorkommenden andern, die ganz regellos unter dem Laubwerk verstreut liegen, sind aus Bambusstangen hergestellt und nur mit Matten gleichsam tapeziert, was sie reinlich, lustig und angenehm macht.

Doch die Eingebornen?...

»Die Eingebornen? wiederholt Frascolin. Solche, wie Ihr meint, giebt es hier ebensowenig wie auf den Sandwichinseln. Von jenen wackern Wilden, die vor dem Kampfe mit Vergnügen ein menschliches Cotelett verzehrten und ihrem Häuptling die Augen eines besiegten Kriegers aufhoben, der nach dem Recept der tahitischen Küche verzehrt worden war... solche Wilde giebt es leider nicht mehr!

– Was? In ganz Oceanien fänden sich keine Cannibalen mehr? Und wir hätten tausende und abertausende von Meilen gemacht, ohne einem einzigen zu begegnen?

– Nur Geduld, antwortet der Violoncellist, der mit der Hand in der Luft herumfuchtelt, wie Rodin in den »Geheimnissen von Paris«. Wir treffen vielleicht noch mehr, als zur Befriedigung unsrer thörichten Laune nothwendig sind.«

Er wußte freilich nicht, wie richtig er hiermit prophezeite!

Die Tahitier sind höchst wahrscheinlich malayischen Ursprungs und entstammen der Rasse der Maoris. Raiatea, die heilige Insel, dürfte die Wiege ihrer Könige gewesen sein – eine reizende Wiege, die sich in der Gruppe der Inseln Unter dem Wind im klaren Wasser des Stillen Oceans badet.

Vor der Hierherkunft der Missionäre zerfiel die tahitische Bevölkerung in drei Classen: die der Fürsten, der bevorzugten Persönlichkeiten, denen man die Gabe, Wunder zu verrichten, zutraute; ferner die der Häuptlinge oder Bodeneigenthümer, die aber schon wenig beachtet und den Fürsten unterthänig waren, und endlich das gemeine Volk, das keinen Grund und Boden besaß oder, wenn das der Fall war, doch nichts als den Nießbrauch seines Landes hatte.

Alles das hat sich seit und nach der Eroberung unter dem Einfluß der anglicanischen und katholischen Missionäre verändert. Unverändert ist dagegen die Intelligenz der Eingebornen geblieben, ihre lebhafte Sprechweise, ihr heitrer Sinn, ihr anerkennungswerther Muth und die Schönheit ihrer Erscheinung. Die Pariser fanden reiche Gelegenheit, letztere in der Stadt und auf dem Lande zu bewundern.

[196] »Sapperment, sind das hübsche Männer! sagte der Eine.

– Und vorzüglich hübsche Mädchen!« ergänzte der Andre.

Ja, die meist über mittelgroßen Männer mit ihrem bräunlichen Teint, durch den das Blut zu schimmern scheint, haben so tadellose Formen, wie sie die antiken Statuen zeigen, und einen sanften Gesichtsausdruck. Dabei sind sie stolz, diese Maoris mit den großen lebhaften Augen und etwas starken, aber seingeschnittnen Lippen.

Die Kriegstätowirungen sind jetzt, bei der mangelnden Gelegenheit dazu, stark in Abnahme.

Die begüterten Leute auf der Insel kleiden sich in europäischer Weise und sehen in weit ausgeschnittnem Oberhemd, der hellrosafarbnen Jacke und dem auf die Stiefeln herabfallenden Beinkleid recht gut aus, erregen damit die Aufmerksamkeit des Quartetts aber nicht in besonderm Maße. Nein, der modern geschnittnen Hofe ziehen unsre Touristen bei weitem den Pareo, den hellen und streifigen Baumwollenstoff vor, der malerisch von den Hüften bis zu den Knöcheln herabhängt, und dem hohen oder gar dem Panamahute, die beiden Geschlechtern gemeinsame Kopfbedeckung, den Hei, der mit Blättern und Blüten durchflochten ist.

Die Frauen sind noch immer die poetischen und graziösen Otahitierinnen Bougainville's, ob sich nun die weißen Blütenblätter der Tiare, einer Art Gardenie, unter ihre bis über die Schultern herabhängenden schwarzen Flechten mischen, ob sie den Kopf mit dem leichten Hütchen bedeckt tragen, das aus der Epidermis von Cocossprossen angefertigt ist, und dessen schöner Name »Revareva von einem Traum (französisch rève) abgeleitet erscheint,« sagte Yvernes. Fügt man zu dem Reize dieser Tracht, deren Farben sich wie die des Kaleidoskops bei jeder Bewegung verändern, noch die Zierlichkeit ihres Auftretens, die Zwanglosigkeit ihrer Haltung, die Sanftheit des Lächelns, die Schärfe des Blicks und den harmonischen Wohllaut der Stimme hinzu, so wird jeder verstehen, warum, als der Eine rief: »Sapperment, welche hübschen Männer!« die Andern antworteten: »Was für hübsche Mädchen!«

Wenn der Schöpfer aber so reizend ausgestattete Wesen erstehen ließ, sollte er ihnen da nicht auch eine ihnen würdige Umgebung geschenkt haben? Gewiß, denn man kann sich gar nichts Anziehenderes denken, als diese tahitischen Landschaften, deren Vegetation bei dem herrlichen Klima die jedes andern Landes übertrifft.

[197] Bei ihren Ausflügen in die nächste Umgebung von Papeete fanden die Pariser auch kein Ende, diese Wunder der Vegetation anzustaunen. Sie vermeiden dabei die Küstenstrecken, die mehr für den Landbau geeignet sind und wo an Stelle der Wälder Anpflanzungen von Citronen- und Orangenbäumen treten, wo der Arrowroot, das Zuckerrohr, Kaffeebäume, Baumwollstanden, Ignamen, Manioc, Indigo, Sorgho und Tabak gezogen werden, und dringen dafür in die dichten Waldungen des Innern ein bis zum Fuße der Berge, deren Gipfel weit über den Blätterdom hinausragen.

Ueberall zeigen sich hier schlanke Cocospalmen, Miros- oder Rosenholzbäume, eisenfeste Casuarinen, Tiairis, Puraus, Tamanas, Ahis- oder Santelholzbäume, Goyaven (indische Birnenbäume), Mangos, Taccas mit eßbaren Wurzeln, und auch der stolze Taro, der werthvolle Brodbaum mit hohem, glattem, weißem Stamme und den tiefgrünen Blättern, zwischen denen die großen Früchte wie mit ciseliert erscheinender Schale hängen, deren weißes Mark die Hauptnahrung der Eingebornen bildet.

Der neben der Cocospalme am meisten vorkommende Baum ist die Goyave, die bis zum Gipfel der Berge hinauf gedeiht und die in tahitischer Sprache »Tuava« heißt. Sie bildet dichte Wälder, während die Puraus in undurchdringlichem Gewirre zusammenstehen, aus dem man kaum einen Ausgang findet, wenn man sich unkluger Weise hineingewagt hatte.

Gefährliche Thiere giebt es gar nicht. Der einzige einheimische Vierfüßler ist eine Art Schwein, das in der Größe zwischen unserm Hausschweine und dem wilden Eber steht. Pferde und Rinder sind nach der Insel nur eingeführt worden, wo auch Ziegen und Schafe gezüchtet werden. Die Fauna ist hier also weniger reich als die Flora, selbst bezüglich der Vogelwelt. Tauben und Seeschwalben kommen ebenso wie auf den Sandwichinseln vor, Reptilien dagegen, außer dem Tausendfuß und dem Skorpion, gar nicht, und von Insecten findet man nur Wespen und Mosquitos.

Die Bodenerzeugnisse Tahitis beschränken sich auf Baumwolle, Zuckerrohr, dessen Anbau sich auf Kosten des Tabaks und des Kaffees ungemein verbreitet hat, sowie auf Cocosöl, Arrowroot, Orangen, Perlmutter und Perlen.

Das genügt aber zu einem lebhaften Handelsverkehr mit Amerika, Australien, Neuseeland, China und mit Europa, und der Einfuhr im Werthe von drei Millionen zweimalhunderttausend Francs steht eine Ausfuhr von vierundeinhalb Millionen an Werth gegenüber.

[198] Die Ausflüge des Quartetts dehnen sich auch bis zur Halbinsel Tabaratu aus. Ein Besuch des Forts Phaëton macht sie mit der dortigen Abtheilung Marinesoldaten bekannt, die hocherfreut sind, unerwartet Landsleute begrüßen zu können.

In einem von einem Colonisten bewirthschafteten Gasthause des Hafens weiß Frascolin sich sehr angenehm zu machen. Den Eingebornen und dem Mutoï des Bezirkes werden da französische Weine vorgesetzt, die der würdige Gasthalter sich zu sehr anständigem Preise herauszugeben herabläßt. Als Gegengabe bieten die Eingebornen ihren Gästen Erzeugnisse des Landes an, Fruchtkolben einer »Feï, genannten Bananenart von schön gelber Farbe, Ignamen in schmackhafter Zubereitung, Maïore, die zwischen heißen Steinen gedämpfte Frucht des Brodbaums, und endlich ein säuerliches Eingemachtes, das aus zerriebner Cocosnuß besteht und unter dem Namen »Taïero« in hohlen Bambusstengeln aufbewahrt wird.

Die kleine Schmauserei verläuft sehr befriedigend. Die Theilnehmer rauchten mehrere hundert jener Cigaretten, die aus einem am Feuer getrockneten und mit einem Pandanusblatte umhüllten Tabaksblatte bestehen. Statt aber die Sitte der Tahitier und Tahitierinnen nachzuahmen, die nach einigen Zügen den Glimmstengel von Mund zu Mund wandern lassen, begnügten sich die Franzosen, ihn auf europäische Weise zu rauchen. Und als der Mutoï seine Cigarette Pinchinat anbot, dankte ihm dieser mit einem »Mea maitaï«, d. h. Schon gut! Schon gut!, und die ganze Gesellschaft lachte über seine, ihr gewiß drollig erscheinende Aussprache.

Natürlich konnten die Ausflügler nicht daran denken, jeden Abend nach Papeete oder gar nach Standard-Island zurückzukehren. Uebrigens fanden sie auch in den Dörfern oder den verstreuten Einzelwohnungen bei Colonisten wie bei Eingebornen gastliche Aufnahme und bequeme Unterkunft.

Für den 7. November hatten sie den Besuch der Venusspitze in Aussicht genommen, einen Ausflug, den kein seines Namens würdiger Tourist unterlassen kann.


Der Mutoï bot Pinchinat seine Cigarette an. (S. 199.)

Mit Tagesanbruch geht es in mäßig schnellem Schritte fort und bald auf einer Brücke über den schönen Fluß Fantahua. Von hier führt ein Thalweg nach einem rauschenden Wasserfalle, der zwar noch einmal so hoch wie der Niagara, doch vielmals schmäler ist und der aus hundertsechzig Meter Höhe mit betäubendem Getöse herabstürzt. Weiter kommen die Freunde längs eines am Abhange [199] des Taharahihügels sich hinziehenden Weges nach der Küste und der kleinen Erhöhung, der Cook den Namen »Cap des Baumes« gab – eine Bezeichnung, die jener Zeit gerechtfertigt war, weil hier einst ein jetzt schon längst verschwundener einzelner Baum in die Augen fallend emporragte. Eine mit prächtigen Baumarten bestandne Allee führt von dem Dorfe Taharahi aus nach dem Leuchtthurme auf der äußersten Landspitze.

Hier, in halber Höhe eines grünenden Hügels, hat die Familie Coverley ihren Aufenthalt gewählt. Es liegt also gewiß kein Grund vor, daß Walter [200] Tankerdon, der weit, weit weg jenseit Papeetes wohnt, seine Spaziergänge grade nach der Venusspitze richtet. Den Franzosen kommt er aber doch zu Gesicht. Der junge Mann ist zu Pferde nach der Umgebung der Cottage Coverley gekommen. Er wechselt einen Gruß mit den französischen Touristen und fragt, ob sie am nämlichen Abend nach Papeete zurückzukehren gedächten.


»Auf Wiedersehen, meine Herren!« (S. 202.)

»Nein, Herr Tankerdon, antwortet Frascolin. Wir haben von der Miß Coverley eine Einladung erhalten und werden uns wahrscheinlich den ganzen Abend über in der Villa aufhalten.

[201] – Dann sag' ich Ihnen also auf Wiedersehen, meine Herren!« erwidert Walter Tankerdon.

Das Gesicht des jungen Mannes scheint dabei etwas düstrer zu werden, obgleich kein Wölkchen am Himmel hinzog.

Dann giebt er dem Pferde die Sporen und entfernt sich in kurzem Trab, nachdem er einen letzten Blick auf die weiße Villa zwischen den Bäumen geworfen hat. Warum ist nur der alte Handelsmann in dem steinreichen Tankerdon wieder durchgebrochen und erregt vielleicht Streitigkeiten auf Standard-Island, das doch nicht begründet worden ist, um Geschäftssorgen dahin mitzunehmen!

»Ah, sagt Pinchinat, vielleicht hat er uns begleiten wollen, der liebenswürdige Cavalier...

– Gewiß, bestätigt Frascolin, und es liegt auf der Hand, daß unser Freund Munbar Recht hat. Er wird ganz unglücklich sein, Miß Coverley nicht gesehen zu haben...

– Ein Beweis, daß auch eine Milliarde das Glück noch nicht sichert,« erwidert der große Philosoph Yvernes.

Im Laufe des Nachmittags und des Abends verbringt das Quartett höchst angenehme Stunden in der Villa der Coverley's, denn es findet hier denselben Empfang, wie in deren Hause in der Fünfzehnten Avenue. Es war eine sich verstehende Gesellschaft, der die Kunst noch eine höhere Weihe verlieh. Vor allem wurde ausgezeichnet Piano gespielt. Mrs. Coverley trägt einige neue Compositionen vor, Miß Dy singt wie eine richtige Künstlerin, und Yvernes, der eine hübsche Stimme hat, mischt seinen Tenor mit dem Sopran der jungen Dame.

Man weiß nicht recht, warum – doch vielleicht that er es mit Absicht – Pinchinat gelegentlich die Bemerkung fallen läßt, daß er und seine Kameraden Walter Tankerdon gesehen haben, der in der Nähe der Villa spazieren ritt. Wahrscheinlich wäre es von ihm klüger gewesen, davon zu schweigen? – Nein, wäre der Oberintendant hier gewesen, so würde er jene Erwähnung Seiner Hoheit gewiß gebilligt haben. Ein leichtes, fast unmerkliches Lächeln spielt um die Lippen der Miß Dy, ihre Augen glänzen heller, und als sie wieder zu singen anfängt, erscheint ihre Stimme noch klangvoller.

Mrs. Coverley sieht sie einen Augenblick an, begnügt sich aber, während Mr. Coverley die Brauen runzelt, zu sagen:

[202] »Du fühlst Dich doch nicht angestrengt, mein Kind?

– O nein, liebe Mutter.

– Und Sie, Herr Yvernes?

– Nicht im geringsten, Madame. Ich gehörte schon vor meiner Geburt zu den Chorsängern einer Kirche des Paradieses!«

Der Abend verstreicht, und es ist fast Mitternacht, als Mr. Coverley die Stunde gekommen glaubt, etwas der Ruhe zu pflegen.

Entzückt von der gefundnen einfachen und doch herzlichen Aufnahme, begiebt sich das Quartett am nächsten Tage wieder auf den Weg nach Papeete.

Der Aufenthalt bei Tahiti soll nur noch eine Woche dauern, und nach der vorher festgestellten Reiseroute wird sich Standard-Island weiter nach Südwesten hin begeben. Diese letzte Woche würde sich nun durch nichts Besondres ausgezeichnet haben, wenn sie nicht am 11. November durch einen glücklichen Zwischenfall unterbrochen worden wäre.

Am Morgen dieses Tages wurde nämlich die Annäherung des französischen Pacific-Geschwaders durch den Semaphor auf dem hinter Papeete ansteigenden Hügel gemeldet.

Um elf Uhr ankert ein Kreuzer erster Classe, die »Paris«, begleitet von zwei Kreuzern zweiter Classe und einem Kanonenboote, auf der Rhede.

Nach Austausch des gewöhnlichen Saluts begiebt sich der Contreadmiral, dessen Standarte von der »Paris« herab weht, mit seinen Officieren ans Land, und nach den officiellen Geschützsalven, zu denen noch der Donner der Kanonen von Standard-Island hinzu kommt, beeilen sich der Contreadmiral und der Civilgouverneur der Gesellschaftsinseln, sich gegenseitig zu besuchen.

Es ist ein glücklicher Zufall für die Fahrzeuge der Division, wie für deren Officiere und Mannschaften, auf der Rhede von Tahiti zur Zeit eingetroffen zu sein, wo Standard-Island noch hier verweilt. Das giebt neue Veranlassung zu einer Reihe von Festlichkeiten. Das Juwel des Stillen Oceans steht den französischen Seeleuten offen, die sich auch herandrängen, seine Wunder zu betrachten. Achtundvierzig Stunden hindurch vermengen sich die Uniformen der Seeleute mit den Milliardeser Trachten.

Cyrus Bikerstaff empfängt die Fremden feierlich im Observatorium, der Oberintendant aber im Casino und in andern seiner Leitung unterstellten Etablissements.

Da kommt diesem unergründlichen Calistus Munbar ein genialer Gedanke, der gewiß unverlöschliche Erinnerungen hinterlassen muß. Er theilt ihn dem[203] Gouverneur mit und dieser genehmigt ihn nach erfolgter Besprechung mit den Notabeln der Insel.

Für den 15. November wird danach ein großes Fest geplant. Sein Programm umfaßt ein officielles Diner und einen Ball in den Räumen des Stadthauses. An jenem Tage werden auch die Familien, die einen kurzen Landaufenthalt genommen hatten, zurückgekehrt sein, da die Abfahrt nur zwei Tage später erfolgen soll.

Die hohen Persönlichkeiten der beiden Stadthälften werden bei dieser Festlichkeit zu Ehren der Königin Pomare VI., der europäischen und eingebornen Tahitier und der französischen Marineofficiere nicht fehlen.

Calistus Munbar wird mit den nöthigen Vorbereitungen betraut und man kann sich dabei auf seine Geschicklichkeit ebenso, wie auf seinen Eifer verlassen. Das Quartett stellt sich zu seiner Verfügung und es wird verabredet, daß zu den anziehenden Nummern des Programms auch ein Concert gehören soll.

Die Vertheilung der Einladungen fällt dem Gouverneur zu.

In erster Linie begiebt sich Cyrus Bikerstaff persönlich zur Königin Pomare und ersucht sie, nebst den Prinzen und Prinzessinnen ihres Hofes, zu dem Feste zu erscheinen. Ebenso dankbar nehmen der Civilgouverneur die Einladung und nach ihm die höhern französischen Beamten und der Contreadmiral nebst seinen Officieren an, die sich für diese Zuvorkommenheit sehr erkenntlich zeigen.

Im ganzen werden tausend Einladungen vertheilt. Natürlich sollen nicht alle an der Galatafel im Stadthause theilnehmen. Dafür sind nur hundert ausgewählt: die königlichen Personen, die Officiere des Geschwaders, die Vorstände des Protectorats und ihre höchsten Beamten, der Rath der Notabeln und die hohe Geistlichkeit von Standard-Island. Im Parke sind aber Bankette, Spiele und Feuerwerke in Aussicht genommen, um auch den übrigen und der ganzen Bevölkerung reichliche Unterhaltung zu bieten.

Es versteht sich, daß der König und die Königin von Malecarlieu nicht vergessen wurden. Ihre Majestäten aber, die, allem Pompe Feind, zurückgezogen in ihrer bescheidnen Wohnung der Zweiunddreißigsten Avenue lebten, dankten dem Gouverneur höflichst für eine Einladung, die sie anzunehmen nicht in der Lage wären.

»Die armen Souveräne!« sagte Yvernes.

Der große Tag bricht an; Standard-Island prangt im Schmucke der Flaggen Frankreichs, Tahitis und Milliard-Citys.

[204] Die Königin nebst ihrem Hofe in Galacostüm wird im Steuerbordhafen unter dem Donner der Geschütze empfangen. Auf die Salutschüsse antworten die Kanonen von Papeete und die des Geschwaders.

Gegen sechs Uhr abends hat sich, nach einem Spaziergang durch den Park, die ganze höchste und hohe Gesellschaft in dem prachtvoll geschmückten Stadthause versammelt.

Welchen Anblick bietet die monumentale Treppe, von der jede Stufe, ganz wie im Hôtel Vanderbilt in New-York, nicht weniger als zehntausend Francs gekostet hat. Und im glänzenden Speisesaale setzen sich nun die Gäste der Insel zu einem buchstäblich unübertrefflichen Festmahle nieder.

Die Plätzevertheilung an den Tafeln ist vom Gouverneur mit vollkommenstem Takte geordnet worden. Zwischen den großen rivalisierenden Familien beider Stadthälften wird es zu keinem Conflicte kommen. Jeder ist mit dem für ihn bestimmten Platze zufrieden, auch Miß Coverley, die Walter Tankerdon gegenüber zu sitzen kommt. Das genügt dem jungen Herrn wie der jungen Dame, und es schien auch richtiger, sie einander nicht allzunahe zu placieren.

Wir brauchen wohl nicht hervorzuheben, daß auch die französischen Künstler keine Ursache zu einer Klage hatten. Man hat ihnen durch Verweisung an die Ehrentafel einen neuen Beweis der Hochschätzung ihrer Personen und ihres Talents gegeben.

Was das Menu des Prunkmahles betrifft, das vom Oberintendanten studiert, überlegt und zusammengestellt ist, so beweist es, selbst bezüglich der culinarischen Hilfsmittel, daß Milliard-City das alte Europa keineswegs zu beneiden braucht.

So wird jeder urtheilen, der die auf Veranlassung Calistus Munbar's auf das feinste Pergament gedruckte Speisenfolge ansieht:


Le potage à la d'Orléans,

La crème comtesse,

Le turbot à la Mornay,

Le filet de boeuf à la Napolitaine,

Les quenelles de volaille à la Viennoise,

Les mousses de foie gras à la Trévise.

Sorbets.

Les cailles rôties sur canapé,

La salade provençale,

Les petits pois à l'anglaise,

Bombe, macédoine, fruits,

[205] Gâteaux variés,

Grissins au parmésan.

Weine:

Château d'Yquem. – Château-Margaux.

Chambertin. – Champagne.

Verschiedne Liqueure.


Hätte man wohl an der Tafel der Königin von England, des Kaisers von Rußland, des deutschen Kaisers oder des Präsidenten der französischen Republik eine gewähltere Zusammenstellung oder die Einzelgerichte selbst von den berühmtesten Küchenchefs sorgfältiger zubereitet finden können?

Um neun Uhr begaben sich die Eingeladnen zu dem Concert in den Salons des Casinos. Das Programm enthält vier Nummern – nicht mehr als vier:

Fünftes Quartett in A-dur, Op. 18 von Beethoven;

Zweites Quartett in D-dur, Op. 10 von Mozart;

Zehntes Quartett in D-dur, Op. 64 (zweiter Theil) von Haydn;

Zwölftes Quartett in B-moll von Onslow.

Das Concert gestaltet sich zu einem neuen Triumphe für die Pariser Musiker, die sich so glücklich – trotz der Einwürfe des Violoncellisten – am Bord von Standard-Island befinden.

Inzwischen betheiligen sich Europäer und Eingeborne an den verschiednen Belustigungen im Parke. Auf dem Rasen tanzt man nach Herzenslust und – warum sollen wir es nicht gestehen? – nach den Klängen von Accordeons, die bei den Eingebornen der Gesellschaftsinseln sehr beliebt sind. Auch die französischen Seeleute haben eine gewisse Schwäche für diese pneumatischen Musikwerke, und da die Beurlaubten von der »Paris- und den andern Schiffen in großer Menge herzugeströmt sind, kommen vollständige Orchester zusammen und die Accordeons feiern wahre Orgien. Auch Gesang ertönt dazwischen, und die an Bord beliebten Lieder antworten den »Himerre«, den bei den oceanischen Völkerschaften meist gesungnen Volksmelodien.

Männer und Frauen von Tahiti haben übrigens große Vorliebe für Gesang und Tanz, worin sie Vortreffliches leisten. An diesem Abend müssen sie mehrmals die Touren des Repanipa wiederholen, der als ihr Nationaltanz, mit Angabe des Taktes durch Trommelschlag, betrachtet werden kann. Dann widmen sich Choreographen jeder Herkunft, Eingeborne und Fremde, dem anregenden Tanze, [206] der in Folge der von der Stadt gebotnen reichlichen Bewirthung nur um so lebhafter geübt wird.

Gleichzeitig vereinigt ein mehr geordneter Ball, unter Leitung des Athanase Dorémus, die vornehmsten Familien in den Sälen des Stadthauses. Die Milliardeser und die tahitischen Damen erscheinen dazu in den glänzendsten Toiletten. Man wird sich nicht wundern, daß die ersteren als treue Kundinnen der Pariser Schneider sogar die elegantesten Damen aus der europäischen Colonie ausstechen. Auf ihren Köpfen, den Schultern und der Brust glänzt und blitzt es von Brillanten, und nur der Wettstreit zwischen ihnen bietet ein erhöhteres Interesse. Wer hätte aber zu entscheiden gewagt, ob der Mrs. Tankerdon oder der Mrs. Coverley, die beide in blendendem Glanze strahlten, der Vorrang gebühre? Cyrus Bikerstaff wenigstens sicherlich nicht, denn dieser bemühte sich ja unablässig, das Gleichgewicht der beiden Stadthälften aufrecht zu erhalten.

An der Ehrenquadrille betheiligten sich die Königin von Tahiti und ihr erhabner Gemahl, Cyrus Bikerstaff und Mrs. Coverley, der Contreadmiral und Mrs. Tankerdon und der Commodore Simcoë mit einer der ersten Hofdamen der Königin. Gleichzeitig bilden sich andre Quadrillen, deren Paare nur ihrem Geschmack oder ihrer Neigung nachgebend zusammentreten. Das ganze Bild ist wahrhaft entzückend. Den noch hält sich Sebastian Zorn beiseite mit einem Ausdrucke – wenn nicht des Protestes, so doch – der Mißachtung, gleich den beiden mürrischen Römern auf dem berühmten Gemälde des »Niedergangs«, Yvernes, Pinchinat und Frascolin dagegen drehen sich im Walzer, in der Polka oder der Mazurka mit den hübschesten Mädchen von Tahiti und den reizendsten Mädchen von Standard-Island. Wer weiß, ob es am Ende dieser Ballfestlichkeit nicht zu zahlreichen Verlobungen kam, die dem hiesigen Standesbeamten später vermehrte Arbeit bereiten sollten.

Allgemeinstes Staunen erregt es aber, daß der Zufall Walter Tankerdon der Miß Coverley als Partner zuertheilt hat. Ob es wohl ein Zufall war, oder hatte der Oberintendant, der seine Diplomat, vielleicht doch die Hand dabei im Spiele? Jedenfalls bildet das das Ereigniß des Tages, das möglicherweise weittragende Folgen hat, wenn es den ersten Schritt zur Versöhnung zwischen den zwei mächtigen Familien bildet.

Nach dem Feuerwerke, das auf der großen Wiese abgebrannt wird, beginnt der Tanz im Parke und im Stadthause von neuem und dauert bis zum Tagesanbruch fort.

[207] So gestaltete sich das großartige Fest, dessen Andenken die lange und glückliche Reihe von Jahren, die Standard-Island hoffentlich bevorstehen, ungeschwächt fortleben wird.

Am zweitfolgenden Tage ist der Aufenthalt zu Ende und der Commodore Simcoë erläßt mit dem Frühroth den Befehl zur Abfahrt. Kanonendonner begrüßt die Propeller-Insel bei ihrem Scheiden ebenso, wie bei ihrer Ankunft, und sie erwidert Tahiti und dem Geschwader den Abschiedssalut Schuß für Schuß.

Zunächst steuert man in nordwestlicher Richtung, um bei den andern Inseln des Archipels, bei denen Unter dem Winde, nach den Inseln des Windes vorüberzukommen.

So umschifft man das malerische Morea mit seinen stolzen Pics, deren Mittelspitze frei zum Himmel aufragt; ferner Raiatea, die heilige Insel, die Wiege des eingebornen Königsgeschlechts, und kommt an Bora-Bora vorüber, das einen tausend Meter hohen Berg trägt, sowie an den Eilanden Motu-Iti, Mapeta, Tubuai und Manu – lauter Ringen in der tahitischen Bergkette, die sich nach dieser Richtung hin fortsetzt.

Am 19. November mit Sonnenuntergang verschwinden die letzten Gipfel des Archipels in rosiger Dämmerung.

Standard-Island wendet sich nun nach Südwesten – eine Orientation, die die telegraphischen Apparate auf den Karten im Casino sofort zur allgemeinen Kenntniß bringen.

Wer in dieser Minute aber den Kapitän Sarol beobachtet hätte, der würde sich betroffen gefühlt haben von dem dunkeln Feuer seines Blickes und dem wilden Ausdruck des Gesichts, als er mit drohender Handbewegung vor seinen Malayen in der Richtung nach den zwölfhundert Lieues im Westen gelegenen Neuen Hebriden hinwies.


Ende des ersten Theiles. [208]

2. Theil

1. Capitel
Erstes Capitel.
Auf den Cooks-Inseln.

Seit sechs Monaten bewegt sich Standard-Island, nach der Abfahrt aus der Madeleinebay, von einem Archipel zum andern, ohne daß ein Unfall die [209] wunderbare Seereise störte. Zu jetziger Jahreszeit sind die Gewässer des Aequatorialgebiets fast immer ganz ruhig, da die regelmäßigen Passate zwischen den Wendekreisen herrschen. Doch selbst wenn einmal stärkere Böen auftreten oder ein wirklicher Sturm sich entfesselt, erleidet der feste Untergrund Milliard-Citys und empfindet man in dessen Häfen, im Park oder auf dem Felde davon keine merkbare Erschütterung. Die Böe braust vorüber, der Sturm legt sich. Kaum wird man derselben auf der Oberfläche der Propeller-Insel gewahr.

Unter diesen Verhältnissen wäre eher eine gewisse Monotonie des Lebens zu fürchten.

Unsre Pariser sind aber die ersten, die freudig anerkennen, daß das nicht zutrifft. Auf der ungeheuern Wasserfläche des Oceans folgt eine Oase der andern – auf die schon besuchten Gruppen der Sandwich-Inseln, der Marquisen, der Pomotou- und der Gesellschafts-Inseln die, die man noch anzulaufen gedenkt, ehe der Curs nach Norden wieder eingeschlagen werden soll, nämlich die Cooks-Inseln, Samoa, die Tonga- und Fidschi-Inseln, die Neuen Hebriden und vielleicht noch andre. Ueberall bietet sich da Gelegenheit, weniger bekannte und ethnographisch hochinteressante Länder zu durchstreifen.

Das Concert-Quartett findet, wenn es sich auch beklagen wollte, gar keine Zeit dazu. Von der übrigen Welt ist es ja gar nicht abgeschieden, da der Postverkehr mit beiden Welten ganz regelmäßig unterhalten wird. Nicht allein führen die Petroleumschiffe ihre Ladung für den Bedarf der Kraftanlagen fast genau am bestimmten Tage zu, sondern es vergehen auch kaum vierzehn Tage, wo die Steamer nicht in dem einen oder dem andern Hafen ihre Fracht von Waaren jeder Art löschten und auch neue Zeitungen u. dgl. brächten, um die geistigen Bedürfnisse der Einwohnerschaft zu befriedigen.

Das den Künstlern zugesicherte Honorar wird mit einer Pünktlichkeit entrichtet, die auf die unerschöpflichen Hilfsquellen der Compagnie einen Schluß ziehen läßt. Tausende von Dollars fallen ihnen in die Tasche, sammeln sich darin an, und jene werden reich, sehr reich sein, wenn dieses Engagement ohne Gleichen einmal abläuft. Noch nie befanden sich ausführende Künstler in so beneidenswerther Lage, und die unsrigen bedauern jetzt die »relativ mittelmäßigen« klingenden Erfolge ihrer Rundreisen durch die Vereinigten Staaten.

»Nun, fragte Frascolin eines Tages den Violoncellisten, bist Du endlich von Deinem Vorurtheil gegen Standard-Island zurückgekommen?

– Nein, erklärte Sebastian Zorn.

[210] – Und doch werden wir einen hübschen Sack voll Geld besitzen, wenn diese Fahrt zu Ende ist.

– Es kommt nicht darauf an, ihn zu besitzen, man muß auch sicher sein, ihn mit hinwegzunehmen!

– Und das erwartest Du nicht?

– Nein!«

Da war nichts mehr zu sagen. Und für genannten Sack war doch gar nichts zu fürchten, da der Ertrag jedes Vierteljahres in Gestalt von Tratten nach Amerika gesendet und in der Bank von New-York niedergelegt wurde. Am richtigsten erschien es also, den Starrkopf seinem sinnlosen Mißtrauen allein zu überlassen.

Die Zukunft scheint jetzt ja mehr als je gesichert. Die Rivalität zwischen beiden Inselgruppen zeigt eine Abnahme, worüber sich Cyrus Bikerstaff und seine Adjuncten beglückwünschten. Der Oberintendant übertrifft sich seit »dem großen Ereignisse auf dem Balle im Stadthause« fast selbst. Walter Tankerdon hat ja mit Miß Coverley getanzt! Darf man daraus schließen, daß die Spannung zwischen beiden Familien nachgelassen hat? Jedenfalls sprechen Tankerdon und seine Freunde nicht mehr davon, aus Standard-Island eine gewerbe- und handeltreibende Insel zu machen. In der hohen Gesellschaft spricht man viel von jenem Vorkommnisse auf dem Balle. Scharfblickende Leute erkennen darin eine Annäherung, ja mehr als diese, eine Vereinigung, die den privaten und öffentlichen Streitigkeiten ein Ende machen wird.

Und wenn das eintrifft, so glauben wir versichern zu können, daß ein junger Mann und ein junges Mädchen, die einander ganz würdig sind, ihren innigsten Wunsch werden in Erfüllung gehen sehen.

Es unterliegt gar keinem Zweifel, daß Walter Tankerdon sich von den Reizen der Miß Coverley hat fesseln lassen. Das datiert schon von einem Jahr her. Unter den obwaltenden Verhältnissen hat er sich freilich niemand anvertraut. Miß Dy hat aber seine Gefühle errathen, hat ihn verstanden und fühlt sich von seiner Discretion höchst angenehm berührt. Vielleicht ist sie sich über das eigne Herz klar geworden, das dem des jungen Walter entgegen schlägt. Natürlich hat sie das aber verheimlicht. Sie bewahrt die strenge Zurückhaltung, die die weibliche Würde und die Entfremdung der beiden Familien ihr auferlegen.

Ein Beobachter hätte jedoch bemerken können, daß Walter und Miß Dy sich nicht an den Erörterungen betheiligen, die in dem Hôtel der Fünfzehnten [211] und in dem der Neunzehnten Avenue zuweilen vorkommen. Ueberläßt sich der unbeugsame Tankerdon manchmal scharfen Ausfällen gegen die Coverley's, so hängt sein Sohn den Kopf, schweigt und verschwindet. Wenn Nat Coverley über die Tankerdon's wettert, schlägt seine Tochter die Augen nieder, ihr hübsches Gesicht erbleicht und sie sacht, freilich ohne Erfolg, das Gespräch auf andre Gebiete abzulenken. Daß die Familienhäupter gar nichts »merken«, ist das allgemeine Schicksal der Väter, denen die Natur eine Binde um die Augen gelegt hat. Mrs. Coverley und Mrs. Tankerdon dagegen sind – wenigstens nach Calistus Munbar's Behauptung – freilich nicht so blind. Die Mütter haben ihre Augen nicht, um damit nichts zu sehen, und die Herzensangelegenheiten ihrer Kinder machen ihnen schwere Sorgen, da das einzige Heilmittel dafür ausgeschlossen erscheint. Sie fühlen recht gut, daß bei der Feindseligkeit der zwei Rivalen, bei ihrer in der Frage des Vortritts leicht verletzten Eigenliebe, an eine Versöhnung, eine Vereinigung kaum zu denken ist. Walter und Miß Dy lieben einander aber doch – ihren Müttern ist das schon längst kein Geheimniß mehr.

Wiederholt ist dem jungen Manne schon nahe gelegt worden, eine Wahl unter den heiratsfähigen jungen Damen der Backbordhälfte zu treffen, wo es recht hübsche, sein gebildete und auch seinen Vermögensverhältnissen entsprechende Evastöchter giebt, deren Familien eine solche Verbindung mit Freuden begrüßen würden.

Sein Vater und seine Mutter haben ihn, wenn auch letztere nicht drängend, dazu zu veranlassen gesucht. Walter hat es immer mit der Einwendung, keine Neigung zum Heiraten zu verspüren, abgeschlagen. Das paßt aber dem alten Kaufmann von Chicago nicht. Wer mehrere hundert Millionen besitzt, der soll und darf nicht Hagestolz werden. Findet sein Sohn keine ihm zusagende Partie auf Standard-Island, gut, so mag er reisen, mag er nach Amerika oder nach Europa gehen. Mit seinem Namen, seinem Vermögen und seiner äußern Erscheinung wird er nur die Qual der Wahl haben... und selbst wenn er sich um eine königliche oder kaiserliche Prinzessin bewürbe! So drückt sich Jem Tankerdon aus. Doch allemal, wenn sein Vater ihn auf diese Weise an die Mauer gedrückt hat, weigert sich Walter, diese zu übersteigen, um in der Fremde eine Gattin zu sachen. Seine Mutter hat ihm deshalb auch schon öfters gesagt:

»Mein liebes Kind, giebt es denn etwa hier ein Mädchen, die Dir besonders gefiele?

– Ja, liebe Mutter!« lautete dann seine Antwort.

[212] Da Mrs. Tankerdon aber nie so weit ging, ihn zu fragen, wer diese wäre, hat er es nicht für angezeigt gehalten, sie zu nennen.

Ganz ähnlich liegt es bei der Familie Coverley; denn daß der einstige Banquier von New-Orleans seine Tochter mit einem der jungen Herrn, die an den beliebten Empfangsabenden in seinem Hause verkehren, vermählt zu sehen wünscht, unterliegt gar keinem Zweifel. Paßt jener davon keiner, gut, so werden ihre Eltern sie ins Ausland mitnehmen... werden Frankreich, Italien, Deutschland besuchen... dann erklärt indeß Miß Dy stets, sie ziehe es vor, in Milliard-City zu bleiben... sie fühle sich auf Standard-Island besonders wohl... und wünsche es nie verlassen zu müssen. Mr. Coverley wird durch diese Antwort, deren wirkliches Motiv ihm entgeht, nicht wenig beunruhigt.

Mrs. Coverley hat ihrer Tochter übrigens keine so directe Frage gestellt, wie Mrs. Tankerdon ihrem Sohne, auch liegt die Annahme nahe, daß Miß Dy nicht mit der gleichen Freimüthigkeit – nicht einmal ihrer Mutter – zu antworten gewagt hätte.

So liegen zur Zeit die Dinge. Obwohl sie sich über die Natur ihrer Gefühle nicht mehr täuschen können, seitdem sie manchmal einen verständnißinnigen Blick gewechselt haben, ist zwischen den jungen Leuten darüber noch kein Wort gefallen. Sie treffen sich auch nur in den officiellen Salons, bei den Empfängen Cyrus Bikerstaff's oder bei irgendwelcher Feierlichkeit, von der sich die Milliardeser Notabeln ohne Gefährdung ihres gesellschaftlichen Ranges nicht ausschließen können. Bei solchen Gelegenheiten beobachten Walter Tankerdon und Miß Coverley die strengste Zurückhaltung, da jede Unklugheit ihrerseits die unliebsamsten Folgen hervorrufen kann.

Sehr erklärlich erscheint hiernach die verblüffende Wirkung des merkwürdigen Vorfalles auf dem Balle des Gouverneurs, eines Ereignisses, in dem zu Uebertreibungen geneigte Köpfe einen Scandal haben erkennen wollen und von dem am folgenden Tage die ganze Stadt voll ist. Und doch ging die Sache so ungemein einfach zu. Der Oberintendant hat Miß Coverley zwar zum Tanze aufgefordert, sich aber bei Beginn der Quadrille... der abscheuliche Munbar!... nicht rechtzeitig eingefunden; Walter Tankerdon ist deshalb an seine Stelle getreten, und Miß Dy hat ihn doch als Partner annehmen müssen.

Daß diese für die feinere Welt Milliard-Citys so wichtige Thatsache zu den verschiedensten Deutungen Anlaß gab, ist nicht nur wahrscheinlich, sondern sogar gewiß. Mr. Tankerdon hat darüber seinen Sohn und Mr. Coverley seine [213] Tochter ausgefragt. Was die jungen Leute geantwortet, ob sich auch Mrs. Coverley und Mrs. Tankerdon in die Sache eingemischt und welche Erfolge sie dadurch erzielt haben, das hat Calistus Munbar trotz seines Späherblicks und seiner diplomatischen Schlauheit nicht enträthseln können. Auf eine bezügliche Frage Frascolin's antwortet er auch nur mit einem Zwinkern des rechten Auges – was gar nichts sagen will, weil es thatsächlich nichts ist. Doch möchten wir hier einflechten, daß Walter Tankerdon seit jenem denkwürdigen Tage, wenn er der Mrs. Coverley und Miß Dy beim Spazierengehen begegnet, sich höflichst verneigt und das junge Mädchen wie ihre Mutter den Gruß erwidert.

Kann man dem Oberintendanten glauben, so ist damit »ein großer Schritt in die Zukunft« gethan.

Am Morgen des 25. November ereignet sich etwas auf dem Meere, was zu den zwei hervorragendsten Familien der Propeller-Insel in keinerlei Beziehung steht.

Bei Tagesanbruch melden die Wachen des Observatoriums mehrere hochbordige Fahrzeuge, die einen südwestlichen Curs steuern. Sie halten sich unter Beobachtung gewisser Abstände in einer Linie. Offenbar gehören sie einer Schiffsdivision des Stillen Oceans an.

Commodore Simcoë unterrichtet davon telegraphisch den Gouverneur und dieser ertheilt Befehl, sich zum Salutwechsel mit jenen Kriegsschiffen bereit zu halten.

Frascolin, Yvernes und Pinchinat begeben sich nach dem Thurme des Observatoriums, um diesem Austausche internationaler Höflichkeitserweisungen beizuwohnen.

Alle Fernrohre richten sich auf die Fahrzeuge, die vier an der Zahl und jetzt noch fünf bis sechs Meilen entfernt sind. Keine Flagge weht von ihrer Gaffel, so daß ihre Nationalität zunächst unerkennbar bleibt.

»Es deutet also nichts darauf hin, welcher Marine sie angehören? fragt Frascolin einen Officier.

– Nichts, antwortet dieser; höchstens ihrer Bauart nach würde ich glauben, daß es britische Schiffe sind. In hiesiger Gegend trifft man kaum andre, als englische, französische oder amerikanische Geschwader an. Wenn sie eine oder zwei Meilen näher sind, werden wir uns über sie klar sein.«

Die Schiffe nähern sich mit sehr mäßiger Geschwindigkeit, und wenn sie ihren Curs nicht ändern, müssen sie nur wenige Kabellängen von Standard-Island vorbeikommen.

[214] Ein Häuflein Neugieriger sammelt sich an der Rammspornbatterie und verfolgt mit Interesse die Bewegung der Fahrzeuge.

Eine Stunde später sind sie kaum noch zwei Meilen entfernt; es sind Kreuzer von veralteter Bauart mit drei Masten, die jedoch einen weit schönern Anblick gewähren, als die jetzigen Schiffstypen mit nur einem einzigen Signalmaste. Das ihren weiten Schornsteinen wirbeln schwarze Rauchsäulen empor, die der Westwind bis zur Grenze des Horizonts hinträgt.

Als sie bis auf anderthalb Meilen herangedampst sind, kann der Officier versichern, daß sie die britische Division im West-Pacific bilden, wo verschiedne Archipele, wie die von Tonga, Samoa und der Cook's, Großbritannien entweder gehören oder unter dessen Schutzherrschaft stehen.

Der Officier hält sich bereit, die Flagge von Standard-Island zu hissen, deren Fahnentuch mit der goldnen Sonne in der Mitte sich im Winde breit entfalten wird. Man wartet nur auf den ersten Salutschuß vom Admiralschiffe.

Zehn Minuten verstreichen.

»Wenn das Engländer sind, bemerkt Frascolin, so beeilen sie sich nicht gerade, höflich zu sein!

– Ja, was willst Du denn? antwortet Pinchinat. John Bull hat gewöhnlich den Hut auf dem Kopfe festgeschraubt und das Losschrauben macht immer nicht wenig Mühe.«

Der Officier zuckt mit den Achseln.

»Es sind eben Engländer, sagt er. Ich kenne sie, die grüßen nicht.«

In der That steigt an der Hißleine des führenden Schiffes keine Flagge empor. Die Division dampft vorüber, als ob die Propeller-Insel gar nicht vorhanden wäre. Welches Recht der Existenz hat sie denn auch? Warum soll England ihr Aufmerksamkeiten erweisen, da es gegen die Herstellung dieses enormen schwimmenden Bauwerks von jeher Einspruch erhoben hat, vorzüglich, da jenes sich auf die Gefahr von Zusammenstößen hin auf den Meeren fortbewegt und gelegentlich die Fahrstraße versperrt?

Die Division entfernt sich wie ein schlecht erzogner Herr, der sich stellt, als ob er die Leute auf dem Trottoir der Regent-Street oder des Strand nicht kenne, und die Flagge Standard-Islands bleibt also auch unten.

Wie man in der Stadt und in den Häfen auf das hochnäsige England, das perfide Albion, das moderne Karthago zu sprechen ist, läßt sich leicht denken. Jedenfalls beschließt man, niemals einen britischen Salut zu erwidern, wenn [215] ein solcher – was kaum zu erwarten – der Propeller-Insel zu Theil werden sollte.

»Welcher Unterschied gegen unser Geschwader bei dessen Ankunft vor Tahiti! ruft Yvernes.

– Das kommt daher, bemerkt Frascolin, daß die Franzosen immer höflich sind...

Sostenuta con expressione!« fügt Seine Hoheit hinzu, der mit graziöser Hand den Tact schlägt.

Am Morgen des 29. November erblicken die Wachen die ersten Höhen der Cooks-Inseln, die unter 20° südlicher Breite und 160° westlicher Länge liegen. Erst mit dem Namen Mangia- und Herveys-, später als Cooks-Inseln bezeichnet nach dem berühmten Seefahrer, der 1770 hier landete, bestehen sie aus den Inseln Mangia, Rarotonga, Watim, Mittio, Hervey, Palmerston, Hagemeister und andern mehr. Ihre Bevölkerung mahorischer Abstammung ist von zwanzigtausend auf zwölftausend Seelen herabgegangen und besteht aus polynesischen Malayen, die von europäischen Missionären zum Christenthum bekehrt wurden. Die um ihre Unabhängigkeit besorgten Eingebornen haben bisher jeder Unterwerfung Widerstand geleistet. Noch immer glauben sie, die Herren im eignen Hause zu sein, obwohl sie allmählich der Schutzherrschaft des englischen Australiens – und was diese bedeuten will, ist ja bekannt – mehr und mehr verfallen.

Die erste Insel der Gruppe, auf die man trifft, ist Mangia, die wichtigste und bevölkertste von allen, das eigentliche Haupt des Archipels. Für hier ist ein vierzehntägiger Aufenthalt geplant.

Wird Pinchinat in diesem Archipel mit echten Wilden Bekanntschaft machen – mit Wilden, wie Robinson Crusoë, die er auf den Marquisen, den Gesellschafts-Inseln und auf Nuka-Hiva vergeblich gesucht hatte? Wird die Neugierde des Parisers befriedigt werden und er absolut authentische Cannibalen, die sich als solche erprobt haben, zu Gesicht bekommen?


Höflichst verneigt sich Walter Tankerdon. (S. 214.)

»Mein alter Zorn, beginnt er eines Tages zu seinem Kameraden, wenn es hier keine Menschenfresser giebt, dann giebt's überhaupt keine mehr!

– Ich könnte Dir antworten: Was geht das denn mich an? antwortet der Stacheligel des Quartetts. Ich will Dich aber lieber fragen: Warum überhaupt keine mehr?

– Weil eine Insel, die sich Mangia (Anspielung auf menger, essen. D. Uebers.) nennt, nur von Cannibalen bewohnt sein kann!«

[216] [219]Pinchinat hat kaum Zeit, einem Klaps auszuweichen, den er für sein abscheuliches Wortspiel verdient.

Ob es auf Mangia Menschenfresser giebt oder nicht, Seine Hoheit (der Bratschist) wird mit ihnen nicht in Berührung kommen können.

Als Standard-Island nämlich noch eine Meile von Mangia lag, erscheint eine aus dessen Hafen ausgelaufene Pirogue am Pier des Steuerbordhafens. Sie bringt den englischen Residenten, einen einfachen protestantischen Geistlichen, der besser als die eingebornen Häuptlinge eine drückende Tyrannei ausübt. Auf dieser, dreißig Meilen im Umfang messenden Insel mit viertausend Einwohnern, die sorgfältig angebaut ist und reiche Taropflanzungen, Arrowroot- und Ignamenfelder hat, besitzt jener Reverend die besten Grundstücke. Ihm gehört die schönste Wohnung in Ouchora, der Hauptstadt der Insel, die an einem mit Brodbäumen, Cocospalmen, Mangobäumen, Bouraos und Pfefferbäumen bedeckten Hügel liegt, ohne von des Mannes Blumengarten zu reden, worin Coleas, Gardenien und Päonien in üppigster Blüthe stehen. Er ist mächtig durch die Mutoïs, jene eingebornen Polizisten, vor denen sich Ihre mangiesischen Majestäten beugen. Diese Polizei untersagt es, auf die Bäume zu klettern, an Sonn- und Festtagen zu fischen oder zu jagen, nach neun Uhr abends auszugehen und irgendwelche Bedarfsgegenstände anders als zu sehr willkürlich festgesetzter Taxe zu kaufen, alles bei einer in Piastern – der Piaster gilt fünf Francs – zu erlegenden Strafe, von der der Löwenantheil in die Tasche des gewissensweiten Geistlichen fließt.

Bei der Landung des kleinen dicken Mannes geht ihm der Hafenkapitän entgegen, und es werden einige Begrüßungen ausgetauscht.

»Im Namen des Königs und der Königin von Mangia, sagt der Engländer, bringe ich die Empfehlung Ihrer Majestäten Seiner Excellenz dem Gouverneur von Standard-Island.

– Ich bin beauftragt, sie dankend anzunehmen, Herr Resident, antwortet der Officier, bis unser Gouverneur sich gestatten wird, seine Ehrenbezeugung persönlich abzulegen.

– Seine Excellenz wird stets willkommen sein,« erwidert der Resident, dessen unansehnliches Gesicht von Geiz und Habsucht versteinert erscheint.

Dann fährt er mit süßlicher Stimme fort:

»Der Gesundheitszustand auf Standard-Island läßt doch wohl nichts zu wünschen übrig?

[219] – Er war nie besser als jetzt.

– Und doch könnte vielleicht einer oder der andre Fall einer epidemischen Krankheit, wie von Influenza, Typhus, Blattern...

– Nicht einmal von Schnupfen, Herr Resident. Stellen Sie uns also gefälligst ein reines Patent aus, und sobald wir uns dann festgelegt haben, wird sich der Verkehr mit Mangia in geregelter Weise entwickeln...

– Das heißt... fährt der Pastor zögernd fort, wenn keine Krankheiten...

– Ich wiederhole Ihnen, daß es davon keine Spur giebt.

– Die Bewohner von Standard-Island gedenken also ans Land zu gehen...

– Ja, wie sie das von den Inselgruppen im Osten her gewöhnt sind.

– Recht schön... recht schön, erwidert das dicke Männchen. Seien Sie überzeugt, daß sie freundlich aufgenommen werden, vorausgesetzt, daß keine Epidemien...

– Keine, versichere ich Ihnen!

– So mögen sie sich ausschiffen... recht viele... die Mangiesen werden ihnen den besten Empfang bereiten, denn sie sind gastfreundlicher Art; nur...

– Nur?...

– Ihre Majestäten haben in Uebereinstimmung mit dem Rathe der Häuptlinge verordnet, daß auf Mangia wie auf den übrigen Inseln alle Fremden einen Eintrittszoll zu zahlen haben...

– Was? Einen Eintrittszoll?...

– Ja. Zwei Piaster. Es ist ja nur wenig... zwei Piaster für jede Person, die die Insel betritt.«

Entschieden ist der Vorschlag hierzu von dem Residenten ausgegangen, der König, die Königin und der Rath der Häuptlinge haben ihn schnellstens angenommen, ein guter Theil des Ertrags fließt aber Seiner Excellenz zu. Da es auf den östlichen Inseln niemals vorgekommen ist, daß ein solcher Zoll erhoben wurde, giebt der Hafenkapitän darüber seiner Verwunderung unverholenen Ausdruck.

»Ist das Ihr Ernst? fragt er.

– Voller Ernst, versichert der Resident, und ohne Erlegung jener zwei Piaster können wir niemand Zutritt gewähren.

– Es ist schon gut!« antwortet der Hafenkapitän.

[220] Er verläßt grüßend Seine Excellenz, begiebt sich nach dem Telegraphenbureau und meldet dem Commodore, was er erfahren hat.

Ethel Simicoë setzt sich mit dem Gouverneur in Verbindung mit der Frage, ob es angezeigt sei, mit der Schraubeninsel bei Mangia zu halten, da ihm jene Forderung ebenso bestimmt wie ungerecht erscheine.

Die Antwort läßt nicht lange auf sich warten. Nach Verabredung mit seinen Adjuncten weist Cyrus Bikerstaff es ab, sich dieser vexatorischen Abgabe zu unterwerfen, und beschließt, daß Standard-Island weder vor Mangia, noch vor einer andern Insel des Archipels Aufenthalt nehmen soll. Der habsüchtige Pastor bleibt also auf seinem Vorschlage sitzen, und die Milliardeser werden in benachbarten Gegenden minder beutelustige Eingeborne besuchen.

Die Maschinisten erhalten Befehl, ihren zehn Millionen Pferdekräften die Zügel schießen zu lassen, und damit wurde Pinchinat des Vergnügens beraubt, ehrenwerthen Menschenfressern die Hand zu drücken... wenn es solche hier gab. Doch nein; er mochte sich trösten. Auch auf den Cooks-Inseln verzehrt man sich – vielleicht leider! – heutzutage gegenseitig nicht mehr. Standard-Island schlägt nun eine Richtung durch den breiten Meeresarm ein, der sich bis zum Ende der vier, nordsüdlich aneinander gereihten Inseln fortsetzt. Ueberall schwärmen Piroguen umher, die einen sein gebaut und ausgerüstet, die andern plump aus einem Baumstamme hergestellt, alle aber von kühnen Fischern bemannt, die den hier so zahlreich vorkommenden Walfischen nachstellen.

Die Inseln sind sehr fruchtbar, und man begreift, daß England ihnen seine Schutzherrschaft aufgenöthigt hat, natürlich mit dem Hintergedanken, sie später ganz in Besitz zu nehmen. Von Mangia selbst sieht man seine felsigen, von einem Korallenband umrahmten Küsten, seine blendend weißen Häuser, die mit Kalk, der aus Korallen gebrannt wurde, getüncht sind, und seine vom dunkeln Grün der Tropennatur geschmückten Hügel, deren Höhe zweihundert Meter nirgends überschreitet.

Am nächsten Tage zeigt sich das, an seinen bis oben hinauf bewaldeten Höhen erkennbare Rarotonga. In der Mitte nur strebt ein fünfzehnhundert Meter hoher Vulcan empor, dessen kahler Gipfel aus dichtem Gehölz hervorragt. Unter dem Baumdunkel sieht man ein weißes Gebäude mit gothischen Fenstern, die protestantische Kirche. Die großen Bäume mit mächtigen Aesten und unregelmäßig geformtem Stamm erscheinen verworfen, voller buckliger Auswüchse und verdreht, wie alte Apfelbäume der Normandie oder alte Oliven der Provence.

[221] Vielleicht hat der Reverend, der die rarotongischen Gewissen regiert, und zwar im Verein mit der Deutschen oceanischen Gesellschaft, in deren Hand sich der ganze Handel der Insel befindet... vielleicht hat er nicht nach dem Beispiele seines Amtsbruders in Mangia eine Fremdentaxe eingeführt, und vielleicht könnten die Milliardeser ohne den Beutel zu ziehen ihre Ehrerbietung den beiden Königinnen erweisen, die sich hier um die Souveränität streiten und von denen die eine im Dorfe Arognani, die andre im Dorfe Avarua wohnt. Cyrus Bikerstaff hält es aber doch nicht für gerathen, bei dieser Insel ans Land zu gehen, und ihm stimmt der Rath der Notabeln, die überall wie Könige empfangen zu werden gewöhnt sind, widerspruchslos bei. Die von den ungeschickten Engländern beherrschten Eingebornen gehen daher leer aus, während sonst die Piaster in den Taschen der Nabobs von Standard-Island nicht festgenagelt sind.

Gegen Abend erkennt man nur noch den obersten Theil des Vulcans, der einer Riesensäule gleich zum Himmel aufsteigt. Myriaden von Seevögeln haben sich ohne Erlaubniß auf Standard-Island niedergelassen oder flattern darüber hin; mit Anbruch der Nacht aber ziehen alle wieder davon und nach den Eilanden, die im Norden des Archipels von dem Wogenschlage des Großen Oceans gepeitscht werden.

Jetzt wird unter dem Vorsitze des Gouverneurs eine Versammlung abgehalten zur Berathung einer Veränderung der Reiseroute. Standard-Island befindet sich in Gegenden mit vorherrschend englischem Einfluß. Steuerte man, wie vorher festgesetzt war, längs des zwanzigsten Breitengrades nach Westen weiter, so gelangte man nach den Tonga- und den Fidschi-Inseln. Was man an den Cooks-Inseln erlebte, war ja nicht gerade ermuthigend. Da erschien es rathsamer, die Loyalitäts-Inseln und Neucaledonien anzulaufen, wo das Juwel des Stillen Oceans gewiß mit echt französischer Höflichkeit aufgenommen wurde. Nach dem Wintersolstitium wollte man dann direct nach den Aequatorialgegenden zurückkehren. Damit entfernte man sich freilich von den Neuen Hebriden, wohin die Schiffbrüchigen der Ketsch und ihr Kapitän übergeführt werden sollten.

Während dieser Verhandlung über eine neue Reiseroute zeigten sich die Malayen auffallend unruhig, denn wenn jene Veränderung beliebt wurde, erschien ihre Heimkehr nicht wenig erschwert. Der Kapitän Sarol konnte seine Enttäuschung, richtiger seinen Zorn darüber nicht verhehlen, und wer ihn jetzt hätte zu seinen Leuten reden hören, dem würde eine verdächtige Gereiztheit des Mannes nicht entgangen sein.

[222] »Da wollen sie uns nun, wiederholte er häufiger, an den Loyalitäts-Inseln oder in Neucaledonien aussetzen!... Und unsre Genossen, die uns auf Erromango erwarten und aus unserm wohldurchdachten Plane, der nur für die Neuen Hebriden gilt, was wird daraus?... Soll uns dieser Glücksfall aus den Händen gehen?«

Zum Glück für die Malayen, zum Unglück für Standard-Island wurde die vorgeschlagne Aenderung des Weges nicht gutgeheißen. Die Notabeln von Mil liard-City lieben es nicht, an ihren Gewohnheiten gerüttelt zu sehen. Die Reiseroute wird nach dem im voraus dafür entworfnen Programm eingehalten werden, nur entscheidet man sich, statt an den Cooks-Inseln vierzehn Tage liegen zu bleiben, mehr nordwestlich nach dem Samoa-Archipel zu gehen und von da die Gruppe der Tonga-Inseln aufzusuchen.

Beim Bekanntwerden dieses Beschlusses können die Malayen ihre Befriedigung darüber nicht verhehlen.

Am Ende konnte es nichts Natürlicheres geben, als ihre Freude, daß der Rath der Notabeln auf seine Absicht, sie nach den Neuen Hebriden heimzuführen, nicht verzichtet hatte.

2. Capitel
Zweites Capitel.
Von Insel zu Insel.

Wenn sich der Horizont von Standard-Island auf der einen Seite etwas aufheiterte, seit die Beziehungen der Backbord- und der Steuerbordbewohner weniger gespannte wurden, wenn diese Besserung den für einander gehegten Gefühlen Walter Tankerdon's und Miß Dy Coverley's zu verdanken war, und wenn endlich der Gouverneur und der Oberintendant Ursache hatten zu glauben, daß die Zukunft nicht durch innere Streitigkeiten bedroht sein werde, so ist das Juwel des Stillen Oceans in seiner Existenz doch nicht minder gefährdet und wird einer von langer Hand vorbereiteten Katastrophe schwerlich entgehen können. Je weiter es nach Westen vordringt, desto mehr nähert es sich [223] den Gegenden, wo seiner sichre Zerstörung wartet, und der Urheber dieses verbrecherischen Anschlags ist kein andrer als der Kapitän Sarol.

Es war nämlich kein zufälliger Umstand, der die Malayen früher nach den Sandwichinseln hinführte. Die Ketsch ankerte in Honolulu nur, um die Ankunft Standard-Islands zur Zeit seines jährlichen Besuchs hier abzuwarten. Die Absicht des Kapitäns Sarol war von Anfang an dahin gegangen, der Propeller-Insel, ohne Verdacht zu erwecken, nachzufolgen, sich und seinen Leuten hier, wo sie als Passagiere keinen Zutritt hatten, als Schiffbrüchigen [224] Aufnahme zu verschaffen und dann jene, mit der Bitte, sie nach ihrer Heimat zu befördern, nach den Neuen Hebriden hin zu verführen.


Der Officier war in Bereitschaft, die Flagge zu hissen. (S. 215.)

Wie der erste Theil dieses Planes zur Ausführung kam, ist unsern Lesern bekannt. Die Collision der Ketsch war nur erfunden gewesen; vielmehr hatten die Malayen selbst ihr Fahrzeug zerstört, doch so, daß es sich bis zum Eintreffen der durch den Nothschuß herbeigerufnen Hilfe schwimmend erhalten konnte und bald versinken mußte, wenn seine Mannschaft von dem Boote aus dem Steuerbordhafen aufgenommen worden war. Wegen der Collision konnte [225] dann kein Verdacht mehr entstehen und niemand Seeleuten, deren Schiff untergegangen war, ihre Eigenschaft als Schiffbrüchige bestreiten und ihnen vorübergehende Unterkunft verweigern.

Vielleicht würde der Gouverneur sie freilich nicht behalten wollen, da der Aufenthalt von Fremden auf Standard-Island grundsätzlich verboten war. Dann wurden sie vielleicht am nächsten Archipel ans Land gesetzt. Dieser Gefahr mußten sie sich aussetzen, der Kapitän Sarol schreckte auch davor nicht zurück. Nach der günstigen Entscheidung der Direction der Compagnie beschloß man aber, die Schiffbrüchigen der Ketsch hier zu behalten und sie nach den Neuen Hebriden überzuführen.

Das war der Verlauf der Dinge. Schon seit vier Monaten erfreuen sich der Kapitän Sarol und seine zehn Malayen auf der Propeller-Insel der unbeschränktesten Freiheit, haben jene nach allen Seiten durchstreifen, sowie alle ihre Geheimnisse ergründen können und haben das auch keineswegs zu thun versäumt. – Noch drei Monate, und Standard-Island sollte bei den Neuen Hebriden eintreffen und dort sollte eine Katastrophe herbeigeführt werden, die unter den Seeunfällen nicht ihresgleichen hatte.


Die Pirogue mit dem englischen Residenten. (S. 219.)

Der Archipel der Neuen Hebriden ist für die Seefahrer gefährlich nicht allein wegen der darin verstreuten Klippen und seiner oft sehr starken Strömungen, sondern auch wegen der Wildheit eines Theiles seiner Bewohner. Seit Quiros ihn 1606 entdeckte und auch nachdem Bougainville 1768 und Cook 1773 ihn durchforschten, ist er der Schauplatz grausamster Metzeleien gewesen, und vielleicht ist es sein schlechter Ruf, der die Ahnungen Sebastian Zorn's bezüglich des Ausgangs der Seereise Standard-Islands rechtfertigen sollte. Kanaken, Papuas und Malayen leben hier mit Australnegern vermengt, die alle treulos, hinterlistig und jeder Civilisation abhold sind. Einzelne Inseln dieser Gruppe sind wahrhafte Verbrecherhöhlen und ihre Bewohner ernähren sich nur durch Seeraub.

Der Malaye Kapitän Sarol gehörte zu jenem Typus von gewissenlosen Raub- und Mordgesellen, die, wie der Marinearzt Hagon gelegentlich seiner Reise nach den Neuen Hebriden sagt, diese Gegenden geradezu »verpesten«. Kühn, unternehmend, gewohnt, in den gefährlichen Wasserstraßen zu segeln, in seiner Thätigkeit erfahren und mehrmals der bewährte Leiter blutiger Expeditionen, giebt Sarol jetzt nicht ein schüchternes Debut, denn seine Schandthaten haben ihn in diesem Theile des westlichen Stillen Oceans schon längst berühmt oder berüchtigt gemacht.

[226] Vor vielen Monaten schon haben nun der Kapitän Sarol und seine Spießgesellen im Vereine mit den blutgierigen Einwohnern der Insel Erromango, einer der Hebriden, einen Anschlag ausgeklügelt, der ihnen im Fall des Gelingens erlauben würde, überall als »ehrbare Leute« zu leben. Sie haben Kenntniß von der Propeller-Insel, die seit vorigem Jahre durch die Tropenzone fährt, und wissen, welch unermeßliche Schätze das überaus reiche Milliard-City birgt. Da die Insel aber nicht so weit nach Westen vordringen soll, handelt es sich darum, sie nach dem wilden Erromango zu verlocken, wo alles zu ihrer gänzlichen Vernichtung vorbereitet ist.

Verstärkt durch die Eingebornen benachbarter Inseln können die Neuhebridler gegenüber der Bewohnerschaft von Standard-Island auch auf ein numerisches Uebergewicht rechnen. In Rücksicht auf die der Insel zur Verfügung stehenden Abwehrmittel ist freilich nicht davon die Rede, sie auf dem Meere wie ein einfaches Handelsschiff zu überfallen, noch sie durch eine Flottille von Piroguen angreifen zu lassen. Dank den Gefühlen der Humanität, die die Malayen ohne Verdacht zu erregen wachzurufen wußten, wird Standard-Island nahe an Erromango herankommen. Es soll einige Kabellängen davor Halt machen. Dann würden es Tausende von Eingebornen überrumpeln... es auf die Klippen laufen lassen... daran sollte es in Trümmern gehen, beraubt und seine Einwohnerschaft niedergemetzelt werden. Diesem entsetzlichen Plane fehlte es nicht an Aussicht auf Erfolg. Als Dank für die Gastfreundschaft, die die Milliardeser dem Kapitän Sarol und seinen Leuten gewährt haben, werden sie jetzt einer schrecklichen Katastrophe entgegengeführt.

Am 9. December erreicht Commodore Simcoë den 171. Meridian, da wo dieser sich mit dem 15. Breitengrade schneidet. Zwischen jenem und dem 175. Meridian liegt die Gruppe von Samoa, die Bougainville 1768, Lapérouse 1787 und Edwards 1791 besuchten.

Zuerst tauchte die unbewohnte Insel Rose auf, die keines Besuchs werth ist.

Zwei Tage später kommt die Insel Manua mit den daneben liegenden Eilanden Olosaga und Ofu in Sicht. Ihr höchster Punkt erhebt sich bis siebenhundertsechzig Meter über die Meeresfläche. Trotz ihrer zweitausend Bewohner ist sie nicht die interessanteste des Archipels, und der Gouverneur sieht deshalb von einem Verweilen vor ihr ab. Richtiger erscheint es, sich etwa vierzehn Tage bei den Inseln Tetuila, Opolu, Savaï, den schönsten der überall schönen Gruppe, aufzuhalten. Manua genießt indeß doch eine gewisse Berühmtheit in der Geschichte [227] der Seefahrten, denn an seiner Küste, bei Ma-Oma, kamen mehrere der Begleiter Cook's im Grunde einer Bay ums Leben, die noch jetzt den berechtigten Namen, »die Bay des Massacres«, trägt.

Etwa zwanzig Lieues trennen Manua von Tetuila, seinem nächsten Nachbar. Standard-Island gelangt in der Nacht vom 14. zum 15. in dessen Nähe. Am Vorabend hat das in der Gegend der Rammspornbatterie lustwandelnde Quartett Tetuila schon »gerochen«, obgleich es noch mehrere Lieues entfernt war; so sehr ist die Luft hier von köstlichen Wohlgerüchen erfüllt.

»Das ist gar keine Insel, ruft Pinchinat, das ist der Laden von Piver... das Laboratorium von Lubin... das Geschäftshaus eines modernen Parfumeurs.

– Wenn Deine Hoheit nichts dagegen einzuwenden hat, bemerkt Yvernes, würde ich es vorziehen, sie mit einem Räucherbecken zu vergleichen.

– Meinetwegen mit einem Weihrauchbecken!« antwortet Pinchinat, der den poetischen Anwandlungen seines Kameraden nicht entgegentreten will.

Man hätte wirklich sagen können, die Brise führe einen Strom parfümierter Dünste über das herrliche Gewässer hin. Dieser rührt von dem durchdringenden Dufte einer Pflanzenart her, der die samoanischen Kanaken den Namen »Mussooï« gegeben haben.

Mit Sonnenaufgang gleitet Standard-Island in sechs Kabellängen Entfernung längs der Nordküste Tetuilas hin. Man könnte es einen grünenden Korb nennen, oder vielmehr eine Etagère von Wäldern, die sich bis zu den äußersten Gipfeln, deren höchster siebzehn hundert Meter mißt, ausbreiten. Vor ihm liegen noch einige Eilande, darunter Anuu. Hunderte von hübschen Piroguen mit kräftigen, halbnackten Eingebornen, die ihre Ruder nach dem Zweivierteltacte eines samoaischen Liedes bewegen, beeilen sich, die Propeller-Insel zu begleiten. Die langen und so fest gebauten Fahrzeuge, daß sie sich selbst aufs hohe Meer hinauswagen können, haben fünfzig bis sechzig Ruderer. Unsre Pariser erkennen nun, warum die ersten Europäer dieser Gruppe den Namen »Schiffer-Inseln« beilegten. Der richtige geographische Name lautet jedoch Hamoa oder, mehr gebräuchlich, »Samoa«.

Savaï, Opolu und Tetuila, die sich von Westen nach Südosten aneinander reihen, und Olosaga, Ofu und Manua, die weiter südlich liegen, bilden die Hauptinseln dieser Gruppe vulcanischen Ursprungs. Ihre Gesammtoberfläche beträgt zweitausendachthundert Quadratkilometer mit einer Bevölkerung von fünfunddreißigtausendsechshundert [228] Seelen. Die Angaben der ersten Besucher müssen demnach stark herabgesetzt werden.

Keine dieser Inseln vermag übrigens so günstige klimatische Verhältnisse aufzuweisen, wie Standard-Island. Die Temperatur schwankt hier zwischen sechsundzwanzig und vierunddreißig Centigraden. Juli und August sind die kältesten Monate, während der Februar die größte Hitze bringt. Vom December bis April leiden die Samoaner unter gewaltigen Regengüssen und zur gleichen Zeit treten auch Böen und Stürme auf, die viele Unfälle veranlassen.

Der in den Händen der Engländer, Amerikaner und der Deutschen ruhende Handel mag achtzehnhunderttausend Francs in der Einfuhr und neunhunderttausend Francs in der Ausfuhr betragen. Letztere entfällt auf Naturproducte, wie auf Baumwolle, deren Anbau mit jedem Jahre zunimmt, und auf die Koprah, das sind getrocknete Cocoskerne.

Unter der malayo-polynesischen Bevölkerung leben hier nur dreihundert Weiße und einige Tausend von verschiednen Inseln Melanesiens herangezogene Landarbeiter. Seit 1830 haben Missionäre die Samoaner zum Christenthum bekehrt, doch bewahren diese immer noch mehrere Gebräuche ihrer frühern Religion. Die größte Menge der Eingebornen ist protestantisch, weil hier Deutsche und Engländer dafür thätig waren; doch zählt auch der Katholicismus einige Tausend Neophyten, und vorzüglich bemühen sich Maristenbrüder, diese Zahl zu vermehren, um den angelsächsischen Proselytismus zu bekämpfen.

Standard-Island hat sich im Süden von Tetuila auf der Rhede von Pago-Pago festgelegt. Hier ist der eigentliche Hafen der Insel, deren Hauptort das mehr im Innern gelegne Leone bildet. Zwischen dem Gouverneur Cyrus Bikerstaff und den samoanischen Behörden erheben sich jetzt keinerlei Schwierigkeiten. Freier Zutritt wird ohne Zögern zugestanden. Der Souverän des Archipels wohnt auch nicht auf Tetuila, sondern auf Upolu, wo sich die englische, amerikanische und deutsche Vertretung befinden. Es kommt hier also auch zu keinem officiellen Empfange. Verschiedne Samoaner benützen die sich bietende Gelegenheit, Milliard-City und »seine Umgebung« zu besuchen. Auch die Milliardeser versehen sich von der Bevölkerung der Gruppe eines herzlichen Empfangs.

Der im Hintergrund der Bay gelegne Hafen schützt gegen die Winde vom offnen Meere und hat einen bequemen Zugang. Selbst Kriegsschiffe gehen darin häufig vor Anker.

[229] Unter den heute zuerst Ausgeschifften befindet sich Sebastian Zorn mit seinen Kameraden, denen sich der Oberintendant angeschlossen hatte. Calistus Munbar ist wie gewöhnlich voll liebenswürdigen, übersprudelnden Humors. Er hat erfahren, daß von drei oder vier Familien der Notabeln ein Ausflug in Wagen mit neuseeländischen Pferden nach Leone verabredet ist. Da sich die Coverley's und die Tankerdon's dabei begegnen müssen, kommt es vielleicht zu einer weitern Annäherung zwischen Walter und Dy, was ihm schon ganz recht wäre.

Beim Umherspazieren mit dem Quartett spricht er von diesem großen Ereigniß; er wird wie gewöhnlich lebhaft, ja begeistert.

»Liebe Freunde, sagt er, wir stecken rein in einer komischen Oper... ein glücklicher Zwischenfall führt zur Lösung des Knotens... Ein durchgehendes Pferd... ein umschlagender Wagen...

– Ein räuberischer Ueberfall, fügt Yvernes ein.

– Eine allgemeine Abschlachtung der Ausflügler! setzt Pinchinat hinzu.

– Dazu könnte es wohl kommen! brummte der Violoncellist im Todtengräbertone, als wenn er die tiefste Saite seines Instruments anschlüge.

– Nein, liebe Freunde, nein! ruft Calistus Munbar listig lachend. Gehen wir nicht so weit! So vielen Aufwands bedarf es gar nicht! Nur so eines kleinen Unfalls, bei dem Walter Tankerdon so glücklich wäre, der Miß Dy Coverley das Leben zu retten....

– Und dazu noch etwas Musik von Boïeldieu oder Auber! sagt Pinchinat mit einer Handbewegung, als drehe er die Kurbel eines Leierkastens.

– Sie, Herr Munbar, fragt Frascolin, haben also diese Verbindung immer noch im Auge?

– Das will ich meinen, lieber Frascolin! Tag und Nacht träum' ich davon! Ich verliere darüber allen Humor! (Das schien nicht gerade zutreffend.) Ich magere zusehends ab. (Stimmte ebensowenig.) Ich sterbe noch, wenn es nicht dazukommt!

– Es wird sich noch alles machen, Herr Oberintendant, erwidert Yvernes in klangvollem Prophetentone, denn Gott kann den Tod Eurer Excellenz nicht wollen!

– Er würde auch dabei verlieren!« meinte Calistus Munbar.

Alle fünf begeben sich nun nach der Hütte eines Eingebornen, trinken hier auf das Wohlsein der zukünftigen Gatten ein paar Glas Cocoswasser und essen saftige Bananen dazu.

[230] Die samoanische Bevölkerung, die die Straßen von Pago-Pago belebt oder unter den Bäumen in der Nähe des Hafens verkehrt, bildet für unsre Pariser eine wahre Augenweide. Die Männer sind über mittelgroß und von braungelbem Teint, haben einen runden Kopf, eine mächtige Brust, muskulöse Glieder und sanften, heitern Gesichtsausdruck. Vielleicht zeigen sie etwas zu reichliche Tätowierung auf Armen, Brustkasten und Schenkeln, die eine Art Rock aus Gräsern oder Blättern unvollkommen bedeckt. Das Haar der Leute ist schwarz, schlicht oder lockig, je nach Geschmack der eingebornen Stutzer.

»Die reinen Wilden Ludwigs XV.! bemerkt Pinchinat. Es fehlen ihnen nur noch Rock, Hosen, Degen, Strümpfe, Hackenschuhe, Federhut und Schnupftabaksdose, um bei den kleinen Empfängen in Versailles hoffähig zu sein!«

Die samoanischen Frauen und jungen Mädchen gehen ebenso lückenhaft bekleidet wie die Männer, tätowieren sich Brust und Hände, tragen Gardeniakränze auf dem Kopfe und Halsbänder von rothem Hibiscus, und rechtfertigen so die Bewunderung, wovon die Berichte der ersten Besucher überfließen... wenigstens so lange sie jung sind.


Mit Cocoswasser tranken sie auf das Wohl der Gatten. (S. 230.)

Ihre Zurückhaltung und ungezierte Schüchternheit, ihre Grazie und ihr Lächeln entzücken das Quartett, als sie ihm »Kalosa«, d. i. Guten Tag, mit sanfter melodischer Stimme zurufen.

Ein Ausflug, den unsre Touristen am nächsten Tage unternehmen, bietet ihnen Gelegenheit, die Insel von einer Küste bis zur andern kennen zu lernen. Ein Wagen des Landes führt sie nach der entgegengesetzten Küste, nach der Bay von França, deren Name an Frankreich (la France) erinnert. Ein 1884 eingeweihtes Monument aus weißer Koralle trägt eine Bronzetafel mit den eingravierten unvergeßlichen Namen des Commandanten de Langle, des Naturforschers Lamonon und der neun Matrosen, der Begleiter Lapérouse's, die an dieser Stelle ermordet wurden.

Sebastian Zorn und seine Kameraden kehren durch das Innere der Insel nach Pago-Pago zurück. Welch prächtige, lianendurchflochtne Dickichte von üppig aufgeschossenen Bäumen, von Cocospalmen, wilden Bananen und einer Menge für Kunsttischlereiarbeiten geeigneten Arten. Das freie Land bedecken wieder Felder mit Taro, Zuckerrohr, niedrigen Kaffeebäumen, Baumwollstauden und Zimmetbäumen; überall zeigen sich Orangen, Goyaven, Mangos, Avocatos neben Kletterpflanzen, wie Orchideen, und baumartigen Farren. Es ist eine erstaunlich reiche [231] Flora, die dieser fruchtbare Boden bei dem feuchtwarmen Klima ernährt. Die samoanische Fauna dagegen beschränkt sich auf einige Vögel, wenige unschuldige Reptilien, und zählt unter den einheimischen Säugethieren nur eine kleine Ratte, den einzigen Vertreter der Nagethiere.

Vier Tage später, am 19. December, verläßt Standard-Island wieder Tetuila, ohne daß es zu dem, von dem Oberintendanten so herbeigesehnten »glücklichen Zwischenfall« gekommen ist. Immerhin scheint sich die Spannung zwischen beiden Familien weiter zu mildern.

[232] Kaum ein Dutzend Lieues trennen Tetuila von Upoln. Am nächsten Vormittag steuert der Commodore Simcoë in der Entfernung von einer Viertelmeile an den drei Eilanden Nun-tua, Samusu und Salafuta vorüber, die diese Insel wie ebensoviele detachierte Forts vertheidigen. Er manövriert mit großer Geschicklichkeit und trifft im Laufe des Nachmittags vor Apia ein.

Upolu mit seinen sechzehntausend Einwohnern ist die Hauptinsel des Archipels. Hier haben Deutschland, Amerika und England ihre Vertreter, die zum Schutze der Interessen ihrer Landsleute eine Art Rath bilden. Der Souverän [233] der Gruppe »regiert« inmitten seines Hofes in Malinuu auf der äußersten Ostspitze von Apia.

Der Anblick Upolus ist derselbe wie der Tetuilas; ein Haufen von Bergen, überragt vom Pic der Mission, der seiner Länge nach als Rückgrat der Insel gelten kann.


Sie unterhielten sich vergnügt mit dem alten Superior. (S. 235.)

Die alten, jetzt erloschnen Vulcane sind mit dichten Wäldern bis zum Kraterrande hinauf umhüllt. Am Fuße der Berge schließen sich Ebenen und Felder an, die bis zu dem Alluviumstreifen der Küste reichen und wo eine Vegetation von üppigster Tropenphantasie aufstrebt.

Am nächsten Tage lassen sich der Gouverneur Cyrus Bikerstaff, seine beiden Adjuncten und zwei Notabeln nach dem Hafen von Apia übersetzen, um einen officiellen Besuch bei den Vertretern Deutschlands, Englands und der Vereinigten Staaten zu machen, dieser zusammengesetzten Behörde, in deren Händen sich die Verwaltung des Archipels thatsächlich befindet.

Während Cyrus Bikerstaff sich nebst Gefolge zu den Vertretern begiebt, benützen Sebastian Zorn, Frascolin, Yvernes und Pinchinat, die gleichfalls ans Land gegangen waren, ihre Muße zur Besichtigung der Stadt.

Auf den ersten Blick sind sie verblüfft über den Contrast zwischen den europäischen Häusern mit den kaufmännischen Geschäften und den Hütten des alten Kanakendorfes, in denen die Eingebornen hausen. Jene Wohnstätten sind bequem, sauber, mit einem Worte reizend. Am Ufer des Apiaflusses zerstreut, liegen ihre niedrigen Dächer unter dem Schutze eleganter Palmenbäume.

Der Hafen ist ziemlich belebt. Er ist der besuchteste der ganzen Gruppe, und eine Hamburger Handelsgesellschaft unterhält hier eine Flottille zur Betreibung der Küstenfahrt zwischen Samoa und den Nachbarinseln.

Ist auf dem Archipel aber der dreifache Einfluß der genannten Nationen vorherrschend, so ist Frankreich wenigstens durch katholische Missionäre vertreten, deren Ehrenhaftigkeit, Ergebenheit und Pflichteifer ihnen bei der samoanischen Bevölkerung den besten Ruf erworben haben. Eine wahre Befriedigung, eine tiefe Rührung erfüllt unsre Künstler beim Anblick der kleinen Missionskirche, die nicht die puritanische Strenge der protestantischen Kapellen zeigt, und, etwas darüber, auf dem Hügel, eines Schulhauses, von dessen First die dreifarbige Fahne weht.

Nach dieser Seite gehend, gelangen sie binnen einigen Minuten nach der französischen Niederlassung. Die Maristen bereiten den »Falanis« – so nennen die Samoaner alle Fremden – einen patriotischen Empfang. Hier siedeln [234] drei mit der Verwaltung der Mission betraute Patres, die noch zwei andre in Savaï, nebst einer Anzahl von Mönchen, zur Seite haben.

Welches Vergnügen, mit dem schon bejahrten Superior zu plaudern, der Samoa schon seit langen Jahren bewohnt. Er ist so glücklich, Landsleute und – noch mehr – Künstler aus der Heimat zu empfangen. Das Gespräch wird mit erfrischendem Getränk unterbrochen, wozu die Mission das Recept besitzt.

»Und ebenfalls, meine lieben Söhne, sagte der Greis, glauben Sie nicht, daß unsre Inseln, was man sagt, wild wären. Hier werden Sie keine Eingebornen finden, die noch Cannibalen wären.

– Uns sind überhaupt noch keine solchen vorgekommen, bemerkt Frascolin.

– Zu unserm Bedauern, setzt Pinchinat hinzu.

– Wie? Zu Ihrem Bedauern?

– Verzeihen Sie, würdiger Vater, dieses Geständniß eines neugierigen Parisers! Es lag uns nur an der Localfärbung!

– O, läßt Sebastian Zorn sich vernehmen, noch sind wir nicht am Ende unsrer Fahrt, und vielleicht sehen wir noch mehr, als wir wünschen, von den Menschenfressern, nach denen unser Kamerad solche Sehnsucht zeigt.

– Das ist leider möglich, antwortet der Superior. Mehr in der Nähe der westlichen Gruppen, bei den Neuen Hebriden und den Salomon-Inseln zum Beispiel, müssen alle Seefahrer wohl auf ihrer Hut sein. Auf Tahiti dagegen, auf den Marquisen- und Gesellschafts-Inseln, wie auf Samoa, hat die Civilisation sehr bedeutende Fortschritte gemacht. Ich weiß wohl, daß die Ermordung der Begleiter Lapérouse's den Samoanern den Ruf natürlicher Wildheit erworben hat und die Meinung, daß sie dem Cannibalismus fröhnten. Wie viel hat sich seitdem aber Dank der christlichen Religion geändert! Die heutigen Eingebornen sind gesittete Leute, erfreuen sich einer Regierung mit zwei Kammern ganz wie in Europa, doch kommen auch Revolutionen vor...

– Ebenfalls wie in Europa?... fällt Yvernes ein.

– Wie Sie sagen, mein lieber Sohn, die Samoaner sind auch nicht gefeit gegen politische Streitereien!

– Das ist auf Standard-Island bekannt, antwortet Pinchinat, denn was wüßte man nicht auf dieser von den Göttern gesegneten Insel, ehrwürdiger Vater! Wir glauben sogar hier zu einer Zeit eingetroffen zu sein, wo kriegerische Verwicklungen zwischen zwei königlichen Familien drohen...

[235] – Ganz recht, meine Freunde, es ist ein Kampf entbrannt zwischen dem König Tupua, der von den alten Herrschern des Archipels abstammt und den wir mit unserm Einfluß aufs Beste unterstützen, und dem Könige Malietoa, dem Manne der Engländer und der Deutschen. Gar vieles Blut ist schon vergossen worden, vorzüglich in der großen Schlacht im December 1887. Jene Könige erlebten es, nacheinander proclamiert und wieder abgesetzt zu werden; schließlich aber ist Malietoa zum Herrscher erklärt worden, zwar durch Ausspruch der drei Mächte, aber doch nach den Anordnungen des Hofes von Berlin... ja, von Berlin!«

Der alte Missionär kann eine innere Erregung nicht unterdrücken, während dieser Name über seine Lippen kommt.

»Sehen Sie, sagte er, bisher ist der Einfluß der Deutschen auf Samoa maßgebend gewesen. Neun Zehntel des cultivierten Landes ist in ihren Händen. In der Nähe von Apia, in Suluafata, haben sie von der Regierung eine sehr wichtige Concession ganz nahe an einem Hafen erhalten, wo ihre Kriegsschiffe sich mit allem Nöthigen versehen können. Durch sie wurden hier Schnellfeuerwaffen eingeführt. Doch alles das wird eines Tages ein Ende nehmen...

– Zum Vortheil Frankreichs?...

– Nein, zu dem des Vereinigten Königreichs. Doch lassen wir das bei Seite. Wer kann wohl klar in die Zukunft schauen.

– Doch der König Malietoa... fährt Yvernes fort.

– Nun, der König Malietoa wird auch noch einmal entthront, und wissen Sie, wer der Prätendent ist, der die meiste Aussicht hätte, ihm zu folgen? Ein Engländer, einer der hervorragendsten Leute des Archipels, ein einfacher Romandichter...

– Ein Romandichter?...

– Jawohl, Robert Levis Stevenson, der Verfasser der »Insel des Schatzes« und der »Arabischen Nächte«.

– Da sieht man, wohin die Literatur führen kann! ruft Yvernes.

– Und unsre französischen Schriftsteller sollten sich beeilen, desgleichen zu thun, setzt Pinchinat hinzu. – Ah, Zola I., Souverän der Samoaner... anerkannt von der britischen Regierung, auf dem Throne der Tupua und der Malietoa, seine Dynastie die Nachfolgerin der Dynastien eingeborner Souveräne!... Welch' ein Traumgebilde!«

[236] Die Unterhaltung schließt damit, daß der Superior sich noch über mehrere Einzelheiten der Sitten der Samoaner verbreitet. Er fügt hinzu, daß der Katholicismus, obwohl hier die Mehrzahl dem wesleyanischen Protestantismus anhängt, doch jeden Tag Fortschritte mache. Die Missionskirche ist für die Gottesdienste bereits zu klein geworden und auch die Schule bedarf einer baldigen Vergrößerung. Er fühlt sich darüber sehr glücklich und seine Gäste freuen sich mit ihm.

Der Aufenthalt Standard-Islands vor Upolu dehnt sich auf drei Tage aus.

Die Missionäre haben den Besuch der französischen Künstler erwidert, wobei man die frommen Väter durch Milliard-City führte, über das sie ihrer Bewunderung unverholenen Ausdruck gaben. Im Saale des Casinos gab das Concert-Quartett auch einige Stücke aus seinem Repertoire zum Besten. Der gute Greis hatte dabei Thränen in den Augen, denn er verehrt die classische Musik, und bei etwaigen Festlichkeiten auf Upolu kann er freilich keine zu hören bekommen.

Am Abend vor der Abreise nahmen Sebastian Zorn, Frascolin, Pinchinat und Yvernes, dieses Mal von dem Tanz- und Anstandslehrer begleitet, von den Maristenmissionären Abschied. Auf beiden Seiten sind alle sehr gerührt bei diesem Abschied zwischen Leuten, die sich nur ein paar Tage gesehen haben und sich voraussichtlich niemals wiedersehen werden. Der Greis ertheilt allen seinen Segen und sie ziehen sich tief ergriffen zurück.

Am Morgen des 23. December giebt der Commodore Simcoë das Zeichen zum Aufbruch und Standard-Island gleitet weiter inmitten eines Geleits von Piroguen, die es bis zur benachbarten Insel Savaï begleiten wollen.

Diese Insel ist von Upolu nur durch eine sieben bis acht Lieues breite Meerenge getrennt; da die Hafenstadt Apia aber auf der Nordseite Upolus liegt, geht es den ganzen Tag über erst längs dessen Küste hin, ehe man jene Meerenge erreicht.

Nach dem vom Gouverneur angegebnen Curse handelt es sich nicht darum, Savaï zu umschiffen, sondern nur zwischen diesem und Upolu hinzusteuern, um sich dann mehr nach Südwesten und dem Tongaarchipel zuzuwenden. Standard-Island gleitet deshalb nur mit geringer Geschwindigkeit vorwärts, da es nicht in der Nacht in jene Meerenge einlaufen will, die noch von den beiden kleinen Inseln Apolinia und Menono flankiert ist.

[237] Am nächsten Morgen steuert der Commodore Simcoë nach diesen beiden Eilanden hin, von denen das eine, Apolinia, nur zweihundert, das andre, Manono, gegen eintausend Einwohner zählt. Die Leute hier genießen den besten Ruf und sollen vor allem die ehrlichsten von allen Samoanern sein.

Während der Schiffahrt kann man Savaï in seiner ganzen Pracht bewundern. Unerschütterliche Granitmauern schützen es gegen den Anprall des Meeres, das durch Orkane, Tornados und Cyklone vorzüglich zur Winterszeit nicht selten gefährlich wird. Savaï ist von dichten Waldungen bedeckt und von einem zwölfhundert Meter hohen Vulcan überragt. Ueberall schimmern weiße Villen hervor, die unter dem Dome riesiger Palmen liegen und von glitzernden Wasserfällen umrauscht werden. Die steilen Küsten aber zeigen viele Höhlen, aus denen das Echo von der Brandung mächtig widerhallt.

Darf man den Legenden trauen, so wäre diese Insel die Wiege aller polynesischen Völkerstämme gewesen; jedenfalls haben ihre Bewohner den ursprünglichen Typus am reinsten bewahrt. Sie hieß früher Savaïki, das berühmte Eden der mahorischen Gottheiten.

Langsam entfernt sich Standard-Island und verliert am Abend des 24. December ihre letzten Gipfel aus dem Gesicht.

3. Capitel
Drittes Capitel.
Ein Hofconcert.

Seit dem 21. December hat die Sonne, nachdem sie den Wendekreis des Steinbocks erreicht hatte, ihrer scheinbaren Bewegung nach wieder angefangen, sich nach Norden zu wenden. Damit läßt sie für die hiesigen Gegenden den Winter mit seiner Unbill hinter sich und bringt dafür den Sommer der nördlichen Halbkugel der Erde wieder.

Standard-Island befindet sich nur zehn Breitengrade von diesem Wendekreise entfernt, und wenn es nach Tonga-Tabu hinuntersegelt, gelangt es damit zur [238] tiefsten in der Reiseroute vorgesehenen Breite, und will sich von da aus wieder nach Norden begeben, um sich wieder in den günstigsten klimatischen Verhältnissen zu halten. Einer Periode sehr starker Hitze kann es freilich nicht entgehen, wenn die Sonne ihm im Zenith steht; diese Hitze wird aber durch die Seewinde gemildert und wird weiter abnehmen, je nachdem sich die Sonne weiter entfernt.

Zwischen dem Archipel von Samoa und dem von Tonga-Tabu zählt man acht Breitengrade oder etwa neunhundert Kilometer. Ohne sich zu übereilen, wird die Propeller-Insel über das beständig glatte Meer hingleiten, da jetzt Windstöße und Stürme fast ausgeschlossen sind. Es genügt, vor Tonga-Tabu in den ersten Tagen des Januar einzutreffen, dort soll eine Woche gerastet und dann nach den Fidschi-Inseln weiter gefahren werden. Von hier aus soll sich Standard-Island dann nach den Neuen Hebriden begeben, um die malayische Mannschaft ans Land zu setzen, und schließlich soll es, nach Nordwesten hinausgehend, die Breite der Madelainebay wieder erreichen und damit die diesjährige Rundreise vollenden.

In Milliard-City spinnt sich das Leben in ungestörter Ruhe weiter ab – das Leben einer großen amerikanischen oder europäischen Stadt mit seiner beständigen, durch die Dampfer oder die Telegraphenkabel unterhaltenen Verbindung mit der Neuen Welt, den gewohnten gegenseitigen Besuchen der Familien, der offenbaren Annäherung zwischen beiden Inselhälften, mit den Spaziergängen, den Unterhaltungen und den Concerten des Quartetts, die sich des unveränderten Beifalls der Musikliebhaber erfreuen.

Das Neujahr, die den Protestanten wie den Katholiken gleich heilige Christmas, wird mit größtem Prunke im Tempel, ebenso wie in der Saint-Mary Church, doch auch in den Einzelwohnungen, in den Hôtels und in den Häusern der Handelsviertel gefeiert. In der Woche von Weihnachten bis zum ersten Januar schwelgt die Insel in frohen Festlichkeiten.

Inzwischen veröffentlichten die Journale von Stan dard-Island, das »Starboard-Chronicle« und der »New-Herald« alle örtlichen und auswärtigen Neuigkeiten. Vorzüglich eine Neuigkeit aber, die gleichzeitig in beiden Blättern erscheint, giebt zu zahlreichen Commentaren Anlaß.

In der Nummer vom 26. December war nämlich zu lesen, daß der König von Malecarlieu sich zum Gouverneur nach dem Stadthause begeben und dieser ihm eine Audienz bewilligt habe. Niemand wußte, was Seine Majestät mit diesem Besuche bezweckte. In Folge dessen schwirren allerlei Gerüchte durch die[239] Stadt, und diese hätten sich unzweifelhaft mehr und mehr auf ganz unhaltbare Muthmaßungen gestützt, wenn die Journale nicht andern Tages Aufklärung über die Sache gebracht hätten.

Der König von Malecarlieu hat sich um eine Anstellung am Observatorium von Standard-Island beworben und die oberste Verwaltung seinem Gesuche sofort entsprochen.

»Alle Wetter, ruft Pinchinat, um so etwas zu erleben, muß man freilich in Milliard-City wohnen! Ein Souverän mit dem Fernrohr vor den Augen, der die Sterne am Horizont beobachtet!...

– Ein Gestirn der Erde, das mit seinen Brüdern am Firmament in Verbindung tritt!« setzt Yvernes hinzu.

Diese Mittheilung bestätigt sich, und zwar hat den König von Malecarlieu folgender Umstand veranlaßt, um jene Stelle anzuhalten.

Der König von Malecarlieu war ein gutherziger Mann, und die Königin, seine Gemahlin, eine nicht minder gutherzige Frau. Sie bemühten sich, so viel Gutes zu thun, wie das in einem Mittelstaate Europas nur aufgeklärte liberale Geister im Stande sind, ohne deshalb den Anspruch zu erheben, daß ihre Dynastie, wenn sie auch zu den ältesten der Alten Welt gehörte, göttlichen Ursprungs sei. Der König war sehr wissenschaftlich gebildet und liebte die Künste, vorzüglich die Musik. Als Gelehrter und Philosoph verschloß er aber die Augen nicht vor der Zukunft der europäischen Herrscherfamilien und war, wenn sein Volk es verlangte, jeden Augenblick bereit, aus seinem Königreich zu scheiden. Da er keinen directen Erben besaß, beging er damit seiner Familie gegenüber kein Unrecht, wenn ihm die Zeit gekommen schien, seinen Thron zu verlassen und sich der Krone zu entkleiden.

Dieser Zeitpunkt trat vor drei Jahren ein, ohne daß es dabei im Königreiche Malecarlieu zu einer Revolution – wenigstens nicht zu einer blutigen – gekommen wäre. Unter gegenseitiger Uebereinstimmung wurde der Vertrag zwischen Seiner Majestät und deren Unterthanen aufgehoben. Der König wurde wieder ein Mensch, seine Unterthanen Bürger und er ging ohne weitere Umstände ab, wie ein Reisender auf der Eisenbahn, und ließ ruhig die eine Regierungsform an Stelle der andern treten.


Ein König mit dem Fernrohre vor den Augen. (S. 240)

Mit sechzig Jahren noch außerordentlich kräftig, erfreute sich der König einer Constitution... vielleicht einer bessern, als sein früheres Königreich sich zu geben vermochte. Die schon von jeher wankende Gesundheit der Königin aber [240] verlangte einen Aufenthalt, wo sie vor grellem Temperaturwechsel geschützt war. Eine solche Gleichmäßigkeit der Verhältnisse war aber kaum anderswo als auf Standard-Island zu finden, wenn man der Beschwerde entgehen wollte der guten Jahreszeit in den verschiednen Breitenlagen der Erde immer nachzureisen. Das schwimmende Bauwerk der »Standard-Island Company« bot dagegen alle erwünschten Vortheile.

Das war der Grund, weshalb der König und die Königin von Malecarlieu sich entschlossen hatten, ihren Sitz in Milliard-City zu nehmen. Das wurde[241] ihnen unter der Bedingung zugestanden, daß sie hier als einfache Bürger lebten und jeden Anspruch auf Auszeichnung oder besondre Privilegien aufgaben. Ihre Majestäten dachten natürlich gar nicht daran, anders aufzutreten. In der Neununddreißigsten Avenue der Steuerbordhälfte ermietheten sie ein kleines Hôtel mit einem nach dem großen Park hinausliegenden Garten. Hier wohnten die beiden Souveräne sehr zurückgezogen, ohne sich in die Zwistigkeiten und Intriguen der rivalisierenden Stadthälften einzumischen, unter ganz bescheidnen Verhältnissen. Der König beschäftigte sich mit astronomischen Studien, für die er schon von jeher eine Vorliebe gehabt hatte. Die Königin, eine strenge Katholikin, führte ein fast klösterliches Leben und hatte nicht einmal Gelegenheit zu Werken der Barmherzigkeit, da Elend und Armuth auf dem Juwel des Stillen Oceans unbekannt sind.

Das ist die Geschichte der frühern Herrscher von Malecarlieu, wie sie der Oberintendant unsern Künstlern erzählt hat, unter dem Hinzufügen, daß dieser König und diese Königin die besten Menschen seien, die man nur finden könne, wenn auch ihre Vermögensverhältnisse ziemlich viel zu wünschen übrig ließen.

Sehr gerührt über diesen mit so viel Philosophie und Resignation ertragenen Umschlag der Dinge empfindet das Quartett eine ehrerbietige Theilnahme für die entthronten Souveräne. Statt sich nach Frankreich, der Heimat der exilierten Könige, zu flüchten, haben Ihre Majestäten Standard-Island gewählt, so wie sich reiche Leute aus Gesundheitsrücksichten in Nizza oder auf Korfu niederlassen. Sie sind freilich nicht eigentlich verbannt, nicht verjagt aus ihrem Königreiche und hätten dort wohnen bleiben oder dorthin zurückkehren können... natürlich nur als einfache Bürger wie jeder andre. Das kam ihnen jedoch gar nicht in den Sinn, denn sie fühlten sich in dieser friedlichen Existenz ganz außerordentlich wohl und unterwarfen sich gern den Gesetzen und Anordnungen, die für die Propeller-Insel erlassen waren.

Im Vergleich mit der Mehrheit der Milliardeser und mit den in Milliard-City gewöhnlichen Lebensanforderungen waren der König und die Königin von Malecarlieu freilich nicht reich zu nennen. Mit zweimalhunderttausend Francs Rente ist nicht viel anzufangen, wenn die Wohnung schon fünfzigtausend Francs Miethe kostet. Die Exsouveräne galten indeß schon für nicht vermögend unter den Kaisern und Königen Europas, die wiederum neben den Gould's, den Vanderbilt's, den Rothschild's, den Astor's, den Makay's und andern Finanzgrößen keine hervorragende Rolle spielen könnten. Daß jene sich keinen Luxus, sondern nur das [242] Allernothwendigste gestatteten, schien sie nicht im geringsten zu belästigen. Die Gesundheit der Königin besserte sich hier so befriedigend, daß der König gar nicht daran denken kann, den jetzigen Aufenthalt wieder zu wechseln. Er wünscht jedoch seine Einnahmen etwas aufzubessern, und da eine Stellung am Observatorium frei geworden war, bewarb er sich darum beim Gouverneur. Nach einem Telegrammaustausch mit der Direction in der Madelainebay hat Cyrus Bikerstaff über diese Stellung zu Gunsten des Souveräns verfügt, und so konnten die Journale von Milliard-City also verkündigen, daß der König von Malecarlieu zum Astronomen des Observatoriums von Standard-Island ernannt worden sei.

Das hätte in allen andern Ländern einen unerschöpflichen Redestoff geliefert. Hier spricht man davon zwei Tage, nachher ist die Sache vergessen. Es erscheint jedem ganz natürlich, daß ein König sich bemüht, sich durch Arbeit die Möglichkeit seines fernern Verbleibens in Milliard-City zu sichern. Er ist ein Gelehrter: die Gesammtheit wird davon Nutzen haben, darin liegt doch nichts Ehrenrühriges. Wenn er einen neuen Stern, einen Planeten, Kometen oder Fixstern entdeckt, wird man diesem seinen Namen geben. Und er wird mit Ehren unter den mythologischen Namen figurieren, von denen es in den officiellen Annalen wimmelt.

Im Parke lustwandelnd, unterhielten sich die Künstler über diese Angelegenheit, denn sie hatten an demselben Morgen den König auf dem Wege nach dem Bureau gesehen und waren noch nicht genug amerikanisiert, um darin nicht etwas außergewöhnliches zu erblicken. So verhandelten sie also noch über dieses Thema und Frascolin sagte:

»Wenn Seine Majestät nicht befähigt gewesen wäre, die Functionen eines Astronomen zu erfüllen, so scheint es, hätte er als Musiklehrer auftreten können.

– Ein König, der Privatstunden giebt! ruft Pinchinat.

– Ja, und zu einem Preise, den nur seine reichen Zöglinge hier hätten anlegen können.

– Man sagt wirklich allgemein, daß er ein guter Musiker sei, bemerkt Yvernes.

– Ich bin nicht erstaunt darüber, daß er fast Musiknarr sein soll, setzt Sebastian Zorn hinzu, denn wir haben ihn ja bei unsern Concerten an der Thür des Casinos stehen sehen, weil er einen Salonplatz für sich und die Königin nicht erschwingen konnte.

[243] – He, Ihr Bierfiedler, ich habe eine Idee! sagt Pinchinat.

– Eine Idee Seiner Hoheit, erwidert der Violoncellist, muß allemal eine barocke sein!

– Barock oder nicht, mein alter Sebastian, antwortet Pinchinat, ich bin ganz überzeugt, daß Du sie billigst.

– Na, so wollen wir Pinchinat's Idee einmal hören, sagt Frascolin.

– Ich möchte nämlich vorschlagen, Ihren Majestäten, aber auch ihnen ganz allein, ein Concert in ihrem Salon zu geben und dabei die besten Stücke unsers Repertoires vorzutragen.

– Alle Achtung! ruft Sebastian Zorn, weißt Du, daß das gar kein schlechter Gedanke ist?

– Sapperment, von solchen Gedanken habe ich noch den ganzen Kopf voll, und wenn ich den einmal schüttle...

– Da klingt es wie ein Hagelschauer! fällt Yvernes ein.

– Lieber Pinchinat, nimmt Frascolin wieder das Wort, beschränken wir uns für heute auf Deinen Vorschlag. Ich bin fest überzeugt, daß wir dem guten Könige und der guten Königin ein großes Vergnügen bereiten werden.

– Morgen ersuchen wir schriftlich um eine Audienz, meint Sebastian Zorn.

– Nein, noch besser, sagt Pinchinat. Gleich heute Abend stellen wir uns vor der Königin Wohnung mit unsern Instrumenten ein, wie ein Musikcorps, das ein Morgenständchen bringen will...

– Du willst sagen, eine Serenade, verbessert ihn Yvernes, da es ja spät Abends sein wird...

– Meinetwegen, Du strenge, aber gerechte erste Geige! Doch streiten wir uns nicht um Worte. Ist die Sache abgemacht?

– Abgemacht und besiegelt!«

Ja, sie haben da wirklich eine gute Idee. Gewiß wird der musikliebende König die zarte Aufmerksamkeit der französischen Künstler verstehen und sich glücklich schätzen, sie zu hören.

Mit Eintritt der Dämmerung verläßt also das Quartett, seine Instrumente mitnehmend, das Casino und begiebt sich nach der am Ende der Steuerbordhälfte gelegnen Neununddreißigsten Avenue.

Es ist eine recht einfache Wohnung mit einem kleinen, von grünendem Rasen geschmückten Hofe davor. Das Gebäude besteht nur aus dem Erdgeschoß, [244] zu dem eine Rampe hinausführt, und einem Stockwerk nebst Mansardendach. Links und rechts beschatten zwei prächtige Nußbäume den zweifachen Fußweg, der zum Garten führt. Unter dem Laubdach dieses nur zweihundert Quadratmeter großen Gartens dehnt sich ein zarter Rasenteppich aus. Mit den Hôtels der Coverley's, Tankerdon's und andrer Notabeln läßt sich dieses Häuschen natürlich nicht vergleichen. Es ist die Zufluchtsstätte eines Weisen, der in seiner eignen Welt lebt, eines Gelehrten, eines Philosophen. Abdolonyme hätte sich, als er vom Throne der Könige von Sidon herabstieg, wohl auch damit begnügt.

Der König von Malecarlieu hat als einzigen Castellan seinen Kammerdiener, und die Königin als Ehrendame ihre Kammerfrau. Rechnet man hierzu noch eine amerikanische Köchin, so hat man das ganze Personal der abgesetzten Herrscher, die sich früher mit den Kaisern der Alten Welt »Herr Bruder« nannten.

Frascolin drückt auf einen elektrischen Knopf. Der Kammerdiener öffnet das Gitterthor.

Frascolin meldet, daß er und seine Kameraden, französische Künstler, den Wunsch hegten, Seiner Majestät ihre Ehrenbezeugung darzubringen, und um die Gunst bäten, empfangen zu werden.

Der Diener ersucht sie, einzutreten, und sie bleiben auf der Rampe stehen.

Fast augenblicklich kommt der Mann zurück mit der Meldung, daß der König sie mit Vergnügen empfangen werde. Man führt sie nach dem Vestibule, wo sie ihre Instrumente niederlegen, und dann nach einem Salon, in den auch Ihre Majestäten sofort eintreten.

Das war das ganze Ceremoniell des Empfangs.

Voller Respect vor dem Könige und der Königin haben die Künstler sich verneigt. Die sehr einfach in dunkle Stoffe gekleidete Königin trägt als Kopfschmuck nur ihr reiches Haar, dessen graue Locken ihrem etwas bleichen Gesichte und halbverschleierten Blicke einen ganz besondern Reiz verleihen. Sie nimmt auf einem Fauteuil neben dem Fenster Platz, das nach dem Garten hinausgeht.

Der König erwidert stehend die Begrüßungen seiner Besucher und ersucht sie, sich zu äußern, welche Veranlassung sie nach diesem, an der Grenze Milliard-Citys gelegnen Hause geführt habe.

Alle Vier fühlen sich ergriffen beim Anblick dieses Souveräns, dessen ganzes Wesen eine unaussprechliche Würde athmet. Sein Blick, der durchdringende Blick des Gelehrten, glänzt lebhaft unter den fast schwarzen Lidern hervor. Der [245] wohlgepflegte weiße Bart fällt ihm bis zur Brust herab. Sein Gesichtsausdruck, dessen ernster Charakter durch ein angenehmes Lächeln gemildert wird, erwirbt ihm die Zuneigung aller Personen, die in seine Nähe kommen.

Frascolin ergreift das Wort und sagt, nicht ohne ein leises Zittern der Stimme:

»Wir danken Eurer Majestät für die Gnade, uns empfangen zu haben, uns einfache Künstler, die nur der innige Wunsch leitete, Ihnen ihre Ehrerbietung zu bezeugen.

– Die Königin und ich, antwortet der König, danken Ihnen, meine Herren, und fühlen uns von Ihren Gesinnungen angenehm berührt. Es scheint fast, als hätten Sie nach dieser Insel, wo wir unser vielbewegtes Leben zu beschließen hoffen, etwas von der Luft Ihres schönen Frankreichs mitgebracht. Sie, meine Herren, sind mir übrigens nicht unbekannt, denn wenn ich auch mehr wissenschaftlich thätig bin, so liebe ich doch leidenschaftlich die Musik, die Kunst, der Sie Ihren vorzüglichen Ruf in der Kunstwelt verdanken. Wir kennen die Erfolge, die Sie in Europa wie in Amerika errungen haben, den Beifallssturm, mit dem Sie auf Standard-Island bewillkommnet wurden, und an dem wir – wenn auch etwas aus der Ferne – uns gern betheiligt haben. Zu unserm Bedauern konnten wir Sie nur noch nicht so hören, wie man Sie eigentlich hören muß.«

Der König bietet seinen Gästen Stühle an; dann erst setzt er sich selbst vor den Kamin, dessen Marmor eine herrliche Büste der Königin aus deren Jugendzeit, ein Werk Franquetti's, trägt.

Um zur Sache zu kommen, braucht Frascolin nur an den letzten Satz, den der König aussprach, anzuknüpfen:

»Eure Majestät haben Recht, sagt er, und rechtfertigt sich dieses Bedauern wohl vor allem durch die Art der Musik, die wir vertreten. Die Kammermusik, die Quartetts der berühmten Meister, eignen sich im Grunde nicht für eine zu große Zuhörerschaft. Sie brauchen etwas wie die ruhige Andacht eines Heiligthums...

– Gewiß, meine Herren, fällt hier der König ein, gerade dieser Musik muß man lauschen können, wie den Sphärenklängen himmlischer Harmonie, und deshalb verlangt sie einen geheiligten Ort...

– Möchten der König und die Königin uns doch gestatten, sagt Yvernes, diesen Salon für eine Stunde in ein solches Heiligthum zu verwandeln, und uns vor Ihren Majestäten ganz allein hören zu lassen...«

[246] Yvernes hat seine Worte noch nicht vollendet, da belebt sich die Physiognomie der beiden Souveräne.

»Meine Herren, Sie wollten... Sie wären auf den Gedanken gekommen...

– Das war der Zweck unsers Besuchs...

– Ach, sagte der König, ihnen die Hand bietend, daran erkenne ich französische Musiker, bei denen Talent und Herz sich gleichen! Ich danke Ihnen, meine Herren, im Namen der Königin und in dem meinen. Nichts... wirklich nichts könnte uns eine größre Freude bereiten!«

Und während der Kammerdiener Auftrag erhielt, die Instrumente zu holen und den Salon für dieses improvisierte Concert herzurichten, laden der König und die Königin ihre Gäste ein, ihnen in den Garten zu folgen. Hier plaudern alle und sprechen über Musik, als wären sie die vertrautesten Kunstgenossen.

Der König überläßt sich seinem Enthusiasmus für diese Kunst wie ein Mann, der allen Reiz derselben warm empfindet und alle Schönheiten derselben kennt. Er zeigt zum Erstaunen seiner Zuhörer, wie bekannt er mit den Meistern ist, die er nach einigen Minuten hören soll... er preist das naïve und angeborne Genie Haydn's, erinnert daran, was ein Kritiker über Mendelssohn gesagt hat, über diesen Fürsten der Kammermusik, der seine Gedanken in die Sprache Beethoven's übersetzt... er rühmt Weber's unübertroffene Feinfühligkeit und chevaleresken Geist, der ihm als Meister einen ganz eignen Standpunkt anweise... spricht von Beethoven als dem allerersten in der Instrumentalmusik, in dessen Symphonien sich eine ganze Seele offenbart. Die Werke seines Genius geben an Größe und Werth den Meisterwerken der Dichtkunst und Malerei, der Sculptur und der Architektur nicht das geringste nach... er, ein leuchtender Stern, der in seiner neunten Symphonie noch strahlend erlöscht, wo der Klang der Instrumente sich so ergreifend mit der menschlichen Stimme mischt!

»Und doch hätte er nie nach dem Takte tanzen können!«

Man erkennt leicht, daß es Pinchinat ist, der diese unangebrachte Bemerkung fallen läßt.

»Jawohl, antwortet der König lächelnd, doch das beweist nur, meine Herren, daß das Ohr für den Musiker kein unentbehrliches Organ ist. Er hört mit dem Herzen, mit diesem allein! Hat das nicht Beethoven gerade in der unvergleichlichen Symphonie bewiesen, die ich eben erwähnte, und die er schuf, als ihn die Taubheit irgend einen Ton zu hören hinderte?« Im weiteren Gespräch verbreitet die Majestät sich mit hinreißender Beredtsamkeit über Mozart.

[247] »O, meine Herren, sagt er, lassen Sie mein Entzücken ruhig überschäumen! Es ist so lange her, daß sich meine Seele einmal so entlasten konnte. Sie sind ja, so lange ich auf Standard-Island lebe, die einzigen Künstler, die mich verstehen. Mozart! Mozart! Einer der größten dramatischen Tondichter, meiner Ansicht nach der erste des neunzehnten Jahrhunderts, hat ihm ja unsterbliches Lob gezollt. Ich habe alles gelesen und werde es niemals vergessen! Er hat ausgesprochen, wie Mozart dadurch, daß er jedem Worte den richtigen Ton zu geben versteht, alle zu bezaubern weiß, ohne daß dabei die musikalische [248] Phrase auch nur im geringsten leidet... er hat gesagt, daß die pathetische Wahrheit sich bei ihm mit der plastischen Schönheit vermählt.


Sie schritten mit ihren Instrumenten der einfachen Wohnung des Königs zu. (S. 244.)

Ist Mozart nicht der Einzige, der mit niemals irrender Sicherheit die musikalische Form für alle Empfindungen, für alle Abstufungen der Leidenschaft und des Charakters zu treffen verstand? Mozart ist nicht nur ein König... was hat ein König jetzt noch zu bedeuten? unterbricht sich Seine Majestät, mit dem Kopfe schüttelnd, ich möchte sagen, er ist ein Gott, weil man noch zugiebt, daß ein Gott vorhanden ist, er ist der Gott der Musik!«


Stehend empfing der König die Besucher. (S. 245.)

Die Wärme, mit der Seine Majestät seine Bewunderung ausdrückt, ist gar nicht wiederzugeben. Und nachdem er und die Königin nach dem Salon zurückgekehrt und die Künstler ihnen dahin gefolgt sind, er [249] greift er ein auf dem Tische liegendes Buch. Dieses Buch, das er gewiß oft gelesen hat, trägt den Titel : »Don Juan von Mozart«. Er schlägt es auf und liest einige Zeilen von der Feder des Meisters, der Mozart am besten verstanden, am meisten geliebt hat, von dem berühmten Gounod: »O Mozart, göttlicher Mozart! Wie wenig braucht man Dich zu verstehen, um Dich schon zu bewundern! Du, Du bist die ewige Wahrheit und die vollendete Schönheit! Du der Unerschöpfliche! Du immer tief und klar! Du die vollendete Menschlichkeit und kindliche Einfalt! Du, der Alles empfunden und in musikalischer Phrase Alles in einer Weise ausgedrückt hat, die nie übertroffen worden ist und nie übertroffen werden wird!«

Nun ergreifen Sebastian Zorn und seine Kameraden ihre Instrumente und beim milden Schein der elektrischen Hängelampe spielen sie das erste der für dieses Concert erwählten Musikstücke.

Es ist das zweite Quartett in As-dur, Op. 13 von Mendelssohn, dem das königliche Auditorium mit unverholenem Entzücken lauscht.

Diesem Quartette folgt das dritte in C-dur, Op. 75 von Haydn, das heißt, die österreichische Hymne, die mit unvergleichlicher Maestria vorgetragen wird. Niemals erhoben sich ausübende Musiker so nahe bis zur Vollkommenheit, wie in den stillen Räumen dieses Heiligthums, wo unsre Künstler nur zwei entthronte Souveräne als Zuhörer hatten.

Nach Beendigung dieser wahrhaft erhebenden Hymne spielen sie das sechste Quartett in H-moll, Op. 18 von Beethoven, jene »Malinconia« von so düsterm Charakter und so ergreifender Macht, daß die Augen ihrer Majestäten sich mit Thränen füllen.

Hierauf folgt die wunderbare Fuge in C-moll von Mozart, die so vollendet, so frei von aller Gesuchtheit und so natürlich ist, daß sie wie ein klares Wasser dahinzugleiten oder wie ein leichter Wind durch Laubwerk zu wehen scheint. Dieser schließt sich endlich eines der prächtigsten Werke des göttlichen Meisters an, das zehnte Quartett in D-dur, Op. 35, womit diese unvergeßliche Soirée, derengleichen die Nabobs der Milliard-City noch nie zu genießen Gelegenheit fanden, ihr Ende erreichte.

Die Franzosen konnten beim Vortrage der herrlichen Tondichtungen ebensowenig ermüden, wie der König und die Königin, ihnen zuzuhören.

[250] Es ist aber elf Uhr geworden und der König sagt:

»Wir danken Ihnen, meine Herren, und dieser Dank kommt aus tiefstem Herzen. Dank der Unübertrefflichkeit Ihres Vortrags haben wir uns eines Kunstgenusses erfreuen dürfen, dessen Andenken nie in uns erlöschen wird! Es hat uns sehr wohlgethan...

– Wünschen es Eure Majestät, so könnten wir noch...

– Ich danke Ihnen, meine Herren, ich danke Ihnen nochmals. Wir wollen Ihre Gefälligkeit nicht mißbrauchen! Es ist schon spät... und dann... diese Nacht hab' ich noch Dienst.«

Diese Worte aus dem Munde des Königs bringen die Künstler zur Wirklichkeit zurück. Dem Souverän, der so spricht, gegenüber, fühlen sie sich verlegen...

»Nun ja, meine Herren, fährt der König in heiterm Ton fort. Bin ich nicht der Astronom des Observatoriums von »Standard-Island?«... Und, setzt er nicht ohne einige Bewegung hinzu, Inspector der Sterne und der... erlöschenden Gestirne...«

4. Capitel
Viertes Capitel.
Ein britisches Ultimatum.

Während der letzten, den Vergnügungen der Christmas gewidmeten Woche des Jahres ergehen zahlreiche Einladungen zu Diners, Soiréen und officiellen Empfängen. Ein vom Gouverneur den ersten Persönlichkeiten der Milliard-City angebotenes und von den Notabeln beider Stadthälften angenommenes Bankett zeugt von einer gewissen Verschmelzung der beiden Theile.

Die Tankerdon's und Coverley's finden sich hier an einem Tische zusammen. Am ersten Tage des Jahres werden gewiß Glückwunschkarten zwischen dem Hôtel der Neunzehnten und dem der Fünfzehnten Avenue ausgetauscht. Walter Tankerdon erhält sogar eine Einladung zu einem der Concerte der Mrs. Coverley. Die Art und Weise, wie ihn die Dame des Hauses empfängt, ist von guter [251] Vorbedeutung. Von da bis zu einer engsten Verbindung ist es freilich noch weit, obwohl Calistus Munbar in seiner chronischen Verblendung nie aufhört, gegen jeden, der es hören will, zu wiederholen:

»Es ist abgemacht, meine Freunde, die Sache ist in Ordnung!«

Inzwischen setzt die Propeller-Insel ihre friedliche Fahrt nach dem Archipel von Tonga-Tabu fort. Nichts schien dieselbe stören zu sollen, als sich in der Nacht vom 30. zum 31. December eine unerwartete meteorologische Erscheinung zeigt.

Zwischen zwei und drei Uhr hört man entfernte Detonationen; die Wachen legen denselben keine besondre Bedeutung bei. Es scheint kaum annehmbar, daß es sich um einen Seekampf handeln könnte oder doch höchstens um einen solchen zwischen den Schiffen der südamerikanischen Republiken, die sich so häufig in den Haaren liegen. Auf Standard-Island, der unabhängigen Insel, die mit allen Mächten beider Welten in Frieden lebt, braucht man sich also nicht zu beunruhigen.

Die von der Westseite her dröhnenden Detonationen dauern übrigens bis zum Tagesanbruch fort und können mit dem Donnergerolle entfernten Artilleriefeuers nicht verwechselt werden.

Der Commodore Simcoë wird von seinen Officieren davon benachrichtigt und beobachtet den Horizont vom Thurme des Observatoriums aus. Kein Lichtschein zeigt sich auf dem weiten Segment des Meeres, das vor seinen Augen liegt. Immerhin bietet der Himmel nicht das gewöhnliche Aussehen. Der Reflex von Flammen hat ihn bis zum Zenith hinauf gefärbt. Die Luft ist stark dunstig trotz des schönen Wetters und auch der Thermometer deutet durch sein plötzliches Fallen auf eine Störung in der Atmosphäre hin.

Beim ersten Tageslicht erfahren die Frühaufsteher von Milliard-City eine seltsame Ueberraschung. Die Detonationen dauern nicht allein noch immer fort, die Luft erfüllt sich auch wie mit einem roth und schwarzen Dunste, einer Art seinem Staube, der wie Regen herabfällt. Man hätte es einen Platzregen rußiger Moleküle nennen können. In kürzester Zeit sind die Straßen der Stadt und die Dächer der Häuser mit einer Substanz bedeckt, worin sich die Farben des Carmins, des Krapp, der Garance und des Purpurs mit schwärzlichen Schlacken vermischen.

Alle Einwohner sind hinausgeströmt – mit Ausnahme des Athanase Dorémus, der nun einmal erst zu Mitternacht zu Bette geht und vor elf Uhr morgens nicht aufsteht. Das Quartett ist selbstverständlich vom Lager ausgeprungen und hat sich nach dem Thurme des Observatoriums begeben, wo der [252] Commodore, seine Officiere, seine Astronomen – den neuen königlichen Beamten nicht zu vergessen – sich eingefunden haben, um die Natur dieser Erscheinung zu enträthseln.

»Es ist bedauerlich, beginnt Pinchinat, daß dieser rothe Stoff nicht flüssig und daß diese Flüssigkeit nicht ein Regen von Pomard oder von Chateau Lafitte ist!

– Ewig trockne Musikantenkehle!« antwortet Sebastian Zorn.

Was die Natur ähnlicher Erscheinungen angeht, weiß man, daß wiederholt Regenfälle von rothem, aus Kieselsäure, Chromoxyd und Eisenoxyd bestehendem Sand beobachtet worden sind. Zu Anfang unsers Jahrhunderts wurden Calabrien und die Abruzzen in ähnlicher Weise überschüttet, und die abergläubischen Bewohner wollten in dem Niederschlage Blutstropfen sehen, wo es sich, wie 1819 in Blankenberghe, nur um Cobaltchlorür handelte. Auch von entfernten Feuersbrünsten werden ja wohl Aschenheilchen oft weit fortgetragen. Solche Niederschläge hat man 1820 in Fernambuko, gelbe Regen 1824 in Orleans und 1836 in den Niederpyrenäen gesehen, welch letztere aus den Pollenkörnern blühender Linden bestanden.

Welcher Quelle aber die Staub- und Schlackentheile entstammten, die jetzt auf Standard-Island niederfielen, war nicht so ohne weiteres zu entscheiden.

Der König von Malecarlieu meinte, daß sie aus einem Vulcan der östlichen Inseln herrühren dürften, und seine Collegen vom Observatorium theilten seine Ansicht. Man sammelte einige Hände voll dieser Schlacken, die sich wärmer zeigen als die umgebende Luft. Ein heftiger Vulcanausbruch würde die unregelmäßigen Detonationen, die noch immer hörbar sind, erklären. Diese Gegend ist ja voller theils noch thätiger, theils erloschener Vulcane, ganz zu schweigen von denen, die zuweilen aus der Tiefe des Oceans emporgehoben werden und dann die gewaltigsten Ausbrüche zeigen.

Gerade inmitten des Archipels von Tonga hat der Tusua erst vor wenigen Jahren eine Fläche von über hundert Quadratkilometern mit seinen Eruptivmassen bedeckt, und das Donnern und Krachen seines gewaltigen Ausbruchs ist zuweilen bis auf zweihundert Kilometer Entfernung hörbar gewesen.

Im August 1883 verwüsteten die Eruptionen des Krakatoa den Theil der Inseln Java und Sumatra, der nach der Sundastraße zu liegt, zerstörten die Dörfer, wobei viele Menschen das Leben verloren, riefen starke Erderschütterungen hervor, bedeckten den Erdboden mit einer schmutzigen Schicht, [253] wühlten das Wasser des Meeres zu furchtbaren Wogenbergen auf, verpesteten die Luft mit schwefligen Dünsten und richteten alle in der Nähe befindlichen Schiffe zu Grunde.

Da liegt die Frage nahe, ob die Propeller-Insel nicht von einem ähnlichen Geschick bedroht sei...

Der Commodore Simcoë ist offenbar beunruhigt, denn die Weiterfahrt scheint sehr schwierig zu werden. Auf seinen Befehl bewegt sich Standard-Island jetzt auch nur sehr langsam weiter.

Die Milliardeser sind von Entsetzen gepackt, scheint es doch, als sollten die Unkenrufe Sebastian Zorn's bezüglich des Ausgangs der Fahrt sich schon jetzt bewahrheiten.

Zu Mittag ist es ganz finster geworden. Die Leute sind aus den Häusern geflohen, in der Befürchtung, daß diese einem unterirdischen Stoße nicht widerstehen werden. Nach beiden Häfen sind Officiere beordert, um auf alles Acht zu geben. Die Maschinisten stehen bereit, mit der ganzen Insel zu wenden, wenn es nöthig würde, eine andre Richtung einzuschlagen. Leider gestalten sich die Verhältnisse auch hierfür immer ungünstiger, je mehr sich der Himmel mit pechschwarzen Dunstmassen erfüllt.

Gegen sechs Uhr abends vermag man kaum zehn Schritte weit zu sehen. Die Menge der herabfallenden Massen ist so groß, daß die Insel schon bemerkbar tiefer einsinkt – und diese ist doch kein gewöhnliches Schiff, das man durch Ueberbordwersen der Fracht zu erleichtern im Stande ist.

So kommt der Abend, kommt die Nacht heran, doch ist das nur am Stande der Uhren zu erkennen, denn die Dunkelheit ist dieselbe wie vorher. Der Schlackenfall macht es unmöglich, die elektrischen Monde im Freien hängen zu lassen, man holt sie also herunter. Natürlich wird die Beleuchtung der Straßen und des Innern der Häuser nicht unterbrochen.

In der allgemeinen Lage bringt auch die Nacht keine Veränderung, höchstens scheint es, daß die Detonationen minder häufig werden und sich auch etwas abschwächen, während der vom starken Winde mehr nach Süden entführte Aschenregen etwas nachläßt.

Die Milliardeser wagen sich wieder in ihre Wohnungen zurück, mit der Hoffnung, daß sich die Verhältnisse bis zum Morgen weiter bessern werden. Dann bedarf es nur einer gründlichen Säuberung der Schraubeninsel, und alles wird glücklich überstanden sein.

[254] Und doch, welch trauriger erster Januar für das Juwel des Stillen Oceans, und wie wenig fehlte daran, daß Milliard-City das Schicksal von Pompeji und Herculanum bescheert wurde! Liegt die Stadt auch nicht am Fuße eines Vesuv, so begegnet sie auf ihrer Fahrt doch sehr vielen Vulcanen, die gerade hier über und unter der Oberfläche des grenzenlosen Meeres liegen.

Der Gouverneur, seine Adjuncten, der Rath der Notabeln, bleiben im Stadthause dauernd versammelt. Die Wachen auf dem Thurme achten auf jede Veränderung am Horizonte wie am Zenith. Um ihren Curs nach Südwesten beizubehalten, ist die Propeller-Insel zwar immer weiter gefahren, doch nur mit der Geschwindigkeit von zwei bis drei Meilen in der Stunde.

Sobald es wieder heller wurde, wollte man dem Archipel von Tongo direct zusteuern. Dort würde man ohne Zweifel erfahren, welche Insel dieser Gegend der Schauplatz dieser furchtbaren Eruption gewesen war.

Im ganzen verliert die grausige Naturerscheinung im Laufe der Nacht entschieden an Stärke.

Gegen drei Uhr morgens erschreckt ein neuer Zwischenfall die Einwohner Milliard-Citys.

Standard-Island erhält einen Stoß, der sich durch den ganzen Untergrund fühlbar macht, wenn er auch nicht hinreichend war, die Wohnungen zu beschädigen und die Maschinen in Unordnung zu bringen, denn die Schrauben arbeiten wie früher weiter. Immerhin muß sich am Vordertheil eine Collision ereignet haben.

Doch welche? Auf eine Untiefe konnte Standard-Island, da es sich noch fortbewegte, nicht aufgelaufen sein. Vielleicht auf eine Klippe? Oder war es in der Dunkelheit zum Zusammenstoße mit einem Schiffe gekommen, das seinen Weg kreuzte und seine Positionslichter nicht hatte wahrnehmen können?... Hat diese Collision schwere Havarien verursacht, die, wenn sie auch die Sicherheit Standard-Islands nicht gefährden, doch vielleicht größre Reparaturen nöthig machen?

Cyrus Bikerstaff und der Commodore Simcoë begeben sich, nicht ohne Mühe durch die dicke Aschenschicht vordringend, nach der Rammspornbatterie.

Hier erfahren sie, daß ein großes Schiff, ein von Westen nach Osten steuernder Dampfer, in der That mit Standard-Island zusammengestoßen ist, der je doch erst, als er ganz in der Nähe war, hatte gesehen werden können. Wohl hatte man von ihm aus Hilferufe und Geschrei gehört, doch dauerte das nur wenige Augenblicke.


Sie ergriffen ihre Instrumente und begannen mit dem Spiele. (S. 250.)

Der Officier des Postens und seine Leute haben, als[255] sie nach der Spitze der Batterie geeilt waren, schon nichts mehr gesehen oder gehört. Leider sieht es aus, als ob das Schiff auf der Stelle versunken sei.

Standard-Island selbst hat bei dem Unfall keinen ernsten Schaden erlitten. Seine Masse ist so ungeheuer, daß es bei einem Zusammenstoß auch das stärkste Panzerschiff in den Grund bohren würde, und ein solcher Fall scheint hier vorzuliegen.


Ein großer Dampfer war mit der Propeller-Insel zusammengestoßen. (S. 255.)

Was die Nationalität des Schiffes angeht, so will der Anführer des Wachpostens Befehle in sehr rauher Stimme ertheilen gehört haben, wie solche in der [256] englischen Marine gebräuchlich sind. Er kann das aber nicht mit Bestimmtheit behaupten.

Ein ernster Fall, der nicht minder ernste Folgen haben kann. Was wird das Vereinigte Königreich dazu sagen? Ein englisches Schiff ist ein Stückchen England, und man weiß, daß sich Großbritannien nicht ungestraft amputieren läßt. Standard-Island hat gewiß Reclamationen zu erwarten und wird für den angerichteten Schaden eintreten müssen. So fängt das neue Jahr an. Bis um zehn Uhr morgens ist es dem Commodore Simcoë unmöglich, auf der [257] See Nachsuchungen vornehmen zu lassen. Noch ist die Luft zu stark mit Dünsten erfüllt, obwohl der aufgefrischte Wind diese mehr und mehr verjagt. Endlich bricht jedoch die Sonne hindurch.

Nun läßt sich erst übersehen, in welchem Zustand Milliard-City, der Park, das Feld, die Häfen und alles andre sich befinden. Da heißt es reinigen von Grund aus. Doch das ist Sache der Wegeverwaltung und schließlich nur eine Frage des Geldes und der Zeit. An beiden fehlt es ja nicht.

Die nähere Besichtigung des Rammsporns ergiebt, daß dieser und das ganze schwimmende Bauwerk ohne nennenswerthe Beschädigung sind. Der solide Rumpf desselben hat aber so wenig gelitten, wie der stählerne Keil, der in ein Stück Holz eindringt.

Auf dem Wasser sind keine Trümmer zu finden; auch vom Thurme des Observatoriums ist selbst mit den besten Fernrohren nichts zu entdecken, obwohl Standard-Island sich keine zwei Meilen von der Unfallstelle fortbewegt hat.

Dennoch verlangt es die Menschlichkeit, die Nachsuchungen nicht sogleich aufzugeben.

Der Gouverneur bespricht sich darüber mit dem Commodore. Die Maschinisten erhalten Befehl, die Maschinen zu stoppen und die elektrischen Boote sollen aus beiden Häfen unverzüglich auslaufen.

Die über fünf bis sechs Meilen ausgedehnten Nachforschungen bleiben jedoch ganz erfolglos, und mehr und mehr drängt sich die Ueberzeugung auf, daß das betreffende Schiff in seinen lebenswichtigsten Theilen verletzt worden und auf der Stelle versunken sei.

Nun läßt der Commodore Simcoë in gewohnter Schnelligkeit weiterfahren. Die Mittagsbeobachtung ergiebt, daß Standard-Island sich hundertfünfzig Meilen südwestlich von Samoa befindet.

Den Wachposten wird noch immer ans Herz gelegt, auf alles strengstens zu achten.

Gegen fünf Uhr abends werden Rauchwolken im Südosten gemeldet. Den letzten Ausbrüchen eines Vulcans sind dieselben kaum zuzuschreiben, denn die Seekarten verzeichnen auch in weiterer Entfernung hier keine Insel und kein Eiland. Es hätte sich also nur um einen aus dem Meeresgrunde neu aufgestiegnen Krater handeln können.

Doch nein; die Rauchwolken nähern sich offenbar Standard-Island.

Eine Stunde später erblickt man schon drei, in Linie fahrende Schiffe, die unter Volldampf herankommen.

[258] Nach einer weitern halben Stunde zeigt es sich, daß es Kriegsschiffe sind, und bald kann auch über ihre Nationalität kein weitrer Zweifel bestehen. Es ist das britische Geschwader, das es fünf Wochen vorher nicht für geboten gehalten hat, die Flagge von Standard-Island zu salutieren. Mit Anbruch der Nacht befinden sich die Schiffe nicht mehr vier Meilen weit von der Rammspornbatterie, ohne daß vorläufig zu entscheiden ist, ob sie vorüberfahren werden oder nicht.

»Ihren Positionslichtern nach scheinen sie die Absicht zu haben, mit uns in Verkehr zu treten, sagt der Commodore Simcoë zu dem Gouverneur.

– So wollen wir sie erwarten,« antwortet Cyrus Bikerstaff.

Doch was will der Gouverneur dem Geschwadercommandanten antworten, wenn dieser wegen des stattgefundnen Zusammenstoßes Reclamation erhebt? Wahrscheinlich ist das doch seine Absicht, vorzüglich, wenn die Besatzung des verunglückten Schiffes von dem Geschwader vielleicht noch gerettet worden wäre. Zu dem Entschlusse ist aber noch Zeit, wenn man weiß, woran man ist.

Das sollte am nächsten Tage sehr frühzeitig der Fall sein.

Mit Sonnenaufgang weht schon die Flagge des Contreadmirals am Besan des führenden Kreuzers, der sich zwei Meilen vom Backbordhafen unter Dampf hält. Jetzt stößt ein Boot davon ab und kommt auf den Hafen zu.

Eine Viertelstunde darauf erhält der Commodore Simcoë folgende Depesche:

»Der Kapitän Turner vom Kreuzer »Herald«, Generalstabschef des Admirals Sir Edward Collinson, verlangt, unverzüglich zu dem Gouverneur von Standard-Island geführt zu werden.«

Hiervon benachrichtigt, ertheilt Cyrus Bikerstaff dem Hafenkapitän Anweisung, die Landung zu gestatten, und antwortet, daß er den Kapitän Turner im Stadthaus erwarte.

Zehn Minuten später bringt ein Wagen, der dem Generalstabschef zur Verfügung gestellt wurde, diesen und einen ihn begleitenden Schiffslieutenant nach dem Stadthause.

Der Gouverneur empfängt sie in dem Salon neben seinem Cabinet.

Zuerst werden die gewöhnlichen, hier aber ziemlich kühl ausfallenden Begrüßungen gewechselt.

Dann beginnt Kapitän Turner in etwas theatralischer Haltung und unter Betonung der Worte, als ob er ein Capitel aus der neuesten Literatur vortrüge, folgende, in eine endlose Phrase zusammenfallende Ansprache:

[259] »Ich beehre mich, Seiner Excellenz dem Gouverneur von Standard-Island, zur Zeit unter hundertsiebzehn Grad dreizehn Minuten westlich des Meridians von Greenwich und unter sechzehn Grad vierundfünfzig Minuten südlicher Breite, zur Kenntniß zu bringen, daß in der Nacht vom einunddreißigsten December zum ersten Januar der zum Hafen von Glasgow gehörige Dampfer »Glen«, dreitausendfünfhundert Tonnen groß und mit werthvoller, aus Getreide, Indigo, Reis und Wein bestehender Fracht, von Standard-Island, dem Eigenthum der »Standard-Island Company« mit dem Sitze an der Madelainebay, Niedercalifornien, Vereinigte Staaten von Amerika, angefahren worden ist, obgleich genannter Dampfer seine Positionslaternen, und zwar mit weißem Licht am Fockmaste, grünem Licht am Steuer- und rothem Licht am Backbord, vorschriftsmäßig führte, und daß er, nachdem er von dem Zusammenstoße wieder klar geworden war, am nächsten Morgen fünfunddreißig Meilen von der Unfallsstelle, mit einem großen Leck am Backbord nahe dem Untergange getroffen wurde, bald darauf aber wirklich versunken ist, nachdem er zum Glück seinen Kapitän nebst Officieren und Mannschaft an Bord des »Herald« retten konnte, eines erstclassigen Kreuzers Ihrer britischen Majestät, segelnd unter der Flagge des Contreadmirals Sir Edward Collinson, der das Geschehene Seiner Excellenz dem Gouverneur Cyrus Bikerstaff hiermit zur Kenntniß bringt, von ihm die Anerkennung der Verantwortlichkeit der »Standard-Island Company limited« unter Garantie der Einwohner des genannten Standard-Island gegenüber den Rhedern des genannten »Glen« erwartet, dessen Werth an Rumpf, Maschinen und Fracht zwölfhunderttausend Pfund Sterling (30 Millionen Francs) oder sechs Millionen Dollars beträgt, welche Summe zu Händen des genannten Admirals Sir Edward Collinson abzuführen ist, widrigenfalls er sich gezwungen sähe, gegen genanntes Standard-Island Gewalt anzuwenden.«

Ein Satz von zweihundertsiebenundfünfzig Wörtern, nur Kommata, keinen einzigen Punkt enthaltend! Doch wie klipp und klar sagt er das alles und verschließt er jedes Hinterthürchen! Der Gouverneur ist sich im ersten Augenblicke nicht klar darüber, ob er der Reclamation des Sir Edward Collinson Folge geben soll, und so beschränkt er sich zunächst auf die in solchen Fällen hergebrachten Antworten.

»Das Wetter war sehr dunkel in Folge eines vulcanischen Ausbruchs, der weiter im Westen stattgefunden haben muß. Wenn der »Glen« seine Lichter führte, so führte Standard-Island die seinigen nicht minder. Von der einen [260] Seite waren sie aber so wenig zu erkennen gewesen, wie von der andern. Man stehe hier also einer Vis major gegenüber. Nach den Seegesetzen aber habe für dadurch herbeigeführte Havarien jeder selbst einzustehen, und es könne weder von Reclamationen noch von einer Verantwortlichkeit die Rede sein.«

Antwort des Kapitän Turner:

»Seine Excellenz der Gouverneur würde damit zweifelsohne Recht haben, wenn es sich um zwei Schiffe unter gewöhnlichen Verhältnissen handelte. Wenn der »Glen« diesen entsprach, so könne das doch nicht von Standard-Island gelten, das doch kein Schiff im strengen Sinne des Wortes wäre, sondern eine dauernde Gefahr bilde, indem es sich mit seiner enormen Masse auf befahrenen Seestraßen fortbewege, daß es einer Insel oder einer Klippe gleiche, die ihre Lage so unausgesetzt veränderte, daß sich deren Eintragung auf den Seekarten von selbst verbiete, daß England von jeher gegen dieses, durch hydrographische Messungen bezüglich seiner Oertlichkeit nie zu bestimmende Hinderniß protestiert habe und daß Standard-Island stets für Unfälle haftbar bleibe, die durch seine Natur herbeigeführt wurden u. s. w.«

Den Anführungen des Kapitän Turner fehlt es offenbar nicht an Logik, was Cyrus Bikerstaff im Grunde auch einsieht. Er allein kann hier aber doch keine Entscheidung treffen. Die Sache muß einem Spruchcollegium unterbreitet werden, und er kann dem Admiral Sir Edward Collinson nur erwidern, daß er von seiner Reclamation Kenntniß genommen habe. Glücklicherweise war es ohne Menschenverlust abgegangen....

»Ja, das war ein großes Glück, erwiderte Kapitän Turner; zum Verluste eines Schiffes und der Millionen, die durch Verschuldung Standard-Islands verschlungen wurden, ist es aber doch gekommen. Verpflichtet sich der Gouverneur von vornherein, die angegebene Entschädigungssumme für den »Glen« und seine Ladung zu Händen des Admirals Sir Edward Collinson abzuführen?«

Wie hätte der Gouverneur darauf eingehen können? Uebrigens bietet Standard-Island ja genügende Garantie. Es hat für jeden Schaden aufzukommen, wenn amtlich entschieden wurde, daß es, nach Untersuchung des Falles, für die Ursachen desselben wie für die Höhe des angerichteten Schadens verantwortlich sei.

»Das ist das letzte Wort Eurer Excellenz? fragt Kapitän Turner.

– Mein letztes Wort, erklärt Cyrus Bikerstaff, denn ich bin außer Stande, mich für die Verantwortlichkeit der Compagnie zu engagieren.«

[261] Der Gouverneur und der englische Kapitän wechseln noch einige, womöglich noch kältere Höflichkeiten. Nachher begiebt sich letzterer in dem bereitstehenden Wagen wieder zum Backbordhafen und zurück nach dem »Herald«, wohin ihn die seiner harrende Dampfbarkasse überführt.

Der Rath der Notabeln erhält Kenntniß von Cyrus Bikerstaff's Antwort und billigt sie ebenso wie nach deren weitern Bekanntwerden die ganze Einwohnerschaft Standard-Islands. Niemand ist willig, sich der unverschämten und befehlerischen Forderung der Vertreter Ihrer britannischen Majestät zu unterwerfen.

Der Commodore Simcoë ertheilt also Anweisung, mit möglichster Schnelligkeit weiterzufahren.

Wird es aber möglich sein, sich einer etwaigen Verfolgung durch das Geschwader des Admirals Collinson zu entziehen, dessen Schiffe doch bestimmt eine größere Geschwindigkeit entwickeln können? Und wenn jenerseiner Forderung nun durch einige Melinitgeschosse Nachdruck giebt, was dann? Wohl können die Batterien der Insel den Armstrongkanonen, womit die Kreuzer ausgerüstet sind, gebührend antworten, die Engländer haben aber ein ungleich größeres Zielobject... was soll aus den Frauen, den Kindern werden, wenn sie keine schützende Zuflucht finden?... Alle Schüsse des Feindes müssen treffen, während die Batterien am Sporn und am Achter auf ein beschränktes und bewegliches Ziel mindestens fünfzig Procent ihrer Schüsse verschwenden?

Es gilt zunächst also die Entscheidung des Admirals abzuwarten. Das verlangt nicht viel Zeit.

Um neun Uhr fünfundvierzig kracht zunächst ein blinder Schuß aus dem Mittelthurme des »Herald«, während gleichzeitig die Flagge des Vereinigten Königreichs am Maste emporsteigt.

Unter dem Vorsitz des Gouverneurs und seiner Adjuncten verhandelt der Rath der Notabeln noch im Sitzungssaale des Rathhauses. Diesmal sind Jem Tankerdon und Nat Coverley gleicher Meinung. Als praktische Leute denken diese Amerikaner an keinen weitern Widerstand, der mit der gänzlichen Vernichtung Standard-Islands endigen könnte.

Jetzt donnert schon ein zweiter Kanonenschuß. Diesmal fliegt ein schweres Geschoß pfeifend durch die Luft und schlägt eine halbe Kabellänge jenseits der Schraubeninsel ins Meer, wo es mit furchtbarem Krachen explodiert und ungeheure Wassermassen in die Höhe schleudert.

[262] Auf Befehl des Gouverneurs läßt der Commodore Simcoë die Flagge Standard-Islands, die als Antwort auf die am Maste des »Herald« gehißt worden war, wieder niederholen. Der Kapitän Turner erscheint noch einmal im Backbordhafen. Hier empfängt er von Cyrus Bikerstaff unterzeichnete Anweisungen über die Summe von zwölfhunderttausend Pfund Sterling, Papiere, die mit dem Indossament der ersten Notabeln versehen sind.

Drei Stunden später verschwinden die letzten Rauchsäulen des Geschwaders im Osten, und Standard-Island nicht seine Fahrt nach dem Archipel von Tonga wieder auf.

5. Capitel
Fünftes Capitel.
Das Tabu von Tonga-Tabelu.

»Nun, fragt Yvernes, werden wir denn an den Hauptinseln von Tonga-Tabu anhalten?

– Gewiß, Verehrtester, antwortet Calistus Munbar. Sie werden diesen Archipel genügend kennen zu lernen Muße haben, ihn, den man auch den Archipel von Hapaï oder die Freundschafts-Inseln nennen könnte, denn so hatte ihn Cook wegen des hier gefundenen freundlichen Empfanges einst getauft.

– Und wir werden daselbst ohne Zweifel besser behandelt, als auf den Cooks-Inseln? fragt Pinchinat.

– Höchst wahrscheinlich.

– Werden wir alle Inseln der Gruppe besuchen? erkundigt sich Frascolin.

– Das geht nicht an, da es deren hundertfünfzig giebt...

– Und nachher? fragt Yvernes weiter.

– Nachher gehen wir nach den Fidschi-Inseln, dann nach den Neuen Hebriden, und schließlich, wenn wir die Malayen ans Land gesetzt haben, nach der Madelainebay zurück. Zunächst werden wir hier nur vor Bavoa und vor Tonga-Tabu anhalten, doch auch da werden Sie die ersehnten Wilden nicht zu Gesicht bekommen, mein lieber Pinchinat! setzt der Oberintendant hinzu.

[263] – Entschieden giebt's die Rasse also gar nicht mehr, selbst nicht im Westen des Stillen Oceans! erwidert der Bratschist.


Kapitän Turner empfängt die unterzeichneten Anweisungen. (S. 263)

– Weit gefehlt! Auf den Neuen Hebriden und den Salomons-Inseln lebt davon noch eine ansehnliche Menge. Auf Tonga sind die Unterthanen König Georgs I. freilich fast civilisiert und im ganzen sehr nette Leute. Immerhin würde ich Ihnen nicht rathen, eine der entzückenden Tongadamen zu heiraten.

– Warum denn nicht?


Ein blinder Schuß krachte aus dem Mittelthurme (S. 262.)

[264]

[265] [267]Weil die Ehen zwischen Fremden und Eingebornen für nicht glückliche gehalten werden. Solche Eheleute haben stets verschiedne Neigungen.

– Schön! ruft Pinchinat, und der alte Saitenkratzer Zorn wollte sich gerade auf Tonga-Tabu vermählen!

– Ich? erwidert der Violoncellist achselzuckend. Weder auf Tonga-Tabu, noch anderswo. Hörst Du's, schlechter Spaßvogel?

– Der Chef unsers Orchesters ist klug und weise, antwortet Pinchinat. Wissen Sie, lieber Calistus – ich möchte Sie mit Ihrer Erlaubniß lieber Eucalistus nennen, so sympathisch sind Sie mir geworden...

– Meine Erlaubniß haben Sie dazu!

– Nun also, mein lieber Eucalistus, man hat nicht vierzig Jahre lang die Saiten des Violoncells gekratzt, ohne ein Philosoph zu werden, und die Philosophie lehrt, daß das einzige Mittel, in der Ehe glücklich zu leben, das ist, überhaupt nicht verheiratet zu sein.«

Am Morgen des 6. Januar tauchen die Höhen von Vavao, der bedeutendsten Insel der nördlichen Gruppe, am Horizonte auf. Diese Gruppe unterscheidet sich durch ihre vulcanische Bildung wesentlich von den beiden andern, denen von Hapaï und von Tonga-Tabu. Alle drei liegen zwischen dem 17. und dem 22. Grade südlicher Breite und zwischen dem 166. und 168. Grade westlicher Länge – auf einem Flächenraume von zweitausendfünfhundert Quadratkilometern, über den hundertfünfzig Inseln mit sechzigtausend Bewohnern verstreut sind.

Hier kreuzten die Schiffe Tasman's 1643 und die Cook's 1773 während dessen zweiter Entdeckungsreise im Großen Ocean. Nach dem Sturze der Dynastie der Finare-Finare und der Gründung eines Bundesstaates 1797, decimierte ein Bürgerkrieg die Bevölkerung des Archipels. Das war die Zeit der Ankunft jener Methodisten-Missionäre, die dieser anspruchsvollen anglikanischen Secte zur Herrschaft verhalfen. Jetzt ist König Georg I. der anerkannte Beherrscher seines Reiches, vorläufig unter dem Protectorate Englands, bis dieses einst...

Diese drei Punkte haben den Zweck, der Zukunft nicht vorzugreifen, wenn man auch die eines britischen Schutzstaates ziemlich bestimmt voraussehen kann.

Die Schifffahrt ist sehr schwierig durch dieses Labyrinth mit Cocospalmen bedeckter Inseln und Eilande, dem man doch folgen muß, um nach Nu-Osa, der Hauptstadt der Vavaogruppe, zu gelangen.

[267] Das vulcanische Vavao ist häufigen Erdbeben ausgesetzt, worauf man hier auch beim Bau der Wohnhäuser Rücksicht nimmt. Aufgerichtete Stämme, die mittelst Latten von Cocosholz verbunden sind, bilden die Mauern und darauf ruht ein ovales Dach. Das Ganze ist kühl und sauber. Das ganze Bild erregt die Aufmerksamkeit unsrer Künstler, die sich am Vordertheile Standard-Islands aufhalten, während dieses durch die mit Dörfern besetzten Canäle gleitet. Da und dort weht von einigen europäischen Häusern die deutsche oder die englische Flagge. Trotz der vulcanischen Natur dieses Archipels ist nicht anzunehmen, daß der kürzliche furchtbare Aschen- und Schlackenregen von ihm ausgegangen wäre.

Die Tongier haben nicht einmal von der achtundvierzigstündigen Finsterniß zu leiden gehabt, da der Wind die Staubwolken nach der entgegengesetzten Seite getrieben hatte. Höchst wahrscheinlich gehört der Vulcan, der sie auswarf, einer isolierten, mehr östlich liegenden Insel an, wenn derselbe nicht gar erst neuerdings zwischen Samoa und Tonga aufgestiegen ist.

Der Aufenthalt Standard-Islands bei Vavao hat nur acht Tage gedauert. Diese Insel verdient einen Besuch, obgleich sie erst vor wenigen Jahren durch einen schrecklichen Cyclon verwüstet wurde, der die kleine Kirche der Maristen umstürzte und viele Wohnungen von Eingebornen zerstörte. Das Land mit seinen zahlreichen Dörfern, Orangenhainen, Zuckerrohrplantagen, Bananen-, Maulbeer-, Brodbaum- und Santelholzwäldern hat darum an Reiz jedoch nicht eingebüßt. Von Hausthieren finden sich nur Schweine und Geflügel; von Vögeln zahllose Tauben und schönfarbige, geschwätzige Papageien. Von Reptilien kommen nur einzelne ungefährliche Schlangen und hübsche grüne Eidechsen vor, die man für abgefallene Blätter halten könnte.

Der Oberintendant hat die Schönheit des Typus der Eingebornen nicht zu sehr gepriesen; diese findet sich übrigens allgemein bei den Malayenrassen im mittleren Stillen Ocean: die Männer stolz, hochgewachsen, vielleicht etwas wohlbeleibt, aber von tadelloser Gestalt und gemessener Haltung, mit durchdringendem Blick und einem Teint, der zwischen kupferbraun und olivengrün die Mitte hält; die Frauen graziös und wohlproportioniert, mit sehr kleinen und zarten Händen und Füßen. Sie beschäftigen sich vorzugsweise mit der Herstellung von Strohmatten, Körben and Stoffen, ähnlich denen auf Tahiti, ohne daß ihre Finger durch diese Handarbeiten leiden. Uebrigens kann man sich von der Schönheit der Tongier leicht mit eignen Augen überzeugen. Nach der Mode des Landes sind das abscheuliche Beinkleid und der lächerliche Schlepprock noch nicht [268] zugelassen. Die Männer tragen dafür einen einfachen Schurz oder Gürtel, die Frauen den Caraco und einen kurzen, mit seinen getrockneten Rindenstückchen verzierten Rock. Beide Geschlechter legen Werth auf sorgsame Haarfrisur, die bei den jungen Mädchen von der Stirn aus hoch aufragt und durch ein Gitter von Cocosfasern an Stelle eines Kammes getragen wird.

Das alles genügt jedoch nicht, den dickköpfigen Sebastian Zorn von seiner Voreingenommenheit zu heilen: er wird sich weder hier noch sonstwo unter dem Monde ins Ehejoch spannen lassen.

Ihm und seinen Kameraden ist es jedoch stets eine große Befriedigung, an diesen Inseln einmal ans Land gehen zu können. Natürliche Berge, wirkliche Felder und Wasserläufe... das ist doch etwas andres als gemachte Flüsse und künstliche Ufer. Man muß eben ein Calistus Munbar sein, um seinem Juwel des Stillen Oceans den Vorzug vor den Schöpfungen der Natur zu geben.

Vavao ist zwar nicht die gewöhnliche Residenz des Königs Georg, er besitzt in Nu-Osa aber einen Palast, sagen wir lieber, ein hübsches Landhaus, wo er sich häufig aufhält. Der königliche Palast und die Wohnungen der englischen Vertreter befinden sich auf der Insel Tonga-Tabu.

Standard-Island soll daselbst, nahe dem südlichen Wendekreise, zum letztenmale vor der Umkehr nach Norden Halt machen.

Von Vavao aus erfreuen sich die Milliardeser zwei Tage lang einer recht abwechslungsreichen Fahrt, während der die eine Insel die andre ablöst. Alle lassen jedoch den gleichen Charakter erkennen, der der nördlichen Gruppe ebenso wie der Mittelgruppe von Hapaï eigen ist. Die äußerst sorgfältig ausgeführten Seekarten dieser Gegend gestatten dem Commodore Simcoë, sich getrost in das Gewirr von Wasserstraßen zwischen Hapaï und Tonga-Tabu hineinzuwagen. An Lootsen hätte es ihm im Nothfalle auch nicht gefehlt. Alle Inseln umschwärmen zahlreiche Fahrzeuge, meist Goëletten unter deutscher Flagge, die hier den Küstenverkehr unterhalten, während größere Handelsschiffe die Ausfuhr der Baumwolle, der Koprah, des Kaffees und des Mais, d. h. der hauptsächlichsten Naturproducte, besorgen. Doch nicht allein Lootsen wären auf Verlangen zu haben gewesen, sondern auch die Insassen der hier üblichen Piroguen mit doppelten, durch eine Plattform verbundenen sogenannten »Auslegern«, die bis zweihundert Mann aufnehmen können. Gewiß wären hunderte von Eingebornen auf das erste Signal herbeigeeilt, und welche Ernte für sie, wenn das Lootsenhonorar nach dem Tonnengehalte von Standard-Island berechnet wurde. Zweihundertundfünfzig [269] Millionen Tonnen! Der seiner Sache sichre Commodore Simcoë verläßt sich aber auf sich selbst und auf seine Officiere, die allen Befehlen mit erprobter Sorgsamkeit nachkommen.

Tonga-Tabu kommt am Morgen des 9. Januar in Sicht, wo sich Standard-Island nur noch drei bis vier Meilen davon entfernt befindet. Im Ganzen sehr niedrig, da es keiner geologischen Umwälzung seinen Ursprung verdankt, ist es nicht aus dem Meeresgrunde, wie so viele andre Inseln, emporgedrängt worden. Infusorien sind es, die es nach und nach, indem sie ihre madreporischen Bauten immer übereinander lagerten, hervorgebracht haben.

Welche Arbeit gehörte aber zu dieser Fläche von sieben- bis achthundert Quadratkilometern, auf der jetzt zwanzigtausend Menschen wohnen!

Der Commodore Simcoë macht gegenüber dem Hafen von Maofuga Halt.

Zwischen der seßhaften und der beweglichen Insel – der Schwester Latonas mythologischen Angedenkens – entwickelt sich sofort der gewohnte Verkehr. Doch wie auffällig unterscheidet sich dieser Archipel von dem der Marquisen, Pomotous und der Gesellschafts-Inseln! Hier herrscht der englische Einfluß, und der diesem unterworfene König Georg I. wird sich gar nicht beeilen, den Milliardesern amerikanischer Herkunft einen besonders freundlichen Empfang zu bereiten.

Das Quartett entdeckt in Maofuga indeß auch eine kleine französische Niederlassung. Hier befindet sich der Sitz des Bischofs von Oceanien, der eben jetzt auf amtlicher Rundreise begriffen war. Hier erheben sich die katholische Mission, die Schulen für Knaben und Mädchen und ein Haus für Ordensgeistliche. Natürlich werden die Pariser von ihren Landsleuten herzlich bewillkommnet. Der Superior der Mission bietet ihnen gastliche Aufnahme an, was sie von der Nothwendigkeit befreit, das »Haus der Fremden« aufzusuchen. Ihre Ausflüge sollen sich nur nach zwei andern bemerkenswerthen Punkten richten, nach Nakualosa, der »Reichshauptstadt« des Königs Georg, und nach dem Dorfe Mua mit vierhundert katholischen Einwohnern.

Als Tasman einst Tonga-Tabu entdeckte, gab er ihm den Namen Amsterdam – ein Name, den seine Häuser aus Pandanusblättern und Cocosfasern freilich nicht rechtfertigen. Europäische Wohnstätten fehlen hier zwar keineswegs, der einheimische Name eignet sich aber doch für die Insel besser.

Der Hafen von Maofuga liegt an der Nordküste. Hätte sich Standard-Island einige Meilen weiter westlich festgelegt, so wäre Nakualosa mit seinen königlichen Gärten und dem Palaste sichtbar gewesen. Weiter im Osten dagegen [270] hätte der Commodore Simcoë eine tief ins Land einschneidende Bucht gefunden, in deren Hintergrunde das Dorf Mua liegt. Beides unterließ er wegen der Gefahr einer Strandung zwischen den Hunderten von Eilanden, zwischen denen nur Schiffe von geringem Tonnengehalt genug Wassertiefe finden. Die Propeller-Insel muß also während des ganzen Aufenthalts vor Maofuga liegen bleiben.

Begeben sich auch zahlreiche Milliardeser nach diesem Hafenplatze, so denken doch nur wenige an einen Besuch des Innern der Insel. Und doch ist diese wunderschön und verdient das Lob, das Elisée Reclus ihr gespendet hat. Es ist zwar sehr warm, die Luft schwül und es drohen heftige Regenstürze, so daß schon etwas Touristentollheit dazu gehört, das Land durchstreifen zu wollen. Trotzdem thun das Frascolin, Yvernes und Pinchinat, der Violoncellist ist aber nicht zu bewegen, sein behagliches Zimmer im Casino vor dem Abend zu verlassen und bevor der Nachtwind den Strand von Maofuga etwas erfrischt hat. Auch der Oberintendant entschuldigt sich, die drei Tollköpfe nicht begleiten zu können.

»Ich würde unterwegs zerschmelzen! erklärt er.

– Dann brächten wir Sie auf Flaschen gezogen nach Hause!« antwortet der Bratschist.

Diese verlockende Aussicht kann Calistus Munbar, der in festem Zustande zu bleiben vorzieht, doch nicht andern Sinnes machen.

Zum Glück neigt sich die Sonne schon seit drei Wochen der nördlichen Erdhälfte wieder zu, und Standard-Island kann sich von ihrem Gluthherde so weit entfernt halten, daß es sich eine normale Temperatur sichert.

Mit dem Frühroth des nächsten Tages verlassen die drei Freunde also Maofuga und wandern der Hauptstadt der Insel zu. Gewiß ist es warm, doch noch erträglich unter dem Dache von Cocospalmen, Lakilakis, Tui-tuis, das sind Lichterbäumen, und Cocas, deren rothe und schwarze Beeren glänzende Traubenbüschel bilden.


Mit einem weißen Hemde angethan, stand Seine Majestät... (S. 275.)

Erst gegen Mittag zeigt sich die Hauptstadt in all' ihrem blühenden Glanze – ein Ausdruck, der zu die ser Jahreszeit ganz berechtigt ist. Der Palast des Königs scheint aus einem riesigen Bouquet von Grün hervorzutreten. Einen auffallenden Contrast bieten die blumenübersäeten Hütten der Eingebornen mit den Wohnungen von stockenglischem Aussehen, z. B. der Niederlassung der protestantischen Missionäre. Der Einfluß dieser wesleyanischen Priester hat sich hier[271] überall vorwiegend geltend gemacht, und die Tongier nahmen, freilich nach manchem traurigen Blutvergießen, deren Glaubenslehre an.

Immerhin haben sie auf ihre kanakische »Religion«, wenn man so sagen darf, keineswegs ganz verzichtet. Bei ihnen steht der Oberpriester über dem Könige. In ihrer merkwürdigen Cosmogonie spielen gute und böse Geister eine wichtige Rolle. Das Christenthum wird schwerlich das noch immer geübte Tabu auszurotten vermögen, und wenn ein solches aufgehoben werden soll, geht es nicht ohne Entsühnungsceremonien ab, bei denen zuweilen Menschenopfer vorkommen.

[272] [275]Nach den Berichten verschiedner Forscher – vorzüglich Aylie Marin's gelegentlich seiner Reise im Jahre 1882 – kann Nakualosa noch immer nur als halbcivilisiert betrachtet werden.

Frascolin, Pinchinat und Yvernes haben nicht das Verlangen empfunden, dem König Georg ihre Huldigung zu Füßen zu legen.


Als sie anlangten, war das Fest schon in vollem Gange. (S. 277.)

Das ist gar nicht im bildlichen Sinne zu nehmen, denn es herrscht hier die Sitte, dem Souverän die Füße zu küssen. Unsre Pariser schätzen sich glücklich, dessen enthoben zu sein, als sie auf einem Platze von Nakualosa den »Tui«, wie man Seine Majestät hier nennt, mit einer Art weißem Hemde und einem kleinen, seine Hüften umschließenden Rocke aus heimischem Gewebe bekleidet, vor Augen bekommen. Dieser Fußkuß würde gewiß zu ihren unangenehmsten Reiseerinnerungen gehört haben.

»Man sieht hieraus, bemerkt Pinchinat, daß es der Insel sehr an Wasser fehlen muß!«

Wirklich kennt man auf Vavao ebenso wie auf Tonga-Tabu und den andern Inseln des Archipels nichts von einem Flusse oder Bache. Die Eingebornen haben nichts als das in Cisternen gesammelte Regenwasser zur Verfügung und sparen das nicht weniger, als ihr König Georg I.

Sehr ermüdet sind die drei Touristen heute nach dem Hafen von Moafuga zurückgekehrt und begeben sich noch nach ihren schönen Zimmern im Casino. Dem ungläubigen Sebastian Zorn versichern sie, daß ihr Ausflug hochinteressant gewesen sei. Doch alle Jubelhymnen Yvernes' vermögen den Violoncellisten nicht zu bestimmen, am nächsten Tage das Dorf Mua mit zu besuchen.

Der Marsch dahin sollte sehr lang und anstrengend werden. Doch gerade das Innere des wunderbaren Landes zu sehen, ist von besonderm Interesse, und die Touristen brechen deshalb zu Fuß nach der Bay von Mua auf, immer nahe dem Korallenuser dahin, vor dem viele Eilande liegen und wo sich die Cocosbäume ganz Oceaniens ein Stelldichein gegeben zu haben scheinen.

In Mua treffen sie erst am Nachmittage ein, so daß sie dort übernachten müssen, wozu sich für sie als Franzosen die Niederlassung der katholischen Missionäre ganz angezeigt erweist. Der Superior begrüßt seine Gäste mit wahrhaft rührender Freude. Bei ihm verbringen sie einen höchst angenehmen Abend in anziehendem Geplauder, das sich mehr auf Frankreich als auf die tongische Colonie bezieht. Die Ordensgeistlichen denken nicht ohne Wehmuth an die so entfernte Heimat. Und doch genießen sie hier die Befriedigung, hochgeachtet [275] und geehrt zu sein von der kleinen Welt, die sie trotz mancher Hindernisse zum katholischen Glauben bekehrt haben. Die Methodisten haben hier sogar eine Art Annex zu dem Dorfe Mua errichten müssen, um die Interessen des wesleyanischen Proselytismus nicht ganz in den Hintergrund treten zu lassen.

Der Superior zeigt seinen Gästen mit einem gewissen Stolze die Anlagen der Mission, das von den Eingebornen von Mua freiwillig erbaute Wohnhaus und die hübsche Kirche, errichtet nach den Plänen tongischer Architekten, deren sich ihre Collegen in Frankreich nicht zu schämen brauchten.

Am Abend gehen alle in der Umgebung des Dorfes spazieren, und zwar bis nach den alten Gräbern von Tui-Tonga, wo Schiefergestein und Korallen sich in primitiver und anziehender Kunst vermischen. Dann folgt ein Besuch der uralten Anpflanzung von Meas, Bananen oder monströsen Feigenbäumen mit gleich Schlangen verschlungenen Wurzeln – Baumriesen, die zuweilen einen Umfang von sechzig Metern haben. Frascolin besteht darauf, diesen zu messen, schreibt das Ergebniß in sein Taschenbuch ein und läßt es sich durch den Superior eigens bestätigen. Nun soll Einer das Vorkommen eines solchen Wunders der Pflanzenwelt noch anzweifeln!

Nach einem guten Abendbrod genießt man in den Zimmern der Mission eine erquickende Ruhe, um nach ebenso gutem Frühstück und herzlichem Abschied von den in Mua siedelnden Missionären nach Standard-Island zurückzukehren, wo die kleine Gesellschaft eintrifft, als es am Thurme des Rathhauses fünf Uhr schlägt. Diesmal bedürfen die drei Ausflügler keiner poetischen Uebertreibungen, um Sebastian Zorn zu versichern, daß die letzten beiden Tage ihnen unvergeßlich bleiben werden.

Am folgenden Tage erhält Cyrus Bikerstaff den Besuch des Kapitän Sarol, der folgenden Zweck hatte:

Eine Anzahl Malayen – etwa hundert – waren von den Neuen Hebriden geholt und nach Tonga-Tabu zur Urbarmachung großer Bodenstrecken gebracht worden, einer Arbeit, zu der die trägen Eingebornen hier nie zu gebrauchen wären. Nachdem sie ihre Arbeit kürzlich vollendet hatten, warteten die Malayen auf eine Gelegenheit zur Heimreise. Der Kapitän Sarol kam nun, um zu fragen, ob der Gouverneur gestatten würde, sie auf Standard-Island mitzunehmen. Binnen fünf bis sechs Wochen sollte dieses bei Erromango eintreffen, und die Ueberführung jener Leute könnte das städtische Budget doch nicht nennenswerth belasten. Es wäre nicht schön gewesen, den wackern Leuten eine so leicht zu [276] erweisende Gefälligkeit abzuschlagen. Der Gouverneur giebt also dem Anliegen nach und erntet dafür die Danksagungen nicht nur der Malayen, sondern auch der Maristen von Tonga-Tabu, für die jene hierher geholt worden waren.

Wer hätte ahnen können, daß der Kapitän Sarol sich damit nur Helfershelfer verschaffte, daß diese Neu-Hebridier ihn zur gelegnen Zeit in seinen schwarzen Plänen unterstützen würden! Und konnte er sich nicht Glück wünschen, jene auf Tonga-Tabu getroffen und nach Standard-Island eingeschmuggelt zu haben?

Für den nächsten Tag ist die Abreise der Milliardeser aus dem Archipel geplant.

Am Nachmittage können sie noch einem halb weltlichen, halb geistlichen Feste beiwohnen, an dem die Eingebornen eifrigst theilnehmen.

Das Programm dazu enthält unter anderm verschiedne Tanzaufführungen, und da das das Interesse unsrer Pariser erweckt, begeben sie sich gegen drei Uhr aus Land.

Der Oberintendant begleitet sie, doch diesmal schließt sich ihnen auch Athanase Dorémus an, denn einer derartigen Festlichkeit kann ein Tanz- und Anstandslehrer ja unmöglich fern bleiben. Sogar Sebastian Zorn hat sich entschlossen, seinen Kameraden zu folgen, gewiß mehr in der Absicht, die tongische Musik anzuhören, als die choreographischen Leistungen der Landesbevölkerung zu bewundern.

An Ort und Stelle angelangt, war das Fest schon in vollem Gange. Der Kavaliqueur, ein Auszug der getrockneten Pfefferbaumwurzel, macht fleißig die Runde und rinnt durch die Kehlen von etwa hundert Tänzern, Männern und Frauen, jungen Burschen und jungen Mädchen, von denen die letzteren aus ihrem langen Haar einen koketten Kopfschmuck gebildet haben, wie sie ihn bis zu ihrem Hochzeitstage tragen müssen.

Das Orchester ist höchst einfach. Es besteht aus einer scharf klingenden, Fanghu-Fanghu genannten Flöte und einem Dutzend Nasas, das sind Trommeln, die mit derben Schlägen – sogar im Takt, wie Pinchinat bemerkt – bearbeitet werden.

Offenbar blickt der »allzeit fertige« Athanase Dorémus mit vollster Verachtung auf die Tänze, wovon sich keiner in die Kategorie der Quadrillen, Mazurkas, Polkas oder der Walzer einreihen läßt. Er geniert sich nicht einmal, darüber die Achseln zu zucken, im Gegensatz zu Yvernes, der an diesen Tänzen wenigstens die Originalität zu schätzen weiß.

[277] Die ersten davon sind nur Tänze im Sitzen und bestehen ausschließlich aus Körperbewegungen und Pantomimen, die von einem getragnen, traurigen Rhythmus begleitet werden.

Hierauf folgen wirkliche Tänze, an denen sich Männlein und Weiblein mit allem Feuer ihres Temperaments betheiligen und die einmal aus graziösen Pas bestehen und dann wieder den Kampfesmuth des Eingebornen, der auf dem Kriegspfade wandelt, darstellen.

Das Quartett betrachtet dieses Schauspiel und fragt sich, wie die Leute sich wohl benehmen würden, wenn sie eine anregende europäische Ballmusik noch mehr belebte.

Da macht Pinchinat den Vorschlag, ihre Instrumente aus dem Casino holen zu lassen und den Tänzern und Tänzerinnen die flottesten »sechs Achtel« und die beliebtesten »zwei Viertel« (Tact-Tänze) von Lecoq, Audran und Offenbach aufzuspielen. Die andern stimmen zu und Calistus Munbar ist überzeugt, daß das eine wunderbare Wirkung hervorbringen müsse.

Eine halbe Stunde später sind die Instrumente zur Stelle und der »Ball« beginnt von neuem.

Die Eingebornen sind ebenso erstaunt wie entzückt, das Violoncell und die drei Violinen zu hören, die eine ihnen ganz fremde Musik erzeugen.

Gewiß sind sie nicht unempfindlich gegen dieselbe; auch ist zweifellos nachgewiesen, daß ihre charakteristischen Tänze nur Producte augenblicklicher Eingebung und nicht eingelernt und eingeübt sind... wie sehr das Athanase Dorémus auch bestreiten mochte. Tongier und Tongierinnen überbieten sich in Bewegungen und grotesken Sprüngen, während Sebastian Zorn, Yvernes, Frascolin und Pinchinat teuflische Melodien aus »Orpheus in der Unterwelt« zum Besten geben. Der Oberintendant selbst kann sich nicht mehr halten und tanzt ein Quadrillensolo vor allem Volke, während der Tanz- und Anstandslehrer sich vor solchem Greuel die Augen zuhält. Zur reinen Kakophonie wird die Tanzmusik freilich, als auch noch die scharfen Flöten und die Trommeln mit einfallen, das steigert aber den Feuereifer der Tänzer bis aufs höchste, und man weiß kaum, wie das enden sollte, als ein Zwischenfall dem infernalischen Treiben ein unerwartetes Ziel setzte.

Ein Tongier, ein großer kräftiger Bursche, stürzt sich, entzückt über die Töne, die der Violoncellist seinem Instrumente entlockte, plötzlich auf dieses, reißt es an sich und entflieht damit unter dem Ausrufe:

[278] »Tabu... Tabu!«

Das Violoncell steht unter dem Tabu! Niemand darf es, ohne eine Heiligthumsschändung zu begehen, mehr anrühren! Der Oberpriester, der König Georg, die Hofwürdenträger und das ganze Volk... alles würde sich empören, wenn Einer sich solcher Todsünde schuldig machte.

Sebastian Zorn kehrt sich nicht daran. Er hängt an dem Meisterwerke von Gand und Bernardel. So macht er sich also auf, den Flüchtigen zu verfolgen, und seine Kameraden eilen ihm zu Hilfe. Die Eingebornen mischen sich ebenfalls ein... alles stürmt und tobt wild durcheinander.

Der Tongier ist aber so schnellfüßig, daß man darauf verzichten muß, ihn einzuholen. Schon nach einigen Minuten ist er weit, weit weg.

Athemlos kehren Sebastian Zorn und die andern zu Calistus Munbar zurück, der noch keuchend vom Tanzen dasitzt. Wenn man sagte, daß der Violoncellist von unbeschreiblicher Wuth überschäumte, so wäre das nicht genug. Er siedet, er erstickt! Ob tabuiert oder nicht, er will sein Instrument wieder haben! Und sollte Standard-Island gegen Tonga-Tabu eine Kriegserklärung loslassen – sind nicht Kriege schon aus unbedeutenderen Ursachen entstanden? – das Violoncell mußte seinem Eigenthümer wiedergegeben werden!


Der Tongier reißt das Violoncell an sich und entflieht. (S. 278.)

Zum Glück nehmen sich die Inselbehörden der Sache an. Nach einer Stunde wurde der Eingeborne ergriffen und gezwungen, das Instrument zurückzubringen. Das ging aber doch nicht so glatt ab, und es fehlte nicht viel daran, daß ein Ultimatum des Gouverneurs Cyrus Bikerstaff gelegentlich einer Frage des Tabu die religiösen Leidenschaften des ganzen Archipels erweckt hätte.

Die Aufhebung des Tabu mußte übrigens vorschriftsmäßig, unter Beachtung aller für solche Fälle vorgesehenen Ceremonien erfolgen. So wurden nach alter Sitte eine Anzahl Schweine geschlachtet, mit süßen Bataten, Taros und Macoresrüchten zwischen heißen Steinen gedämpft und schließlich zur großen Befriedigung der tongischen Magen verzehrt.

Das Violoncell hatte sich bei dem lärmenden Vorfalle nur etwas verstimmt, und Sebastian Zorn konnte dem leicht abhelfen, nachdem er sich zu seiner Freude überzeugt, daß es in den Händen des halbwilden Musikenthusiasten wenigstens keinen weitern Schaden genommen hatte.

[279]
6. Capitel
Sechstes Capitel.
Eine Sammlung von Raubthieren.

Von Tonga-Tabu aus steuert Standard-Island nun nach Nordwesten, auf die Fidschi-Inseln zu und entfernt sich mit der dem Aequator zustrebenden Sonne wieder mehr vom südlichen Wendekreise. Es braucht sich nicht zu beeilen.

[280] Jene Inselgruppe liegt nur zweihundert Meilen weit von hier, und der Commodore Simcoë läßt deshalb ein ganz mäßiges Tempo einhalten.

Der Wind wechselt zwar häufig, das bleibt aber für das schwimmende Bauwerk ohne Bedeutung. Selbst wenn hier zuweilen heftige Gewitterstürme losbrechen, denkt auf dem Juwel des Stillen Oceans niemand daran, sich deshalb zu beunruhigen. Alle die Atmosphäre sättigende Elektricität wird von den zahllosen Blitzableitern aufgesaugt, mit denen alle Gebäude ausgerüstet sind; Regenfälle, auch wenn sie sehr stark werden, sind ja am Ende nur willkommen.

[281] Der Park und das Feld leben unter den übrigens seltnen Douchen von neuem auf. Das Leben verläuft unter den glücklichsten Verhältnissen, unter Festen, Concerten und verschiednen Zerstreuungen. Zwischen den beiden Stadthälften sind die Beziehungen häufiger geworden und nichts scheint mehr die Sicherheit der Zukunft zu gefährden.


Der von Löwen verfolgte Tramwagen. (S. 284.)

Cyrus Bikerstaff hat es nicht zu bereuen, auf Ersuchen des Kapitän Sarol den Neu-Hebridiern Ueberfahrt gewährt zu haben. Die Leute suchen sich überall nützlich zu machen. Sie beschäftigen sich mit Feldarbeiten, ganz wie auf Tonga-Tabu. Sarol und seine Malayen bleiben fast stets bei ihnen, und am Abend begeben sich diese nach den beiden Häfen, wo ihnen Unterkunft bereitet worden ist. Keine Klage erhebt sich gegen sie. Vielleicht bot sich hier Gelegenheit, sie zu bekehren. Bisher haben sie das Christenthum noch nicht angenommen, gegen das ein großer Theil der neuhebridischen Bevölkerung sich trotz aller Bemühungen katholischer und protestantischer Missionäre ablehnend verhalten hat. Die Geistlichkeit von Standard-Island hat wohl daran gedacht, der Gouverneur verweigerte dazu aber seine Erlaubniß.

Die im Alter von zwanzig bis vierzig Jahren stehenden Neu-Hebridier sind von mittlerer Größe. Etwas dunkler als die Malayen bilden sie zwar keinen so schönen Typus wie die Einwohner von Tonga oder Samoa, scheinen dafür aber weit ausdauernder als diese zu sein. Ihren geringen, bei den Maristen von Tonga-Tabu erworbnen Verdienst bewahren sie sorgsamst und denken gar nicht daran, das Geld für alkoholische Getränke zu vergeuden, die sie hier auch nur in ganz kleinen Mengen hätten erhalten können. Bei dem jetzigen, ganz kostenlosen Leben fühlten sie sich jedenfalls weit glücklicher, als je auf ihrem wilden Archipel.

Und doch sollen diese Eingebornen, Dank dem Kapitän Sarol, mit ihren Landsleuten von den Neuen Hebriden an dem Zerstörungswerke mithelfen, dessen Stunde immer mehr herannaht. Dann wird ihre ganze natürliche Wildheit zu Tage treten. Sie sind ja die Nachkommen jener Mordgesellen, die den Völkern dieses Theils des Großen Oceans einen so schlechten Ruf erworben haben.

Inzwischen leben die Milliardeser in der Ueberzeugung, daß nichts eine Existenz, für die alles so logisch vorgesehen, so weise geordnet ist, zu gefährden vermöge. Das Quartett erntet wie früher seine Erfolge. Niemand wird müde, ihm zuzuhören und zu applaudieren. Ohne von den regelmäßigen Concerten im Casino zu reden, veranstaltet Mrs. Coverley nicht selten sehr besuchte musikalische [282] Soiréen, die auch der König und die Königin von Malecarlien wiederholt mit ihrer Gegenwart beehren. Haben auch die Tankerdon's dem Hôtel in der Fünfzehnten Avenue noch keinen Besuch abgestattet, so gehört doch Walter Tankerdon am Concertabend hier zu den ständigen Gästen. Von seiner dereinstigen Vermählung mit Miß Dy spricht man daher schon in allen Salons und bezeichnet sogar bereits die zukünftigen Trauzeugen. Zwar fehlt noch die Einwilligung der beiderseitigen Familienhäupter, diese müssen bei der oder jener Gelegenheit aber doch dazu kommen, sich auszusprechen.

Diese so ungeduldig erwartete Gelegenheit sollte sich wirklich bald bieten, doch um den Preis welcher Gefahren und wie wurde dadurch die Sicherheit von Standard-Island bedroht!

Am Nachmittage des 16. Januar und etwa halbwegs zwischen den Tonga- und den Fidschi-Inseln wird ein Schiff im Südosten signalisiert. Es scheint auf den Steuerbordhafen zuzusteuern und ist ein Dampfer von etwa sieben- bis achthundert Tonnen. Eine Flagge führt das Schiff nicht und zeigt auch keine solche, als es bis auf eine Meile nahe herangekommen ist.

An seiner Bauart vermögen die Wachposten des Observatoriums seine Nationalität auch nicht zu erkennen. Da es das verabscheute Standard-Island mit keinem Salut begrüßt hat, ist es nicht unmöglich, daß es ein englischer Dampfer wäre.

Uebrigens scheint dieser doch nicht in einen der Häfen einlaufen, sondern an der Seite vorüberdampfen zu wollen, und voraussichtlich wird er dann bald wieder verschwunden sein.

Es folgt eine dunkle, mondlose Nacht, den Himmel bedecken hochziehende Wolken, die jeden Lichtschein verschlucken. Auf dem Wasser und in der Luft herrscht vollständige Ruhe und ringsumher eine lautlose Stille.

Gegen elf Uhr schlägt aber das Wetter um und wird mehr gewitterhaft. Nach Mitternacht zucken blendende Blitze über den Himmel und grollt der Donner, ohne daß jedoch ein Tropfen Regen fällt.

Vielleicht hat das einem noch entfernten Gewitter zugehörige Donnerrollen die mit der Wache an der Achterbatterie betrauten Beamten verhindert, ein eigenthümliches Gepfeife zu hören und ein seltsames Gebrüll, das in dieser Gegend des Ufers ertönt. Es rührt weder vom Zischen der Blitze, noch vom Grollen des Donners her. Diese Erscheinung, welcher Art sie auch sein mochte, währt übrigens nur von zwei bis drei Uhr morgens.

[283] Am nächsten Tage verbreitet sich in den äußersten Stadttheilen eine beunruhigende Neuigkeit. Die mit der Bewachung der auf dem Felde weidenden Herden beauftragten Leute fliehen plötzlich, von panischem Schrecken ergriffen, nach allen Richtungen, die einen nach den Häfen, die andern nach den Gitterthoren von Milliard-City.

Noch ernster erscheint es aber, daß in der Nacht gegen fünfzig Schafe halb aufgefressen worden sind, denn ihre blutigen Ueberreste liegen in der Nähe der Achterbatterie umher. Einige Dutzend Kühe, Kalben und Damhirsche in der Umzäunung des Parks hat dasselbe Loos getroffen...

Ohne Zweifel sind alle von Raubthieren überfallen worden. Doch von welchen? Von Löwen, Tigern, Panthern, Hyänen?... Ist das denkbar?... Auf Standard-Island hat es davon noch niemals auch nur ein einziges Exemplar gegeben. Sollten die Bestien durch das Meer hierher gekommen sein? Das Juwel des Stillen Oceans befindet sich doch nicht in der Nachbarschaft von Indien, Afrika und dem Malayen-Archipel, deren Fauna eine Menge verschiedner Raubthiere angehört.

Nein, Standard-Island liegt jetzt weder nahe der Mündung des Amazonenstroms, noch der Ausläufer des Nils, und doch sind gegen sieben Uhr morgens zwei Frauen, die sich nach dem Square des Stadthauses flüchteten, von einem ungeheuern Alligator verfolgt worden, der sich dann nach dem Serpentineflusse gewendet hat und in diesem verschwunden ist. Gleichzeitig verräth ein Rascheln im Gesträuch längs der Ufer, daß sich darin noch mehrere solche Saurier tummeln.

Die Wirkung dieser kaum glaublichen Nachrichten kann man sich wohl vorstellen. Eine Stunde später melden die Wachen, daß mehrere Paare von Tigern, Löwen und Panthern durch die Felder streifen. Verschiedne Schafe, die nach der Rammspornbatterie hin entflohen, werden von zwei mächtigen Tigern zerfleischt. Aus allen Richtungen laufen die von dem Geheul der Bestien erschreckten Hausthiere zusammen, und nicht minder die Leute, die ihre Beschäftigung schon frühzeitig nach den Feldern geführt hatte. Der erste Tramwagen nach dem Backbordhafen findet kaum Zeit, sich im Schuppen wieder zu bergen. Drei Löwen hatten ihn verfolgt, und es fehlten nur noch hundert Schritte, so würden sie ihn eingeholt haben.

Kein Zweifel, Standard-Island ist in der Nacht von einer ganzen Raubthierbande überfallen worden. Der Tanz- und Anstandslehrer, der gerade heute [284] zeitiger als gewöhnlich ausgegangen ist, wagt sich gar nicht mehr nach seiner Behausung zurück, sondern hat sich in das Casino geflüchtet, woraus ihn keine Macht der Erde zu vertreiben vermöchte.

»Ach, geht doch! Eure Löwen und Tiger sind Enten und Eure Alligatoren sind unschuldige Maifischchen!« ruft Pinchinat spottend.

Er mußte sich jedoch bald eines bessern belehren lassen. Vom Stadthause ist angeordnet worden, die Gitterthore der Stadt zu schließen und den Eingang zu den zwei Häfen und den Zollstätten des Ufers zu verrammeln. Gleichzeitig wird der Trambahnverkehr eingestellt und streng jedes Betreten des Parks und der Felder untersagt, ehe nicht die Gefahren dieses unerklärlichen Ueberfalles beseitigt sind.

Gerade als die Erste Avenue am Square des Observatoriums abgesperrt werden sollte, kam in kaum fünfzig Schritt Entfernung ein Tigerpaar mit glühendem Auge und blutigem Rachen dahergejagt. Nur noch wenige Secunden, und die wüthenden Thiere hätten das Gitterthor erreicht gehabt.

An der Seite des Stadthauses hat dieselbe Maßregel ausgeführt werden können, und Milliard-City hat hiernach für sich nichts mehr zu fürchten.

Das Ganze war einmal ein fetter Braten für das »Starboard-Chronicle« und den »New-Herald«, wie für die andern Journale Standard-Islands.

Das Entsetzen war jetzt auch auf dem Gipfelpunkte. Hôtels und Häuser sind verbarricadiert, in den Handelsvierteln alle Schaufenster geschlossen, alle Thüren verriegelt. An den Fenstern der obern Stockwerke zeigen sich erschreckte Gesichter. In den Straßen sieht man nichts mehr, als einzelne Rotten der unter dem Befehle des Colonels Stewart stehenden Miliz und Abtheilungen von Polizisten unter ihren Officieren.

Cyrus Bikerstaff und seine Adjuncten Barthelemy Ruge und Hubley Harcourt, die sofort zusammengetreten sind, bleiben gleich im Sitzungssaale in Permanenz. Durch die Telephone der beiden Häfen, der Batterien und der Uferwachposten empfangen sie die beunruhigendsten Nachrichten. Wilde Thiere hat man überall gesehen... mindestens Hunderte, sagen einige Telegramme – wo die Furcht wohl eine Null zuviel angehängt hat.... Eines steht aber fest: daß eine Anzahl Löwen, Tiger, Panther und Kaimans jetzt auf den Feldern hausen.

Was ist nun hier vorgegangen?... Hat sich eine Menagerie nach Zerbrechung der Käfige auf Standard-Is land geflüchtet?... Woher sollte die Menagerie gekommen sein?... Etwa von dem gestern beobachteten Dampfer?...

[285] Sollte dieser in der Nacht hier angelaufen sein?... Oder haben die Thiere, die sich durch Schwimmen retteten, an der abgeflachten Stelle der Mündung des Serpentineflusses ans Ufer gelangen können?... Ist jenes Fahrzeug vielleicht auf der Stelle versanken?... So weit man sehen kann und so weit das Fernrohr des Commodore Simcoë trägt, treiben keine Trümmer auf dem Meere, und Standard-Island liegt doch noch fast an derselben Stelle wie am Tage vorher!... Und wenn der Dampfer untergegangen war, hätte sich seine Mannschaft nicht nach Standard-Island retten können, da das doch den Raubthieren gelungen war?

Das Telephon des Stadthauses fragt hierüber bei den verschiednen Wachposten an und erhält die Antwort, daß von einer Collision oder einem Schiffbruche keine Rede sein könne. Das hätte, trotz der Dunkelheit, ihrer Aufmerksamkeit nicht entgehen können. Von allen Vermuthungen erscheint diese am wenigsten annehmbar.

»Ein Geheimniß... ein Geheimniß!«... ruft Yvernes wiederholt.

Seine Kameraden und er sitzen zusammen im Casino, wo Athanase Dorémus mit ihnen das Frühstück theilt und, wenn nöthig, auch zum zweiten Frühstück und zur Hauptmahlzeit um sechs Uhr abends dableiben wird.

»Meiner Treu, antwortet Pinchinat, von seinem Chocoladejournal naschend, laßt die Sache jetzt ruhen! Wir wollen zunächst essen, Herr Dorémus, in Erwartung, später selbst aufgefressen zu werden...

– Nun, wer weiß? fällt Sebastian Zorn ein. Doch ob von Löwen, Tigern oder von Cannibalen...

– Ich ziehe die Cannibalen vor! ruft Seine Hoheit. Jeder nach seinem Geschmack, nicht wahr?«

Der unverbesserliche Windbeutel lacht hell auf, dem Tanz- und Anstandslehrer ist es aber gar nicht wie lachen, und das vom Entsetzen gelähmte Milliard-City hat dazu gewiß auch keine Lust.

Um acht Uhr morgens ist der vom Gouverneur zusammengerufene Rath der Notabeln im Stadthause vereinigt. Die Straßen sind, abgesehen von den Milizen und Polizisten, öde und leer.

Die Versammlung beginnt sofort ihre Berathungen unter dem Vorsitze Cyrus Bikerstaff's.

»Meine Herren, sagt der Gouverneur, Sie kennen alle die Ursache des berechtigten panischen Schreckens, der sich der ganzen Bevölkerung von Standard-Island [286] bemächtigt hat. In vergangner Nacht ist unsre Insel von einer Rotte von Raubthieren und Sauriern überfallen worden. Uns drängt sich nun als vornehmste Pflicht die auf, jene Bande zu vernichten, und das wird uns ja auch gelingen. Unsre Mitbürger werden sich aber den Verordnungen fügen müssen, die wir schon erlassen zu müssen glaubten. Wenn der Verkehr innerhalb Milliard-Citys, dessen Thore geschlossen sind, noch gestattet sein mag, so liegt das doch anders bezüglich des Parks und der Feldmarken. Bis auf weiteres wird also jeder Verkehr zwischen der Stadt, den beiden Häfen und der Rammsporn-, sowie der Achterbatterie untersagt sein.«

Diese Verordnung wird gebilligt, und der Rath tritt nun in die Erörterung der Mittel ein, die eine baldige Ausrottung der gefährlichen Eindringlinge erhoffen lassen.

»Unsre Milizen und unsre Seeleute, fährt der Gouverneur fort, werden an verschiednen Stellen der Insel Treibjagden veranstalten. Die Herren unter uns, die früher Jäger waren, bitten wir, sich jenen anzuschließen, ihre Maßnahmen zu leiten, vor allem aber jeder Katastrophe vorzubeugen...

– Früher, so meldet sich Jem Tankerdon, hab' ich in Indien und Amerika der Jagd obgelegen, bin also über meinen Jungfernschuß hinaus. Ich bin bereit, und mein ältester Sohn wird mich begleiten...

– Unsern Dank dem ehrenwerthen M. Jem Tankerdon, antwortet Cyrus Bikerstaff, und ich für meinen Theil werd' es ihm nachthun. Zugleich mit den Milizen des Colonel Stewart wird eine Abtheilung Seeleute unter dem Commodore Simcoë vorgehen, und deren Reihen stehen Ihnen offen, meine Herren!«

Nat Coverley erbietet sich in gleicher Weise wie Jem Tankerdon und schließlich beeilen sich von den Notabeln alle die, denen das Alter dergleichen erlaubt, ihre Hilfe zuzusagen. An weittragenden Schnellfeuerwaffen ist in Milliard-City kein Mangel, und bei dem Muthe und der Opferwilligkeit aller ist zu hoffen, daß Standard-Island sehr bald von jenem gefährlichen Gezücht befreit sein werde. Doch kommt es, wie Cyrus Bikerstaff wiederholt, in erster Linie darauf an, kein Menschenleben aufs Spiel zu setzen.

»Was die Raubthiere betrifft, deren Zahl wir nicht abzuschätzen vermögen, so gilt es vor allem, sie in kürzester Frist zu vernichten. Ließen wir ihnen Zeit, sich einzugewöhnen oder gar zu vermehren, so wäre es um die Sicherheit auf der Insel für immer geschehen.

[287] – Wahrscheinlich, bemerkt einer der Notabeln, sind es der Bestien gar nicht so viele.

– So scheint es, denn sie können nur von einem Schiffe kommen, das eine Menagerie transportierte, antwortet der Gouverneur, ein Schiff, das für Rechnung eines Hamburger Hauses – denn diese befassen sich vor allem mit dem Raubthierhandel – vielleicht von Indien, den Philippinen oder den Sunda-Inseln her unterwegs war.«

In Hamburg ist in der That der Hauptmarkt für wilde Thiere, deren gewöhnlicher Preis zwölftausend Francs für Elephanten, siebenundzwanzigtausend für Giraffen, fünfundzwanzigtausend für Flußpferde, fünftausend für Löwen, viertausend für Tiger und zweitausend Francs für Jaguare beträgt... wie man sieht, recht anständige Preise, die sich noch zu steigern scheinen, während die für Schlangen herabgehen.

»Ich denke jedoch, sagt Cyrus Bikerstaff, daß wir von Boas, Riesen- und Klapperschlangen, von Najas, Vipern und andern der Art nichts zu fürchten haben; trotzdem müssen wir alles thun, um die Einwohnerschaft wieder zu beruhigen. Doch verlieren wir keine Zeit, meine Herren, und bevor wir nach der Ursache des Ueberfalles dieser Raubthiere forschen, wollen wir daran denken, sie auszurotten. Sie sind hier, dürfen aber nicht hier bleiben.«

Das war gewiß vernünftig und gut gesprochen. Die Notabeln wollten bereits auseinandergehen, um an den Treibjagden theilzunehmen, die unter Beihilfe der geübtesten Jäger von Standard-Island veranstaltet werden sollten, als Hubley Harcourt noch zu einer Bemerkung um's Wort bittet.

Das wird ihm gegeben, und der ehrenwerthe Adjunct richtet an die Versammlung folgende Worte:

»Meine Herren Notabeln, ich will die Ausführung der gefaßten Beschlüsse gewiß nicht verzögern, denn es drängt, die Verfolgung der Brut zu beginnen. Gestatten Sie mir indeß, Ihnen noch einen Gedanken mitzutheilen, der mir hierbei gekommen ist. Vielleicht bietet er eine annehmbare Erklärung für die Anwesenheit der Raubthiere auf Standard-Island.«

Hubley Harcourt, der Abkömmling einer alten französischen Familie von den Antillen, die durch den Aufenthalt in Luisiana amerikanisiert wurde, genießt in Milliard-City der höchsten Achtung. Ernsten und zurückhaltenden Geistes, urtheilt er in keiner Sache leichtsinnig, ist sparsam in Worten und hat seinen Ansichten dadurch weittragende Geltung gewonnen. Auch der Gouverneur ersucht ihn, sich auszusprechen, und er kommt dem in kurzen logischen Sätzen nach.

[288] »Meine Herren Notabeln, gestern Nachmittag ist ein Schiff in Sicht unsrer Insel gewesen, das seine Nationalität nicht zu erkennen gab und dazu auch alle Ursache hatte. Meiner Ansicht nach ist es ganz zweifellos, daß dieses Schiff eine Ladung an Raubthieren führte...

– Das liegt auf der Hand, bemerkte Nat Coverley dazu.

– Nun, meine Herren Notabeln, wenn jemand von Ihnen meint, daß jener Ueberfall Standard-Islands einem Seeunfalle zuzuschreiben wäre, so denke ich das entschieden nicht!

[289] – Doch dann, ruft Jem Tankerdon, der in den Worten Hubley Harcourt's zwischen den Zeilen lesen zu können glaubt, dann läge hier böse Absicht und Ueberlegung vor.


Wiederholter donnernder Beifall erschallte. (S. 291.)

– Oh! tönt es aus der Versammlung.

– Ich habe diese Ueberzeugung, versichert der Adjunct, und diese Frevelthat kann nur das Werk unsers Erzfeindes, jenes John Bull sein, dem gegen Stan dard-Island alle Mittel recht sind.

– Oh! wiederholt die Versammlung.

– In Ermangelung des Rechtes, die Zerstörung unsrer Insel zu verlangen, hat er sie unbewohnbar machen wollen. Daher diese Sammlung von Löwen, Jaguaren, Tigern, Panthern und Alligatoren, die uns der Dampfer nächtlicher Weile ans Land befördert hat.

– Oh!« klingt es zum drittenmale aus der Mitte der Notabeln.

Während dieses Oh! aber anfangs einen Zweifel ausdrückte, ist es jetzt ein Zeichen der Zustimmung. Ja, das muß ein Racheact der rücksichtslosen English sein, die vor nichts zurückschrecken, wenn es die Erhaltung ihrer Ueberlegenheit auf dem Meere angeht. Ja, jenes Schiff ist für das ehrlose Werk gechartert worden und nach Vollendung desselben sofort verschwunden. Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat nicht gezaudert, einige Tausend Pfund Sterling zu opfern, um den Bewohnern von Standard-Island den Aufenthalt daselbst unmöglich zu machen.

Hubley Harcourt setzt noch hinzu:

»Wenn ich auf diese Anschauung gekommen bin, wenn der erste Verdacht sich mir zur Gewißheit verwandelte, meine Herren, so rührt das daher, daß ich mich eines ganz ähnlichen Vorfalls erinnerte, der sich unter fast analogen Umständen abspielte, und von dem sich die Engländer nie haben rein waschen können...

– Obgleich es ihnen an Wasser nicht fehlt! bemerkt einer der Notabeln.

– Seewasser taugt nicht zum Waschen! antwortet ein zweiter.

– So wenig wie das Meer hingereicht hätte, den Blutfleck von der Hand der Lady Macbeth zu entfernen!« ruft ein dritter.

Diese Zwischenreden fallen schon von den würdigen Räthen, ehe Houbley Harcourt ihnen noch die Thatsache, worauf er anspielte, mitgetheilt hat.

»Meine Herren Notabeln, nimmt er noch einmal das Wort, als die Engländer den Franzosen die französischen Antillen abtreten mußten, wollten sie eine[290] Spur ihrer Anwesenheit – und welche Spur! – hinterlassen. Bis dahin war auf Guadeloupe und auf Martinique keine einzige Schlange vorgekommen, nach dem Abzuge der Angelsachsen zeigte sich letztere Insel von solchen geradezu überschwemmt. Das war John Bull's Rache!

Vor dem Weggange hatte er Hunderte von Reptilien nach dem ihm entgehenden Stückchen Erde geschafft, und seitdem hat sich das giftige Gezücht dort, zum großen Nachtheil der französischen Colonisten, ganz erschreckend vermehrt.«

Diese niemals widerlegte Beschuldigung Englands macht die von Hubley Harcourt gegebene Erklärung sehr annehmbar. Ob es zu glauben ist, daß John Bull auch die Propeller-Insel unbewohnbar machen wollte, ist freilich nicht aufgeklärt worden, ebensowenig, ob das bezüglich der französischen Antillen der Fall gewesen war. Was jedoch Standard-Island betraf, konnte dessen Bevölkerung daran gar nicht mehr zweifeln.

»Nun denn, ruft Jem Tankerdon, wenn es auch den Franzosen nicht gelungen ist, Martinique von den Vipern zu säubern, die die Engländer an ihrer Statt hinterließen....

Donnernde Hurrahs und Hips bei dieser Vergleichung durch den sanguinischen Redner.

... die Milliardeser werden Standard-Island schon von den Bestien zu befreien wissen, die England ihm aufgehalst hat!«

Wiederholter donnernder Beifall, der sich nur legt, um auf's neue zu beginnen, als Jem Tankerdon hinzufügt:

»Auf unsern Posten also, meine Herren, und vergessen wir nicht, daß wir bei der Verfolgung der Löwen, Jaguare, Tiger und Kaimans auf die Engländer Jagd machen!«

Damit trennt sich die Versammlung.

Eine Stunde später, wo die Hauptzeitungen den stenographischen Bericht über die Sitzung veröffentlichen und man weiß, welche feindlichen Hände die Käfige der schwimmenden Menagerie geöffnet haben, als man erfährt, wem man diesen Einbruch einer Legion von wilden Thieren verdankt, da ringt sich ein Schrei der Entrüstung aus jeder Brust, und England wird verflucht in seinen Kindern und Kindeskindern, in Erwartung, daß sein verhaßter Name in der Erinnerung der Welt verlöscht.

[291]
7. Capitel
Siebentes Capitel.
Treibjagden.

Es handelt sich um die gänzliche Vernichtung der Thiere, die nach Standard-Island eingedrungen sind. Bleibt ein einziges Paar dieser Saurier oder Raubthiere übrig, so ist es um die zukünftige Sicherheit geschehen. Dieses Paar würde sich vermehren, und dann könnte man ebensogut in den Urwäldern Indiens oder Afrikas wohnen wollen. Nein, ein Bauwerk aus Stahl hergestellt, es auf die Gewässer des Großen Oceans gebracht zu haben, ohne daß es jemals verdächtige Küsten oder Inselgruppen berührte, alles vorgesehen zu haben, um es gegen jede Epidemie, wie gegen feindliche Einfälle zu schützen, und nun... in einer einzigen Nacht... wahrlich, die Standard-Island Company hatte alle Ursache, das Vereinigte Königreich bei einem internationalen Gerichtshof anzuklagen und eine ungeheure Entschädigung zu verlangen. Lag denn hier keine schreiende Verletzung des Völkerrechtes vor? Ja gewiß, und wenn dafür jemals der Beweis erbracht wurde...

Doch wie der Notabelnrath beschlossen hat, gilt es jetzt erst das nothwendigste.

Entgegen den von mehreren Familien unter der Herrschaft des Schreckens geäußerten Wünschen kann nicht davon die Rede sein, daß sich die Bevölkerung auf die in beiden Häfen liegenden Dampfer flüchtet und von Standard-Island wegwendet. Diese Schiffe würden dazu auch gar nicht ausreichen.

Nein, die Raubthiere englischen Transports sollen verfolgt, sollen ausgerottet werden, und dem Juwel des Stillen Oceans wird der Friede bald wie früher wieder lächeln.

Die Milliardeser gehen unverzüglich ans Werk. Einzelne haben gleich Gewaltmittel vorgeschlagen, z. B. das Meer über die Insel wegströmen zu lassen, den Park und die Felder durch Feuer zu verwüsten, um das ganze Gezücht zu ertränken oder zu verbrennen. In jedem Falle blieb das aber wenigstens bezüglich der Amphibien ohne Erfolg, und es schien rathsamer, mittelst Treibjagden vorzugehen.

[292] Das geschieht denn auch.

Hier möge erwähnt sein, daß der Kapitän Sarol, die Malayen und die Neu-Hebridier ihre Mithilfe angeboten haben, die vom Gouverneur angenommen wurde. Die wackern Leute wollten sich erkenntlich zeigen für das, was man für sie gethan. Eigentlich fürchtete der Kapitän Sarol freilich, daß dieser Zwischenfall die Fahrt unterbrechen, daß die Milliardeser und ihre Familien Standard-Island vielleicht verlassen oder wenigstens das Verlangen stellen könnten, sofort nach der Madeleinebay zurückzukehren, was ihm einen starken Strich durch die Rechnung machen würde.

Das Quartett erweist sich als auf der Höhe der Situation und seiner Nationalität würdig. Es sollte niemand sagen können, daß die vier Franzosen nicht mit ihrer Person eingetreten wären, wo es galt, einer Gefahr ins Gesicht zu sehen. Sie stellten sich also unter die Führung Calistus Munbar's, der seiner Rede nach ganz andre Dinge erlebt hat und über diese Löwen, Tiger, Panther und andre unschuldige Bestien mit den Achseln zuckt. Vielleicht ist er früher Thierbändiger gewesen, dieses Enkelkind Barnum's, oder ist mindestens mit einer Menagerie im Lande umhergereist.

Die Treibjagden beginnen noch an demselben Morgen und sind zu Anfang vom Glücke begünstigt.

Am ersten Tage hatten zwei Krokodile die Unklugheit, sich aus dem Serpentineflusse herauszuwagen, und bekanntlich sind diese Saurier zwar im flüssigen Elemente sehr zu fürchten, weit weniger aber auf festem Lande, weil sie sich nur sehr beschwerlich drehen und wenden können. Der Kapitän Sarol und seine Malayen griffen sie beherzt an und, wenn es bei dem einen auch nicht ohne eine Verwundung abging, säuberten von ihnen den Park.

Inzwischen werden noch etwa zehn Stück gesehen, woraus wahrscheinlich die ganze Bande besteht. Es sind große, vier bis fünf Meter lange, also recht gefährliche Thiere. Da sie sich in den Fluß geflüchtet haben, halten sich die Seeleute bereit, sie mit einigen jener explodierenden Kugeln zu begrüßen, die auch den solidesten Schuppenpanzer zu sprengen vermögen.

Andrerseits streifen die Jäger in einzelnen Abtheilungen durch die Felder. Einer von den Löwen wird von Jem Tankerdon erlegt, der damit den Beweis liefert, daß er seinen Jungfernschuß hinter sich und die alte Kaltblütigkeit des Waidmanns im Far-West wiedergefunden hat. Es ist ein prächtiges Exemplar... eines von denen, die mit fünf- bis sechstausend Francs bezahlt werden.

[293] Ein cylindrisches Stahlgeschoß hat dem Thiere das Herz durchbohrt, als es gerade auf das Quartett zusprang, und Pinchinat behauptet, »beim Vorüberfliegen den Wind von seinem Schwanze gefühlt zu haben«.

Am Nachmittage, wo ein Mann von den Milizen einen Biß an der Schulter davonträgt, streckt der Gouverneur eine schöne Löwin zu Boden. John Bull's Hoffnung auf eine spätere Vermehrung der Raubthiere scheint also zu Schanden zu werden.

Im Laufe des Tages fallen einige Tiger von den Kugeln des Commodore Simcoë, der eine Abtheilung Seeleute anführt. Von letzteren ist einer durch einen Tatzenschlag so schwer getroffen worden, daß er nach dem Steuerbordhafen geschafft werden mußte. Nach den eingehenden Meldungen schienen jene greulichen Katzen am zahlreichsten unter den auf die Insel losgelassenen Raubthieren vertreten zu sein.

Mit Einbruch der Dunkelheit ziehen sich die Thiere vor der unausgesetzten Verfolgung nach der Seite der Rammspornbatterie ins Gehölz zurück, woraus sie mit Tagesanbruch vertrieben werden sollen.

Die ganze Nacht dauert das schreckliche Heulen und Brüllen fort und setzt die Frauen und Kinder von Milliard-City in Angst und Schrecken. Standard-Island konnte ja nicht eher wieder zur Ruhe kommen, als bis nachgewiesen war, daß es sich von diesem Vortrab der englischen Armee endgiltig befreit hatte. Das perfide Albion wird natürlich auch jetzt nicht mit den schmeichelhaftesten Ausdrücken belegt.

Früh am Morgen beginnen die Treibjagden wieder wie am Morgen vorher. Auf Anordnung des Gouverneurs und unter Zustimmung des Commodore Simcoë soll der Colonel Stewart nun auch Artillerie verwenden, um die Raubthiere aus ihren Schlupfwinkeln wegzufegen. Von der Rammspornbatterie werden also zwei Geschütze herbeigeschafft, die zum Kartätschenfeuer geeignet sind.

An dieser Stelle ist die Nesselbaumwaldung von einer Trambahnlinie, die sich nach dem Observatorium zu abzweigt, durchzogen. Hier haben eine Anzahl Raubthiere in der Nacht Schutz gesucht. Unter dem niedrigen Gezweig werden einzelne Köpfe von Löwen und Tigern mit unheimlich funkelnden Augen sichtbar. Die Seeleute, die Milizen und die von Jem Tankerdon, Nat Coverley und Hubley Harcourt angeführten Jäger nehmen links von dem Gehölz Aufstellung, um die wilden Thiere abzufangen, die nicht durch den Kartätschenhagel getödtet wurden.

[294] Auf ein Zeichen des Commodore Simcoë geben beide Geschütze gleichzeitig Feuer. Ein furchtbares Geheul ertönt als Antwort. Offenbar sind verschiedne von den Bestien getroffen worden. Die übrigen – gegen zwanzig – stürmen hervor, an deim Quartett vorüber und zwei derselben werden dabei tödtlich von den Kugeln getroffen. In diesem Augenblick stürzt noch ein gewaltiger Tiger heraus und wirft dabei Frascolin so heftig zu Boden, daß er zehn Schritte weit hinrollt.

Seine Kameraden eilen ihm zu Hilfe. Man hebt ihn fast bewußtlos auf, doch kommt er schnell wieder zu sich. Er hat nur einen Stoß erlitten... doch was für einen!

Auch den Kaimans im Flusse ist inzwischen eifrig nachgestellt worden, ohne daß jemand anfänglich weiß, wie es möglich sein wird, sich zu überzeugen, daß man sich wirklich von diesen gefräßigen Thieren befreit habe. Da kommt der Adjunct Hubley Harcourt auf den glücklichen Gedanken, die Schleusen des Flusses öffnen zu lassen, wodurch es möglich wird, gegen die Saurier unter günstigeren Verhältnissen und mit besserem Erfolge vorzugehen.

Ein schöner Hund Nat Coverley's ist das einzige Opfer, das hierbei zu beklagen ist. Von einem Alligator gefaßt, wird das arme Thier gleich in zwei Hälften zerbissen. Dafür sind aber ein Dutzend Saurier unter den Kugeln der Milizen gefallen, und vielleicht ist Standard-Island schon endgiltig von den furchtbaren Amphibien befreit.

Im übrigen beläuft sich die Jagdbeute des Tages auf sechs Löwen, acht Tiger, fünf Jaguare und neun Panther männlichen und weiblichen Geschlechts.

Am Abend sitzt das Quartett, Frascolin, der sich von seinem erlittenen Stoße erholt hat, inbegriffen, an der Tafel im Casino beisammen.

»Ich glaube, wir haben das Schlimmste nun überstanden, meint Yvernes.

– Wenigstens, wenn jener Dampfer als zweite Arche Noahs, antwortet Pinchinat, nicht alle Thiere der Schöpfung mit sich führte...«

Das ist nicht wahrscheinlich, und selbst Athanase Dorémus fühlt sich soweit beruhigt, daß er nach seiner Wohnung in der Fünfunddreißigsten Avenue zurückkehrt. Hier in seinem verbarrikadierten Hause findet er seine alte Wirthschafterin wieder, die schon halb verzweifelt ist bei dem Gedanken, daß von ihrem alten Herrn vielleicht nur noch unförmliche Ueberreste vorhanden sein möchten.


Kapitän Sarol und seine Malayen griffen die Krokodile herzhaft an. (S. 293.)

Die Nacht vergeht ziemlich ruhig. Kaum vernimmt man aus der Ferne vom Backbordhafen her dann und wann ein Gebrüll, so daß die Annahme [295] gerechtfertigt erscheint, daß eine allgemeine Treibjagd durch die Felder morgen mit der gänzlichen Vernichtung der Raubthiere enden werde.

Mit dem ersten Tagesgrauen treten die einzelnen Abtheilungen der Jäger wieder zusammen. Selbstverständlich ist Standard-Island die letzten vierundzwanzig Stunden auf derselben Stelle liegen geblieben, da auch das Maschinenpersonal am Rettungswerke vollzählig theilnehmen muß.

Zu je zwanzig Mann vereinigt und mit Schnellfeuergewehren ausgerüstet, durchstreifen die einzelnen Abtheilungen nun die ganze Insel. Von der nochmaligen [296] Verwendung von Kanonen hat der Colonel Stewart jetzt, wo sich die Raubthiere mehr zerstreut haben, absehen zu sollen geglaubt. Dreizehn Raubthiere erliegen den wohlgezielten Kugeln in der Umgebung der Achterbatterie, doch mußte man nicht ohne Mühe zwei Zollbeamte erst von einem Tiger und einem weiblichen Panther befreien, die den Männern schwere Verletzungen beigebracht hatten.

Hiermit steigt die Zahl der seit der ersten Treibjagd erlegten Thiere auf dreiundfünfzig.

[297] Es ist um vier morgens. Cyrus Bikerstaff und der Commodore Simcoë, Jem Tankerdon und sein Sohn, Nat Coverley und die beiden Adjuncten nebst einigen Notabeln begeben sich, begleitet von einer Abtheilung Miliz, nach dem Stadthause, wo der versammelte Rath die von den beiden Häfen und von der Rammsporn- und der Achterbatterie eingehenden Berichte erwartet.


Walter wird mit halbzerrissener Schulter aufgehoben (S. 298.)

Als sie sich kaum noch hundert Schritte von dem Gebäude befinden, ertönt ein lautes Geschrei. Eine Menge Menschen, Frauen und Kinder, fliehen, von panischem Schrecken ergriffen, längs der Neunten Avenue dahin.

Sofort eilen der Gouverneur, der Commodore Simcoë und ihre Begleiter nach dem Square, dessen Mittelthor hätte geschlossen sein sollen. In Folge einer unbegreiflichen Nachlässigkeit aber stand das Thor offen, und es erscheint nicht zweifelhaft, daß eines der Raubthiere – vielleicht das letzte – dadurch in die Stadt eingedrungen ist.

Nat Coverley und Walter Tankerdon, die den übrigen voraus sind, stürmen zuerst nach dem Square.

Plötzlich wird Walter Tankerdon, in kaum drei Schritte Entfernung von Nat Coverley, von einem mächtigen Tiger zu Boden geworfen.

Nat Coverley, der nicht Zeit gewinnen konnte, sein Gewehr zu laden, reißt das Jagdmesser aus dem Gürtel und eilt Walter Tankerdon zu Hilfe, als das Raubthier eben seine Tatzen in die Schultern des jungen Mannes einschlagen will.

Walter ist gerettet, der Tiger aber dreht sich um und greift nun Nat Coverley an.

Dieser stößt dem Thiere das Messer in den Leib, ohne damit das Herz zu treffen, und stürzt selbst rückwärts nieder.

Der Tiger weicht brüllend und mit offnem Rachen ein wenig zurück, als wolle er zum Sprunge ausholen.

Da kracht ein Schuß.

Jem Tankerdon ist es, der ihn abgegeben hat.

Eine zweite Detonation...

Es ist die Gewehrkugel, die im Leibe des Tigers explodiert.

Man hebt Walter mit halbzerrissener Schulter auf.

Wenn Nat Coverley auch nicht verletzt ist, so hat er dem Tode wohl noch nie so nahe ins Auge gesehen.

Er erhebt sich, geht auf Jem Tankerdon zu und spricht mit ernster Stimme:

[298] »Sie haben mich gerettet... ich danke Ihnen!«

Damit reichen sich beide die Hand, als Zeichen der Erkenntlichkeit, die sich vielleicht in eine innige Freundschaft verwandeln könnte.

Walter wird sofort nach dem Hôtel der Neunzehnten Avenue geschafft, wohin sich seine Angehörigen geflüchtet haben, während Nat Coverley am Arme Cyrus Bikerstaff's seine eigne Wohnung aufsucht.

Was den Tiger angeht, hat es der Oberintendant auf sich genommen, das prächtige Fell zu verwerthen. Das Thier soll bestens ausgestopft, im Naturwissenschaftlichen Museum von Milliard-City aufgestellt werden und die Inschrift erhalten:

»Geschenk des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Irland an das dankbare Standard-Island.«

War das Attentat auf die Schuld Englands zu schreiben, so konnte man sich wohl gar nicht passender rächen, wenigstens ist das die Ansicht Pinchinat's, der in solchen Sachen Kenner ist.

Nach dem Vorhergegangenen darf es nicht Wunder nehmen, daß Mrs. Tankerdon schon am nächsten Tage der Mrs. Coverley einen Besuch abstattet, um sich für den, dem armen Walter erwiesenen Dienst zu bedanken, und daß Mrs. Coverley den Besuch erwidert, um für den ihrem Gatten erwiesenen Dienst auch ihren Dank abzustatten. Miß Dy wollte sogar ihre Mutter begleiten, denn beiden lag ja viel daran, zu hören, wie es ihrem lieben Verwundeten ergehen mochte.

Nun hat sich alles zum Besten gewendet und Standard-Island kann, befreit von den furchtbaren Gästen, seine Fahrt nach den Fidschi-Inseln in voller Sicherheit wieder aufnehmen.

[299]
8. Capitel
Achtes Capitel.
Fidschi und seine Bewohner.

»Wie viel, sagst Du? fragt Pinchinat.

– Zweihundertfünfzig, lieber Freund, antwortet Frascolin. Ja, man zählt zweihundertfünfzig Inseln und Eilande, die zur Gruppe der Fidschi-Inseln gehören.

– Doch was interessiert das uns, antwortet Pinchinat, wenn das Juwel des Stillen Oceans daran nicht zweihundertfünfzigmal Halt macht?

– Du wirst doch nie etwas von Geographie lernen! erklärt Frascolin.

– Und Du... Du verstehst davon leider zuviel!« erwidert der Bratschist.

Der zweiten Geige geht es leider immer so, wenn sie den widerhaarigen Kameraden etwas lehren will.

Sebastian Zorn allein, der dafür noch eher zugänglich ist, läßt sich vor eine Wandkarte im Casino führen, auf der jeden Tag die Lage der Insel eingezeichnet wird. Hierdurch ist es leicht, die Reiseroute Standard-Islands seit der Abfahrt aus der Madeleinebay zu verfolgen. Diese Route bildet ein großes S, dessen unterer Bogen sich um die Fidschi-Inseln windet.

Frascolin zeigt dem Violoncellisten hier die Anhäufung der von Tasman 1613 entdeckten Inseln... einen Archipel, der einerseits zwischen dem 17. und 20. Grad südlicher Breite und andrerseits zwischen dem 174. Grade westlicher und dem 179. Grade östlicher Länge liegt.

»Wir werden uns also mit unsrer gewaltigen Maschine durch diese hunderte über den Weg zerstreute Kieselsteine wagen? bemerkt Sebastian Zorn.

– Jawohl, alter Kunstgenosse, antwortet Frascolin, und wenn es Dir beliebt, dabei richtig aufzupassen...

– Und den Mund geschlossen zu halten... wirst Pinchinat ein.

– Warum das?

– Weil in den geschlossenen Mund, sagt das Sprichwort, keine Mücke fliegen kann!

– Und von welcher Mücke sprichst Du?

– Von der, die Dich immer sticht, wenn sich Dir Gelegenheit bietet, Standard-Island herunterzumachen!«

[300] Sebastian Zorn zuckt verächtlich die Achseln und wendet sich Frascolin wieder zu.

»Du sagtest?...

– Ich sagte, daß sich, um die beiden großen Inseln Witi-Levu und Vanua-Levu zu erreichen, drei Durchgänge in der Ostgruppe bieten, der von Namuku, von Lakemba und der von Oneata...

– O den, worin wir in tausend Granatstückchen zerschellen! ruft Sebastian Zorn. Das wird uns schon nicht erspart bleiben! Hat es denn Sinn und Verstand, mit einer ganzen Stadt und einer großen Bevölkerung darin in solchen Gewässern herumzufahren? Nein, das streitet wider die Gesetze der Natur!

– Aha, die Mücke! spöttelt Pinchinat, da haben wir ja unsern Sebastian mit seiner Mücke!«

Bei den ewigen Unkenrufen des starrköpfigen Violoncellisten hatte er damit ja nicht ganz Unrecht.

In der That bildet in diesem Theil des Stillen Oceans die erste Gruppe der Fidschi-Inseln fast einen Schlagbaum für alle aus dem Osten kommenden Schiffe. Die Durchgänge sind indeß breit genug, so daß der Commodore Simcoë sich mit seinem schwimmenden Bauwerk getrost hineinwagen kann, abgesehen noch von denen, die Frascolin bezeichnet hatte. Unter diesen Inseln sind außer den beiden westlich gelegnen Levu, Ono Ngaloa und Kandabu die bedeutendsten.

Zwischen den aus dem Meeresgrund aufsteigenden Gipfeln breitet sich ein ganzes Meer, das Meer von Koro aus, und wenn der Archipel, den schon Cook zu Gesicht bekam und der von Bligh 1789 und von Wilson 1792 besucht wurde, so genau bekannt ist, so verdankt man das den denkwürdigen Reisen Dumont d'Urville's 1828 und 1833, denen des Amerikaners Wilkes 1839, des Engländers Erskine 1853 und endlich der Expedition des »Herald«, Kapitän Durham, von der britischen Marine, nach deren Angaben man so verläßliche Karten desselben, die den Hydrographen alle Ehre machen, zu entwerfen vermochte.

Der Commodore Simcoë hat also gar keine Ursache, zu zögern. Von Südosten kommend, läuft man in die Straße von Vulanga ein und läßt dabei die gleichnamige Insel – eine Art Schiffszwieback, der auf einem Korallenplateau liegt – zur Linken. Am nächsten Tage fährt Standard-Island auf das innere Meer ein, das von festen unterseeischen Bergketten gegen den Wogenschwall des Oceans geschützt ist.

[301] Natürlich ist noch nicht alle Furcht wegen der unter dem Schutze der britischen Flagge eingeführten Raubthiere verschwunden. Die Milliardeser halten noch immer die Augen offen. Durch die Gehölze werden auch jetzt noch dann und wann Treibjagden unternommen, doch ohne daß eine Spur von Raubthieren zu entdecken ist. Ebenso schweigt jedes Heulen und Brüllen. In der ersten Zeit weigern sich einzelne Furchtsame allerdings, nach dem Parke oder in die Felder hinauszugehen. Konnte man nicht befürchten, daß der Dampfer auch eine Ladung Schlangen – wie auf Martinique – eingeschmuggelt hatte, die sich doch noch irgendwo verbargen? Auf den Fang eines solchen Reptils war deshalb eine Prämie ausgesetzt worden. Man will jede Schlange mit Gold aufwiegen und so und so viel für jeden Centimeter der Länge geben, und wenn eine solche so groß wie eine Boa Constrictor wäre, würde das schon ein hübsches Sümmchen ausmachen. Da aber alle Nachsuchungen fruchtlos bleiben, kann man sich wohl beruhigen. Standard-Island hat seine ganze frühere Sicherheit wiedergewonnen. Die Urheber dieses Bubenstückes sind dabei nur um ihre Raubthiere gekommen.

Die wichtigste Folge der Sache ist jedenfalls die, daß dadurch eine vollständige Aussöhnung zwischen beiden Stadthälften stattgefunden hat. Seit dem Vorfall zwischen Walter und Coverley und dem zwischen diesem und Tankerdon besuchen sich gegenseitig die Familien von Steuerbord und Backbord, laden sich gegenseitig ein, und jetzt jagt eine Gesellschaft, eine Festlichkeit die andre. Jeden Abend findet bei den ersten Notabeln Ball und Concert statt, vorzüglich in dem Hôtel der Neunzehnten und dem der Fünfzehnten Avenue. Das Concert-Quartett kann kaum allen Anforderungen entsprechen. Uebrigens vermindert sich der Enthusiasmus für dessen Leistungen nicht, sondern scheint mehr und mehr zuzunehmen.

Endlich verbreitet sich eines Morgens, während Standard-Island mit seinen mächtigen Schrauben das ruhige Meer von Koro aufwühlt, die Nachricht, daß Jem Tankerdon sich officiell nach dem Hôtel Nat Coverley's begeben habe, um für seinen Sohn Walter Tankerdon um die Hand der Tochter des früheren Rivalen, der Miß Dy Coverley, anzuhalten, und daß Nat Coverley die Hand seiner Tochter, der Miß Dy Coverley, dem Walter Tankerdon, dem Sohne Jem Tankerdon's, zugesagt habe. Die Mitgistsangelegenheit hat keine Schwierigkeit bereitet. Die beiden jungen Leute sollen jedes mit zweihundert Millionen ausgestattet werden.

[302] »Da werden sie zur Noth immer etwas zu leben haben... selbst in Europa!« bemerkt Pinchinat sehr richtig.

Jetzt regnet es Glückwünsche von allen Seiten. Der Gouverneur Cyrus Bikerstaff sacht seine innerlichste Befriedigung gar nicht zu verhehlen. Durch diese Heirat verschwinden alle Ursachen zu Rivalitäten, die für die Zukunft Standard-Islands so gefährlich zu werden drohten. Der König und die Königin von Malecarlien sind die ersten, die dem Brautpaare ihre besten Wünsche zu erkennen geben. Die Briefkästen der beiden Hôtels ersticken durch Karten, die in oder auf Aluminium gedruckt sind. Die Journale verzeichnen einmal über das andre die in Aussicht stehenden Herrlichkeiten... wie man solche in Milliard-City noch niemals und in der andern Welt erst recht noch nicht gesehen hat. Nach Frankreich gehen Kabeltelegramme ab, durch die die Ausstattung bestellt wird. Die Magazine für Neuigkeiten, die größten Modewaarengeschäfte, die berühmtesten Damenschneiderateliers, die Fabriken für Bijouteriewaaren und Kunstgegenstände erhalten ganz unglaubliche Aufträge. Ein eigner Dampfer, der von Marseille auslaufen soll, soll durch den Suezcanal und den Indischen Ocean diese Wunder der französischen Industrie hierher befördern. Die Hochzeit ist für die Zeit nach fünf Wochen, auf den 27. Februar, festgesetzt. Es versteht sich von selbst, daß auch die Kaufleute von Milliard-City bei der Sache nicht leer ausgehen. Auch sie haben ihren Theil zur Ausstattung beizutragen, und mit den Ausgaben, die sich die Nabobs von Standard-Island erlauben, ließe sich hiervon allein ein hübsches Vermögen zusammenbringen.

Der Organisator der bevorstehenden Festlichkeiten ist selbstverständlich der Oberintendant Calistus Munbar. Auf eine Schilderung seines Seelenzustandes nach der Veröffentlichung der Verlobung Walter Tankerdon's und Miß Dy Coverley's müssen wir freilich verzichten, der freundliche Leser weiß ja, wie er dieses Bündniß herbeigewünscht, wie er es zu Stande zu bringen sich bemüht hat. Das ist die Verwirklichung seines Traumes, und da ihm von oben herab freie Hand gelassen wird, darf man darauf vertrauen, daß er seine Sache machen und eine alles übertreffende Festlichkeit veranstalten wird.

Der Commodore Simcoë theilt den Journalen mit, daß die Propeller-Insel sich an dem zur Trauung bestimmten Tage zwischen den Fidschi-Inseln und den Neuen Hebriden befinden wird. Vorher solle sie noch Viti-Levu anlaufen und da einen zehntägigen Aufenthalt nehmen, den einzigen, der in diesem Archipel geplant ist.

[303] Herrliche Fahrt! Auf dem Meer spielen zahlreiche Walfische. Die Tausende von Wasserstrahlen, die sie emporwerfen, bilden fast ein Neptunbassin, »wogegen das in Versailles nur ein Kinderspiel ist« – bemerkt Yvernes. Freilich zeigen sich auch Hunderte von Haifischen, die Standard-Island wie ein dahinsegelndes Schiff verfolgen.

Dieser Theil des Großen Oceans begrenzt Polynesien, das wieder mit Melanesien zusammenstößt, in dem die Gruppe der Neuen Hebriden zu suchen ist. Ihn durchschneidet der 180. Längengrad (von Paris) – jene angenommene Linie, die den ungeheuern Ocean in zwei Hälften theilt. Kommen sie an und über den genannten Meridian, so streichen die von Osten heransegelnden Seeleute einen Tag aus ihrem Kalender, während umgekehrt die von Westen kommenden einen hinzufügen (das heißt, ein und denselben Kalendertag zweimal rechnen). Ohne diese Maßregel würde es keine Uebereinstimmung der Daten geben. Im vergangnen Jahre hatte Standard-Island damit nichts zu schaffen gehabt, da es nach Westen über jenen Meridian nicht hinauskam. Dieses Mal mußte es sich aber der allgemeinen Regel anschließen, und da es von Osten herkommt, verwandelt sich der 22. in den 23. Januar.

Von den zweihundertfünfzig Inseln, die die Fidschigruppe bilden, sind nur etwa hundert bewohnt und die Bevölkerung übersteigt kaum hundertachtundzwanzigtausend Seelen... für einundzwanzigtausend Quadratkilometer eine geringe Dichtigkeit.

Unter diesen Inseln nämlich, die nur einfache Fragmente von Atolls oder die Kuppeln unterseeischer Berge sind, die noch ein Korallenkranz umschließt, hat keine über hundertfünfzig Quadratkilometer Bodenfläche. In politischer Hinsicht gehört das ganze mit zu Australasien und ist erst seit 1874 von der Krone abhängig. Das heißt mit andern Worten, daß England es ohne viele Umstände seinem Colonialbesitz einverleibt hat. Daß die Bewohner von Fidschi sich endlich entschlossen, die britische Schutzherrschaft anzuerkennen, kam vorzüglich daher, daß sie 1859 von einer tongischen Invasion bedroht waren, die das Vereinigte Königreich durch das Dazwischentreten seines berüchtigten Pritchard, des Pritchard von Tahiti, verhinderte. Der Archipel ist jetzt in siebzehn Bezirke getheilt, die von eingebornen Unterhäuptlingen, lauter näheren oder entfernteren Verwandten der Herrscherfamilie des letzten Königs Thakumbau, verwaltet werden.

»Ist es eine Folge des englischen Systems... fragt der Commodore Simcoë, der sich mit Frascolin über dieses Thema unterhält, daß es den [304] Bewohnern der Fidschi-Inseln ebenso ergehen wird wie den Tasmaniern? Ich weiß es nicht, Thatsache bleibt aber doch, daß die Zahl der Urbewohner immer mehr abnimmt. Die Colonie macht keine Fortschritte, weder in ihrer Entwicklung, noch in der Zunahme der Bevölkerung, wofür schon die geringe Zahl der Frauen gegenüber der der Männer den Beweis liefert.

– Das ist allerdings das Zeichen des baldigen Verlöschens einer Rasse, antwortet Frascolin, und in Europa giebt es auch einige Staaten, die an solchem Frauenmangel leiden.

[305] – Hier sind übrigens, fährt der Commodore fort, die Eingebornen nicht wirkliche Leibeigne, so wenig wie die der benachbarten Inseln, die von den Pflanzern vielfach zur Urbarmachung des Bodens gemiethet werden. Sie gehen an Krankheiten zu Grunde, und zum Beispiel 1875 starben nur an den Blattern nicht weniger als dreißigtausend! Dennoch bleibt es ein herrliches Stückchen Erde, dieses Fidschi, wovon Sie sich ja noch selbst überzeugen werden. Ist die Temperatur im Innern der Insel auch recht hoch, so hält sie sich doch in mäßigeren Grenzen am Küstengebiete, das reich an Früchten und Gemüsen, wie auch an Cocospalmen, Bananen u. s. w. ist. Und die Leute haben eigentlich weiter nichts zu thun, als die Ignamen, die Taros – diese Aroidee spielt in der Ernährung der Eingebornen im Großen Ocean überhaupt eine sehr wichtige Rolle – und das nahrhafte Mark der Palmen, aus dem der Sago bereitet wird, einzuernten!


Die Flora der Insel ist von tropischer Ueppigkeit. (S. 309.)

– Der Sago! ruft Frascolin. Welche Erinnerung an unsern Schweizer Robinson!

– Was Schweine und Hühner betrifft, fuhr der Commodore Simcoë fort, so haben sich diese seit ihrer Einführung hier erstaunlich vermehrt. Aus dem allen ergiebt sich, daß es den Bewohnern sehr leicht wird, die nothwendigsten Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Leider neigen die Eingebornen deshalb auch zu tadelnswerther Trägheit, zum far niente, obwohl sie recht intelligent und beweglichen Geistes sind...

– Nun, wenn sie so geistvoll sind... unterbricht ihn Frascolin.

– Achten sie doch nicht auf ihre Kinder, die früh wegsterben,« erwidert der Commodore Simcoë.

In der That scheinen alle Eingebornen, die Polynesier, die Melanesier und andre, sich um die Kinderpflege blutwenig zu bekümmern.

Auf der Weiterfahrt nach Viti-Levu kommt Standard-Island noch an mehreren dazwischen liegenden Inseln, wie Vagua-Vatou, Moala und Ngan vorbei, ohne sich jedoch aufzuhalten.

Von allen Seiten umschwärmen seine Ufer ganze Flottillen von langen Piroguen mit gekreuzten Bambusstangen als Auslegern, die zur Erhaltung des Gleichgewichts des Bootes und zur Unterbringung der Ladung dienen. Sie kommen gelegentlich wohl näher, machen aber keinen Versuch, in einen der beiden Häfen einzudringen. Bei dem schlechten Rufe, in dem die Bewohner der Fidschi-Inseln stehen, hätte man es ihnen auch schwerlich gestattet.

[306] Die Leute sind übrigens Christen geworden. Seit sich europäische Missionäre 1835 in Lecumba niederließen, sind fast alle wesleyanische Protestanten, untermischt mit einigen tausend Katholiken. Früher huldigten sie aber dem Cannibalismus so unmäßig, daß sie auch jetzt den Geschmack an Menschenfleisch noch nicht verloren haben dürften. Das hängt mit ihrer alten Religion zusammen. Ihre Götter liebten das Blut. Friedfertiges Wohlwollen wurde unter diesen Völkerschaften für eine Schwäche, eine Sünde angesehen. Damit, daß man einen Feind verzehrte, that man ihm noch eine Ehre an; den Mann, den man verachtete, ließ man zwar kochen, aß ihn aber nicht. Kindliche Körper bildeten bei den Festmahlen das Hauptgericht, und die Zeit ist noch gar nicht fern, wo der König Thakumbau es liebte, unter einem Baum zu sitzen, an dessen Zweigen überall für die königliche Tafel bestimmte Gliedmaßen hingen. Zuweilen wurde auch ein Stamm – und das ist den Nulocas auf Viti-Levu in der Nähe von Namosi widerfahren – bis auf wenige Frauen vollständig aufgezehrt. Eine dieser Frauen lebte noch im Jahre 1880.

Findet Pinchinat nun nicht auf irgendeiner dieser Inseln noch Enkelkinder von Menschenfressern, die die Sitte ihrer Großväter bewahrt haben, so wird er wohl darauf verzichten müssen, einen Rest von Localfarbe auf den Archipelen des Stillen Oceans zu Gesicht zu bekommen.

Die Westgruppe der Fidschis enthält zwei große Inseln, Viti-Levu und Vanua-Levu, nebst zwei mittleren, Kantavu und Taviuni. Mehr im Nordwesten liegen die Inseln Wassava und öffnet sich der Canal der Insel Ronde, durch den der Commodore Simcoë steuern muß, um nach den Neuen Hebriden hinauf zu gelangen.

Am Nachmittage des 25. Januar werden die Höhen von Viti-Levu am Horizonte sichtbar. Diese bergige Insel ist die bedeutendste des Archipels, etwas um ein Drittel größer als Corsica, das heißt, sie umfaßt zehntausendsechshundertfünfundvierzig Quadratkilometer.

Ihre Gipfel erheben sich bis auf zwölf- und sogar fünfzehnhundert Meter über das Meer. Es sind erloschne oder wenigstens eingeschlafne Vulcane, deren Wiedererwachen allemal recht unerwünscht sein dürfte.

Viti-Levu ist mit seiner nördlichen Nachbarin Vanua-Levu durch eine unterseeische Klippenreihe verbunden, die in der Urzeit jedenfalls über die Wasserfläche emporragte. Ueber diese Barre konnte sich Standard-Island jedoch ruhig hinwegbegeben. Uebrigens schätzte man sonst die Wassertiefe nördlich von Viti-Levu [307] auf vier- bis fünfhundert, und südlich davon auf fünfhundert bis zweitausend Meter.

Die Hauptstadt des Archipels war früher Levuka auf der Insel Ovalau, im Osten von Viti-Levu. Die von englischen Häusern gegründeten Handelsniederlassungen sind daselbst vielleicht auch jetzt noch bedeutender als die von Suva, der gegenwärtigen Hauptstadt auf der Insel Viti-Levu. Dieser Hafenplatz bietet aber der Schiffahrt besondre Vortheile, da er zwischen zwei Deltas im äußersten Südosten der Insel liegt. Der Landungsplatz der Packetboote, die nach den Fidschi-Inseln kommen, befindet sich in der Bucht von Ngalao, im Süden der Insel Kalandava und am nächsten dem benachbarten Neuseeland, Australien und den französischen Besitzungen von Neu-Caledonien und den Loyalty-Inseln.

Standard-Island geht vor dem Hafen von Suva vor Anker. Alle Formalitäten werden noch an demselben Tage erfüllt und der gegenseitige freie Verkehr gestattet. Da das für die Colonisten ebenso wie für die Eingebornen nur von Vortheil sein kann, sind die Milliardeser sich eines vortrefflichen Empfanges sicher, woran freilich wohl mehr das Interesse als die Sympathie Antheil haben. Man darf hier auch nicht vergessen, daß die Fidschi-Inseln von der Krone abhängen, und daß die Beziehungen zwischen dem Foreign-Of fice und der Standard-Island Compagnie, die auf ihre Unabhängigkeit so eifersüchtig ist, von jeher gespannter Natur waren.

Am nächsten Tage, dem 26. Januar, begeben sich die Händler von Standard-Island, die Einkäufe und Verkäufe abschließen wollen, frühzeitig ans Land. Die Touristen, und darunter unsre Pariser, bleiben natürlich nicht zurück. Obgleich Pinchinat und Yvernes gern Frascolin – den Lieblingsschüler des Commodore Simcoë – wegen seiner »ethno-rasantogeographischen« Studien, wie Seine Hoheit sagt, etwas aufziehen, ziehen sie doch ebenso gern aus seinen Kenntnissen Vortheil. Auf die Fragen seiner Kameraden über die Bewohner von Viti-Levu und über ihre Sitten und Gebräuche hat die zweite Violine stets eine lehrreiche Antwort zur Hand. Heute läßt sich sogar Sebastian Zorn herab, sich fragend an ihn zu wenden, und als Pinchinat dabei erfährt, daß dieses Land vor gar nicht so langer Zeit noch der Hauptschauplatz der Menschenfresserei gewesen sei, kann er einen Seufzer nicht unterdrücken und sagt:

»Ach ja... wir aber kommen zu spät, und Ihr werdet sehen, daß diese von der Civilisation entnervten Fidschier bis aufs Hühnerfricassée heruntergekommen und Seiner Majestät dem Schweine zu Füßen gefallen sind!

[308] – Du Anthropophage! ruft ihm Frascolin zu, Du hättest verdient, die Tafel des Königs Thakumbau zu zieren...

– He, ein Entrecôte von Pinchinat à la Bordelaise...

– Schweigt nur still, erwidert Sebastian Zorn, wenn wir mit unnützen Redereien unsre Zeit verlieren...

– So werden wir durch den Vormarsch auch keinen Fortschritt erzielen! ruft Pinchinat. Da hast Du eine unklare Phrase, wie Du sie liebst, mein alter Violoncellist! Doch Du hast Recht, also vorwärts marsch!«

Die an der rechten Seite einer kleinen Bucht erbaute Stadt Suva bedeckt mit ihren Häusern den Abhang eines grünenden Hügels. Sie hat Quais zum Anlegen für die Schiffe, Straßen mit Trottoirs aus Holzplanken, ganz so, wie man sie häufig in Seebädern am Strande findet. Die hölzernen, meist nur aus einem Erdgeschoß, zuweilen, doch selten, noch aus einem Obergeschoß bestehenden Häuser sind freundlich und kühl. In der Umgebung sieht man Hütten der Eingebornen mit in Hörner auslaufenden und mit Muscheln verzierten Giebelstöcken. Die recht solid hergestellten Dächer widerstehen auch den stärksten Regengüssen, die zwischen Mai und October vorkommen. Im März 1871, so berichtet Frascolin, der in der Statistik zu Hause ist, wurden in Mbua, an der Ostseite der Insel, an einem Tage achtunddreißig Centimeter Niederschlag beobachtet.

Viti-Levu hat, ebenso wie die andern Inseln des Archipels, ein recht ungleichmäßiges Klima, und die Vegetation wechselt von einer Küste zur andern. An der dem Südostpassat ausgesetzten Seite ist die Luft sehr feucht und der Boden mit prächtigen Wäldern bedeckt, auf der andern Seite findet man ausgedehnte, zur Cultur geeignete Savannen.

Verschiedne Baumarten scheinen im Aussterben begriffen, darunter der schon fast ganz verschwundne Santelholzbaum und der Dakua, die den Fidschis eigenthümliche Fichte.

Bei seinen Streifereien überzeugt sich das Quartett jedoch, daß die Flora der Insel von tropischer Ueppigkeit ist. Ueberall erheben sich Wälder von Cocos- und von andern Palmen, an deren Stämmen sich farbenprächtige Orchideen hinaufwinden, oder dichte Gehölze – von Casuarineen, Pandanusarten, Baumfarrn, und in mehr sumpfiger Gegend große Mengen von Wurzelträgern, deren Wurzeln sich über den Erdboden ausbreiten und verschlingen. Baumwoll- und Theepflanzungen haben jedoch nicht die Ergebnisse geliefert, die man nach dem Klima hier hätte erwarten dürfen. Der Boden von Viti-Levu, wie überhaupt [309] auf der ganzen Gruppe, besteht aus gelblichem Thon, ursprünglich aus vulcanischer Asche, die sich nur nach und nach zu fruchtbarer Erde umgesetzt hat.

Die Fauna ist ebenso formenarm wie fast überall im Stillen Ocean; sie enthält nur etwa vierzig Arten von Vögeln, Papageien und acclimatisierte Zeisige, Fledermäuse, ferner Ratten zu Legionen, nichtgiftige Reptilien, die von den Eingebornen sehr gern gegessen werden, Eidechsen, daß man sich vor ihnen kaum retten kann, und widerwärtige Schaben von greulicher Gefräßigkeit. Raubthiere dagegen gibt es nicht, was Pinchinat veranlaßt, sich wieder einmal in gewohnten Spottreden zu ergehen.

»Unser Gouverneur, Cyrus Bikerstaff, hätte einige Paare Löwen, Tiger, Panther, Krokodile und ähnliches Gelichter aufheben und sie hier auf Fidschi in Freiheit setzen sollen... das wäre doch nur eine Wiedererstattung, da sie ja ursprünglich England gehörten.«

Die Eingebornen, eine Mischung von Polynesiern und Melanesiern, zeigen noch einen ziemlich hübschen Typus, wenn sie den Bewohnern von Samoa und der Marquisen auch nachstehen. Die großen, kräftigen Männer, unter denen es übrigens viele Mestizen giebt, haben dunkelkupferfarbenen, fast schwarzen Teint und krauses, dickes Wollhaar. Ihre Bekleidung läßt viel zu wünschen übrig und besteht meist aus einem einfachen Schurz oder einer Decke, die aus einheimischem Stoffe, dem »Masi«, hergestellt ist, den man aus einer Art Maulbeerbaum – welcher auch das Papier liefert – zu gewinnen versteht. Zuerst ist dieser Stoff blendend weiß; die Leute verstehen ihn aber zu färben und streifig zu machen und versenden viel davon nach allen Inselgruppen des östlichen Großen Oceans. Die Männer tragen jedoch auch gern alte Sachen aus Europa, die von den Trödlermärkten Deutschlands oder des Vereinigten Königreichs herstammen. Es macht dann einen höchst lächerlichen Eindruck, die Eingebornen in unförmiger Hofe, abgeschabtem Ueberzieher oder auch in einem schwarzen Gehrock einherstolzieren zu sehen, der, zerrissen und abgetragen, sich schließlich auf den Rücken eines Stutzers von Viti-Levu verirrt hat.

»Aus einem solchen Rocke könnte man einen ganzen Roman machen, bemerkt Yvernes.

– Ja, einen Roman, der damit endete, daß jener zu einer Weste würde!« antwortet Pinchinat.

Die Frauen kleiden sich – trotz wesleyanischer Predigten – mehr oder weniger decent mit einem Röckchen und einem Caraco aus Masi. Ziemlich gut [310] gewachsen, können sie, wenigstens so lange sie der Reiz der Jugend schmückt, sogar für hübsch gelten. Nur haben sie die abscheuliche Gewohnheit – ganz wie die Männer – das reiche schwarze Haar so stark mit Kalk einzupudern, daß dieser eine wirkliche Mütze bildet, die sie ihrer Meinung nach mehr vor den glühenden Sonnenstrahlen schützt. Ferner rauchen sie wie ihre Gatten und Brüder einheimischen Tabak, der wie verbranntes Heu riecht, und wenn sie die Cigarette nicht zwischen den Lippen umher wälzen, wird diese durch das Ohrläppchen ganz in derselben Weise gesteckt, wie man in Europa Perlen- und Diamantengehänge trägt.

Im allgemeinen sind die Frauen nicht besser daran, als Sclavinnen. Sie müssen die schwersten Arbeiten verrichten, und die Zeit liegt noch nicht fern, wo man sie, nachdem sie sich für ihre Eheherrn abgeplagt hatten, auf deren Grabe einfach erwürgte.

Im Laufe der drei Tage, die unsre Touristen zu Ausflügen in die Nachbarschaft von Suva benützten, versuchten sie mehrmals, auch in Hütten der Eingebornen einzudringen. Das war ihnen aber unmöglich, nicht etwa wegen der Ungastlichkeit der Insassen, sondern wegen des widerlichen Gestanks, der darin herrschte. Die Leute salben sich über und über mit Cocosöl ein, leben mit ihren Schweinen, Hunden und Katzen zusammen, hüllen sich in übelriechende Lumpen, beleuchten ihre Wohnungen durch Verbrennung von Dammanagummi, so daß ein Fremder fast erstickt... nein, in einer solchen Hütte war es nicht auszuhalten. Wer übrigens am häuslichen Herde eines Fidschiers Platz nahm, der muß auch, wenn er nicht einen argen Verstoß begehen will, seine Lippen mit dem ekelhaften Kava benetzen, einem Liqueur, den die Eingebornen über alles lieben. Ist dieser Kava, der aus gedörrten Wurzeln des Pfefferbaumes gewonnen wird, europäischen Lippen schon an und für sich zuwider, so wird er es noch mehr durch die Art seiner Zubereitung. Man weicht die pfefferige Masse nicht etwa ein, sondern kaut sie, zerreibt sie zwischen den Zähnen und spuckt sie schließlich in ein Gefäß mit Wasser aus. Dieses ekelhafte Gemisch wird dann jedem Gaste so eindringlich aufgenöthigt, daß man kaum abschlagen kann, es anzunehmen. Man hat nur seinen Dank dafür auszusprechen, und zwar mit den im ganzen Archipel üblichen Worten: »E mana ndina«, das heißt: »Amen«.

Nur der Vollständigkeit wegen erwähnen wir hier noch der Schaben, die überall umherkriechen, der weißen Ameisen, die die zerlumpte Kleidung noch weiter zerstören, und der Moskitos – Moskitos zu Millionen – die man an [311] den Wänden, auf dem Fußboden und an den Kleidern der Eingebornen in zahlloser Menge sich tummeln sieht.

So erscheint es nicht auffällig, daß Seine Hoheit mit dem comico-britanischen Accent der englischen Clowns beim Erblicken dieser entsetzlichen Insecten ausrief:

»Miustic!... Miustic!«

Jedenfalls hatten weder er noch seine Kameraden den Muth, in eine Fidschier Hütte einzudringen. Aus diesem Grunde bleiben ihre ethnologischen Studien also unvollkommen; ja sogar der gelehrte Frascolin war davor zurückgeschreckt, was eine bedauerliche Lücke in seinen Reiseerinnerungen zurückließ.

9. Capitel
Neuntes Capitel.
Ein Casus Belli.

Während unsre Künstler sich lustwandelnd einen Einblick in die auf diesem Archipel herrschenden Sitten verschafften, verschmähten es einige der Notabeln von Standard-Island nicht, mit dessen einheimischen Behörden in Verbindung zu treten. Die »Papalangis« – so nennt man hierzulande die Fremden – brauchten nicht zu fürchten, einen schlechten Empfang zu finden.

Was die europäischen Behörden angeht, so werden diese durch einen General-Gouverneur vertreten, der gleichzeitig als englischer General-Consul für die westlichen, dem Protectorate des Vereinigten Königreichs mehr oder weniger unterworfnen Gruppen amtiert. Cyrus Bikerstaff glaubte von einem officiellen Besuche desselben absehen zu können. Zwei- oder dreimal haben sich die beiden Herren steif gegrüßt, weiter gingen die Beziehungen zwischen ihnen aber nicht.

Mit dem deutschen Consul, gleichzeitig einem der größten Händler des Landes, kam es nur zu dem üblichen Austausche der Karten.

Während des Aufenthalts hatten die Familien Tankerdon und Coverley Ausflüge in die Umgebungen von Suva und in die Wälder veranstaltet, die seine Höhen bis zum Gipfel bekleiden.


Das Innere des Tempels der Geister. (S. 315)

[312] [315]Mit Bezug darauf bemerkte der Oberintendant gegen seine Freunde vom Quartett mit vollem Rechte:

»Wenn unsre Milliardeser so besondre Vorliebe für Spaziergänge nach großen Höhen verrathen, so kommt das daher, daß unser Standard-Island zu flach und einförmig ist. Ich hoffe aber, man wird es eines Tags noch mit einem künstlichen Berge versehen, der sich mit allen Höhen im Stillen Ocean messen kann. Inzwischen lassen unsre Stadtkinder keine Gelegenheit vorübergehen, um die reine und belebende Luft der Berge zu athmen. Das entspricht einem Bedürfnisse der Menschennatur...

– Sehr schön, sagt Pinchinat. Doch einen Rath, mein lieber Eucalistus! Wenn Sie Ihren Berg aus Stahlblech oder Aluminiumplatten construieren, dann vergessen Sie nicht, einen hübschen Vulcan darin unterzubringen... einen Vulcan mit Rauchkammern und Feuerwerk...

– Und warum das nicht, mein Herr Spaßvogel? fällt Calistus Munbar ein.

– Ja, das hab' ich mir eben auch gesagt: Warum das nicht?« antwortet Seine Hoheit.

Es versteht sich, daß Walter Tankerdon und Miß Dy an jenen Ausflügen theilnehmen und dabei Arm in Arm dahinwandeln.

Natürlich werden daneben auf Viti-Levu auch die Sehenswürdigkeiten seiner Hauptstadt besucht, jener »Mbure-kalu« oder Tempel der Geister, und das Local für die politischen Versammlungen. Diese auf einem Untergrund von Steinen errichteten Bauwerke bestehen aus Bambus, aus Stämmen, die mit einer Art vegetabilischer Passementerie überzogen sind, und aus sinnreich verbundnen Latten, die das Strohdach tragen. Die Touristen besichtigen ferner das sehr gesund liegende Krankenhaus und den botanischen Garten, der sich amphitheatralisch hinter der Stadt ausbreitet. Zuweilen dehnen sich diese Spaziergänge bis zum Abend aus, und dann geht es, wie in der guten alten Zeit, mit der Laterne in der Hand nach Hause. Bis zu Gasometern, Auer'schem Glühlicht, Bogenlampen oder bis zum Acetylen ist man auf den Fidschi-Inseln noch nicht vorgeschritten, das wird aber »unter deim erleuchteten Protectorate Großbritanniens« schon nicht ausbleiben, meint Calistus Munbar.

Der Kapitän Sarol, seine Malayen und die in Samoa eingeschifften Neu-Hebridier verbleiben auch während des hiesigen Aufenthalts bei ihrer gewohnten Lebensweise. Sie gehen nicht ans Land, da ihnen Viti-Levu schon bekannt ist, die einen, weil sie es bei Betreibung der Küstenschiffahrt häufiger [315] besucht, die andern, weil sie hier für Rechnung von Farmern schon gearbeitet haben. Sie ziehen es beiweitem vor, auf Standard-Island zu bleiben, das sie unablässig durchstreifen und dabei die Stadt, die Häfen, den Park, die Felder und die Batterien am Rammsporn und am Achter besuchen. Noch wenige Wochen, und die wackern Leute werden, dank der Gefälligkeit der Compagnie und dem Wohlwollen Cyrus Bikerstaff's, in ihrer Heimat, nach fünfmonatlicher Fahrt auf der Propeller- Insel, wieder eintreffen.

Manchmal plaudern unsre Künstler mit Sarol, der recht gut beanlagt ist und sich der englischen Sprache ganz geläufig bedient. Sarol erzählt ihnen mit wahrer Begeisterung von den Neuen Hebriden, von den Eingebornen dieser Gruppe, von ihrer Ernährungsweise und ihrer Kochkunst, was vorzüglich den Bratschisten interessiert. Pinchinat's geheimer Ehrgeiz strebte danach, womöglich ein neues Gericht zu entdecken, dessen Recept er dann den gastronomischen Gesellschaften des alten Europa mittheilen wollte.

Am 30. Januar brechen Sebastian Zorn und seine Kameraden in einer ihnen vom Gouverneur überlassenen elektrischen Schaluppe des Steuerbordhafens auf, um die Rewa, einen der Hauptflüsse des Landes, hinauszufahren. In dem Fahrzeuge haben noch der Führer desselben, ein Mechaniker, zwei Matrosen und ein einheimischer Lootse Platz genommen. Athanase Dorémus hat man vergeblich angeboten, sich den Ausflüglern anzuschließen. In dem Tanz- und Anstandslehrer ist jedes Gefühl der Neugierde eingeschlafen... dann könnte sich während seiner Abwesenheit auch ein Schüler anmelden wollen, und er zieht es deshalb vor, im Casino auszuharren.

Um sechs Uhr morgens verläßt die Schaluppe, gut ausgerüstet und, weil sie erst am Abend zurückkehren soll, auch mit einigem Mundvorrath versehen, die Bay von Suva und steuert längs der Küste nach der Rewamündung hin.

Auf der Fahrt zeigen sich nicht nur viele Klippen, sondern auch viele Haifische, und es gilt darum, sich vor beiden in Acht zu nehmen.

»Pah! stößt Pinchinat hervor, Eure Haifische, das sind ja nicht einmal Salzwasser-Cannibalen mehr! Die englischen Missionäre haben sie gewiß ebenso wie die Fidschianer zum Christenthum bekehrt!... Wetten wir, daß die Bestien den Geschmack an Menschenfleisch ganz verloren haben?

– Verlassen Sie sich darauf nicht, antwortet der Pilot... so wenig als man sich auf die Fidschi-Insulaner des Innern verlassen kann.«

[316] Pinchinat begnügt sich mit einer wegwerfenden Geberde. Seiner Ansicht nach hat man ihm doch nur etwas weiß gemacht mit den angeblichen Menschenfressern, die sich nicht einmal an Feiertagen als solche erweisen.

Der Lootse kennt die Bay und den Lauf der Rewa ganz genau. In diesem großen Flusse, der auch Wat-Levu genannt wird, verspürt man die Fluth bis fünfundvierzig Kilometer von der Mündung und Barken können auf ihm bis achtzig Kilometer weit hinaufsegeln.

An der Mündung ist die Rewa über hundert Toisen breit. Sie verläuft zwischen sandigen, niedrigen Ufern an der linken und zwischen hügligen Ufern, die einen üppigen Bestand von Bananen und Cocospalmen zeigen, an der rechten Seite. Ihr Name ist eigentlich Rewa-Rewa, entsprechend jener Verdoppelung der Wörter, wie sie den Völkerschaften des Stillen Oceans fast gemeinsam ist. Wie Yvernes bemerkt, findet man dasselbe ja in den kindlichen Ausdrücken, wie »Papa«, »Mama«, »Dada«, »Bonbon« u. s. w. – In der That scheinen die Eingebornen hier noch ganz in den Kinderschuhen zu stecken.

Die eigentliche Rewa entsteht aus der Vereinigung des Waï-Levu (Großen Wassers) und des Waï-Manu und seine Hauptmündung führt den Namen Waï-Ni-ki.

Nach Durchschiffung des Stromdeltas gleitet die Schaluppe an dem Dorfe Komba vorüber, das halb versteckt in einem wahren Blumenkorbe liegt. Um die Fluthwelle möglichst auszunützen, wird weder hier, noch am Dorfe Naitasiri angehalten. Uebrigens war letzteres unlängst für »tabu« erklärt worden, ein Bann, der sich auf seine Häuser, Bäume, Einwohner und über den Strand hin erstreckte, den das Wasser der Rewa benetzt. Die Eingebornen hätten niemand gestattet, hier den Fuß ans Land zu setzen. Das Tabu ist einmal eine, wenn auch nicht gerade sehr ehrwürdige, doch eine sehr verehrte Sitte – Sebastian Zorn wußte schon etwas davon – und man schenkte ihr die gebührende Beachtung.

Beim Vorüberfahren vor Naitasiri macht der Lootse die Ausflügler auf einen hohen Baum, einen Tavala, aufmerksam, der sich an einer Einbiegung des Ufers erhebt.

»Was ist's denn so Merkwürdiges mit diesem Baume? fragt Frascolin.

– O, erklärt der Lootse, nichts anders, als daß seine Rinde von der Wurzel bis zur Gabelung durch Einschnitte gestreift ist. Diese Einschnitte bezeichnen die Anzahl menschlicher Körper, die an der Stelle selbst gekocht und aufgezehrt wurden....

[317] – So, als ob Einer von den Kerben auf dem Theilholze des Bäckers spräche!« bemerkt Pinchinat, der ungläubig mit den Achseln zuckt.

Er hat aber Unrecht. Die Fidschi-Inseln sind vor allem der Sitz des Cannibalismus gewesen, der den Berichten nach daselbst auch jetzt noch nicht ganz außer Gebrauch gekommen ist. Die Feinschmeckerei wird ihn unter den Stämmen des Landesinnern noch lange erhalten. Ja, die Feinschmeckerei, denn nach den Aussagen der Eingebornen hat nichts einen so köstlichen Geschmack wie das Menschenfleisch, das den des Rindfleisches weit übertreffen soll. Konnte man dem Lootsen glauben, so hat es hier einen Häuptling gegeben, Ra-Undrenudu genannt, der auf seinem Besitzthum Steine aufrichten ließ, und bei sei nem Ableben belief sich deren Anzahl auf achthundertzweiundzwanzig.

»Und wissen Sie auch, was diese Steine bedeuteten?...

– Das zu errathen, ist uns unmöglich, antwortet Yvernes, selbst wenn wir unsern ganzen Musikantenscharfsinn daransetzen.

– Sie bedeuteten die Anzahl menschlicher Körper, die jener Häuptling verzehrt hatte.

– Ganz allein?...

– Gewiß, ganz allein!

– Das ist ein tüchtiger Esser gewesen!« begnügt sich Pinchinat, der sich seine Ansicht über die »windbeuteligen Fidschi-Insulaner« schon gebildet hat, einfach zu antworten.

Gegen elf Uhr ertönt auf dem rechten Ufer eine Glocke. Zwischen Buschwerk und beschattet von Bananen und Cocospalmen wird das aus wenigen Strohhütten bestehende Dorf Naililii sichtbar. Auf die Frage der Touristen, ob sie hier nicht eine Stunde anhalten könnten, um mit dem Missionär, einem Landsmanne, einen Händedruck zu wechseln, antwortet der Lootse bejahend, und so wird das Boot an einem Baumstamme festgelegt.

Sebastian Zorn und seine Kameraden gehen ans Land, und nach kaum zwei Minuten Weges begegnen sie dem Superior der Mission.

Es ist ein Mann von etwa fünfzig Jahren mit anziehendem Gesicht und energischen Zügen. Hocherfreut, einmal Franzosen begrüßen zu können, führt er sie nach seiner Wohnung in der Mitte des Dorfes, das etwa hundert Seelen zählt. Er besteht darauf, daß seine Gäste eine landesübliche Erfrischung annehmen. Diese besteht aber nicht etwa aus dem widerlichen Kava, sondern aus einem wohlschmeckenden Getränk oder vielmehr aus einem Absud, das durch [318] Abkochung von Cyreen, einer am Ufer der Rewa sehr häufig vorkommenden Muschelart, gewonnen war.

Dieser Missionär widmet sich, freilich unter großen Schwierigkeiten, mit Leib und Seele der katholischen Propaganda, denn er hat mit einem wesleyanischen Pastor zu kämpfen, der ihm in der Nachbarschaft sehr fühlbare Concurrenz macht. Im ganzen ist er jedoch mit den erzielten Erfolgen zufrieden, wenn er auch zugiebt, viel Mühe zu haben, seine Gläubigen von der Vorliebe für »Bukalo«, d. i. Menschenfleisch, abzubringen.

»Und wenn Sie noch weiter ins Land hineinkommen, meine Herren, setzt er hinzu, so seien Sie klug und weise und nehmen sich hübsch in Acht!

– Da hörst Du's, Pinchinat!« sagt Sebastian Zorn.

Kurz bevor der Mittags-Angelus vom Thurme der kleinen Kirche tönt, geht es wieder fort. Unterwegs kreuzt das Boot mehrere Piroguen mit Auslegern, deren Plattform mit Bananen beladen ist. Diese bilden die landläufige Münze, die auch der Steuererheber von den Leuten an Zahlungsstatt annimmt. Die Ufer sind überall mit Lorbeerbäumen, Akazien, Citronenbäumen und blutroth blühenden Cacteen eingerahmt. Darüber strecken die Bananen und Cocospalmen ihre langen, mit Blüthenkolben beschwerten Aeste und Wedel hinaus, und diese grünen Massen ziehen sich bis nach den dahinter gelegnen Bergen hin, die der Steilgipfel des Mbugge-Levu überragt.

Zwischen dem dichten Gehölz erheben sich einzelne, zu der wilden Natur des Landes gar nicht passende europäische Fabriksanlagen, Zuckerfabriken, die mit den neuesten Maschinen ausgerüstet sind, und deren Erzeugnisse, sagt ein Reisender, Verschnur, »den Vergleich mit dem Zucker der Antillen und andrer Colonien nicht zu scheuen brauchen«.

Gegen ein Uhr gelangt das Boot an das Ziel seiner Fahrt auf der Rewa. Nach zwei Stunden muß die Ebbe wieder einsetzen, die man zur Rückfahrt auf dem Strome benützen will. Zurück geht es dann sehr schnell, denn die Strömung wird eine sehr lebhafte. Die Ausflügler dürfen hoffen, vor zehn Uhr abends im Steuerbordhafen wieder eingetroffen zu sein.

An dieser Stelle verfügt man also über einige Zeit, die kaum besser zu verwenden ist, als zu einem Besuche des Dorfes Tampoo, dessen erste Hütten in der Entfernung von einer halben Meile hervorlugen. Der Maschinist und die beiden Matrosen sollen zur Bewachung der Schaluppe zurückbleiben, während der Lootse seine Passagiere bis nach dem Dorfe »lootst«, wo sich die alten [319] Sitten und Gebräuche in aller Reinheit erhalten haben. In diesem Theile der Insel war bisher jede Liebesmüh der Missionäre verloren. Hier herrschen noch die Wundermänner, hier pflegt man noch die Hexereien, die den etwas complicierten Namen »Vaka-Ndranni-Kan-Tacka« (d. h. die Beschwörung durch Baumblätter) haben. Man verehrt hier die Katoavus, Götter, deren Existenz keinen Anfang und kein Ende hat und die keine ihnen geweihten Opfer verschmähen. Leider ist der Generalgouverneur ganz außer Stande, diese Opfer zu verhindern oder auch nur zu bestrafen.

[320] Vielleicht wär' es klüger gewesen, sich nicht unter diese verdächtigen Stämme zu wagen. Unsre Künstler, die nun einmal so neugierig wie die Pariser überhaupt sind, bestehen aber darauf und der Lootse erklärt sich zu ihrer Begleitung bereit, doch unter der Warnung, sich niemals von einander zu entfernen.

Beim Betreten Tampoos, das aus etwa hundert Strohhütten bestehen mag, sieht man zunächst Frauen... wirkliche Wilde. Sie tragen nur einen einfachen Schurz um die Lenden und scheinen gar nicht erstaunt, Fremde zu erblicken, [321] denn sie unterbrechen ihre Arbeit nicht im geringsten. An derartige Besuche sind sie gewöhnt, seit der Archipel unter britischer Schutzherrschaft steht.


Mit Bananen beladne Piroguen. (S. 319.)

Die Frauen sind mit der Zubereitung von Curcuma, einer Art Wurzeln, beschäftigt, die man in großen, mit Grashalmen und Bananenblättern ausgelegten Gruben aufbewahrt. Daraus hervorgeholt, werden sie geröstet, zerrieben und in mit Farrnwedeln ausgefütterten Körben gepreßt. Der dadurch gewonnene Saft wird dann in Bambusstengel gefüllt. Dieser Saft dient gleichzeitig als Nahrung und als Pomade und wird zu beiden Zwecken in großer Menge verwendet.


Der Zauberer stand an seine Thüre gelehnt. (S. 323.)

Die kleine Gesellschaft geht in das Dorf hinein. Die Eingebornen bekümmern sich gar nicht um sie und bieten den Besuchern weder einen Gruß, noch laden sie sie in ihre Wohnungen ein. Der äußre Anblick der Hütten ist auch keineswegs verlockend. Bei dem daraus hervordringenden Geruch, worin der von ranzig gewordenem Cocosöl vorherrscht, beglückwünscht sich das Quartett, daß die Gesetze der Gastfreundschaft hier offenbar nicht in hoher Achtung stehen.

Vor der Wohnung des Häuptlings – eines hochgewachsenen Insulaners von wildem Aussehen und harten Gesichtszügen – angelangt, tritt ihnen dieser jedoch inmitten eines Gefolges von Eingebornen einige Schritte entgegen. Sein kraushaariger Kopf erscheint von Kalk ganz weiß. Er hat das Staatscostüm angelegt, ein streifiges Hemd, einen Gürtel um den Leib, am linken Fuß einen ausgetretnen gestickten Pantoffel und – Pinchinat wollte schon immer vor Lachen platzen – einen schäbigen, blauen, vielfach geflickten Rock mit goldnen Knöpfen, dessen ungleich lange Schöße ihm um die nackten Beine flattern.

Während er auf die Gruppe der Papalangis (Fremden) zuschreitet, stolpert der Häuptling über einen niedrigen Baumstumpf, verliert das Gleichgewicht und fällt der Länge nach hin.

Entsprechend der Etiquette des »Bale muri« straucheln sofort scheinbar auch alle Begleiter des Häuptlings und sinken zur Erde, »um jenem Falle den Charakter der Lächerlichkeit zu nehmen«.

Darüber gab der Pilot Aufklärung und Pinchinat billigt diese Formalität, die übrigens – wenigstens seiner Ansicht nach – auch nicht lächerlicher sei, als viele andre, die an europäischen Höfen gebräuchlich sind.

Nachdem sich alle wieder erhoben haben, wechseln der Häuptling und der Lootse einige Worte in der Landessprache, wovon das Quartett natürlich keine Silbe versteht. Nach der Uebersetzung des Lootsen drehte sich das kurze Gespräch [322] nur darum, welche Absicht die Fremden nach dem Dorfe Tampoo geführt hätte. Darauf war die Antwort erfolgt, daß sie das Dorf nur einfach zu besichtigen und einen Spaziergang in dessen Umgebung zu machen wünschten. Nach einigen weitern Fragen und Antworten wurde die Erlaubniß dazu ertheilt.

Der Häuptling giebt über das Erscheinen der Touristen weder Freude noch Mißvergnügen zu erkennen, und auf ein Zeichen von ihm ziehen sich die Eingebornen in ihre Strohhütten zurück.

»Alles in allem scheinen die Leute hier nicht so bösartiger Natur zu sein, bemerkt Pinchinat.

– Das ist aber doch kein Grund, irgendeine Unklugheit zu begehen,« antwortet Frascolin.

Eine Stunde lang lustwandeln die Künstler im Dorfe umher, ohne im geringsten belästigt zu werden. Der Häuptling im blauen Rocke hat sich wieder in seine Hütte begeben, und die Eingebornen läßt die ganze Sache offenbar ganz gleichgiltig.

Nachdem sie durch die Dorfstraßen von Tampoo spaziert sind, in denen sich keine Strohhütte öffnet, um sie gastlich zu empfangen, begeben sich Sebastian Zorn, Yvernes, Pinchinat, Frascolin und der Lootse nach nahe gelegnen Tempelruinen, einer Art Eulennestern unsern eines Hauses, in dem der Zauberer der Ortschaft wohnt.

An seine Thür gelehnt, wirst ihnen dieser Zauberer einen keineswegs ermuthigenden Blick zu, und seine Bewegungen scheinen anzudeuten, daß er ihnen ein schlimmes Geschick wünschen möchte.

Frascolin sucht sich mit Hilfe des Lootsen mit dem Wundermann in Verbindung zu setzen Da nimmt dieser aber einen so abstoßenden Gesichtsausdruck und eine so drohende Haltung an, daß man jede Hoffnung aufgeben muß, diesem fidschischen Stacheligel ein Wort zu entlocken.

Inzwischen hat sich Pinchinat trotz an ihn ergangner Warnungen etwas entfernt und begiebt sich in ein dichtes Bananengehölz, das sich einen Hügelabhang hinaufzieht.

Als dann Sebastian Zorn, Yvernes und Frascolin, entmuthigt durch den grollenden Zauberer, sich anschicken, Tampoo zu verlassen, vermissen sie plötzlich ihren Kameraden.

Nun ist es aber schon Zeit geworden, nach dem Boote zurückzukehren. Bald muß die Ebbe einsetzen, und die wenigen Stunden, die sie anhält, sind nicht zu [323] viel, um den Lauf der Rewa hinabzufahren. Beunruhigt durch die Abwesenheit Pinchinat's, ruft Frascolin ihn mit lauter Stimme.

Sein Ruf bleibt ohne Antwort.

»Wo ist er denn? fragt Sebastian Zorn.

– Ja... ich weiß es nicht... antwortet Yvernes.

– Hat einer von Ihnen Ihren Freund weggehen sehen?« erkundigt sich der Lootse.

Nein, keiner hat das gesehen.

»Er wird vom Dorfe aus jedenfalls auf einem Fußwege nach dem Boote zurückgekehrt sein, meint Frascolin.

– Daran hätte er unrecht gethan, antwortet der Pilot, doch gehen wir ihm nach, ohne Zeit zu verlieren!«

Schwer geängstigt brechen alle auf. Der Pinchinat macht immer solche Streiche, und die Wildheit der Eingebornen, die jeder Civilisation hartnäckigen Widerstand leisteten, als nur eingebildet zu betrachten, kann ihn den schlimmsten Gefahren aussetzen.

Auf dem Wege durch Tampoo bemerkt der Lootse mit einiger Besorgniß, daß kein einziger Bewohner mehr zu sehen ist. Alle Thüren der Strohhütten sind geschlossen, auch vor der des Häuptlings ist kein Eingeborner mehr zu entdecken. Die mit der Zubereitung von Curcuma beschäftigten Frauen sind ebenfalls verschwunden. Das Dorf scheint seit einer Stunde völlig verlassen zu sein.

Die kleine Gesellschaft beschleunigt ihren Schritt. Wiederholt, doch vergeblich, ruft man nach dem Verschwundnen. Sollte er doch nicht nach der Uferstelle, wo das Boot festgelegt war, zurückgekehrt sein? Oder läge die unter der Aufsicht des Maschinisten und der beiden Matrosen zurückgelassene Schaluppe gar nicht mehr da?

Noch sind einige hundert Schritte zurückzulegen. Alle beeilen sich nach Kräften, und aus dem Waldessaume hervortretend, sehen sie das Boot mit seinen drei Wächtern.

»Unser Kamerad? ruft Frascolin fragend.

– Nun kommt er nicht mit Ihnen? antwortet der Maschinist.

– Nein... seit einer halben Stunde...

– Hat er sich denn nicht hier eingestellt? fragt Yvernes dazwischen.

[324] Was mag aus dem Unvorsichtigen geworden sein? Der Lootse verhehlt nicht seine schlimmsten Befürchtungen.

»Wir müssen nach dem Dorfe zurück, erklärt Sebastian Zorn. Wir dürfen Pinchinat nicht verlassen...«

Die Schaluppe bleibt nun unter der Obhut nur des einen der Matrosen, obgleich es vielleicht gefährlich ist, so zu verfahren. Es erscheint aber rathsamer, in Tampoo diesmal in größerer Anzahl und gut bewaffnet aufzutreten. Und wenn alle Strohhütten durchsucht werden müßten, das Dorf sollte nicht verlassen und nach Standard-Island nicht zurückgekehrt werden, ehe Pinchinat nicht wiedergefunden war.

Jetzt geht es noch einmal nach Tampoo hin. Im Dorfe und dessen Umgebung herrscht dieselbe Einsamkeit. Wohin mag sich die Bevölkerung wohl begeben haben? Auf den Straßen ist es todtenstill und die Hütten stehen leer.

Ein Zweifel kann nun gar nicht mehr aufkommen. Pinchinat ist in den Bananenwald eingedrungen, dort ergriffen und wer weiß wohin geschleppt worden. Das Loos, das bei den Cannibalen, über die er immer spöttelte, seiner harrt, kann man sich leicht genug vorstellen. Nachforschungen in der Umgebung von Tampoo führten voraussichtlich zu keinem Erfolge. In der so waldreichen Gegend und im Busch, in dem sich doch nur die Insulaner zurechtfanden, waren etwaige Fußspuren nicht zu erkennen. Dazu lag noch die Befürchtung nahe, daß jene versuchen könnten, sich der Schaluppe zu bemächtigen, und wenn dieses Unglück eintrat, dann war alle Hoffnung auf eine Rettung Pinchinat's verloren und das Leben seiner Kameraden obendrein in Frage gestellt.

Frascolin's, Yvernes' und Sebastian Zorn's Verzweiflung läßt sich mit Worten gar nicht schildern. Was war zu thun? Der Lootse und der Maschinist wissen in keiner Weise zu helfen.

Da sagt Frascolin, der sich sein kaltes Blut bewahrt hat:

»Laßt uns nach Standard-Island zurückkehren!

– Ohne unsern Kameraden? ruft Yvernes.

– Brächtest Du das über's Herz? setzt Sebastian Zorn hinzu.

– Ich sehe keinen andern Ausweg, antwortet Frascolin. Wir müssen dem Gouverneur von Standard-Island von dem Vorfalle Mittheilung machen... die Behörden von Viti-Levu müssen zum schnellsten Einschreiten veranlaßt werden...

– Ja, ja, brechen wir auf, stimmt ihm der Lootse zu, und um den Ebbestrom zu benützen, haben wir keine Minute länger zu zögern!

[325] – Das ist das einzige Mittel, Pinchinat zu retten, ruft Frascolin, wenn... wenn es dazu nicht gar schon zu spät ist!«

In der That, das war das einzige Mittel.

Alle verlassen Tampoo mit der Besorgniß, das Boot an seiner Stelle nicht mehr vorzufinden. Vergeblich wird der Name Pinchinat's wiederholt ausgerufen. Bei größrer Aufmerksamkeit hätten der Lootse und seine Begleiter hinter Gebüschen aber einzelne der wilden Fidschi-Insulaner bemerken können, die ihre Abfahrt beobachteten.

Das Boot selbst war nicht belästigt worden. Der Matrose hat keine Seele an den Ufern der Rewa herumschweifen sehen.

Mit ängstlich bedrücktem Herzen entschließen sich Sebastian Zorn, Yvernes und Frascolin in dem Fahrzeuge Platz zu nehmen.... Sie zögern... rufen noch einmal.... Vergeblich; es ist nothwendig, abzufahren, hat Frascolin erklärt, und er hatte Recht damit, es bleibt das einzige, was zu thun ist.

Der Maschinist setzt die Dynamos in Thätigkeit, und vom Ebbestrome unterstützt, gleitet die Schaluppe in größter Schnelligkeit die Rewa hinab.

Um sechs Uhr wird die Westspitze des Deltas umschifft, eine halbe Stunde später trifft man im Steuerbordhafen ein.

Binnen einer Viertelstunde haben Frascolin und seine beiden Kameraden unter Benützung eines Tramwagens das Stadthaus von Milliard-City erreicht.

Cyrus Bikerstaff begiebt sich, sobald er von dem Geschehenen Kenntniß genommen hatte, sofort nach Suva und ersucht den Generalgouverneur des Archipels um eine Besprechung, die ihm ohne Zögern bewilligt wird.

Als der Vertreter der Königin erfährt, was sich in Tampoo zugetragen hat, verhehlt er nicht, daß es sich um einen ernsten Fall handelt. Jener Franzose im Innern der Insel in den Händen eines Stammes, der sich jeder Botmäßigkeit entzieht....

»Leider können wir vor morgen gar nichts in der Sache thun, fügt er hinzu, der Ebbe in der Rewa entgegen, vermöchten unsre Boote gar nicht aufzukommen. Uebrigens ist es unumgänglich nothwendig, in Tampoo, gleich mit größrer Macht aufzutreten, und am sichersten wäre es vielleicht, unmittelbar durch den Wald vorzudringen...

– Gleichviel, antwortet Cyrus Bikerstaff, doch nicht morgen, sondern heute, sofort muß dahin aufgebrochen werden!

[326] – Dazu steht mir die nöthige Mannschaft nicht schnell genug zur Verfügung, erwidert der Gouverneur.

– Die haben wir zur Hand, mein Herr! erklärt Cyrus Bikerstaff. Veranlassen Sie nur, daß sich Ihre Milizsoldaten unsern Leuten anschließen, und unter der Führung eines Ihrer Officiere, die das Land jedenfalls genau kennen...

– Verzeihen Sie, mein Herr, unterbricht ihn Seine Excellenz trocknen Tones, ich bin nicht gewöhnt, daß man mir...

– Verzeihen Sie auch mir, fällt ihm Cyrus Bikerstaff ins Wort, ich sage Ihnen aber, daß, wenn Sie nicht augenblicklich vorgehen, wenn unser Freund, unser Gast nicht heil und gesund zurückkehrt, die Verantwortlichkeit dafür auf Sie fällt und...

– Und?... fragt der Gouverneur hochmüthig.

– Die Batterien Standard-Islands werden Suva, Ihre Hauptstadt, mit allen fremden Besitzungen, gleichviel, ob das englische oder deutsche sind, in Grund und Boden schießen!«

Dieses Ultimatum läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, und es gilt nur, sich ihm zu fügen. Die wenigen Kanonen der Insel vermöchten gegen die Batterien von Standard-Island doch nichts auszurichten. Der Gouverneur giebt also klein bei, es wäre aber gewiß lobenswerther gewesen, wenn er sich, schon aus Rücksichten der Menschlichkeit, gleich von Anfang an gegen das Ansinnen Bikerstaff's nicht ablehnend verhalten hätte.

Eine halbe Stunde später landen hundert Mann, Seeleute und Milizen, in Suva unter dem Befehl des Commodore Simcoë, der die Operation persönlich zu leiten wünschte. Der Oberintendant, Sebastian Zorn, Yvernes und Frascolin befinden sich an seiner Seite. Eine Abtheilung Gendarmerie von Viti-Levu schließt sich ihnen an.

Unter Führung des Lootsen, der die schwer zugänglichen Theile des Inselinnern genau kennt, dringt man gleich von Anfang an durch den halben Urwald vor, um schnellen Schrittes und auf kürzestem Wege Tampoo so bald wie möglich zu erreichen.

Es macht sich nicht nöthig, bis zum Dorfe selbst zu marschieren. Eine Stande nach Mitternacht erhält die Colonne Befehl zu halten.

Aus der Tiefe eines fast undurchdringlichen Dickichts leuchtet ein Feuerschein auf. Hier haben sich offenbar die Bewohner von Tampoo versammelt, denn ihr Dorf liegt nur eine halbe Wegstunde weiter im Osten.

[327] Der Commodore Simcoë, der Lootse, Calistus Munbar und die drei Pariser dringen noch etwas weiter vor.

Nach kaum hundert Schritten bleiben sie unbeweglich stehen.

Vor einem helllodernden Feuer und umgeben von einer lärmenden Menge von Männern und Frauen, sehen sie Pinchinat halbnackt an einen Baum gebunden, schon schreitet der Häuptling des Stammes mit erhobner Keule auf ihn zu...

»Vorwärts... vorwärts!« commandiert Simcoë seine Leute.

[328] Die Eingebornen, die sich urplötzlich dem Gewehrfeuer und furchtbaren Kolbenschlägen ausgesetzt sehen, erstarren vor Schrecken. In einem Augenblicke ist der Platz geleert und die ganze Bande im Walde verstreut.


Vergeblich riefen sie den Namen Pinchinat's aus. (S. 324.)

Von dem Baume losgebunden, fällt Pinchinat seinem Freunde Frascolin in die Arme.

Wer vermöchte sie zu malen, die Freude dieser Kunstler, dieser Brüder – in die sich freilich einige Thränen und auch wohlverdiente Vorwürfe mischen.

[329] »Aber, Unglücksel'ger, sagt der Violoncellist, was ist Dir nur eingefallen, Dich allein zu entfernen?

– Unglückselig, so viel es Dir beliebt, alter Freund, anwortet Pinchinat, doch stürme nicht auf einen Bratschisten ein, der, so wie ich, in dieser Minute so mangelhaft bekleidet ist. Gebt mir meine Sachen her, damit ich mich in geziemender Form sehen lassen kann!«


Halbnackt, an einen Baum gebunden, sehen Sie Pinchinat. (S. 328.)

Seine Kleidungsstücke finden sich am Fuße eines Baumes wieder, und er nimmt sie so ruhig in Empfang, als ob gar nichts geschehen wäre. Erst als er dann »repräsentabel« ist, drückt er dem Commodore Simcoë und dem Oberintendanten die Hände.

»Nun, beginnt Calistus Munbar, wie steht's? Werden Sie nun an den Cannibalismus der Fidschi-Insulaner glauben gelernt haben?

– O, es ist nicht allzuschlimm mit den Kerlen, antwortet Seine Hoheit, ich habe ja noch alle Arme und Beine beisammen!

– Immer derselbe verteufelte Phantast! ruft Frascolin.

– Und wißt Ihr, was mich in meiner Lage als ein menschliches Stück Wild, das eben an die Keule geliefert werden sollte, am meisten genierte?

– Ich lasse mich aufknüpfen, wenn ich das weiß! erwidert Yvernes.

– Nun, nicht etwa das, daß ich von den Eingebornen mit Haut und Haar verzehrt werden, nein, daß mich ein ganz bekleideter Kerl auffressen sollte... so ein Bursche in blauem Rock mit goldnen Knöpfen... mit einem Regenschirm unterm Arme... ein richtiger britischer Affe!«

10. Capitel
Zehntes Capitel.
Wechsel der Besitzer.

Die Abfahrt von Standard-Island war auf den 2. Februar festgesetzt. Am Tage vorher kehrten alle Touristen von ihren Ausflügen nach Milliard-City zurück. Die Affaire Pinchinat's hatte ungeheures Aufsehen erregt. Das ganze Juwel des Stillen Oceans überbot sich in Theilnahmebezeugungen für Seine [330] Hoheit, denn das Concert-Quartett hatte sich die Liebe und Achtung aller Bewohner erworben. Der Rath der Notabeln billigte vollkommen das energische Vorgehen Cyrus Bikerstaff's. Die Journale brachten ihm ihre Glückwünsche dar. Pinchinat war der Held des Tages geworden. Man sieht gewiß nur selten einen Bratschisten, der seine Laufbahn hatte im Magen eines Fidschi-Insulaners beschließen sollen!... Jetzt gesteht er's freilich zu, daß die Einwohner von Viti-Levu auf ihr Gelüste nach Menschenfleisch noch nicht vollständig verzichtet haben. Kann man ihnen glauben, so ist dessen Geschmack ein ganz vorzüglicher, und Pinchinat sah ihnen gewiß gar appetitlich aus.

Standard-Island fährt mit dem Morgenrothe ab und schlägt nun die Richtung nach den Neuen Hebriden ein, wobei es um zehn Grad, oder gegen zweihundert Lieues, weiter nach Westen vordringen muß. Das läßt sich aber nicht umgehen, da der Kapitän Sarol und dessen Leute auf den Neuen Hebriden ans Land gesetzt werden sollen. Man hat sich darüber keineswegs zu beklagen. Alle fühlen sich beglückt, den wackern Leuten, die sich bei der Bekämpfung der Raubthiere so hervorgethan haben, diesen Dienst erweisen zu können. Und auch sie selbst scheinen höchst befriedigt, nach langer Abwesenheit auf so bequeme Weise wieder nach ihrer Heimat zu gelangen. Daneben bietet sich hierdurch Gelegenheit zum Besuche einer Inselgruppe, die den Milliardesern noch nicht bekannt war.

Die Fahrt geht mit der vorhergeplanten Langsamkeit vor sich. In dem Meerestheile zwischen den Fidschis und den Neuen Hebriden, und zwar unter 170° fünfundreißig Minuten westlicher Länge und 19° dreizehn Minuten südlicher Breite, soll der für Rechnung der Familien Tankerdon und Coverley von Marseille expedierte Dampfer mit Standard-Island zusammentreffen.

Natürlich beschäftigt sich jetzt alle Welt mehr denn je mit der bevorstehenden Vermählung Walter Tankerdon's und der Miß Dy. Wer hätte auch an andre Dinge denken sollen? Calistus Munbar hat keine Minute mehr für sich. Er brütet Tag und Nacht über die Vorbereitungen zu einem Feste, das in den Annalen der Propeller-Insel nicht seines Gleichen finden soll. Wenn er dabei zum Skelet abmagerte, würde sich kein Mensch darüber wundern.

Standard-Island bewegt sich nur mit einer mittleren Geschwindigkeit von zwanzig bis fünfundzwanzig Kilometern binnen vierundzwanzig Stunden weiter. Immer gleitet es in Sicht von Viti hin, dessen prächtige Ufer mit üppigen, dunkelgrünen Wäldern geschmuckt sind. Drei volle Tage braucht man für die Strecke zwischen der Insel Wanara und der Insel Ronde. Die Durchfahrt, die [331] auf den Karten den Namen der letzteren trägt, bietet dem Juwel des Stillen Oceans einen breiten Wasserweg, in den dieses sanft hineingleitet. Zahlreiche Walfische, durch sein Erscheinen erschreckt und verwirrt, stoßen mit dem Kopf an seinen stählernen Rumpf, der unter diesen Schlägen erzittert. Der Unterbau der künstlichen Insel ist aber fest genug, um auch von einem solchen Anprall keinen Schaden zu leiden.

Am Nachmittag des 6. verschwinden auch die letzten Höhen von Fidschi unter dem Horizonte. Hiermit verläßt der Commodore Simcoë Polynesien und überschreitet die Grenze nach Melanesien.

Während der drei folgenden Tage bewegt sich Standard-Island immer weiter nach Westen und berührt dabei den 19. Grad südlicher Breite. Am 10. Februar befindet es sich genau an der Stelle, wo sich der von Europa erwartete Dampfer bei ihm einstellen soll. Der auf den Wandkarten von Milliard-City bezeichnete Punkt ist allen Bewohnern bekannt. Die Wachen auf dem Observatorium sind in unausgesetzter Thätigkeit. Hunderte von Fernrohren suchen den Horizont ab, und sobald das Schiff gemeldet sein wird... die ganze Bevölkerung schwebt in gespannter Erwartung. Es ist ja das Vorspiel zu dem vom Publicum längst ersehnten Stücke, das mit der Heirat Walter Tankerdon's und Miß Dy Coverley's endigen sollte.

Standard-Island muß nun also ruhig liegen bleiben und hat sich nur gegen die in diesen engen Meerestheilen sehr fühlbaren Strömungen zu halten. Der Commodore Simcoë ertheilt die bezüglichen Befehle und seine Officiere überwachen deren Ausführung.

»Die Lage ist jetzt entschieden hochinteressant!« sagt an diesem Tage Yvernes.

Es war während der zwei Stunden des far niente, die seine Kameraden und er sich nach dem zweiten Frühstück zu gönnen pflegten.

»Ja, antwortet Frascolin, und wir haben gewiß keine Ursache, diese Reise an Bord von Standard-Island zu bedauern... was unser Freund Sebastian Zorn auch dazu sagen mag...

– Mit seinen ewigen Lamentationen in Moll mit zehn B! setzt der unverbesserliche Pinchinat hinzu.

– Freilich... und vor allem, wenn diese Fahrt ihr Ende erreicht, erwidert der Violoncellist, und wenn wir das Honorar für das letzte Vierteljahr in der Tasche haben...

[332] – O, unterbricht ihn Yvernes, drei hat uns die Compagnie seit der Abfahrt schon richtig ausgezahlt, und ich billige es gern, daß Frascolin, unser trefflicher Cassierer, die ganze Summe in der Bank von New-York hinterlegt hat!«

Der »treffliche Cassierer« hat es in der That für gerathen erachtet, jenes Geld durch Vermittlung der Banquiers von Milliard-City in einer der zuverlässigsten Banken der Union zu deponieren. Das geschah nicht aus Mißtrauen, sondern einzig, weil ihm eine Bank auf festem Lande doch mehr Sicherheit zu bieten schien, als ein schwimmender Panzerschrank über einem Meere von gelegentlich fünf- bis sechstausend Meter Tiefe. wie eine solche im Stillen Ocean ziemlich häufig vorkommt.

Im Laufe dieses Gesprächs. bei dem sich die Freunde an dem Wohlgeruch ihrer Cigarren und Pfeifen ergötzten, machte Yvernes auch noch folgende Bemerkung:

»Die Hochzeitsfeierlichkeiten, liebe Freunde, versprechen wahrhaft glänzend zu werden. Unser Oberintendant spart weder Phantasie noch Mühe, das liegt auf der Hand. Es wird einen wahren Dollarregen geben und ich zweifle gar nicht daran, daß die Springbrunnen von Milliard-City dazu nur die feinsten Weine auswerfen werden. Wißt Ihr aber, was bei der ganzen Geschichte doch noch fehlt?

– Vielleicht ein Wasserfall aus flüssigem Golde, der über diamantne Felsen herunterrauschte! ruft Pinchinat.

– Nein, antwortet Yvernes. aber eine Cantate...

– Eine Cantate?... wiederholt Frascolin.

– Ja gewiß, sagt Yvernes. Es wird wohl Musik gemacht werden und wir spielen ja wohl auch die für die Gelegenheit passendsten Stücke aus unserm Repertoire... wenn es aber an einer Cantate fehlt, dem Hochzeitsgesange, dem Epithalamium zu Ehren der Neuvermählten...

– Warum soll das fehlen? sagt Frascolin. Wenn Du Dich der Mühe unterziehen willst, »Herz« auf »Schmerz« und »Liebe« auf »Triebe« zu reimen und daraus ein Dutzend Verse von ungleicher Länge zu schmieden, so wird Sebastian Zorn, der sich als Componist ja schon ausgezeichnet hat, nichts mehr wünschen, als Deinen poetischen Erguß in Musik zu setzen...

– Eine ausgezeichnete Idee! ruft Pinchinat begeistert. Das ist doch Wasser auf Deine Mühle, alter Brummbär! Etwas in recht hochzeitlichem Genre mit einer Menge Spiccatos, Allegros, Molte agitatos, und einer rührenden Coda... Die Note zu fünf Dollars.

[333] – Nein... Dieses Mal ohne Honorar, erklärt Frascolin. Das soll ein Obulus sein, den das Concert- Quartett den Nabobs von Standard-Island darbringt.«

Der Violoncellist erklärt sich nach einigem Zureden bereit, den Eingebungen der Göttin der Musik zu folgen, wenn die Göttin der Poesie das Herz Yvernes' mit den ihrigen erfüllt.

Aus dieser edeln Gemeinschaft sollte also die Cantate der Cantaten – ein Seitenstück zu dem »Gesang der Gesänge« – zu Ehren der Tankerdon's und der Coverley's hervorgehen.

Am Nachmittag des 10. verbreitet sich das Gerücht, daß von Nordosten her ein großer Dampfer in Sicht sei. Seine Nationalität ist nicht zu erkennen, da er noch etwa zehn Meilen entfernt ist und es auf dem Meere bereits etwas dunstig zu werden anfängt.

Der Dampfer ist in voller Fahrt und allem Anscheine nach hält er auf Standard-Island zu. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird er aber erst mit dem Sonnenaufgang des nächsten Tages landen.

Diese Nachricht bringt eine unbeschreibliche Wirkung hervor. Alle weibliche Phantasie schwelgt schon in dem Gedanken an die Schmucksachen, die Modeartikel und Kunstgegenstände, die dieses in einen fünf-bis sechshundertpferdekräftigen Mitgiftsschrank verwandelte Fahrzeug bringen soll.

Es war kein Irrthum, das Schiff ist nach Standard-Island bestimmt. Früh am Morgen ist es um den Pier des Steuerbordhafens herumgekommen und zeigt jetzt an seinem Maste die Flagge der Standard-Island Company.

Plötzlich verbreitet sich eine weitere Nachricht, die die Telephone von Milliard-City bekanntgeben: die Flagge jenes Dampfers ist Halbmast gehißt.

Was mag geschehen sein? Ein Unglück... ein Todesfall an Bord? Das wäre ein schlimmes Vorzeichen für die Eheschließung, die die Zukunft Standard-Islands sichern soll.

Nein, die Sache liegt anders. Das betreffende Schiff ist gar nicht das erwartete und kommt auch nicht aus Europa, sondern vom amerikanischen Ufer, aus der Magdalenenbucht. Der Dampfer, der die Ausstattung bringen soll, hat ja noch Zeit. Die Hochzeit ist auf den 27. Februar festgesetzt und heute schreibt man erst den 11.; da liegt also noch eine ziemliche Frist dazwischen.

Was will jenes Schiff aber dann?... Welche Nachrichten bringt es?... Warum die Flagge auf Halbmast? Warum hat es die Direction der Gesellschaft [334] bis nach den Neuen Hebriden hinausgesendet, um Standard-Island hier aufzusuchen?

Sollten die Milliardeser eine dringliche Mittheilung erhalten, die von ausnehmend schwerwiegender Bedeutung war?

Darüber sollte man bald genug Aufschluß erhalten. Kaum hat der Dampfer am Quai festgelegt, als ein Passagier ans Land springt.

Es ist einer der Hauptagenten der Gesellschaft, der aber auf alle Fragen der zahlreich am Quai des Steuerbordhafens zusammengeströmten Neugierigen keine Antwort giebt.

Ein Tramwagen soll eben abgehen, und ohne einen Augenblick zu verlieren, nimmt der Agent darin Platz.

Zehn Minuten später vor dem Stadthause angelangt, läßt er den Gouverneur um eine Audienz »in höchst dringlicher Angelegenheit« ersuchen, und diese wird ihm sofort bewilligt.

Cyrus Bikerstaff empfängt den Agenten in seinem Cabinet, dessen Thür geschlossen wird.

Noch ist keine Viertelstunde verflossen, da sind schon alle dreißig Mitglieder des Rathes der Notabeln telegraphisch benachrichtigt, sich schleunigst im Sitzungssaale einzufinden.

Dazwischen durchschwirren die Stadt die unglaublichsten Gerüchte, und die Befürchtungen, die der Neugier folgen, erreichen den höchsten Grad.

Zwanzig Minuten vor acht Uhr ist der Rath unter dem Vorsitz des Gouverneurs und seiner zwei Adjuncten zusammengetreten. Hier giebt der Agent folgende Erklärung ab:

»Am 23. Januar hat die Standard-Island Company Limited ihren Concurs anzeigen müssen und Mr. William T. Pomering ist zum Liquidator ernannt worden, mit der Vollmacht, die Interessen der genannten Gesellschaft nach besten Kräften zu vertreten.«

William T. Pomering, dem dieser Auftrag zutheil wurde, war der Agent selbst.

Wie ein Lauffeuer verbreitet sich diese Nachricht, doch ohne die Wirkung hervorzubringen, an der es ihr in Europa gewiß nicht gefehlt hätte. Sehr erklärlich! Standard-Island ist ja ein »losgerissenes Stück der Vereinigten Staaten von Amerika«, wie Pinchinat sagt. Ein Fallissement ist aber nicht dazu angethan, Amerikaner erstaunen zu machen, und wenn es auch ganz unerwartet kommt. Für sie bildet das eine ganz natürliche Entwicklungsstufe eines Geschäftes, ein[335] Vorkommniß, das man hinnehmen muß und widerspruchslos hinnimmt. Die Milliardeser betrachten die Sache auch mit dem gewohnheitsmäßigen Phlegma. Die Company ist zusammengebrochen... damit gut. Dergleichen kann den ehren« werthesten finanziellen Vereinigungen widerfahren. Ob ihre Passiven wohl sehr beträchtlich sind?... Allerdings; die vom Liquidator aufgemachte Bilanz zeigt, daß sie fünfhundert Millionen Dollars, das sind zwei Milliarden fünfhundert Millionen Francs, betragen... Was ist nun an dem Zusammenbruche schuld?... O, weiter nichts als Speculationen – mag man sie unsinnig nennen, weil sie fehlgeschlagen sind – die doch den erhofften Erfolg haben konnten... Ein Vorhaben in größtem Maßstabe, die Gründung einer ganz neuen Stadt auf dem Gebiete von Arkansas, die in Folge einer geologischen Depression, die niemand voraussehen konnte, versanken ist. Jedenfalls ist das kein Fehler der Gesellschaft selbst, und wenn große Landstrecken sinken, ist es nicht zu verwundern, daß auch die Actionäre dabei mitversinken. So festgefügt Europa erscheint, kann sich daselbst doch alle Tage etwas ganz ähnliches ereignen. Standard Island freilich hat nichts dergleichen zu befürchten, und das beweist gewiß schlagend seine Ueberlegenheit über die Festländer oder die Inseln der Erde.

Jetzt gilt es, entschlossen zu handeln. Die Activen der Gesellschaft bestehen zur Zeit aus dem Werthe der Propeller-Insel, ihrem Rumpfe selbst, den Werkstätten und Anlagen, den Hôtels, Häusern, dem Feld und der Flottille – kurz aus allem, was das schwimmende Bauwerk des Ingenieurs William Terson trägt, und allem, was damit zusammenhängt; unter anderem also die gesammten Baulichkeiten an der Madeleinebay. Erscheint darauf hin die Gründung einer neuen Gesellschaft angezeigt, die das Ganze in Bausch und Bogen nach festem Preise oder durch Versteigerung ersteht?... Gewiß... damit ist gar nicht zu zögern, und der Erlös von diesem Verkaufe wird zur Begleichung der Schulden der Company Verwendung finden. Ist es aber behufs Gründung dieser neuen Gesellschaft noth wendig, auf fremde Capitalien zurückzugreifen? Sind die Milliardeser nicht reich genug, sich Standard-Island aus eigner Tasche zu bezahlen? Es erscheint ja vortheilhafter, daß die einfachen Miethsleute des Juwels des Stillen Oceans Eigenthümer desselben werden, und ihre eigne Verwaltung dürfte mit der der verkrachten Gesellschaft doch wohl mindestens gleichwerthig sein.

Wie viele Milliarden sich im Portefeuille der Mitglieder des Raths der Notabeln befinden, ist ja ziemlich bekannt. Diese Herrn sind daher der Ansicht, daß Standard-Island unverzüglich gekauft werden müsse. Zum Abschluß der [336] nothwendigen Verhandlungen ist der Liquidator ermächtigt Wenn die Company überhaupt Aussicht hat, die zur Liquidation erforderlichen Summen in kurzer Zeit zu beschaffen, so kann sie diese nur in den Taschen der Notabeln von Milliard-City suchen, von denen verschiedne schon heute zu den stärksten Actionären zählen. Jetzt, wo die Rivalität zwischen den beiden ersten Familien und den beiden Stadthälften nicht mehr besteht, macht die Sache sich voraussichtlich ganz allein. Die Angelsachsen der Vereinigten Staaten pflegen nichts auf die lange Bank zu schieben. Das erforderliche Capital wird gleich im Laufe der Sitzung [337] gezeichnet. Die Ansicht des Rathes der Notabeln geht dahin, von einer öffentlichen Subscription ganz abzusehen. Jem Tankerdon, Nat Coverley und einige Andere betheiligen sich mit vierhundert Millionen Dollars. Ueber den Preis wird gar nicht groß verhandelt. Hier heißt es ihn annehmen oder die Hand davon zu lassen... und der Liquidator greift zu.


Die ganze Welt von Milliard-City betrachtete die Wunderwerke. (S. 343.)

Der Rath war um acht Uhr dreizehn Minuten im Saale des Stadthauses zusammengetreten. Bei seinem Auseinandergehen um neun Uhr siebenundvierzig Minuten ist das Eigenthumsrecht an Standard-Island in die Hand der allersteinreichsten Milliardeser und einiger ihrer Freunde übergegangen und die bisherige Firma in »Jem Tankerdon, Nat Coverley and Company« umgeändert.

Sowie die Nachricht von dem Zusammenbruch der Company unter der Bevölkerung der Propeller-Insel keinerlei Beunruhigung erzeugte, so geht auch die von der Erwerbung Standard-Islands durch die ersten Notabeln ziemlich spurlos an jenen vorüber. Man findet die Sache ganz natürlich, und wären zu der Transaction noch größre Summen nöthig gewesen, so würden sie im Handumdrehen beschafft worden sein. Den Milliardesern gewährt es eine innerliche Befriedigung, von nun an im eignen Hause zu sitzen und nicht mehr von einer fremden Gesellschaft abzuhängen. Das Juwel des Stillen Oceans unterläßt es daher nicht, unter Vertretung aller Classen der Bewohner, der Beamten, Agenten, Angestellten, der Officiere, Milizen und Seeleute, den beiden Familienhäuptern, die sich um das Interesse der Allgemeinheit so wohl verdient gemacht haben, seinen Dank auszusprechen.

Eines Tages wurde im Park ein Meeting veranstaltet und ein dahinzielender Antrag eingebracht, der einstimmig mit einer dreifachen Salve von Hurrahs und Hips begrüßt wurde. Sofort ernannte man dann einige Delegierte und entsendete zwei Deputationen nach den Hôtels der Coverley's und Tankerdon's.

Diese finden den zuvorkommendsten Empfang und nehmen die Versicherung mit zurück, daß in der Verwaltung und der Lebensweise Standard-Islands keinerlei Veränderung eintreten solle. Die jetzigen Verwaltungsorgane sollten bestehen bleiben wie vorher, und alle Beamten ihre Plätze, alle Angestellten ihre bisherige Beschäftigung behalten.

Wie hätte es auch anders sein können?

Es folgt hieraus also, daß der Commodore Ethel Simcoë die maritimen Angelegenheiten weiter in der Hand behält und den Curs sowie die Schnelligkeit der Fortbewegung Standard-Islands, entsprechend der im Rathe der Notabeln [338] festgestellten Reiseroute, nach wie vor regelt. Dasselbe gilt für das Commando der Milizen, das der Colonel Stewart beibehält. Ebenso tritt in der Verwaltung des Observatoriums keine Veränderung ein und der König von Malecarlien sieht seine Stellung nicht bedroht. Kurz, niemand wechselt den bisher eingenommenen Platz, weder in den Häfen, noch in den Elektricitätswerken oder in der städtischen Verwaltung. Man enthebt nicht einmal Athanase Dorémus seiner ziemlich unnützen Function, obwohl sich nach wie vor kaum Zöglinge für seinen Tanz- und Anstandsunterricht finden.

Selbstverständlich bleibt es auch bezüglich der Verabredungen mit dem Concert-Quartett beim alten, und dieses wird bis zur Beendigung der Reise das ungeheure Honorar beziehen, das ihm von Anfang an zugesichert war.

»Es sind und bleiben doch außerordentliche Leute! sagt Frascolin, als er hört, daß alles zur allgemeinen Zufriedenheit geregelt ist.

– Das kommt daher, daß bei ihnen der Säckel niemals leer wird, antwortet Pinchinat.

– Vielleicht hätten wir diesen Wechsel der Besitzer benützen können, um unsern Contract zu kündigen, bemerkt Sebastian Zorn, der seine sinnlose Voreingenommenheit gegen Standard-Island niemals zu unterdrücken vermag.

– Kündigen! ruft Seine Hoheit. Untersteh' Dir nur, einen Versuch dazu zu machen!«

Und während die Finger seiner linken Hand sich öffnen und schließen, als arbeite er damit auf der vierten Saite herum, bedroht er den Violoncellisten mit einer freundschaftlichen Ohrfeige, die mit der Geschwindigkeit von achteinhalb Meter in der Secunde auf diesen zuzufliegen scheint.

Eine einzige Veränderung muß aber doch eintreten, und zwar in der Stellung des Gouverneurs. Cyrus Bikerstaff, der der unmittelbare Vertreter der Standard-Island Company ist, glaubt auf seine Functionen als solcher verzichten zu müssen, was bei der derzeitigen Sachlage ja logisch erscheint. Daraufhin wird denn auch seine Entlassung, doch in einer für den Gouverneur höchst schmeichelhaften Weise, verfügt. Was seine beiden Adjuncten, Barthelemy Rudge und Hubley Harcourt, angeht, die als stark betheiligte Actionäre durch das Fallissement der Gesellschaft fast ruiniert sind, so haben diese die Absicht, die Propeller-Insel mit einem der nächst abgehenden Dampfer zu verlassen.

Cyrus Bikerstaff erklärt sich übrigens bereit, bis zum Abschluß der Fahrt an der Spitze der städtischen Verwaltung zu verbleiben.

[339] Die wichtige finanzielle Veränderung, der Besitzwechsel bezüglich Standard-Islands, hat sich also ohne Schwierigkeit, ohne Störung oder hinderliche Rivalität vollzogen. Das alles ging so schnell, daß sich der Liquidator noch an demselben Tage wieder einschiffen und die Unterschriften der Erwerber neben der Garantie des Raths der Notabeln fix und fertig mitnehmen konnte.

Was die so einflußreiche Persönlichkeit angeht, die den Namen Calistus Munbar, Oberintendant der schönen Künste und der Unterhaltungen Standard-Islands führt, so wird diese in allen Aemtern und Würden einfach bestätigt, und man hätte auch wirklich keinen geeigneteren Nachfolger für den schier unersetzlichen Mann finden können.

»Nun ist ja alles bestens geordnet, bemerkt Frascolin, die Zukunft Standard-Islands ist gesichert und nichts mehr zu fürchten.

– Das werden wir ja sehen,« brummt der starrsinnige Violoncellist.

Unter diesen Verhältnissen soll nun die Verheiratung Walter Tankerdon's mit Miß Dy vor sich gehen. Die beiden Familien werden durch pecuniäre Interessen verbunden sein, die, in Amerika wie anderswo, die festesten Bande zu bilden pflegen. Welche versprechende Aussichten für die Bürger von Standard-Island! Seitdem dieses den reichsten Milliardesern gehört, scheint es eher noch unabhängiger, noch mehr als früher Herr seines eignen Geschicks zu sein; es hat die Fessel gesprengt, die es bisher noch mit der Madeleinebay verknüpfte.

Jetzt wenden sich alle Gedanken dem bevorstehenden Feste zu.

Sollen wir erst die Freude der betheiligten Parteien hervorheben, auszudrücken versuchen, was sich nicht mit Worten sagen läßt, das Glück malen, das sie verheißend umstrahlt? Die beiden Verlobten trennen sich gar nicht mehr von einander. Was für Walter Tankerdon und Miß Coverley anfänglich eine Convenienzehe zu werden schien, gestaltet sich thatsächlich zu einer Herzensangelegenheit. Beide hegen für einander eine Neigung, bei der Interessenfragen gar nicht ins Spiel kommen. Der junge Mann und das junge Mädchen besitzen schon allein Eigenschaften, die ihr späteres Glück sichern. Dieser Walter ist ein wahrhaft goldnes Herz und Miß Dy aus demselben Metall geschmiedet – natürlich in bildlichem Sinne, nicht im buchstäblichen, obwohl ihre Millionen eine solche Deutung nahe legen könnten. Sie sind in Wahrheit für einander geschaffen. So zählen sie die Tage und die Stunden, die sie noch von dem ersehnten 27. Februar trennen. Sie bedauern nur das eine, daß Standard-Island nicht nach dem 180. Grad der Länge hinfährt, denn wenn es von [340] Westen her dahin käme, müßte es noch einen Tag aus seinem Kalender streichen, und die zukünftigen Gatten genössen ihr Glück um vierundzwanzig Stunden früher. Doch nein, die Feierlichkeit soll in Sicht der Neuen Hebriden vor sich gehen und sie müssen sich dem wohl oder übel fügen.

Wir bemerken hier auch, daß das Schiff mit all den Wunderdingen aus Europa, das »Ausstattungsschiff«, noch nicht eingetroffen ist. Von allen den Luxusdingen, die es bringen soll, würden die beiden Verlobten aber gern absehen, sie bedürfen zu ihrem Glücke des äußerlichen Tandes ja nicht. Wenn sie sich gegenseitig ihre Liebe schenken, was brauchen sie dann mehr?

Ihre Familien freilich, ihre Freunde, die ganze Bevölkerung Standard-Islands bestehen darauf, daß die Ceremonie mit außergewöhnlichem Glanze umgeben werde. Hartnäckig bleiben deshalb die Fernrohre nach dem östlichen Horizont hinaus gerichtet. Jem Tankerdon und Nat Coverley haben sogar einen recht hohen Preis für Den ausgesetzt, der den erwarteten Dampfer zuerst sähe, das Schiff, das für die Ungeduld aller Betheiligten viel zu langsam vorwärts kommt.

Inzwischen ist das Programm für das Fest sorgsam ausgearbeitet worden. Es umfaßt öffentliche Spiele, Empfänge und Gesellschaften, die doppelte Trauungsfeierlichkeit im protestantischen Tempel und in der katholischen Kathedrale, die Gala-Soirée im Stadthause und eine große Festlichkeit im Park. Calistus Munbar hat die Augen überall; er opfert sich auf, hetzt sich ab, er ruiniert dabei fast seine Gesundheit... doch was thut das? Sein Temperament zwingt ihn dazu, man würde ihn ebensowenig aufhalten können, wie einen Eisenbahnzug, der in voller Schnelligkeit dahinbraust.

Die Cantate ist auch fertig geworden. Yvernes, der Dichter, und Sebastian Zorn, der Tonsetzer, haben sich als einander würdig erwiesen. Diese Cantate soll von dem zahlreichen Chor einer orpheonischen Gesellschaft, welche eigens zu diesem Zwecke gegründet wurde, vorgetragen werden. Die Wirkung derselben muß großartig werden, wenn sie auf dem elektrisch beleuchteten Square des Observatoriums ertönt. Dar auf soll das Brautpaar vor dem Standesbeamten erscheinen und um Mitternacht die kirchliche Einsegnung inmitten des feenhaften Glanzes von ganz Milliard-City stattfinden.

Endlich wird das erwartete Schiff gemeldet. Einer der Wachposten des Steuerbordhafens war es, der den ausgesetzten Preis eroberte und damit eine recht ansehnliche Menge Dollars in die Tasche steckte.

[341] Es ist neun Uhr morgens am 19. Februar, als der Dampfer um den Pier des Hafens einbiegt, wo die Entladung sofort ihren Anfang nimmt. Wir dürfen wohl davon absehen, hier alle Gegenstände, Schmuckstücke, Kleider, Modewaaren, Kunstwerke u. s. w., woraus diese »Ausstattungsfracht« besteht, einzeln anzuführen. Es genüge zu wissen, daß die in den geräumigen Salons des Hôtels Coverley veranstaltete Ausstellung derselben einen ungeheuern Erfolg erzielt. Die ganze Welt von Milliard-City will die Wunderwerke betrachten. Zugegeben, daß sich auch andre steinreiche Leute solche herrliche Dinge zu beschaffen vermöchten. Hier giebt jedoch der seine Geschmack, der künstlerische Sinn bei der Auswahl derselben, den Ausschlag, so daß niemand müde wird, sie zu bewundern. Wem übrigens daran lag, die Bezeichnung der einzelnen Gegenstände kennen zu lernen, der konnte die Nummern des »Starboard-Chronicle« und des »New-Herald« von 21. bis 22. Februar danach einsehen. Erklären sich einige Töchter Evas auch damit noch nicht befriedigt, nun, so giebt es eine Befriedigung auf dieser Welt überhaupt nicht mehr.

»Donner und Doria! rief Yvernes, als er aus den Salons des Hôtels der Fünfzehnten Avenue in Begleitung seiner drei Kameraden heraustrat.

– Donner und Doria! wiederholte Pinchinat. Ja, das möcht' ich ausrufen. Die Miß Coverley könnte man auch ohne Mitgift heimführen... nur um ihrer selbst willen!«...

Die jungen Verlobten widmen der Sammlung von Meisterwerken der Kunst und der Mode jedoch nur sehr geringe Beachtung.

Seit dem Eintreffen des Dampfers hat Standard-Island übrigens wieder die Richtung nach Westen eingeschlagen, um sich den Neuen Hebriden zu nähern. Kommt es noch vor dem 27. Februar in Sicht einer der dazu gehörigen Inseln, so soll der Kapitän Sarol nebst den Uebrigen ans Land gesetzt werden und Standard-Island nachher seine Rückreise antreten.

Die Schiffahrt hier im westlichen Theil des Großen Oceans wird dadurch, daß der malayische Kapitän mit den Wasserverhältnissen sehr vertraut ist, wesentlich erleichtert.

Auf Ersuchen des Commodore Simcoë verweilt er ununterbrochen auf dem Thurm des Observatoriums. Sobald sich die ersten Höhen zeigen, wird es dann leicht sein, die Insel Erromango, die östlichste der Gruppe, anzulaufen, womit gleichzeitig die zahlreichen Klippen in der Umgebung der Neuen Hebriden vermieden werden.

[342] Ist es ein Zufall oder hat es der Kapitän Sarol, in dem Wunsche, den Hochzeitsfeierlichkeiten beizuwohnen, mit Absicht so eingerichtet, recht langsam vorwärts zu kommen... jedenfalls erblickt man die ersten Inseln erst am Morgen des 27. Februar, also an dem für die Hochzeit festgesetzten Tage.

Uebrigens macht das ja nicht viel aus. Die Ehe Walter Tankerdon's und Miß Dy Coverley's wird nicht minder glücklich sein, wenn sie auch in Sicht der Neuen Hebriden eingesegnet wird, und wenn das den wackern Malayen ein so besondres Vergnügen bereitet – woraus sie gar kein Hehl machen – nun, so mag es ihnen gegönnt sein, an den Festen auf Standard »Island theilzunehmen.

Nachdem einige weiter draußen liegende Eilande nach den sehr bestimmten Angaben des Kapitän Sarol passiert sind, steuert die Propeller-Insel auf Erromango zu und läßt dabei die Höhen der Inseln Tanna im Süden.

An dieser Stelle sind Sebastian Zorn, Frascolin, Pinchinat und Yvernes nicht sehr – höchstens dreihundert Seemeilen – von den französischen Besitzungen im Stillen Ocean entfernt, von den Loyaltys und von Neu-Caledonien, der Strafcolonie, die auf der Erdkugel gerade entgegengesetzt von Frankreich liegt.

Erromango ist im Innern stark bewaldet und hat viele Hügel, an deren Fuße sich breite culturfähige Landstrecken hinziehen. Der Commodore Simcoë hält etwa eine Meile vor der Cooksbucht an der Ostküste an. Eine weitere Annäherung war nicht rathsam, denn hier strecken sich bis zur Wasserfläche reichende Korallenklippen eine halbe Meile ins Meer hinaus. Der Gouverneur Cyrus Bikerstaff denkt auch gar nicht, hier, ebensowenig wie vor einer andern Insel dieses Archipels, länger zu verweilen. Gleich nach dem Feste sollen die Malayen ausgeschifft werden und Standard-Island sich nach dem Aequator zu wenden, um nach der Madeleinebay zurückzukehren.

Es ist ein Uhr mittags, als Standard-Island still liegen bleibt.

Auf behördliche Anordnung hat alle Welt Urlaub erhalten, Beamte und Angestellte, Seeleute und Milizen sind heute von jedem Dienste frei, nur die Zollwächter dürfen die gewohnte Aufmerksamkeit nicht aus den Augen lassen.

Die Witterung ist herrlich; ein leichter Seewind erfrischt die Luft; man könnte fast sagen: »Die Sonne selbst nimmt an dem großen Tage theil.«

»Jedenfalls, ruft Pinchinat, scheint es, als ob das Strahlengestirn sich den Befehlen unsrer Rentiers fügt. Und wenn sie, wie einst Josua, von ihm verlangten, länger zu verweilen, es würde ihnen gehorchen!... O du ewige Allmacht des Goldes!«


Mit Eifer widmeten sie sich dem Spiele. (S. 344.)

Bei den einzelnen Nummern des sensationellen Programms, wie es der Oberintendant von Milliard-City aufgestellt hat, brauchen wir uns nicht weiter aufzuhalten. Von drei Uhr ab strömen alle Bewohner, [343] die des Landes, wie die der Stadt und der Häfen, im Park längs der Ufer des Serpentineflusses zusammen. Die Notabeln mischen sich zwangslos unter die Menschenmenge. Mit großem Eifer widmen sich viele den Spielen, deren hohe Preise wohl nicht wenig zu dem Andrang der Leute beigetragen haben mögen. Unter freiem Himmel werden Tanzbelustigungen veranstaltet. Der glänzendste Ball findet aber in den [344] Prachträumen des Casinos statt, wo die jungen Herren, die jungen Frauen und die jungen Mädchen ebensoviel Grazie wie Lebhaftigkeit entfalten. Yvernes und Pinchinat betheiligen sich an den Tänzen und treten vor niemand zurück, wenn sie als die Cavaliere der schönsten Milliardeserinnenerscheinen können. Niemals ist Seine Hoheit so liebenswürdig, niemals so geistreich gewesen und hat nie vorher solche Erfolge errungen, so daß er, als eine seiner Tänzerinnen nach einem wirbelnden Walzer sagt: »Ach, mein Herr, ich ströme in Wasser!« die Antwort gab: »In Wasser von Vals, meine Gnädige, in reinem Wasser von [345] Vals!« (Ein unübersetzbares Wortspiel, weil Vals ein Badeort Frankreichs, ebenso ausgesprochen wird, wie»valse«, der Walzer.)

Frascolin, der diese Worte hört, erröthet bis hinter die Ohren, und Yvernes fragt sich, ob nicht der Wetterstrahl des Himmels auf den Kopf des Schuldigen niederschmettern wird.


Binnen Kurzem stürzten drei- bis viertausend Wilde hervor. (S. 350.)

Die Familien Tankerdon und Coverley sind natürlich vollzählig anwesend und die lieblichen Schwestern der Braut zeigen sich höchst erfreut über deren Glück. Miß Dy lustwandelt am Arm Walters, was nicht anstößig erscheint, wenn es sich um Kinder des freien Amerikas handelt. Alle beglückwünschen das treffliche Paar, bieten ihm Blumen an und sparen nicht an Lobpreisungen, die die Verlobten mit liebenswürdiger Leutseligkeit entgegennehmen.

In den nächsten Stunden tragen die reichlichst vertheilten Erfrischungen zur Erhaltung der Festfreude das ihrige bei.

Am Abend erglänzt der Park von elektrischen Flammen, die ein wahres Lichtmeer hinabgießen. Die Sonne hat klug daran gethan, daß sie unterging, denn sie hätte sich schämen müssen vor dem künstlichen Lichte, das die Nacht zum Tage verwandelt.

Zwischen neun und zehn Uhr wird die Cantate gefangen – mit welchem Erfolge, das schickt sich um des Dichters und des Componisten willen nicht, hier näher zu beleuchten. In dieser Minute aber fühlte der Violoncellist doch vielleicht sein ungerechtes Vorurtheil gegen das Juwel des Stillen Oceans ein wenig schmelzen...

Mit dem Glockenschlag elf ordnet sich ein langer Zug nach dem Stadthause. Walter Tankerdon und Miß Dy gehen in der Mitte ihrer Angehörigen. Die ganze Einwohnerschaft begleitet sie längs der Ersten Avenue hinaus.

Im großen Saale des Rathhauses harrt der Gouverneur Cyrus Bikerstaff ihres Erscheinens. Jetzt soll er die schönste Ehe schließen, die ihm während seiner Thätigkeit als Standesbeamter vorgekommen ist.

Plötzlich ertönt lautes Geschrei von der Backbordseite her.

Der Zug hält mitten auf dem Wege an.

Fast gleichzeitig krachen von derselben Seite einige Gewehrschüsse.

Gleich darauf kommen mehrere Zollwächter – verschiedne davon verwundet – nach dem Square des Stadthauses gestürzt.

Die Angst steigt auf den Gipfel, die Menge erfaßt jener sinnlose Schrecken, den eine unbekannte Gefahr gewöhnlich hervorruft...

[346] Cyrus Bikerstaff erscheint auf der Rampe des Gebäudes; ihm folgen der Commodore Simcoë, der Colonel Stewart und einige Notabeln.

Auf die an sie gerichteten Fragen antworten die Zollwächter, daß Standard-Island von einer Rotte Neu-Hebridier – drei- bis viertausend Mann stark – überfallen worden ist, und daß Kapitän Sarol sich an deren Spitze befindet.

11. Capitel
Elftes Capitel.
Angriff und Abwehr.

Das war der erste Ausbruch des abscheulichen Complots, das von dem Kapitän Sarol im Verein mit seiner auf Standard-Island so gastfreundlich aufgenommenen Mannschaft geschmiedet worden war, und dem sich nun die auf Samoa eingeschifften Neu-Hebridier und Eingeborne von Erromango und andern Inseln anschlossen. Welchen Ausgang der plötzliche rohe Ueberfall nehmen würde, ließ sich unter den vorliegenden Verhältnissen nicht mit Gewißheit voraussagen.

Die Gruppe der Neuen Hebriden zählt nicht weniger als hundertfünfzig Inseln, die unter der Schutzherrschaft Englands ein geographisches Zubehör Australiens bilden. Hier wie auf den weiter nordwestlich gelegnen Salomons-Inseln ist die Frage des Protectorats der Zankapfel zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Irland. Auch die Vereinigten Staaten sehen nicht wohlwollenden Auges auf die Errichtung europäischer Colonien inmitten eines Oceans, über den sie sich gern selbst die Oberhoheit anmaßen möchten. Durch Hissung seiner Flagge auf den verschiednen Inselgruppen sacht Großbritannien sich eine Flottenstation zu schaffen, die ihm im Falle der Losreißung Australiens von der Foreign-Office unentbehrlich sein würde.

Die Bevölkerung der Neuen Hebriden besteht aus Negern und Malayen kanakischer Abstammung. Charakter, Temperament und Sitten der Eingebornen weichen aber stark von einander ab, je nachdem sie den nördlichen oder südlichen Inseln zugehören – wonach man den Archipel in der That in zwei Gruppen theilen kann.

[347] Auf der nördlichen Gruppe, auf der Insel Santo, an der Saint-Philippe's Bay ist der Typus ein höherer, die Hautfarbe weniger dunkel und das Haar minder krauswollig. Die untersetzten und kräftigen, dabei aber sanften und friedliebenden Männer haben sich nie eines Ueberfalls von Ansiedlern oder europäischen Schiffen schuldig gemacht. Dasselbe gilt für die Insel Vate oder Sandwich (nicht zu verwechseln mit Hawaii, dem Archipel der Sandwich-Inseln), auf der sich mehrere blühende Ortschaften befinden, darunter Port-Vila, die Hauptstadt der Gruppe, die auch den Namen Franceville führt, wo französische Ansiedler den ertragreichen Boden ausbeuten, die üppigen Weiden, die culturfähigen Felder und die zu Anpflanzungen von Kaffeebäumen, Bananen und Cocospalmen geeigneten Landstrecken bewirthschaften und sich der einträglichen Industrie der »Koprahmakers« widmen. Es ist die Industrie zur bessern Verwerthung der Cocosnüsse, die, nachdem sie gespalten und an der Sonne oder durch Feuer getrocknet sind, die unter dem Namen »Koprah« ausgeführte Masse liefern, welche jetzt bei der Seifenbereitung so vielfache Verwendung findet. Auf dieser Gruppe haben sich die Sitten der Eingebornen seit dem Erscheinen der Europäer vollständig verändert, und jene haben moralisch und intellectuell eine höhere Stufe erklommen. Dank der Bemühungen der Missionäre, kommen die greulichen, früher so häufigen Scenen von Cannibalismus gar nicht mehr vor. Leider ist die kanakische Rasse im Aussterben begriffen, und es liegt auf der Hand, daß sie schließlich ganz verschwinden wird... zum Schaden der nördlichen Gruppe, auf der die europäische Civilisation so erfreulichen Eingang gefunden hatte.

Dieses Bedauern wäre aber bezüglich der südlichen Theile des Archipels sehr unangebracht. Der Kapitän Sarol hat auch nicht ohne Grund die südliche Gruppe zur Ausführung seines verbrecherischen Anschlags gegen Standard-Island ausgewählt. Hier, auf Tanna wie auf Erromango, stehen die Eingebornen, leibhaftige Papuas, auf niedrigster Stufe der Menschheit. Vor allem für Erromango trifft das zu, was ein alter Leichterschiffer zum Doctor Hayno gesagt hat: »Wenn diese Insel sprechen könnte, würde sie Dinge erzählen, die Einem die Haare auf dem Kopfe zu Berge stehen ließen!«

In der That hat sich die Rasse dieser Kanaken niedrigeren Ursprungs nicht mit polynesischem Blute, wie auf den nördlichen Inseln, verbessert. Auf Erromango haben die anglikanischen Missionäre, von denen seit 1839 fünf grausam ermordet wurden, unter einer Bevölkerung von zweitausendfünfhundert Seelen kaum die Hälfte zu bekehren vermocht. Die übrigen sind Heiden geblieben.

[348] Ob übrigens bekehrt oder nicht, haben sie ihre frühere Wildheit in keiner Weise abgelegt und verdienen den schlechten Ruf, in dem sie stehen, obgleich sie an Wuchs kleiner und schwächlicherer Constitution sind, als die Eingebornen der Insel Santo und Sandwich. Alle Reisenden, die es unternehmen, die südlichen Inseln zu durchstreifen, müssen deshalb immer sehr auf ihrer Hut sein.

Zum Beweise hier einige Beispiele:

Vor nun fünfzig Jahren wurde die Brigg »Aurora« räuberisch überfallen, wofür Frankreich die Eingebornen mit aller Strenge bestrafte. – 1869 wurde der Missionär Gordon durch Keulenschläge getödtet. – 1875 erlag die ganze Besatzung eines englischen Schiffes einem verrätherischen Ueberfalle und wurde von den Cannibalen verzehrt. – 1884 fanden im benachbarten Archipel der Luisiaden, auf der Insel Rossel, ein französischer Händler nebst seinen Arbeitern und ein chinesischer Kapitän mit seiner Besatzung durch die Menschenfresser einen elenden Untergang. – Schließlich mußte der englische Kreuzer »Royalist« einen wirklichen Feldzug unternehmen, um die wilden Stämme für die Abschlachtung einer großen Menge von Europäern zu züchtigen. Als man das alles Pinchinat, der erst unlängst den Keulen der Fidschi-Insulaner entgangen war, mitheilte, unterließ er es freilich, mit den Achseln zu zucken.

Das sind die Völkerschaften, unter denen der Kapitän Sarol seine Helfershelfer erwählt hatte, unter der Zusage der Plünderung des Juwels des Stillen Oceans, dessen Bewohner alle niedergemacht werden sollten. Die Wilden, die auf das Eintreffen Standard-Islands lauerten, waren sowohl aus Erromango, als auch von den nur durch schmale Wasserstraßen davon getrennten Nachbarinseln, vorzüglich von dem fünfunddreißig (See-) Meilen weiter im Süden gelegnen Tanna herbeigeströmt. Diese Insel hat die kraftstrotzenden Urbewohner des Bezirks Wanissi, die wilden Verehrer des Gottes Teapolo, entsendet, die fast ganz unbekleidet gehen, ebenso wie die Eingebornen der Plage-Noire von Sangalli, die als die schlimmsten Gesellen des Archipels gelten.

Ist die nördliche Gruppe aber auch weniger verwildert, so darf man daraus nicht schließen, daß sie dem Kapitän Sarol gar keine Hilfskräfte gesendet hätte. Im Norden der Insel Sandwich liegt z. B. die Insel Api, mit achtzehntausend Bewohnern, wo man die Gefangnen noch heute verzehrt und dabei deren Rumpf den jungen Leuten, die Arme und die Schenkel den erwachsnen Frauen zutheilt, und die Eingeweide den Hunden und den Schweinen hinwirft. Die wilden Stämme einer andern, der Insel Paama, stehen in der Rohheit ihrer [349] Bewohner den Eingebornen von Api keineswegs nach. Hier giebt es ferner die Insel Mallicolo mit menschenfressenden Kanaken; endlich die Insel Aurora, die allerverrufenste des Archipels, auf der sich kein Weißer ansiedelt und wo noch vor wenigen Jahren die ganze Mannschaft eines französischen Schiffes hingemordet wurde. Von diesen verschiednen Inseln hat sich der Kapitän Sarol seine Spießgesellen geholt.

Binnen wenigen Minuten stürmen drei- bis viertausend Wilde über in der Wasserlinie liegende Felsblöcke hervor.

Die Gefahr ist sehr ernst, denn die auf die Stadt der Milliardeser gehetzten Neu-Hebridier scheuen gewiß vor keinem Gewaltact, vor keiner Missethat zurück. Sie haben den Vortheil des überraschenden Angriffs für sich und sind nicht allein mit langen Zagaien mit Knochenspitzen, die sehr gefährliche Wunden verursachen, und mit Pfeilen, die sie mit einem scharfen Pflanzengifte zu bestreichen pflegen, sondern auch mit Snydergewehren ausgerüstet, die im ganzen Archipel weite Verbreitung gefunden haben.

Vom Beginn des von langer Hand vorbereiteten Kampfes an – denn der Kapitän Sarol befindet sich an der Spitze der Angreifer – mußten die Milizen, die Seeleute, die Beamten und alle irgend kampffähigen Männer zur Abwehr aufgerufen werden.

Cyrus Bikerstaff, der Commodore Simcoë, wie der Colonel Stewart haben die gewohnte Ruhe bewahrt. Der König von Malecarlien stellt sich sofort zur Verfügung, und fehlt ihm auch die Kraft der Jugend, so gebricht es ihm doch nicht an Muth. Noch sind die Eingebornen an der Seite des Backbordhafens ziemlich fern, und hier bemüht sich der dienstthuende Officier, den ersten Widerstand zu organisieren. Unzweifelhaft werden sich die Banden aber auch bald auf die Stadt selbst stürzen.

Zunächst wird Befehl ertheilt, die Thore von Milliard-City zu schließen, worin ja fast die ganze Bevölkerung wegen der Hochzeitsfeierlichkeiten schon versammelt ist. Daß Park und Feld verwüstet werden, muß man ruhig geschehen lassen; freilich liegt auch die Befürchtung nahe, daß die beiden Häfen und die Elektricitätswerke der Zerstörung verfallen; ebenso ist die Demolierung der Rammsvorn- und der Achterbatterie nicht zu verhindern. Das schlimmste Unglück wäre es aber, wenn die Artillerie von Standard-Island gar gegen die Stadt verwendet würde, denn es ist ja nicht ausgeschlossen, daß die Malayen sich auf die Geschützbedienung verstehen...

[350] Vor allem werden auf den Rath des Königs von Malecarlieu die meisten Frauen und Kinder im Stadthause in Sicherheit gebracht.

Das geräumige Bauwerk liegt, wie die ganze Insel, in tiefer Finsterniß; die elektrischen Maschinen fungieren nicht mehr, da die Mechaniker vor den Angreifern hatten flüchten müssen.

Inzwischen sind durch den Commodore Simcoë an die Milizen und die Seeleute Waffen, die im Stadthause aufbewahrt lagen, vertheilt worden, und an Munition ist auch kein Mangel. Nachdem er Miß Dy der Obhut der Mrs. Tankerdon und der Mrs. Coverley übergeben hat, schließt sich Walter dem kleinen Trupp an, dem Tankerdon, Nat Coverley, Calistus Munbar und die vier Franzosen angehören.

»Nun, hatte ich nicht Recht, daß die Geschichte in dieser Weise endigen würde? knurrt der Violoncellist.

– Sie endigt ja noch gar nicht! widerspricht ihm der Oberintendant. Nein, sie endigt noch nicht! Einer solchen Handvoll Kanaken wird unser Standard-Island niemals erliegen!«

Schön gesagt, Calistus Munbar! Man begreift wohl, daß der Ingrimm Dich verzehrt bei dem Gedanken, daß diese Schurken von Neu-Hebridiern ein so herrlich ausgedachtes Fest unterbrochen haben. Hoffentlich gelingt es, sie zurückzutreiben. Leider sind sie aber nicht nur an Zahl überlegen, sondern haben auch noch den Vortheil der Offensive.

Inzwischen prasselt das Gewehrfeuer, jetzt von beiden Häfen her, weiter. Der Kapitän Sarol hat die Bewegung der Propeller aufzuhalten gewußt, damit Standard-Island sich von Erromango, seiner Operationsbasis, nicht entfernen könne.

Der Gouverneur, der König von Malecarlieu, der Commodore Simcoë und der Colonel Stewart, die zu einem Vertheidigungscomité zusammengetreten sind, haben zuerst daran gedacht, einen Ausfall zu wagen; doch nein, damit wären nur so und so viele Vertheidiger geopfert worden, die man so nöthig brauchte. Von den wilden Eingebornen ist ebensowenig Gnade zu erhoffen, wie von den Raubthieren, die vor kaum vierzehn Tagen Standard-Island überfielen. Uebrigens könnten jene versuchen, die Propeller-Insel auf den Felsen von Erromango zum Stranden zu bringen, um sie dann der Plünderung preiszugeben.

Eine Stunde später sind die Angreifer bis zu den Gitterthoren von Milliard-City vorgedrungen. Sie versuchen sie zu sprengen. Vergeblich. Sie wollten darüber hinwegklettern, da pfeifen ihnen die Kugeln entgegen.

[351] Da die Stadt nicht auf den ersten Anlauf überrumpelt werden konnte, macht es nun Schwierigkeiten, die eiserne Umzäunung bei der tiefen Finsterniß zu stürmen. Der Kapitän Sarol führt die Eingebornen auch schon nach dem Parke und den Feldern zurück, um hier den Tag abzuwarten.

Zwischen vier und fünf Uhr leuchtete der erste bleiche Schein am östlichen Horizonte auf. Die vom Commodore Simcoë und Colonel Stewart angeführten Milizen und Seeleute, von denen die Hälfte am Stadthause zurückbleibt, begeben sich nach dem Square des Observatoriums in der Meinung, daß der Kapitän Sarol versuchen könnte, die Gitterthore von dieser Seite her zu stürmen. Da auf Hilfe von außen nicht zu rechnen ist, gilt es vor allem, das Eindringen der Wilden in die Stadt zu verhindern.

Das Quartett schließt sich der Mannschaft an, die von ihren Officieren nach dem Ausgange der Ersten Avenue geleitet wird.

»Den Cannibalen der Fidschi-Inseln entgangen zu sein, ruft Pinchinat, und hier die eignen Coteletten gegen die Cannibalen der Neuen Hebriden vertheidigen zu müssen, das ist wahrlich reizend!

– Nun, zum Teufel, sie werden uns nicht so schnell mit Stumpf und Stiel aufessen, antwortet Frascolin.

– Ich wehre mich wenigstens, wie der Held Labiche's, so lange noch ein Stück von mir übrig ist!« setzt Yvernes hinzu.

Nur Sebastian Zorn verhält sich schweigend. Man weiß ja, was er von diesem Abenteuer denkt, obwohl ihn das nicht hindern wird, seine Pflicht zu thun.

Mit dem ersten Tageslichte werden durch das Gitter des Squares schon Schüsse gewechselt. Innerhalb des Bereichs des Observatoriums kommt es zur muthigsten Vertheidigung. Auf beiden Seiten kostet es Opfer. Von den Milliardesern wird schon Tankerdon an der Schulter, jedoch nur so leicht verwundet, daß er seinen Posten nicht verlassen will. Nat Coverley und Walter kämpfen in den ersten Reihen. Der König von Malecarlien, der den Kugeln der Snydergewehre trotzt, nimmt den Kapitän Sarol aufs Korn, der sich in der Mitte der Eingebornen keiner Gefahr scheut.

Der Angreifer sind nur gar zu viele! Alles, was Erromango, Tanna und die Nachbarinseln an Combattanten aufzubringen vermochten, ist gegen Milliard-City ausgezogen. Ein glücklicher Umstand, der dem Commodore Simcoë nicht entging, war es wenigstens, daß Standard-Island nicht näher nach Erromango, sondern von einer leichten Strömung weiter nach der nördlichen Gruppe getragen [352] [355]wurde, obgleich es besser gewesen wäre, wenn man hätte die offne See gewinnen können.

Inzwischen verstreicht die Zeit; die Eingebornen verdoppeln ihre Anstrengungen, und endlich ist es trotz tapfersten Widerstandes nicht mehr möglich, sie aufzuhalten. Gegen zehn Uhr werden die Thore gesprengt. Vor der heulenden Rotte, die auf den Square eindringt. muß sich der Commodore Simcoë kämpfend nach dem Stadthause zurückziehen, wo er sich, wie in einer Festung, zu vertheidigen gedenkt.


Kämpfend zogen sie sich nach dem Stadthause zurück. (S. 355.)

Die Milizen und die Seeleute weichen nur Schritt für Schritt vom Platze. Jetzt, wo die Eingebornen die Umzäunung der Stadt durchbrochen haben, zerstreuen sie sich, von Plünderungslust getrieben, vielleicht in die verschiednen Quartiere, und die Milliardeser könnten einige Vortheile über sie erringen...

Vergebliche Hoffnung! Der Kapitän Sarol hält die Eingebornen alle in der Ersten Avenue zusammen. um das Stadthaus vereinigt anzugreifen. Hat er sich dieses Gebäudes bemeistert, so ist der Sieg vollkommen, und dann hat auch die Stunde der Plünderung geschlagen.

»Wahrlich, es sind ihrer doch zu viele!« wiederholt Frascolin, dem eine Zagaie den Arm gestreift hat.

Immerfort regnet es Pfeile und Kugeln, während der Rückzug weiter von Statten geht.

Gegen zwei Uhr sind die Vertheidiger schon bis zum Square des Stadthauses gedrängt. Todte hat es auf beiden Seiten gegen fünfzig gegeben, Verwundete zwei- oder dreimal so viele. Ehe das Stadthaus von den Wilden gestürmt wird, flüchteten alle hinein. Die Thüren desselben werden geschlossen und die Frauen und Kinder in den unterirdischen Gelassen untergebracht, wo sie wenigstens vorläufig geschützt sind. Cyrus Bikerstaff, der König von Malecarlien, der Commodore Simcoë, Colonel Stewart, Jem Tankerdon, Nat Coverley, ihre Freunde, die Milizen und die Seeleute eilen an die Fenster und eröffnen von hier aus aufs neue das Feuer.

»Hier müssen wir aushalten, sagt der Gouverneur. Es ist unsre letzte Zuflucht, und Gott möge ein Wunder thun, um uns zu retten!«

Der Angriff unter Kapitän Sarol läßt nicht auf sich warten. Der Malaye rechnet trotz aller Schwierigkeiten auf seinen endlichen Sieg. Die Thore und Thüren sind sehr fest, und es scheint kaum möglich, sie ohne die Hilfe von Geschützen zu zerstören. Die Eingebornen donnern mit Aexten daran, unbekümmert um das[355] Gewehrfeuer aus den Fenstern, durch das sie starke Verluste erleiden. Dadurch läßt sich ihr Anführer aber nicht abschrecken, und doch, wenn dieser fiele, würde sein Tod dem Kampfe eine andre Wendung geben.

So vergehen zwei Stunden, das Stadthaus leistet noch immer Widerstand. Wenn die Kugeln auch die Angreifer decimieren, so füllen doch andre die Lücken wieder aus. Vergebens versuchen die besten Schützen, Jem Tankerdon und der Colonel Stewart, den Kapitän Sarol vor die Flinte zu bekommen. Während viele seiner Leute rundum getroffen werden, scheint er unverwundbar zu sein.

Während der ruchlose Räuber im dichtesten Kugelregen verschont bleibt, wird Cyrus Bikerstaff auf dem Mittelbalkon des Stadthauses von einer Kugel ins Herz getroffen. Er stürzt zusammen, kann nur noch wenige kaum vernehmbare Worte flüstern, und das Blut rinnt ihm aus der Wunde. In das Innre des Hauses getragen, haucht er bald seinen letzten Seufzer aus. So endete der, der der erste Gouverneur von Standard-Island, ein höchst gewandter Beamter und ein edelmüthiges, großes Herz gewesen war.

Der Ansturm dauert mit unverminderter Wuth fort. Die Thüren drohen den Axtschlägen der Wilden nachzugeben, und niemand wußte Rath, wie die Eroberung dieses letzten festen Punktes von Standard-Island zu verhindern sei, wie die Frauen, die Kinder und alle übrigen, die sich darin befinden, vor einer elenden Hinschlachtung gerettet werden könnten.

Der König von Malecarlien, Ethel Simcoë und der Colonel Stewart erörtern schon die Frage der Flucht durch die Hintergebäude des Stadthauses. Doch wo sollte man dann Schutz suchen? Bei der Achterbatterie?... Wird man diese erreichen können?... In einem der Häfen?... Diese sind ja schon von den Eingebornen besetzt... Und sollte man die schon zahlreichen Verwundeten ihrem Schicksal überlassen?

Da fällt ein glücklicher Schuß, der der Gesammtlage plötzlich eine andre Wendung giebt.

Der König von Malecarlien ist, ohne auf die Kugeln und Pfeile um ihn her zu achten, auf den Balkon hinausgetreten. Er legt die Büchse an, zielt auf den Kapitän Sarol, gerade als einige Feinde schon durch eine gesprengte Thür eindringen wollen.... Der Kapitän Sarol stürzt getroffen zur Erde.

Durch den Tod ihres Anführers erschreckt, weichen die Malayen, den Gefallnen mitschleppend, zurück und von Furcht getrieben fliehen die meisten nach dem Gitterthore des Square zu.

[356] Fast gleichzeitig entsteht ein neues Lärmen weit oben in der Ersten Avenue, wo ein plötzliches Gewehrfeuer beginnt.

Was mag da vorgehen?... Hatten die Vertheidiger der Häfen und der Batterie wieder die Oberhand gewonnen? Marschieren sie auf die Stadt zu? Wollen sie trotz ihrer kleinen Zahl dem Feind in den Rücken fallen?

»Von der Seite des Observatoriums her wird das Feuer wieder lebhafter, sagt der Colonel Stewart.

– Da werden die Schurken eine Verstärkung erhalten haben, meint der Commodore Simcoë.

– Das denk' ich nicht, bemerkt der König von Malecarlien, denn was sollte dann das Gewehrfeuer bedeuten?...

– Ja, ja, dort geht etwas neues vor, ruft Pinchinat, und etwas neues zu unserm Vortheil....

– Seht... seht, sagt Calistus Munbar, die Spitzbuben geben alle Fersengeld...

– Vorwärts, meine Herrn, ruft der König von Malecarlien, jagen wir die Mordbande aus der Stadt! Vorwärts!«

Officiere, Milizen, Seeleute und alle übrigen eilen wieder hinunter, und zur großen Thür hinaus...

Der Square ist leer, die Wilden fliehen kopfüber, die einen die Erste Avenue hinunter, die andern durch die Nachbarstraßen.

Die Ursache der schnellen und unerwarteten Veränderung der Lage war nicht sofort zu durchschauen, wenn auch der Tod des Kapitän Sarol und damit der Mangel jeder Führung dazu beigetragen haben mochte. Immerhin konnte man kaum annehmen, daß die an Zahl weit überlegnen Angreifer durch den Tod ihres Anführers so entmuthigt worden wären, vorzüglich in dem Augenblicke, wo sie das Stadthaus gleich in ihrer Gewalt haben mußten.

Vom Commodore Simcoë und dem Colonel Stewart mit fortgerissen, stürmte man, etwa zweihundert Mann Seeleute und Milizen und mit ihnen Jem und Walter Tankerdon, Nat Coverley, Frascolin und seine Kameraden, die Erste Avenue hinab und trieb die Fliehenden vor sich her, die sich nicht einmal mehr umkehren, um ihnen eine Kugel oder einen Pfeil entgegenzusenden, sondern Gewehre, Bogen und Zagaien einfach wegwerfen.

»Vorwärts! Drauf und dran!« ruft der Commodore Simcoë mit weitschallender Stimme.

[357] Inzwischen verdoppelt sich das Gewehrfeuer in der Nähe des Observatoriums. Offenbar ist hier ein hitziger Kampf entbrannt.

Hat Standard-Island Hilfe erhalten?... Doch welche Hilfe... und woher kam sie?

Wie dem auch sein mochte, jedenfalls flohen die Feinde, von unbeschreiblichem Schrecken ergriffen, nach allen Richtungen. Es sieht aus, als wären sie vom Backbordhafen her angegriffen worden.

Ja... Gegen eintausend Neu-Hebridier sind unter Führung französischer Ansiedler von der Insel Sandwich nach Standard-Island geeilt.

Was Wunder, daß das Quartett, als es mit den tapfern Landsleuten zusammentraf, sich in der Muttersprache angeredet sah.

Diese unerwartete, man möchte fast sagen, wunderbare Unterstützung war unter folgenden Verhältnissen zu Stande gekommen:

Während der vorhergehenden Nacht und seit Tagesanbruch war Standard-Island immer mehr nach der Insel Sandwich getrieben worden, wo, wie erwähnt, eine französische Colonie angesiedelt war. Sobald die Colonisten nun Wind von dem Ueberfall durch den Kapitän Sarol bekamen, beschlossen sie, mit tausend unter ihrem Einfluß stehenden Eingebornen der Propeller-Insel zu Hilfe zu kommen. Zu ihrer Ueberführung erwiesen sich freilich die Boote auf der Insel Sandwich als nicht zureichend...

Da kann man sich wohl die Freude der Ansiedler vorstellen, als Standard-Island, von der Strömung getrieben, am Morgen bis zur Höhe der Insel Sandwich kam. Sofort warfen sich alle, und die Eingebornen nach ihnen, in einfache Fischerboote – viele schwammen gleich nach der bedrängten Insel – und liefen im Backbordhafen ein.

In kürzester Zeit konnten sich die Mannschaften der Rammsporn- und der Achterbatterie, sowie die wenigen, die sich in den Häfen noch gehalten hatten, mit ihnen vereinigen. Durch Feld und Park stürmten sie auf Milliard City zu, und Dank diesem kühnen Angriff fiel das Stadthaus nicht in die Hand der Wilden, die durch den Tod ihres Anführers schon in Verwirrung gerathen waren.

Zwei Stunden später suchten die von allen Seiten verfolgten Neu-Hebridier ihr Heil nur noch darin, daß sie sich ins Meer stürzten, um nach der Insel Sandwich zu gelangen, wobei noch viele von den Kugeln der Miliz ereilt wurden.

Jetzt hat Standard-Island nichts mehr zu fürchten: es ist gerettet vor der Plünderung, dem Gemetzel und der Vernichtung.

[358] Man hätte doch erwarten sollen, daß der Ausgang dieser entsetzlichen Geschichte Anlaß zu öffentlichen Ausdrücken der Freude, zu wohlthätigen Handlungen geben müßte... Nein, diese Amerikaner sind nur sich selbst ähnlich! Es sah aus, als ob der endliche Aus gang sie gar nicht in Erstaunen setzte... als hätten sie den vorausgesehen. Und doch, es hing eigentlich nur an einem Haar, daß der Ueberfall des Kapitän Sarol zu einer entsetzlichen Katastrophe führte.

Jedenfalls darf man aber glauben, daß die Haupteigenthümer Standard-Islands sich wenigstens heimlich beglückwünschten, einen Werth von zwei Milliarden gerettet zu haben, und das in einem Augenblick, wo die Verehelichung Walter Tankerdon's und der Miß Dy Coverley die Zukunft dieses Besitzthums noch mehr sichern sollte.

Beim ersten Wiedersehen der beiden Verlobten fielen sie sich ohne Scheu in die Arme. Uebrigens erkannte darin niemand einen Verstoß gegen die gute Sitte Eigentlich hätten sie ja seit vierundzwanzig Stunden schon Mann und Frau sein sollen.

Wo man aber kein Beispiel ultra-amerikanischer Zurückhaltung suchen durfte, das war bei dem Empfang, den die Pariser Künstler den Colonisten von der Insel Sandwich bereiteten. Da gab es einmal Händedrücke! Und welche Glückwünsche wurden dem Quartett von seinen Landsleuten zu Theil. Haben die Kugeln sie auch verschont, so hatten sie doch nicht minder tapfer ihre Pflicht gethan, die beiden Violinen, die Bratsche und das Violoncell! Der vortreffliche Athanase Dorémus war freilich im Saale des Casinos zurückgeblieben, weil er einen Schüler erwartete, der sich nun einmal darauf versteift, niemals zu erscheinen. Doch wer hätte das Männchen deshalb tadeln sollen?

Eine Ausnahme von dem allgemeinen Verhalten macht nur der Oberintendant. Ein so Ultra-Yankee er auch ist, kennt sein Jubel doch keine Grenzen. Was Wunder? In seinen Adern fließt ja das Blut des berühmten Barnum, und man wird es erklärlich finden, daß der Abkömmling eines solchen Vorfahren nicht so sui compos ist, wie seine Mitbürger von Nordamerika.

Nach Beendigung des Kampfes hat sich der König von Malecarlieu in Begleitung der Königin wieder nach seiner Wohnung in der Siebenunddreißigsten Avenue begeben, wo ihm der Rath der Notabeln den Dank darbringen wird, den sein Muth und seine Hingebung für das Allgemeine gewiß verdienen.

Standard-Island ist also heil und gesund. Seine Rettung kam ihm freilich theuer zu stehen... wurde doch Cyrus Bikerstaff zur Zeit des hitzigsten Gefechts [359] getödtet, etwa sechzig Milizen und Seeleute von Kugeln und Pfeilen getroffen, und daneben fast noch ebenso viele von den Beamten, den Arbeitern und den Händlern, die sich alle mit Todesmuth geschlagen haben. Die ganze Einwohnerschaft nimmt an der Trauer darum Antheil und auf dem Juwel des Stillen Oceans wird die Erinnerung an diese Tage niemals er löschen.

Mit der ihnen eignen Schnelligkeit gehen die Milliardeser daran, alles wieder in Stand zu setzen. Nach Verlauf weniger Tage, die an der Insel Sandwich zugebracht werden, ist jede Spur von dem blutigen Kampf verschwunden.


Die Thüren drohen den Axtschlägen der Wilden nachzugeben. (S. 356.)

[360]
Die Agenten schüren die allgemeine Erregung. (S. 364.)

Die Frage der militärischen Gewalt, die in der Hand des Commodore Simcoë bleibt, macht keine Schwierigkeit und wird von keiner Seite bestritten. Weder Jem Tankerdon noch Nat Coverley erheben einen diesbezüglichen Anspruch. Später soll eine allgemeine Wahl auch die Angelegenheit wegen eines neuen Gouverneurs für Standard-Island regeln.

Am nächsten Tage ruft eine ergreifende Feierlichkeit die ganze Einwohnerschaft nach dem Quai des Steuerbordhafens. Die Leichen der Malayen und Eingebornen werden einfach ins Meer geworfen, dasselbe darf aber mit denen, [361] die für die Vertheidigung Standard-Islands gefallen sind, natürlich nicht geschehen. Ihre sorgsam aufgehobnen Körper werden nach dem Tempel oder nach der Kathedrale geschafft, wo ihnen die letzten Ehren erwiesen werden. Für den Gouverneur Bikerstaff wie für die Niedrigsten sprechen Alle gleiche Gebete und geben einem gleichen Schmerze Ausdruck.

Dann wird die traurige Ladung einem der schnellsten Dampfer von Standard-Island anvertraut, und dieser geht nach der Madeleinebay ab, um die kostbaren Ueberreste der Beerdigung in christlicher Erde zuzuführen.

12. Capitel
Zwölftes Capitel.
Steuerbord gegen Backbord.

Standard-Island hat die Gewässer der Insel Sandwich am 3. März verlassen, nachdem vorher der französischen Colonie und deren Verbündeten der wärmste Dank abgestattet worden war. Es sind Freunde, die sie wiedersehen werden, Brüder, die Sebastian Zorn und seine Kameraden auf dieser Insel in der Gruppe der Neuen Hebriden zurücklassen, die in Zukunft jedes Mal besucht werden sollen.

Unter Anleitung des Commodore Simcoë sind alle Ausbesserungsarbeiten schnellstens zu Ende geführt worden. Die Schäden waren kaum beträchtlich zu nennen. Vorzüglich sind die elektrischen Maschinen unbeschädigt geblieben. Die Propeller-Insel wird also unverzüglich nach den Gegenden des Stillen Oceans zurückkehren, wo die Kabel ihr gestatten, mit der Madeleinebay in Verbindung zu treten. Man gewinnt damit die Gewißheit, daß die weitere Fahrt ohne Fehlrechnung verlaufen und Standard Island binnen vier Monaten an der amerikanischen Küste wieder eingetroffen sein werde.

»Na, wir wollen's hoffen, sagt Sebastian Zorn, als der Oberintendant sich wieder in überschwenglichen Lobpreisungen seines schwimmenden Bauwerks er geht.

– Doch welche harte Lehre haben wir erhalten, bemerkt Calistus Munbar. Wer hätte einen Argwohn gegen die so dienstfertigen Malayen, gegen jenen [362] Kapitän Sarol hegen können?... Natürlich ist es das letzte Mal gewesen, daß Standard-Island Fremde bei sich aufgenommen hat....

– Selbst wenn ein Schiffbruch sie Ihnen in den Weg führte? fragt Pinchinat.

– He, was wollen Sie, ich glaube an keinen Schiffbruch und an keine Schiffbrüchigen mehr!«

Wenn der Commodore Simcoë aber auch fernerhin mit der Leitung der Propeller-Insel betraut bleibt, so bedingt das noch nicht, daß auch die Civilverwaltung in seinen Händen liegen müsse. Seit dem Ableben Cyrus Bikerstaff's hat Milliard-City keinen Bürgermeister mehr und auch die früheren Adjuncten haben, wie wir wissen, ihre Aemter niedergelegt. In Folge dessen wird es nöthig, einen neuen Gouverneur für Standard-Island zu ernennen.

Wegen Mangels eines Standesbeamten kann nun auch die Verehelichung Walter Tankerdon's mit Miß Dy Coverley nicht vollzogen werden. Das war eine Schwierigkeit. an die der erbärmliche Sarol wohl mit keiner Silbe gedacht hatte. Und nicht nur die beiden Brautleute, nein, auch alle Notabeln von Milliard-City, ja die ganze Bevölkerung hat es eilig, daß diese Ehe abgeschlossen wird.

Sie bietet doch die sichersten Garantien für die Zukunft. Die Sache darf nicht verzögert werden, denn Walter Tankerdon spricht schon davon, sich auf einem der Dampfer des Steuerbordhafens einzuschiffen und sich mit den beiden Familien nach dem nächsten Archipel zu begeben, wo eine dazu befähigte Person die Trauung vornehmen solle. Zum Teufel, solche Männer finden sich ja auf Samoa, den Tongainseln, wie auf den Marquisen, und wenn man Volldampf giebt, dann kann binnen einer Woche...

Vernünftige Leute sachen dem jungen Manne das auszureden, was ihnen endlich auch mit Mühe gelingt. Nun beschäftigt man sich mit der bevorstehenden Wahl. Nach wenigen Tagen soll der neue Gouverneur ernannt werden. Seine erste Thätigkeit würde dann darin bestehen, die so sehnlichst erwartete Heirat mit möglichstem Pompe zu vollziehen. Das Festprogramm soll dabei in ganzem Umfange wieder aufgenommen werden. Einen Bürgermeister, einen Bürgermeister her! So tönt es aus jedem Munde.

»Vorausgesetzt, daß diese Wahl nicht die halb entschlafne Rivalität aufs neue entfacht!« bemerkte Frascolin.

Doch nein, Calistus Munbar ist entschlossen, sich mit Händen und Füßen dagegen zu stemmen, um diese Angelegenheit zu gutem Ende zu führen.

[363] »Und sind unsre Liebenden nicht obendrein noch da? ruft er. Sie werden mir doch beistimmen, daß die Eigenliebe den Sieg über die gegenseitige Liebe nicht davontragen wird!«

Standard-Island gleitet nach Nordosten weiter, dem Punkte zu, wo sich der 12. Breitengrad mit dem 175. Grade westlicher Länge schneidet. Nach dieser Gegend sind durch die letzten Telegramme von dem Aufenthalt an den Neuen Hebriden die von der Madeleinebay auszusendenden Proviantschiffe bestellt worden. Die Frage der Lebensmittelbeschaffung macht dem Commodore Simcoë übrigens keine Sorge. Für mindestens einen Monat sind noch Vorräthe da, und nach dieser Seite braucht man sich also keiner Beunruhigung hinzugeben. Nachrichten aus der Fremde fehlen freilich schon lange. Die politische Chronik ist mager geworden, das »Starboard-Chronicle« klagt darüber, der »New-Herald« ist in heller Verzweiflung. Doch immerhin, Standard-Island bildet ja eine vollständige kleine Welt für sich, und was hat es damit zu thun, was sich irgend wo anders auf der Erde zuträgt. Fehlt ihm die Anregung durch die leidige Politik? Getrost, in nicht ferner Zeit wird es auch selbst solche – und vielleicht mehr als zu viel – treiben.

Die Wahlperiode wird eröffnet. Man bearbeitet die dreißig Mitglieder vom Rathe der Notabeln, in dem Backbord- und Steuerbordbewohner zu gleichen Theilen vertreten sind. Schon von Anfang zeigt es sich, daß die Wahl eines neuen Gouverneurs nicht ohne Streitigkeiten abgehen wird, denn Jem Tankerdon und Nat Coverley bewerben sich beide um diese Stellung.

Einige Tage verstrichen unter den unumgänglichen Vorbereitungen. Alles läßt aber erkennen, daß bei der Eigenliebe der zwei Candidaten eine Uebereinstimmung gar nicht oder doch nur sehr schwierig zu erzielen sein wird. In der Stadt wie in den Häfen herrscht eine dumpfe Gährung. Die Agenten der beiden Stadthälften suchen die allgemeine Erregung noch zu schüren, um einen Druck auf die Notabeln auszuüben. So vergeht die Zeit ohne Aussicht auf eine friedliche Lösung. Ist es jetzt nicht zu befürchten, daß Jem Tankerdon und die vornehmsten Backbordbewohner auf ihre von den Steuerbordbewohnern abgewiesnen Ideen zurückkommen, auf den unseligen Plan, Standard-Island zu einer industriellen und handeltreibenden Insel umzugestalten? Darauf wird die andre Stadthälfte nimmermehr eingehen. Kurz, bald scheint die Partei Coverley obenauf zu schwimmen, bald die Partei Tankerdon die Oberhand zu haben. Damit kommt es zu Nörgeleien, zu bittern Reden zwischen den beiden Feldlagern, die Beziehungen [364] beider Familien kühlen sich mehr und mehr ab – eine Veränderung, die Walter Tankerdon und Miß Dy Coverley freilich nicht erkennen wollen. Was geht sie auch all dieses politische Gezänk an?...

Und doch giebt es ein recht einfaches Mittel, die Sache, wenigstens vom administrativen Standpunkt, zu ordnen; man braucht ja nur zu beschließen, daß die beiden Candidaten die Functionen des Gouverneurs abwechselnd versehen sollen – sechs Monate dieser, sechs Monate jener, vielleicht auch jeder ein Jahr lang, wenn das besser erscheint. Dann ist jede Rivalität ausgeschlossen, und beide Parteien sind befriedigt. Was aber vernünftig ist, hat leider wenig Aussicht, in dieser Welt Anklang zu finden, und trotz seiner Unabhängigkeit von irgend einem Lande machen sich doch auf Standard-Island alle Leidenschaften der Menschheit unter dem Monde geltend.

»Da haben wir es nun, sagt Frascolin eines Tages zu seinen Kameraden, da haben wir die Schwierigkeiten, die ich kommen sah...

– Und was scheeren uns diese Streitigkeiten, erwidert Pinchinat. Welchen Schaden könnten sie uns bringen? In einigen Monaten sind wir in der Madeleinebay angelangt, unser Engagement ist zu Ende und wir setzen den Fuß wieder auf festes Land... Jeder mit seiner kleinen Million in der Tasche...

– Wenn es nicht noch zu irgend einer Katastrophe kommt! wirst der unlenksame Sebastian Zorn ein. Kann eine solche schwimmende Maschine je eine sichre Zukunft haben? Nach dem Zusammenstoße mit dem englischen Schiffe der Einbruch der Raubthiere, nach den Raubthieren der Ueberfall der Neu-Hebridier... nach diesen wilden Kerlen die...

– Schweig still, Du Unglücksvogel! ruft Yvernes. Schweig, oder wir legen Dir noch ein Schloß vor den Schnabel!«

Daß die Hochzeit Tankerdon-Coverley nicht an dem dafür bestimmten Tage gefeiert werden konnte, bleibt immerhin zu bedauern. Waren die beiden Familien durch dieses neue Band erst enger vereinigt, so hätte die schwierige Frage gewiß eine bequemere Lösung gefunden. Die jungen Gatten hätten wirksamer intervenieren können. Die jetzige Aufregung sollte jedoch nicht lange dauern, da die Wahlhandlung für den 15. März angesetzt war.

Der Commodore Simcoë bemühle sich inzwischen nach Kräften, eine Annäherung zwischen den beiden Stadthälften herbeizuführen, erhielt aber nur die Antwort, er möge sich nicht um Dinge kümmern, die ihn nichts angingen. Er hat die Führung der Insel auf ihrer Fahrt, so möge er sie führen. Seine Pflicht [365] ist es, Klippen zu vermeiden... so hüte er sich vor solchen! Die Politik gehört nicht zu seinen Competenzen!

Der Commodore Simcoë läßt sich das nicht zweimal sagen.

Sogar religiöse Leidenschaften werden mit ins Spiel gezogen und die Geistlichkeit – vielleicht that sie damit Unrecht – mischte sich ebenfalls in den Streit. Der Pastor des Tempels und der Bischof der Kathedrale lebten doch sonst in bester Eintracht.

Die Journale sind dem Kampfe natürlich auch nicht fern geblieben. Der »New-Herald« tritt für Tankerdon, das »Starboard-Chronicle« für Coverley in die Schranken. Tinte fließt in Strömen, leider ist zu befürchten, daß sich ihr später noch Blut beimischt. Gerechter Gott, ist der jungfräuliche Boden von Standard-Island denn nicht schon bei dem Kampfe mit den Wilden von den Neuen Hebriden genügend damit getränkt worden?

Im ganzen wendet sich das Interesse der großen Menge freilich meist den beiden Verlobten zu, deren Roman schon im ersten Capitel abgebrochen wurde. Doch was vermochten die Leute zu thun, um deren Glück zu sichern? Schon sind fast alle Beziehungen zwischen den beiden Hälften von Milliard-City abgebrochen; von Gesellschaften, Einladungen, musikalischen Soiréen ist keine Rede mehr. Wenn das so andauert, werden die Instrumente des Concert-Quartetts in ihren Etuis verschimmeln können und die Künstler verdienen ihre enorme Gage mit der Hand in der Tasche.

Der Oberintendant wird, wenn er das auch nicht zugesteht, von einer tödtlichen Unruhe verzehrt. Er empfindet es, daß er sich in schiefer Lage befindet, denn er muß sich das Gehirn zermartern, weder den Einen noch den Andern zu nahe zu treten – das beste Mittel bekanntlich, um es mit Allen zu verderben.

Am 12. März ist Standard-Island schon ein gutes Stück nach dem Aequator zu hinaufgekommen, doch noch nicht weit genug, um dem von der Madeleinebay ausgesandten Schiff begegnen zu können. Das kann zwar nicht mehr lange dauern, wahrscheinlich wird die Wahl aber vorher stattfinden, da sie auf den 15. März festgesetzt ist.

Die Steuerbord- wie die Backbordbewohner berechnen schon immer ihre Aussichten, wobei sich freilich zeigt, daß diese für beide Seiten gleich liegen, wenn sich nicht einige Stimmen von der einen schließlich der andern zuwenden.

Da taucht eine geniale Idee auf, die gleichzeitig allen denen entsprungen zu sein scheint, die darum nicht hätten befragt werden sollen. Sie ist so einfach[366] und jeder Rivalität sofort ein Ziel setzen. Auch die beiden Candidaten würden sich mit dieser Lösung einverstanden erklären.

Sie geht darauf hinaus, das Gouvernement der Insel Standard-Island dem König von Malecarlien zu übertragen. Der Exsouverän ist ja ein weiser, erfahrener Mann und weiß, was er will. Seine Duldsamkeit und seine Klugheit würde späteren Unannehmlichkeiten gewiß vorbeugen. Er kennt ja die Menschen gründlich und weiß, daß man mit ihren Schwächen und mit ihrer... Undankbarkeit zu rechnen hat. Der Ehrgeiz ist nicht seine Sache, und es würde ihm gewiß nie einfallen, ein persönliches Regiment an Stelle der demokratischen Institution zu setzen, die sich die Propeller-Insel gegeben hat. Er würde nur der Vorsitzende des Verwaltungsraths der neuen Gesellschaft »Tankerdon-Coverley and Co.« sein.

Eine ansehnliche Anzahl von Kaufleuten und Beamten Milliard-Citys nebst vielen Officieren und Seeleuten aus den Häfen unterbreiten diesen Vorschlag ihrem königlichen Mitbürger in der Form eines Wunsches.

Ihre Majestäten empfangen die Deputation im untern Salon ihrer Wohnung in der Siebenunddreißigsten Avenue. Die Abordnung findet zwar ein williges Ohr, stößt aber mit ihrem Anliegen auf unerschütterlichen Widerstand. Die entthronten Souveräne erinnern sich ihrer Vergangenheit, und der König antwortet unter der Herrschaft dieses Eindrucks:

»Ich danke Ihnen, meine Herren! Ihr Anerbieten schmeichelt uns, wir fühlen uns aber in der jetzigen Lage glücklich und hegen die Hoffnung, diese auch in Zukunft keine Aenderung erleiden zu sehen. Glauben Sie mir ja, wir haben mit den Illusionen, die von irgendwelcher Souveränität untrennbar sind, für immer abgeschlossen! Ich bin nichts weiter als einfacher Astronom des Observatoriums von Standard-Island und will auf keinen Fall etwas andres sein! –

Einer so unzweideutigen Ablehnung gegenüber war nichts mehr zu thun, und die Deputation zieht sich zurück.

In den letzten Tagen vor dem Wahlgang erhitzen sich die Geister nur noch mehr. An Erzielung eines Einverständnisses ist nicht zu denken. Die Parteigänger Jem Tankerdon's und Nat Coverley's vermeiden es sogar, sich in den Straßen zu begegnen. Niemand geht mehr aus einer Hälfte in die andre, und weder die Steuerbord- noch die Backbordbewohner überschreiten die Erste Avenue. Milliard-City ist in zwei feindliche Städte zerfallen. Der einzige, der noch von der einen zur andern läuft, der sich abhetzt, Blut und Wasser schwitzt, sich mit [367] guten Rathschlägen erschöpft und doch von der linken wie der rechten Seite abgewiesen wird, ist der verzweifelte Oberintendant Calistus Munbar. Drei oder viermal des Tages »strandet« er dann wie ein Schiff in den Salons des Casinos, wo das Quartett ihn vergeblich zu trösten sucht.

Der Commodore Simcoë beschränkt sich auf das, was seine Pflicht ihm auferlegt. Er leitet die Propeller-Insel gemäß der festgestellten Route. Mit heiligem Abscheu vor jeder Politik wird er jeden beliebigen Gouverneur willkommen heißen. Seine Officiere, wie die des Colonel Stewart, zeigen sich der Frage, die alle Köpfe zum Zerspringen erhitzt, gegenüber ebenso uninteressiert, wie er selbst. Auf Standard-Island sind keine Pronunciamentos zu fürchten.

Der im Stadthause unablässig tagende Rath der Notabeln streitet und streitet sich in einemfort. Man läßt sich sogar zu persönlichen Angriffen verleiten. Die Polizei sieht sich zu gewissen Vorsichtsmaßregeln gezwungen, denn vor dem Stadthause drängt sich vom Morgen bis zum Abend eine lärmende Menschenmenge umher.

Obendrein verbreitet sich noch eine beklagenswerthe Neuigkeit: Walter Tankerdon hat sich gestern im Hôtel Coverley anmelden lassen und... ist nicht empfangen worden.

Den beiden Verlobten hat man untersagt, sich ferner zu sehen, und da die Eheschließung nicht vor dem Ueberfalle der Neu-Hebridier stattgefunden hat, wer möchte nun sagen, ob sie überhaupt noch stattfinden wird!

Endlich ist der 15. März herangekommen. Im großen Saale des Stadthauses soll die Wahl vor sich gehen. Eine gröhlende Menge erfüllt den Square, wie einst das römische Volk den Platz vor dem Quirinal, wenn das Conclave zu einer neuen Besetzung des Stuhles St. Petri versammelt war.

Wer wird nun aus der Wahlurne als Sieger hervorgehen? Wenn die Steuerbordbewohner Nat Coverley treu geblieben sind und die Backbordbewohner ebenso fest an Jem Tankerdon halten... was soll schließlich daraus werden?...

Der große Tag ist da. Zwischen ein und drei Uhr ist das gewohnte Leben auf Standard-Island so gut wie ausgestorben. Fünf- bis sechstausend Personen wälzen sich vor den Fenstern des Stadthauses umher. Man erwartet das Ergebniß der Abstimmung der Notabeln, die den beiden Stadthälften und den Häfen sofort telegraphisch mitgetheilt werden soll.

Um ein Uhr fünfunddreißig Minuten ist der erste Wahlgang beendigt.

Die beiden Candidaten erhalten gleichviel Stimmen.

[368] Eine Stunde später erfolgt die zweite Abstimmung.

Das Ergebniß bleibt ganz dasselbe.

Um drei Uhr fünfunddreißig Minuten erfolgt die Wahl zum dritten und letzten Male.

Auch dabei erhält kein Candidat auch nur mit einer Stimme die Majorität.

Der Rath geht auseinander und hat damit ganz recht. Bliebe er noch länger beisammen, so würden seine Mitglieder schließlich handgemein werden. Auf dem Wege über dem Square, den die Einen nach dem Hôtel Tankerdon, [369] die Andern nach dem Hôtel Coverley zu überschreiten, empfängt sie ein unheimliches Murren.


Das Quartett suchte ihn vergeblich zu trösten. (S. 368.)

Die verwirrte Situation muß doch irgendwie ein Ende nehmen, sie beeinträchtigt die Interessen Standard-Islands schon jetzt gar zu tief empfindlich.

»Unter uns gesagt, meint Pinchinat, als er und seine Kameraden das Ergebniß der drei Wahlgänge durch den Oberintendanten erfahren, meiner Ansicht nach giebt es doch ein sehr einfaches Mittel, die Sache zu ordnen.

– Welches? fragt Calistus Munbar, der die Arme verzweifelnd zum Himmel erhebt... Sprechen Sie... welches?

– Ei nun, man trennt die Insel in der Mitte, macht daraus zwei gleiche Hälften – wie aus einem Schiffszwieback – und dann fahren beide Theile, jeder mit dem Gouverneur seiner Wahl, wohin es ihnen beliebt...

– Unsre Insel zertheilen! ruft der Oberintendant, als ob Pinchinat ihm vorgeschlagen hätte, sich ein Bein amputieren zu lassen.

– Warum nicht? Mit Stemmeisen, Hammer und Schraubenschlüssel, setzt Seine Hoheit hinzu, wird sich das gar nicht so schwer ausführen lassen, und dann giebt es einfach zwei schwimmende Inseln statt der einen auf dem Stillen Ocean!«

Dieser Pinchinat kann doch niemals ernst sein, selbst nicht unter so schwierigen Verhältnissen wie jetzt.

Doch wenn sein Rath auch nicht buchstäblich befolgt werden soll, wenn man nicht zu Stemmeisen und Hammer greift, wenn keine Aufnietung längs der Achse der Ersten Avenue, von der Rammsporn- bis zur Achterbatterie vorgenommen wird, so hat sich doch im geistigen Sinne eine vollkommene Trennung vollzogen. Die Backbord- und die Steuerbordbewohner werden sich ebenso fremd werden, als wären sie durch hundert Meilen Meeresfläche von einander getrennt. Die dreißig Notabeln sind nämlich zu dem Entschlusse gekommen, getheilt unter sich abzustimmen, da jede Uebereinstimmung doch ausgeschlossen ist. Auf der einen Seite wird Tankerdon zum Gouverneur seiner Hälfte ernannt, die er nur nach seinen Eingebungen verwalten wird; auf der andern ernennt man Nat Coverley zum Gouverneur der seinigen, die dieser nach Belieben regieren wird. Jede Hälfte wird ihren Hafen, ihre Schiffe, Officiere, Seeleute, Beamten, Händler, ihr Elektricitätswerk, ihre Maschinen, Motore, Mechaniker, ihre Heizer behalten und die der andern Hälfte nicht bedürfen. Das wäre ja Alles sehr schön und gut, doch wie soll der Commodore Simcoë sich verdoppeln, was soll [370] der Oberintendant Calistus Munbar anfangen, um seinen Functionen gegen die Allgemeinheit nachzukommen?

Die Aufgaben des letzteren sind ja nicht von so einschneidender Bedeutung und seine Stellung wird in Zukunft nur noch eine Sinecure sein. Von Lustbarkeiten und Festen konnte ja nicht wohl mehr die Rede sein, solange der Bürgerkrieg Standard-Island bedroht, denn eine Wiederversöhnung erscheint ganz unmöglich.

Das geht noch aus einem Anzeichen hervor: am 17. März verkünden die Journale die endgiltige Aufhebung der Verlobung Walter Tankerdon's und der Miß Coverley.

Ja, trotz ihres Bittens und Flehens ist sie aufgehoben worden und, wenn Calistus Munbar auch eines Tages anders geurtheilt hatte, die gegenseitige Liebe ist doch nicht stärker gewesen als die Eigenliebe. Doch nein, Walter Tankerdon und Miß Dy lassen darum noch nicht von einander. Sie werden eher ihre Familien verlassen... werden sich in der Fremde verheiraten... sie werden schon ein Fleckchen finden, wo man glücklich sein kann, ohne unter so vielen Millionen halb zu ersticken.

Nach der Ernennung Jem Tankerdon's und Nat Coverley's ist an der Reiseroute Standard-Islands bisher nichts geändert worden. Der Commodore Simcoë führt es weiter nach Nordosten. Erst in der Madeleinebay angelangt, werden wahrscheinlich, dieses Zustands der Sache müde, viele Milliardeser auf dem Lande die Ruhe suchen, die ihnen das Juwel des Stillen Oceans nicht zu bieten vermochte. Vielleicht wird die Propeller-Insel gar von allen verlassen?... Dann wird man sie liquidieren, zur Versteigerung bringen, nach Gewicht wie altes Eisen verkaufen und wieder zum Einschmelzen schicken.

Jedenfalls nehmen die fünftausend noch zurückzulegenden Meilen aber fünf Monate Fahrt in Anspruch, und im Lauf dieser Zeit kann die Laune und der Starrsinn der beiden Gouverneure noch manche Störung im Gefolge haben, da sich der Geist der Empörung nun einmal in den Köpfen der Bewohner eingenistet hat. Die Backbord- und die Steuerbordbewohner können handgemein werden, vielleicht gar auf einander feuern und die stählernen Wege Milliard-Citys noch mit ihrem Blute färben.

Nun, so weit wird es hoffentlich nicht kommen. Niemand wird einen neuen Secessionskrieg, wenn auch nicht zwischen dem Norden und Süden, so doch zwischen dem Steuerbord und dem Backbord von Standard-Island, heraufbeschwören [371] wollen. Dagegen ereignet sich etwas, was die ganze Insel mit einer Katastrophe bedroht. Am Morgen des 19. März befindet sich der Commodore Simcoë in seinem Cabinet auf dem Observatorium, wo er auf die Mittheilung der ersten Höhenbeobachtung wartet. Seiner Schätzung nach kann Standard-Island nicht mehr weit von dem Theile des Meeres entfernt sein, wo es mit den Proviantschiffen zusammentreffen soll. Von der Höhe des Thurmes aus beobachten mehrere Wachposten schon den ganzen Horizont, um das erste Auftauchen jener Dampfer zu melden.

Bei dem Commodore befinden sich der König von Malecarlien, der Colonel Stewart, Sebastian Zorn, Pinchinat, Yvernes, Frascolin und eine Anzahl Officiere und Beamte – aus den Reihen derer, die man neutral nennen könnte, da sie an den innern Streitigkeiten nicht theilgenommen hatten. Für sie ist es die Hauptsache, bald in der Madeleinebay einzutreffen, wo die jetzige beklagenswerthe Sachlage ein Ende nehmen muß.

In diesem Augenblick ertönen zwei Glocken und dem Commodore werden telegraphisch zwei Befehle übermittelt. Sie kommen aus dem Stadthause, wo sich Jem Tankerdon im rechten und Nat Coverley im linken Flügel mit ihren Parteigängern aufhalten. Von da aus regieren sie Standard-Island, und so kann es nicht auffallen, daß gelegentlich einander völlig widersprechende Verordnungen ergehen.

Am nämlichen Morgen nun war bezüglich der vom Commodore Simcoë verfolgten Reiseroute – und hierüber hätten sich die beiden Gouverneure doch mindestens verständigen sollen – kein übereinstimmender Beschluß zu Stande gekommen. Der eine, Nat Coverley, verlangte, daß Standard-Island nach Nordosten weitergehen und den Gilbert-Archipel anlaufen sollte; der andre, Jem Tankerdon, der sich's nun einmal in den Kopf gesetzt hatte, neue Handelsbeziehungen anzuknüpfen, bestand auf einer Route nach Südwesten und nach der Gegend Australiens zu.

Soweit ist es nun mit den beiden Rivalen gekommen, und ihre Freunde haben geschworen, sie zu unterstützen.

»Das hab' ich schon immer gefürchtet, sagt der Commodore beim Empfang der gleichzeitig nach dem Observatorium abgegangnen Befehle.

– Und das darf im Interesse der Allgemeinheit nicht so weitergehen, fügt der König von Malecarlien hinzu.

– Wofür entscheiden Sie sich nun? fragt Frascolin.

[372] – Alle Wetter, ich bin doch begierig, wie sie manövrieren werden. Herr Simcoë! ruft Pinchinat.

– Natürlich schlecht! bemerkt Sebastian Zorn.

– Zunächst, nimmt der Commodore wieder das Wort, wollen wir Jem Tankerdon und Nat Coverley wissen lassen, daß ihre Befehle ganz unausführbar sind, da sie sich widersprechen. Uebrigens ist es vielleicht besser, daß Standard-Island hier liegen bleibt, um die erwarteten Schiffe zu treffen.«

Diese sehr richtige Antwort wird sofort nach dem Stadthause telegraphiert.

Eine Stunde verstreicht ohne eine weitere Mittheilung an das Observatorium. Wahrscheinlich haben die beiden Gouverneure darauf verzichtet, die Fahrtrichtung jeder in entgegengesetztem Sinne zu ändern.

Plötzlich macht sich am Rumpfe von Standard-Island eine eigenthümliche Bewegung fühlbar. Was bedeutet das?... Es beweist, daß Jem Tankerdon und Nat Coverley ihren Starrsinn bis zur äußersten Grenze ausgedehnt haben.

Alle anwesenden Personen sehen sich an und bilden ebensoviele Fragezeichen.

»Was ist das?... Was bedeutet das?

– Was es bedeutet? erwidert der Commodore Simcoë die Achseln zuckend. Es bedeutet, daß Jem Tankerdon directe Befehle dem M. Watson im Backbordhafen, und Nat Coverley ebenso die seinigen dem M. Somwah im Steuerbordhafen ertheilt hat. Der Eine hat angeordnet, vorwärts nach Nordosten, und der Andre, die Maschinen rückwärts arbeiten zu lassen und nach Südwesten zu fahren. Die Folge davon ist, daß Standard-Island sich auf der nämlichen Stelle nur dreht, und diese Drehung wird ebenso lange dauern, wie die Hartköpfigkeit der beiden Persönlichkeiten!

– Ei, ruft Pinchinat, da wird ja zuletzt ein Walzer daraus. Der Walzer der Dickköpfe!... Nun kann sich Athanase Dorémus zur Ruhe setzen, die Milliardeser brauchen seinen Unterricht nicht mehr!«

Diese sinnlose und, von gewissem Gesichtspunkte betrachtet, komische Lage hätte wirklich zum Lachen reizen können. Leider ist das zweifache Manöver entschieden nicht ohne Gefahr, wie der Commodore erklärt.

Unter dem Drucke seiner zehn Millionen Pferdekräfte in entgegengesetztem Sinne gezogen, riskiert Standard-Island... auseinander zu gehen.

In der That arbeiten die Maschinen und die Schrauben jetzt mit allergrößter Kraft, was man an dem Erzittern des stählernen Untergrundes erkennt.

[373] Man denke dabei nur an ein Gespann, von dem ein Pferd hierher, das andre dorthin will, und man erhält eine Vorstellung von dem, was hier vorgeht.

Mit einer sich steigernden Schnelligkeit der Bewegung rotiert Standard-Island um seine eigne senkrechte Achse, der Park und das Feld beschreiben concentrische Kreise und die an den Ufern der Insel liegenden Theile tanzen mit der Geschwindigkeit von zehn bis zwölf Meilen in der Stunde im Wasser herum.

Den Maschinisten, die durch ihre Handhabung der Maschine diese Drehbewegung hervorbringen, vernünftig zuzureden, daran ist gar nicht zu denken. Der Commodore Simcoë hat keine Autorität über sie. Sie unterliegen denselben Leidenschaften, wie die Einwohner ihrer Hälften alle, Watson und Somwah werden bis zum Ende, Maschine gegen Maschine, Dynamo gegen Dynamo, zu keiner Aenderung zu bewegen sein.

Da ereignet sich noch etwas, was schon durch seine Unannehmlichkeit die Köpfe hätte beruhigen, die Herzen weicher stimmen sollen.

In Folge der Rotation Standard-Islands werden viele Milliardeser, und vor allem Milliardeserinnen, von eigenthümlichem Schwindel befallen. In den Wohnungen leiden sie an unangenehmer Uebelkeit, vorzüglich in denen, die wegen ihrer Entfernung vom Mittelpunkte einer schnelleren »Walzer«-Bewegung ausgesetzt sind.

Yvernes, Pinchinat und Frascolin können sich gar nicht mehr enthalten zu lachen, obwohl die Situation entschieden kritisch zu werden droht. In der That steht Standard-Island jetzt nahe vor einer materiellen Trennung, die, wenn es dazu kommt, der moralischen die Wage halten dürfte.

Der arme Sebastian Zorn wird unter dem Einflusse der unablässigen Drehbewegung blaß... sehr blaß. Er »hißt seine Flagge«, wie Pinchinat sagt, und das Herz liegt ihm auf der Zunge. Soll dieser verteufelt schlechte Scherz denn gar kein Ende nehmen? Soll er gefangen bleiben auf der ungeheuern Drehscheibe, die nicht einmal die Eigenschaft hat, einem die Zukunft zu weissagen...

Eine ganze, endlos erscheinende Woche lang hat Standard-Island nicht aufgehört, sich um seinen Mittelpunkt, d. i. Milliard-City, zu bewegen. Immerwährend ist die Stadt von einer Menge Leute erfüllt, die hier Hilfe gegen ihre Uebelkeit suchen, weil die Drehung Standard-Islands in dessen Mitte am wenigsten fühlbar ist. Vergeblich haben der König von Malecarlien, der Commodore Simcoë und der Colonel Stewart versucht, bei den beiden Mächten, die sich in das Stadthaus theilen, zu intervenieren. Keiner hat seine Flagge streichen wollen. Und wenn [374] Cyrus Bikerstaff hätte wieder auferstehen können, er würde an dieser ultraamerikanischen Hartnäckigkeit gestrandet sein.

Um das Unglück voll zu machen, ist der Himmel seit acht Tagen so andauernd bewölkt gewesen, daß es ganz unmöglich war, eine Sonnenhöhe zu messen. Der Commodore Simcoë hat jedes Urtheil über die Lage Standard-Islands verloren. Durch seine mächtigen Propeller in entgegengesetztem Sinne von zwei Seiten angetrieben, fühlt man es nur bis zu den Platten seiner Untergrundkammern erzittern. Keinem Menschen ist es eingefallen, sich wieder in sein Haus zu begeben. Der Park strotzt von Leuten. Alles campiert unter freiem Himmel. Von der einen Seite schallen die Rufe: »Hurrah für Tankerdon!« – von der andern: »Hurrah für Coverley!« – Die Augen sprühen Blitze. Die Hände ballen sich zur Faust. Soll sich wirklich, jetzt, wo die Bevölkerung einem Paroxismus unsinniger Aufregung verfallen ist, noch der Bürgerkrieg mit allen seinen Greueln entfesseln?

Doch wie dem auch sei, jedenfalls wollen weder die Einen noch die Andern die näher kommende Gefahr erkennen. Niemand giebt nach, sollte das Juwel des Stillen Oceans darum auch in tausend Stücke gehen! So wird es also fortfahren, sich zu drehen bis zur Stunde, wo die Dynamos, wegen Mangel an Strom, die Propeller nicht mehr zu treiben vermögen.


Zwei Glocken ertönten in diesem Augenblicke. (S. 372.)

Inmitten dieser allgemeinen Aufregung, von der Walter Tankerdon sich nicht anstecken läßt, ist der arme junge Mann eine Beute der quälendsten Angst. Er fürchtet nicht für sich, wohl aber für Miß Dy Coverley, daß eine plötzliche Zerreißung Milliard-City vernichten könne. Seit acht Tagen schon hat er die nicht sehen können, die seine Braut gewesen ist und bereits seine Gattin hätte sein sollen. In seiner Verzweiflung hat er seinen Vater zwanzigmal angefleht, von diesem beklagenswerthen Manöver abzustehen... Jem Tankerdon hat ihn ohne ein Wort aus dem Zimmer geführt... er will nichts hören...


Die Explosion hatte alles verheert. (S. 380.)

In der Nacht vom 27. zum 28. März versucht Walter Tankerdon unter dem Schutze der Finsterniß das junge Mädchen zu treffen. Er will bei ihr sein, wenn die Katastrophe eintritt. Erst mengt er sich unter die Menschen, die die Erste Avenue erfüllen, und wagt sich dann nach der feindlichen Stadthälfte hinüber, um zum Hôtel Coverley zu gelangen.

Nicht lange vor Anbruch des Tages erschüttert eine furchtbare Explosion die Luft bis in die höchsten Schichten. Bis über die Grenze ihrer Widerstandsfähigkeit angespannt, sind die Kessel an Backbord sammt den Maschinenhäusern [375] in die Luft geflogen. Und da die Quelle der elektrischen Energie auf dieser Seite plötzlich versiegt, sieht sich die Hälfte von Standard-Island unerwartet in tiefste Finsterniß versenkt.

[376]
13. Capitel
Dreizehntes Capitel.
Ein Schlagwort Pinchinat's.

Wenn die Maschinen im Backbordhafen in Folge der Explosion der Kessel jetzt außer Gang gesetzt sind, so haben doch die im Steuerbordhafen keinen Schaden gelitten. Freilich besitzt Standard-Island damit blos noch einen einzigen [377] Mechanismus zur Fortbewegung. Auf die Schrauben der Steuerbordseite beschränkt, wird es sich zwar um sich selbst drehen, doch nicht mehr vorwärts kommen.

Die Lage hat sich hierdurch arg verschlimmert. So lange Standard-Island noch über seine beiden fungierenden Maschinen verfügte, hätte es nur des Einvernehmens zwischen der Partei Tankerdon und der Partei Coverley bedurft, um diesem Zustand der Dinge ein Ende zu machen. Die Motoren hätten wie bisher in gleichem Sinne gearbeitet und die schwimmende Insel wäre, nur mit einigen Tagen Verspätung, wieder auf dem Wege nach der Madeleinebay gewesen.

Jetzt kann davon keine Rede mehr sein. Jede Steuerung war unmöglich geworden; der Commodore Simcoë verfügt nicht mehr über die nöthige Triebkraft, aus der entfernten Meeresgegend fortzukommen.

Hätte sich Standard-Island die letzte Woche hindurch nur auf der nämlichen Stelle gehalten, so daß es die erwarteten Dampfer erreichen konnten, so wäre es vielleicht noch möglich gewesen, nach der nördlichen Erdhalbkugel zurückzugelangen....

Leider zeigt eine heute vorgenommene astronomische Beobachtung aber, daß Standard-Island während der dauernden Drehbewegung weiter nach Süden, vom zwölften bis zum siebzehnten Breitengrade hinunter, abgetrieben ist.

Zwischen der Gruppe der Neuen Hebriden und der der Fidschi-Inseln bestehen nämlich, in Folge der geringen Entfernung zwischen den beiden Archipelen, gewisse Strömungen, die nach Südosten verlaufen. So lange seine Maschinen übereinstimmend arbeiteten, konnte Standard-Island gegen diese Strömungen leicht aufkommen. Von dem Augenblicke an aber, wo es von Schwindel ergriffen wurde, verfiel es widerstandslos deren Zuge nach dem Wendekreise des Steinbocks.

Der Commodore Simcoë, der sich hierüber klar geworden ist, verhehlt vor den braven Leuten, die wir als »Neutrale« bezeichnet haben, auch keineswegs den Ernst der Sachlage.

»Wir sind um fünf Grade nach Süden verschlagen worden, erklärt er ihnen. Was nun der Führer eines Dampfers mit beschädigter Maschine noch thun kann, das bin ich an Bord von Standard-Island nicht im Stande. Unsre Insel hat keine Segel, um wenigstens den Wind benützen zu können, wir sind auf Gnade oder Ungnade den Strömungen ausgeliefert. Wohin sie uns tragen werden, weiß ich vorläufig noch nicht. Die von der Madeleinebay auslaufenden Dampfer werden uns an den verabredeten Stellen vergeblich suchen, denn dem Anscheine nach treiben wir mit der Geschwindigkeit von acht bis zehn Seemeilen in der[378] Stunde nach dem am wenigsten befahrenen Theile des Stillen Oceans hinunter.«

Mit diesen wenigen Worten schildert Ethel Simcoë die Lage der Dinge, die er nicht zu ändern vermag. Die Propeller-Insel gleicht einer ungeheuern, der Laune der Strömungen überlieferten Seetrift. Bei nördlicher Strömung wird sie nach Norden, bei südlicher nach Süden mitgenommen, vielleicht bis zur Grenze des Antarktischen Eismeers. Wenn aber...

Diese Lage der Dinge wird den Bewohnern Milliard-Citys wie den der beiden Häfen bald genug bekannt. Ueberall erweckt sie eine unsägliche Beängstigung und, was ja ganz menschlich erscheint, eine gewisse Beruhigung der erregten Gemüther gegenüber dieser neuen Gefahr. Niemand denkt mehr an Bruderkrieg, und wenn der gegenseitige Haß auch fortdauert, so ist ein gewaltthätiger Ausbruch desselben jetzt ausgeschlossen. Nach und nach kehren alle in ihre Stadthälfte, ihr Quartier, in ihr Haus zurück. Jem Tankerdon und Nat Coverley verzichten darauf, sich um den Vorrang zu streiten. Auf Vorschlag der beiden Gouverneure einigt sich der Rath der Notablen auch in dem einzig vernünftigen Beschlusse, der von dem vorliegenden Verhältnissen dictiert wird: er legt alle Gewalt in die Hand des Commodore Simcoë zurück, des einzigen Chefs, dem für die Zukunft Heil und Wohlergehen Standard-Islands anvertraut ist.

Ethel Simcoë fügt sich dieser Aufgabe ohne Zögern. Er zählt auf die Ergebenheit seiner Freunde, seiner Officiere und des gesammten Personals. Was wird er aber leisten können an Bord dieses riesigen schwimmenden Bauwerks von siebenundzwanzig Quadratkilometer Oberfläche, das, seit es nicht mehr seine beiden Maschinen hat, ganz unlenkbar geworden ist?

Wahrlich, man fühlt sich geradezu gedrängt zu sagen, daß der jetzige Zustand einer Verurtheilung Standard-Islands, das bisher als unerreichtes Meisterwerk der Schiffsbaukunst galt, gleichkommt, da es solche Unfälle zum Spielwerke von Wind und Wellen gemacht haben.

Diese Unfälle sind freilich auf keine Naturkräfte zurückzuführen, denn seit seiner Gründung hat das Juwel des Stillen Oceans alle Stürme, Orkane und Cyklone siegreich überstanden. Sie sind nur die Folge innrer Streitigkeiten, der Rivalität der Milliardeser, des traurigen Starrsinnes der Einen, nach Süden, und der Andern, nach Norden fahren zu wollen. Ihre ganz unermeßliche Thorheit ist es, die die Explosion der Kessel auf Backbord verschuldete.

[379] Doch wozu nützen jetzt Vorwürfe? Vor allem gilt es, sich über die Zerstörung am Backbordhafen und in dessen Nähe Aufklärung zu verschaffen. Die Explosion der stark überheizten Verdampfungsapparate hat alles verheert und den Tod von zwei Maschinisten und sechs Heizern obendrein herbeigeführt. Nicht geringer sind die Verwüstungen der Anlagen, worin für diese Hälfte Standard-Islands der zu so vielen Zwecken benützte elektrische Strom erzeugt wurde. Zum Glück arbeiten die Dynamos des Steuerbords ungestört weiter und wie Pinchinat bemerkt:

»Man wird sich eben mit einem Auge behelfen müssen!

– Das möchte noch angehen, sagt Frascolin darauf, wir haben aber auch ein Bein verloren und das noch vorhandne nützt nur verzweifelt wenig!«

Einäugig und hinkend zu sein, das ist ein bischen viel!

Die Besichtigung ergiebt, daß an eine Reparatur der Havarien nicht zu denken und es deshalb ausgeschlossen ist, das Abtreiben nach Süden hin aufzuhalten. Es gilt also ruhig abzuwarten, daß Standard-Island einmal wieder aus der Strömung kommt, die es jetzt nach dem Wendekreise trägt.

Weiter erscheint es nothwendig nachzusehen, in welchem Zustande sich die Einzelkammern des Unterbaues befinden, der durch die achttägige Drehbewegung doch hätte Schaden leiden können. Manche Platten konnten dadurch ja verbogen, manche Nieten gelockert worden sein. Wenn aber gar da und dort ein Leck entstanden wäre, wie sollte das wieder verschlossen werden?

Die Ingenieure unterziehen sich dieser zweiten Untersuchung. Ihre, dem Commodore Simcoë erstatteten Berichte klingen wenig beruhigend. An mehreren Stellen sind durch die dauernde Drehung Platten gesprungen und Versteifungen gebrochen. Tausende von Bolzen sind herausgetrieben und vielfache Zerreißungen entstanden. Verschiedne Kammern stehen bereits voll Wasser. Da sich die normale Schwimmlinie aber noch nicht merklich gesenkt hat, ist die Haltbarkeit des metallischen Untergrundes auch noch nicht bedroht, und die Eigenthümer von Standard-Island haben für ihr Eigenthum zunächst nichts zu fürchten. Die zahlreichsten Sprünge zeigen sich an der Achterbatterie. Vom Backbordhafen ist der eine Pier in Folge der Explosion versunken. Der Steuerbordhafen dagegen ist unversehrt, und seine Dammbauten schützen die Schiffe wie früher gegen den Wogenschlag des Meeres.

Nun ergeht der Befehl, alles was reparaturfähig ist, schleunigst wieder in den vorigen Stand zu setzen. Die Bevölkerung muß in erster Linie darüber [380] beruhigt werden, daß keine Lebensgefahr vorliegt. Es war ja schlimm genug, ja noch mehr als das, daß Standard-Island wegen Mangels seiner Backbordmotoren nicht einmal mehr nach dem nächsten Lande gesteuert werden kann. Dagegen giebt es kein Heilmittel.

Nun bleibt noch die Frage der Ernährung zu lösen übrig, die Frage, ob die greifbaren Vorräthe wohl für einen, für zwei Monate ausreichen werden.

Die durch den Commodore Simcoë veranlaßten Aufnahmen ergaben folgendes:

Was das Wasser betrifft, ist nichts zu befürchten. Trotz der Zerstörung der einen Destillieranstalt wird der nöthige Wasserbedarf durch die zweite, unversehrt gebliebne Anlage zu decken sein.

Bezüglich der festen Nahrungsmittel verhält es sich freilich nicht so günstig Alles in allem dürften sie nur vierzehn Tage lang zureichen, wenn der gewöhnliche Verbrauch der zehntausend Einwohner nicht stark beschränkt wird. Außer Früchten und Gemüsen muß ja bekanntlich alles von außen eingeführt werden.... Von außen?... Ja, wo liegt das denn? In welcher Entfernung befinden sich die nächsten Länder und wie sind sie zu erreichen?...

Trotz der voraussichtlichen unangenehmen Wirkung muß der Commodore sich doch zu einer Verordnung entschließen, die die Lieferungsmenge an Nahrungsmitteln wesentlich verkleinert. Noch an demselben Abende verbreiten die telephonischen und die telautographischen Drähte die erschrekende Nachricht.

In Milliard-City wie in den Häfen herrscht darüber die größte Bestürzung und ahnt man nur noch schwerere Katastrophen. Das Gespenst des Hungers – um ein abgenutztes, aber treffendes Bild zu gebrauchen – erhebt sich nun gewiß bald am Horizonte, da eine Erneuerung des Proviants unmöglich ist. Zum Unglück hat der Commodore Simcoë auch kein einziges Schiff zur Hand, das er nach dem Festlande Amerikas senden könnte. Ein böses Geschick hat es gewollt, daß das letzte vor drei Wochen in See ging, als es die sterblichen Ueberreste Cyrus Bikerstaff's und der bei dem Kampfe vor Erromango gefallnen Leute zur Beerdigung fortführte. Damals kam es gewiß niemand in den Sinn, daß Fragen der Eigenliebe Standard-Island in noch schlimmere Verhältnisse als die durch den Ueberfall der Neu-Hebridier versetzen könnten.

Ja, was nützt es denn, Milliarden zu besitzen, reich zu sein wie die Rothschild's, die Mackay's, Astor's, Vanderbilt's oder die Gould's, wenn kein Reichthum im Stande ist, den Hunger zu beschwören! Wohl haben diese Nabobs [381] den größten Theil ihres Vermögens in Banken der Alten und der Neuen Welt in Sicherheit gebracht, doch wer weiß, ob nicht der Tag schon nahe ist, wo sie sich auch für eine Million kein Pfund Fleisch oder Brod verschaffen können!

Die Schuld liegt dabei freilich nur an ihren sinnlosen Zänkereien, ihrer thörichten Rivalität, an ihrem Verlangen, die Gewalt in die Hände zu bekommen. Sie, die Tankerdon's und die Coverley's, sind die Urheber all dieses Unheils! Und sie mögen sich nur hüten vor den Repressalien, vor dem gerechten Zorne der Officiere, der höhern und niedern Beamten, der Händler und der ganzen Bevölkerung, die sie in so schwere Gefahr gebracht haben. Wessen werden die Bedauernswerthen fähig sein, wenn sie erst die Qualen des Hungers empfinden!

Diese Vorwürfe gelten aber nicht Walter Tankerdon und ebensowenig Miß Dy Coverley, auf die kein Tadel, der nur ihre Väter trifft, fallen kann. Nein, der junge Mann und das junge Mädchen sind nicht verantwortlich zu machen; in ihnen erblickte man ja das Band, das die Zukunft beider Stadthälften sichern sollte, und sie, sie haben das nicht zerrissen.

Im Laufe von achtundvierzig Stunden konnte wegen stets bedeckten Himmels kein Besteck gemacht und die augenblickliche Lage Standard-Islands also kaum annähernd bestimmt werden.

Am Morgen des 31. März zeigte sich der Zenith ziemlich klar und auch der mehr tief liegende seine Nebel löste sich allmählich auf. Nun durfte man hoffen, eine Sonnenhöhemessung ausführen zu können.

Alles wartet darauf mit fieberhafter Spannung. Mehrere hundert Einwohner haben sich nach der Rammspornbatterie begeben und Walter Tankerdon hat sich diesen angeschlossen. Doch weder sein Vater, noch Nat Coverley oder einer der Notabeln, die man mit Recht anklagen kann, diesen Zustand der Dinge herbeigeführt zu haben, wagen sich aus ihren Hôtels heraus, in die sie der öffentliche Unwille verbannt hat.

Kurz vor Mittag treffen die Beobachter Anstalt, die Höhe der Sonne im Augenblicke ihrer Culmination festzustellen. Zwei Sextanten, einer in den Händen des Königs von Malecarlien, der andre in denen des Commodore Simcoë, sind nach dem Himmel gerichtet.

Nach Aufnahme der Mittagshöhe nimmt man, unter Berücksichtigung der nöthigen Correctionen, die Berechnungen vor und diese ergeben


29°17 ' südliche Breite.


[382] Zwei Stunden später erhält man durch eine zweite, und unter gleich günstigen Bedingungen verlaufende Beobachtung als Resultat für die Länge


179°32' östl. von Paris.


Seit Standard-Island also eine Beute der wahnsinnigen Drehbewegung war, ist es durch Strömungen gegen tausend Meilen weit nach Südosten getrieben worden.

Nach Eintragung der genauen Lage auf der Karte erkennt man folgendes:

Die nächsten, doch immer noch gegen hundert Meilen entfernten Inseln bilden die Gruppe der Kermadeck... öde, kaum bewohnte und aller Hilfsquellen baare Felsen, und auch nach diesen konnte man sich nicht hinbewegen. Dreihundert Meilen südlicher liegt Neuseeland... Doch wie dahin gelangen, wenn die Strömung nach dem hohen Meere zu verläuft? Fünfzehnhundert Meilen im Westen befindet sich Australien, und einige tausend Meilen weit im Osten Südamerika, genauer etwa Chile. Jenseits Neuseelands breitet sich die Eiswüste des Antarktischen Polarmeeres aus. Soll es Standard-Island beschieden sein, an dessen unwirthlichen Küsten zu zerschellen? Sollten später dahinkommende Schiffer eines Tages die Ueberreste einer ganzen, vor Elend und Hunger umgekommenen Bevölkerung auffinden?

Der Commodore Simcoë ist bemüht, die Strömungen dieser Meeresgegend aufs eingehendste zu studieren. Was wird geschehen, wenn jene sich nicht ändern, wenn sie keine entgegengesetzte Strömung treffen, wenn einer der furchtbaren Stürme losbricht, die in circumpolaren Gegenden so häufig sind?

Diese Fragen sind gewiß geeignet, neue Unruhe zu erwecken. Die Geister lehnen sich mehr und mehr auf gegen die Urheber des Unglücks, gegen die Nabobs von Milliard-City, die für dessen Lage verantwortlich sind. Es bedarf des ganzen Einflusses des Königs von Malecarlien, der ganzen Energie des Commodore Simcoë und des Colonel Stewart, der ganzen Ergebenheit der Officiere und deren ganzer Autorität über die Seeleute und die Soldaten der Miliz, um eine Empörung zu verhüten.

Ohne Aenderung schleichen die Tage dahin. Jedermann hat sich bezüglich der Ernährung auf die festgesetzten Rationen beschränken müssen – die reichsten Leute ebenso gut wie die übrigen.

Der Wachdienst wird inzwischen mit peinlichster Aufmerksamkeit gehandhabt und der Horizont sorgfältig abgesucht. Wenn ein Schiff auftauchte, würde man ihm ein Signal geben, und vielleicht würde es dadurch möglich, die unterbrochnen [383] Verbindungen mit der übrigen Welt wieder herzustellen. Leider treibt die Propeller-Insel außerhalb der Schiffsstraßen und es sind immer nur sehr wenige Fahrzeuge, die die Grenzgewässer des Antarktischen Meeres kreuzen. Und da unten im Süden steigt vor dem Auge der erhitzten Phantasie das Gespenst des Poles auf, über den sich der vulcanische Lichtschein vom Erebus und vom Terror verbreitet.

In der Nacht vom 3. zum 4. April ereignete sich einmal ein glücklicher Umstand. Der seit einigen Tagen sehr heftige Nordwind flaute plötzlich ab. Es folgt ihm eine Windstille und dann springt der Wind unerwartet von Südost auf in Folge einer atmosphärischen Laune, wie sie um die Zeit der Tag- und Nachtgleichen ja so häufig sind.

Der Commodore Simcoë schöpft wieder etwas Hoffnung. Es genügt, daß Standard-Island nur etwa hundert Seemeilen nach Westen verschlagen wird, wo es dann eine Gegenströmung nach Australien oder Neuseeland führen würde. Jedenfalls ist seinem weitern Abtreiben nach dem Polarmeere zu Einhalt gethan, und damit rückt die Wahrscheinlichkeit, einem Schiffe in der Nähe der großen australasischen Länder zu begegnen, entschieden näher.

Mit Sonnenaufgang hat die Südostbrise merkbar aufgefrischt, und deutlich empfindet Standard-Island ihren Einfluß. Seine Hochbauten, das Observatorium, das Stadthaus, der Tempel und die Kathedrale bieten dem Winde immerhin einige Angriffspunkte. Sie vertreten die Stelle der Segel an Bord dieses Riesenfahrzeugs von vierhundertzweiunddreißig Millionen Tonnen.

Obwohl der Himmel von rasch dahinfliegenden Wolken gestreift ist, wird eine Ortsbestimmung, da die Sonne dann und wann durchbricht, doch vielleicht ausführbar sein.

In der That gelang es zweimal, die Höhe der Sonne zwischen den Wolken zu messen.

Die Berechnungen ergaben dann, daß Standard-Island seit gestern wieder um zwei Grad nach Norden getrieben ist.

Das ist schwerlich damit zu erklären, daß die Schrauben-Insel nur dem Drucke des Windes gefolgt wäre; es liegt vielmehr der Schluß nahe, daß sie in einen der großen Stromwirbel gerathen ist, die die Strömungen im Stillen Ocean trennen, daß sie das Glück gehabt hat, den nach Nordwesten laufenden Theil eines solchen Wirbels zu treffen und ihre Aussichten auf Rettung zu verbessern. Doch wahrhaftig, diese darf nicht mehr lange ausbleiben, denn wiederum ist es [384] [387]schon nöthig geworden, die Proviantrationen herabzusetzen. Die Vorräthe verringern sich in einem Grade, der, angesichts der Verpflichtung, zehntausend Menschen zu ernähren, sehr beunruhigend ist.

Durch die Bekanntgabe der letzten astronomischen Beobachtung an die beiden Häfen und an die Stadt vollzieht sich eine Art Beruhigung der Gemüther. Es ist ja bekannt, wie schnell die große Menge von einer Empfindung zur andern, von der Verzweiflung zur Hoffnung überspringt. Dasselbe war hier der Fall. Die Einwohnerschaft. die sich von der in die Großstädte des Festlands eingepferchten erbärmlichen Menge so sehr unterscheidet, sollte wohl der Bethörung minder unterworfen, sollte überlegender und geduldiger sein... und war das sonst auch wirklich. Bei drohender Hungersnoth ist freilich alles möglich.


Der Thurm stürzte mit Donnerkrachen zusammen. (S. 389.)

Im Laufe des Vormittags zeigt der Wind Neigung, an Stärke noch weiter zuzunehmen. Der Barometer sinkt langsam. Das Meer erhebt sich zu langen, gewaltigen Wogen, ein Beweis, daß im Südosten schwere atmosphärische Störungen geherrscht haben müssen. Das sonst unerschütterliche Standard-Island spürt jetzt die großen Niveauveränderungen des Wassers entschieden mehr. Einige Häuser gerathen in bedrohliches Schwanken und die Gegenstände darin werden von ihrem Platze verschoben, wie das bei Erdbeben vorkommt. Die den Milliardesern ganz neue Erscheinung ruft natürlich wieder große Beunruhigung hervor.

Der Commodore Simcoë und sein Personal verweilen ununterbrochen auf dem Observatorium, wo jetzt alle Dienstzweige vereinigt sind. Die Stöße, die das Gebäude erschüttern, erfüllen sie nicht minder mit Besorgniß, und sie können sich den Ernst der Lage nicht wohl verhehlen.

»Ganz zweifellos, sagt der Commodore, hat Standard-Island in seinem Unterbau gelitten. Die Einzelkammern werden sich zum Theil gelockert haben, der ganze Rumpf zeigt nicht mehr die Widerstandsfähigkeit, die ihn früher so vortheilhaft auszeichnete.

– Und Gott gebe, setzt der König von Malecarlien hinzu, daß unsre Insel keinen heftigen Sturm auszuhalten hat, sie würde ihm wohl nicht mehr widerstehen!«

Ja, jetzt hat die Einwohnerschaft das Vertrauen zu ihrem künstlichen Erdboden verloren. Sie fühlt, daß ihr der Stützpunkt unter den Füßen schwindet.. Da wäre es freilich hundertmal besser, auf den Felsen der antarktischen Länder zu stranden. Jeden Augenblick zu befürchten, daß Standard-Island sich aufthut und in den Abgründen des Stillen Oceans, deren Tiefe die Sonde noch nicht [387] überall zu messen ausreichte, versinkt... dem können auch die muthigsten Herzen nicht ohne Zagen entgegensehen.

Es kann nun gar nicht mehr bezweifelt werden, daß einzelne Abtheilungen des Unterbaues neue Havarien erlitten haben. Da haben sich gewiß Zwischenwände von einander gelöst und sind viele Nieten abgesprengt worden.

Im Parke, längs des Serpentineflusses, wie in den äußersten Straßen der Stadt bemerkt man ein unbestimmtes Auf- und Abschaukeln, das offenbar von dem sich verschiebenden Untergrunde herrührt. Schon senken sich mehrere Gebäude recht bedenklich, und wenn sie zusammenbrechen, zertrümmern sie sicherlich den Untergrund, der sie trug. An das Verstopfen entstandner Lecke ist aber gar nicht zu denken. Daß in verschiedne Abtheilungen des Untergrundes Wasser eingedrungen ist, liegt auf der Hand, denn die Schwimmlinie hat sich jetzt verändert. Fast am ganzen Umkreise, an den beiden Häfen wie an der Rammsporn- und an der Achterbatterie, ist die Propeller-Insel um etwa einen Fuß gesunken, und wenn sich das weiter fortsetzt, werden die Wellen über den Uferrand zu schlagen anfangen. Wenn das Gleichgewicht Standard-Islands aber einmal gestört ist, kann dessen gänzlicher Untergang nur noch eine Frage der Zeit sein.

Der Commodore Simcoë hätte diese Sachlage gern verheimlicht, denn sie mußte eine Panik, vielleicht noch schlimmeres hervorrufen. Wozu könnten sich die Einwohner gegen die Urheber dieses Unglücks hinreißen lassen! Sie können ja nicht, wie Passagiere eines Schiffes, ihr Heil in der Flucht suchen, sich in vorhandne Boote werfen oder ein Floß herstellen, auf das sich eine Mannschaft in der Hoffnung rettet, auf einem andern Schiffe Aufnahme zu finden. Hier war dieses Floß, nämlich Standard-Island, dem Versinken nahe.

Von Stunde zu Stunde läßt Commodore Simcoë die Veränderungen der Schwimmlinie aufzeichnen. Das Niveau Standard-Islands sinkt mehr und mehr. In die Kammern des Unterbaues dringt also offenbar langsam, doch unaufhaltsam immer mehr Wasser ein.

Die Witterungsaussichten sind daneben auch noch schlimmer geworden. Der Himmel färbt sich mit bleichem, röthlichem oder kupferrothem Scheine. Der Barometer sinkt noch immer und alles deutet auf einen nahe bevorstehenden Gewittersturm hin. Hinter den aufgehäuften Dunstmassen erscheint der Horizont so nahe gerückt, als wolle er sich um das Ufer Standard-Islands zusammenziehen.

Gegen Abend entfesseln sich schon furchtbare Windstöße. Durch die Gewalt des Seeganges, der von unten her anschlägt, krachen die Kammern, brechen die [388] Versteifungen und zerreißen die Platten. Ueberall hört man den Fortgang der Zerstörung. Die Avenuen der Stadt, die Rasenflächen des Parks drohen sich zu öffnen. Mit Anbruch der Nacht haben sich alle Bewohner aus der Stadt nach den Feldmarken geflüchtet, die, von schweren Gebäuden minder belastet, etwas größre Sicherheit bieten. Alle vertheilen sich zwischen den beiden Häfen und zwischen Rammsporn-und Achterbatterie.

Gegen neun Uhr erschüttert ein besonders starker Stoß Standard-Island bis zum Grunde. Das Elektricitätswerk des Steuerbordhafens versinkt dabei. Es wird so finster, daß man weder Himmel noch Meer mehr sehen kann.

Neue Bodenerschütterungen bringen die Gebäude gleich Kartenhäusern zum Einstürzen. Binnen wenigen Standen dürfte von den Oberbauten Standard-Islands voraussichtlich gar nichts mehr übrig sein.

»Meine Herren, beginnt der Commodore Simcoë, wir können auf dem Observatorium, das jeden Augen blick zusammenzubrechen droht, nicht länger bleiben. Wir wollen aufs Feld hinausgehen und dort das Unwetter abwarten....

– Es ist ein Cyklon, bemerkt der König von Malecarlien, sonst wäre der Barometer nicht bis auf siebenhundertdreizehn Millimeter hinabgegangen.«

In der That ist die Propeller-Insel von einem jener schrecklichen Luftwirbel gepackt worden, jener Drehstürme, die auf der südlichen Halbkugel um eine verticale Achse von Westen durch Süden nach Osten verlaufen. Ein Cyklon bringt vor allem die schrecklichsten Unfälle mit sich, und um diesen zu entgehen, muß man dessen verhältnißmäßig ruhigen Mitteltheil zu erreichen suchen. Das ist beim Mangel einer Triebkraft hier aber ganz unmöglich. Diesmal ist es nicht die menschliche Thorheit, nicht die gedankentose Starrsinnigkeit seiner Hauptpersonen, sondern ein entsetzliches Meteor, das Standard-Island seiner endlichen Zerstörung entgegenführt.

Der König von Malecarlien, der Commodore Simcoë, der Colonel Stewart, Sebastian Zorn und seine Kameraden, die Astronomen und die Officiere verlassen das Observatorium, wo sie nicht länger in Sicherheit sind. Es war die höchste Zeit; kaum sind sie zweihundert Schritte weit entfernt, da stürzt der Thurm mit Donnerkrachen zusammen, durchbricht den Boden des Square und versinkt im Abgrunde. Einen Augenblick später bilden auch die zugehörigen Bauten nur noch einen Trümmerhaufen.

Das Quartett beeilt sich, die Erste Avenue hinauszulaufen, um aus dem Casino seine Instrumente zu retten. Das Casino steht noch aufrecht; sie gelangen[389] ohne Unfall dahin, stürmen nach ihren Zimmern, holen die zwei Geigen, die Bratsche und das Violoncell, und suchen dann im Parke Zuflucht.

Hier sind mehrere tausend Personen aus beiden Stadthälften versammelt und befinden sich auch die Familien Tankerdon und Coverley, zum Glück für sie in solcher Finsterniß, daß sie einander nicht sehen, wenigstens nicht erkennen können.

Walter ist jedoch so glücklich gewesen, die Miß Dy Coverley herauszufinden. Er wird sie im Augenblicke der höchsten Noth zu retten versuchen, wird sich bemühen, mit ihr an einer Seetrift Halt zu gewinnen...

Das junge Mädchen hat es errathen, daß der junge Mann an ihrer Seite ist.

»Ach, Walter! schreit sie auf.

– Dy... meine liebste Dy... ich bleibe bei Dir!... Ich verlasse Dich nicht mehr!«

Unsre Pariser haben sich nicht von einander trennen wollen; sie halten sich dicht beisammen. Frascolin hat sein ruhiges Blut nicht verloren. Yvernes ist sehr nervös, Pinchinat ironisch resigniert Sebastian Zorn aber, neben Athanase Dorémus stehend, der sich seinen Landsleuten zugesellt hatte, sagte zu diesem:

»Nun, hatt' ich's nicht prophezeiht, daß die Sache schlecht ablaufen würde? Ja, das wußte ich im voraus!

– Genug des Tremolierens in Moll, alter Jesaias, ruft ihm Seine Hoheit zu, jetzt stimme lieber Bußpsalmen an!«

Gegen Mitternacht verdoppelt sich die Wuth des Cyklons. Der convergierende Sturm treibt ungeheure Wogen auf und schleudert sie gegen Standard-Island. Wohin wird es dieser Kampf der Elemente verschlagen?... Soll es auf einem Riff zerschellen?... Soll es auf offner See in Stücke gehen?...

Schon ist der Rumpf an tausend Stellen durchlöchert. Allerorts krachen die Verbindungsstücke. Die Monumentalbauten, der Tempel, die Sainte-Mary Church und das Stadthaus versinken durch die gähnenden Spalten, durch die das Meer hohe Wassergarben emporschnellt. Von jenen prächtigen Bauwerken bleibt keine Spur mehr zurück. Wie viele Reichthümer, Schätze, Gemälde, Statuen und Kunstgegenstände werden hier für immer vernichtet! Die Einwohner werden bei Tagesanbruch von dem stolzen Milliard-City nichts mehr sehen, vorausgesetzt, daß es für sie noch einen Tagesanbruch giebt, daß nicht alle vorher mit Standard-Island zusammen verschlungen waren.

[390] Bereits schäumt das Meer über den Park und die Felder hin, wo der Unterbau noch zusammengehalten hat. Die Schwimmlinie hat sich noch weiter gesenkt. Das Niveau der Insel steht mit dem des Meeres fast gleich und der Cyklon wälzt seine riesigen Wogen darüber hinweg.

Nirgends mehr Schutz, nirgends Zuflucht! Die vor dem Winde liegende Rammspornbatterie bietet keine Deckung weder gegen den Wasserschwall, noch gegen den Sturm, der allen wie Hagelkörner ins Gesicht schlägt. Die Einzelkammern im Grunde geben nach, mit einem Krachen, das den stärksten Donner übertäuben würde, reißt und springt alles auseinander. Die letzte Stunde ist für die Unglücklichen nahe....

Gegen drei Uhr früh zertheilt sich der Park auf eine Strecke von zwei Kilometern längs des Serpentineflusses, und das Meer braust gurgelnd durch die Oeffnung. Jetzt heißt es eiligst entfliehen, und die ganze Bevölkerung zerstreut sich über die Felder Die Einen laufen nach den Häfen. die Andern nach den Batterien. Familien kommen auseinander, Mütter suchen vergeblich ihre Kinder, während die entfesselten Wellen gleich einer Springfluth über Standard-Island hinwegrollen.

Walter Tankerdon, der Miß Dy nicht verlassen hat, will sie nach dem Steuerbordhafen hin schleppen. Er hebt die halb Bewußtlose auf, trägt sie auf den Armen fort, und dringt unaufhaltsam vor durch das Angstgeschrei der Menge, durch die furchtbare Finsterniß....

Um fünf Uhr morgens wird ein neues Reißen und Platzen in östlicher Richtung hörbar.


Einen Augenblick später bilden die Gebäude einen Trümmerhaufen. (S. 389.)
Ein Stück von einer halben Quadratmeile Umfang hat sich von Standard-Island abgelöst.
Der Steuerbordhafen ist es, der mit seinen Anlagen, Maschinen und Vorrathshäusern davontreibt.

Der Sturm treibt ungeheure Wogen auf. (S. 390).

Unter den verdoppelten Schlägen des Cyklons, der jetzt den Gipfel der Wuth erreicht hat, wird Standard-Island wie eine Seetrift umhergeworfen. Sein Rumpf zertheilt sich noch weiter... die Einzelkammern trennen sich und verschwinden, von Wasser überlastet, in der Tiefe des Oceans.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

»Nach dem Krach der Actiengesellschaft der Krach der Propeller-Insel!« ruft Pinchinat.

Das richtige Schlagwort, das die Lage trifft.

[391] Jetzt ist von dem wunderbaren Standard-Island nichts mehr übrig, als verstreute Stücke, ähnlich den sporadischen Fragmenten eines aufgelösten Kometen, die aber nicht im Luftmeere, sondern auf der Oberfläche des ungeheuern Stillen Oceans schwimmen.

[392]
14. Capitel
Vierzehntes Capitel.
Der schließliche Ausgang.

Bei Tagesanbruch hätte ein Beobachter aus einigen hundert Fuß Höhe Folgendes wahrnehmen können: drei Bruchstücke von Standard-Island, jedes zwei bis drei Hektar groß, treiben auf dem Wasser hin, noch ein Dutzend kleinre [393] schwimmen in der Entfernung von etwa zehn Kabellängen da und dort schaukelnd umher.

Mit dem ersten Morgenscheine hat der Cyklon an Macht verloren und entsprechend der ihnen eignen Geschwindigkeit dieser großen atmosphärischen Störungen hat sich sein Mittelpunkt gegen dreißig Meilen weiter nach Osten verschoben. Das furchtbar aufgeregte Meer rollt auch noch jetzt in hohen Wogen dahin, und die kleinen wie die großen Bruchstücke der Insel stampfen und schlingern gleich Schiffen im tobenden Sturm.

Der Theil Standard-Islands, der am schlimmsten gelitten hat, ist der Untergrund von Milliard-City selbst. Die Stadt ist in Folge ihrer Last gänzlich versanken. Vergebens würde man eine Spur ihrer Bauwerke suchen, der Hôtels, die die Hauptavenue der beiden Hälften geschmückt hatten. Niemals ist die Trennung der Backbord- und der Steuerbordbewohner eine so vollständige gewesen, und so wie jetzt haben sie sich diese gewiß nie vorgestellt.

Leider ist zu befürchten, daß die Katastrophe eine große Zahl von Opfern gekostet hat, obwohl die Bevölkerung sich rechtzeitig nach den Feldern mit deren widerstandsfähigeren Untergrunde geflüchtet hatte.

Nun sind die Coverley und Tankerdon von den Erfolgen ihrer sinnlosen Rivalität jedenfalls befriedigt. Keiner von ihnen wird allein die Verwaltung mehr leiten! Milliard-City ist untergegangen und mit ihm die riesige, dafür angelegte Summe. Deshalb braucht sich aber niemand besonders zu beklagen. In den Panzerschränken amerikanischer und europäischer Banken liegen für jene genug Millionen, die ihr tägliches Brod auch noch für die alten Tage sicherstellen.

Das größte Bruchstück enthält den Theil der Feldmark, der sich zwischen dem Observatorium und der Rammspornbatterie hinzog. Seine Oberfläche beträgt etwa drei Hektar, worauf die Schiffbrüchigen – sind sie nicht solche? – dreitausend an Zahl, zusammengepfercht sind.

Das etwas kleinre zweite Stück trägt noch einige erhalten gebliebne Baulichkeiten aus der Nachbarschaft des Backbordhafens, und zwar diesen selbst mit mehreren Vorrathshäusern und einem der Süßwasserbehälter. Das Elektricitätswerk mit der Maschinen- und der Heizanlage ist bei der Explosion der Kessel zerstört worden. Dieses zweite Bruchstück beherbergt zweitausend Menschen. Vielleicht können sie noch eine Verbindung mit dem ersteren herstellen, wenn nicht alle Boote des Backbordhafens verloren gegangen waren.

[394] Was den Steuerbordhafen angeht, wissen wir bereits, daß dieser Theil Standard-Islands gegen drei Uhr früh gewaltsam abgerissen worden ist. Er wurde ohne Zweifel verschlungen, denn so weit das Auge reicht, ist nichts davon zu entdecken.

Neben den genannten beiden Bruchstücken schwimmt noch ein drittes von vier bis fünf Hektar Oberfläche, das den an die Achterbatterie grenzenden Theil des Feldes umfaßt und worauf sich gegen viertausend Schiffbrüchige zusammendrängen.

Endlich tragen noch ein Dutzend andrer, nur wenige hundert Quadratmeter großer Stücke den Rest der Bevölkerung.

Das ist alles, was von dem Juwel des Stillen Oceans übrig blieb.

Die Anzahl der Opfer der Katastrophe ist wohl auf einige Hunderte zu schätzen. Und dem Himmel sei noch Dank dafür, daß Standard-Island nicht im ganzen im Wasser des Stillen Oceans unterging!

Bei ihrer großen Entfernung von jedem Lande ist nur nicht zu errathen, wie jene Bruchstücke irgendwo an ein Ufer gelangen sollen. Vielleicht gehen die Schiffbrüchigen doch noch durch Hunger zu Grunde und es ist fraglich, ob davon nur ein einziger Ueberlebender von dieser in der Meeresnekrologie ohnegleichen dastehenden Katastrophe Zeugniß ablegen kann.

Nein... nur nicht verzweifeln! Die dahintreibenden Stücke tragen energische Männer, und alles, was zu einer Rettung zu thun möglich ist, wird von ihnen zweifellos gethan werden.

Auf dem der Rammspornbatterie benachbarten Theile sind der Commodore Simcoë, der König und die Königin von Malecarlien, das Personal des Observatoriums, der Colonel Stewart, mehrere seiner Officiere, viele der Notabeln von Milliard-City, die Mitglieder der Geistlichkeit und daneben ein beträchtlicher Theil der Einwohnerschaft vereinigt.

Hier befinden sich auch die Familien Coverley und Tankerdon, sichtbar bedrückt von der schrecklichen Verantwortung, die auf ihren Familienhäuptern lastet. Und sind sie nicht schon in ihren innersten Gefühlen dadurch genug getroffen, daß Walter und Miß Dy verschwunden sind? Hat eines der andern Bruchstücke die jungen Leute aufgenommen? Ist noch eine Hoffnung vorhanden, sie jemals wiederzusehen?

Das Concert-Quartett ist vollzählig – sammt seinen Instrumenten – vorhanden. Um eine gebräuchliche Phrase anzuwenden: »Nur der Tod kann sie [395] trennen!« Frascolin betrachtet die Sachlage mit ruhigem Blute und hat noch nicht jede Hoffnung aufgegeben. Yvernes, der an allen Dingen die Besonderheiten hervorzuheben pflegt, ruft angesichts dieses Unglücks: »O, es wäre doch schwierig, ein großartigeres Ende zu ersinnen!«

Sebastian Zorn ist natürlich außer Rand und Band. Daß er der Prophet gewesen war, der das Unglück Standard-Islands, wie Jeremias den Untergang Zions, voraussagte, vermag ihm keinen Trost zu gewähren. Er hat Hunger, leidet an Frost, an Schnupfen und wird von unablässigem Stechen und Zwicken gepeinigt. Da sagt der unverbesserliche Pinchinat noch zu ihm:

»Du hast Unrecht, alter Zorn; wenn's in Dir überall rumort, giebt das schließlich auch eine Harmonie!«

Der Violoncellist würde Seine Hoheit gern erwürgen, wenn er die Kraft dazu hätte, doch die hat er zum Glück nicht mehr.

Und Calistus Munbar? – Ei, der Oberintendant ist einfach großartig... ja, himmlisch großartig! Er verzweifelt weder an der Rettung der Schiffbrüchigen, noch an der Standard-Islands. Man wird schon wieder nach Hause kommen... die Propeller-Insel wiederherstellen. Die Einzelstücke davon sind ja brauchbar, und es ist nicht ausgemacht, daß die Elemente dieses Meisterwerk maritimer Architektur bezwungen hätten.

Offenbar liegt eine weitere Gefahr jetzt nicht allzu nahe. Alles, was während des Cyklons untergehen sollte, ist mit Milliard-City, seinen Monumentalbauten, seinen Hôtels, Wohnungen, Maschinenanlagen, Batterien, kurz, mit dem ganzen, schwer lastenden Oberbau versunken. Zur Zeit befinden sich die Reste unter bessern Verhältnissen, ihre Schwimmlinie ist wieder aufgestiegen und die Wellen schlagen nicht mehr über sie hinweg.

Jetzt trat also eine gewisse Erholungspause, eine fühlbare Verbesserung ein, und da ein sofortiges Versinken nicht länger droht, heitert sich auch das Gemüth der Schiffbrüchigen ein wenig auf. Die Geister beruhigen sich. Nur die Frauen und Kinder können, vernünftiger Einsicht weniger zugänglich, den Schrecken noch immer nicht überwinden.

Was ist denn aus Athanase Dorémus geworden? Gleich bei Beginn des Zerstörungswerks hat sich der Tanz- und Anstandslehrer mit seiner alten Dienerin auf ein Trümmerstück geflüchtet. Eine Strömung hat dieses aber dem größern Fragmente zugetrieben, auf dem sich seine Landsleute vom Quartett befanden.

[396] Der Commodore Simcoë ist, unterstützt von seinem treuen Personal, wie der Kapitän eines verunglückten Schiffes, an die seiner harrende Aufgabe sofort herangetreten und hat sich zuerst gefragt, ob es möglich wäre, die einzelnen Bruchstücke irgendwie aneinander zu befestigen. Wenn das nicht angeht, ob eine Verbindung zwischen denselben möglich ist. Die letzte Frage beantwortete sich bald in bejahendem Sinne, denn im Backbordhafen finden sich noch einige unversehrte Boote vor. Schickt der Commodore diese von einem Bruchstück zum andern, so kann er hören, welche Vorräthe an Lebensmitteln und Süßwasser noch vorhanden sind.

Doch ist man auch im Stande, den Ort zu bestimmen, wo sich diese Flottille von Seetristen – der geographischen Länge und Breite nach – befindet?

Nein. Wegen Mangels an Instrumenten zur Sonnenhöhemessung kann kein Besteck mehr gemacht werden, und niemand wird sagen können, ob genannte Flottille in der Nähe eines Festlandes oder einer Insel hintreibt. Gegen neun Uhr morgens nimmt der Commodore Simcoë mit zweien seiner Officiere in einem aus dem Backbordhafen ausgelaufnen Boote Platz. Damit werden die verschiednen Bruchstücke angelaufen und eine umfassende Nachfrage ergiebt Folgendes:

Die Destillierapparate des Backbordhafens sind zerstört, eine Cisterne enthält aber noch trinkbares Wasser für etwa vierzehn Tage, wenn der Verbrauch auf das nothwendigste eingeschränkt wird. Die Vorräthe an festen Nahrungsmitteln reichen für die Schiffbrüchigen ungefähr für den gleichen Zeitraum aus.

Es ist also unbedingt nothwendig, daß alle binnen höchstens zwei Wochen auf irgendeine Küste im Stillen Ocean treffen.

Die obigen Ergebnisse sind einigermaßen beruhigend. Leider erkannte der Commodore Simcoë aber auch, daß die Sturmnacht ihnen mehrere hundert Opfer an Menschenleben gekostet hat. Der Schmerz der Familien Tankerdon und Coverley spottet jeder Beschreibung. Weder Walter noch Miß Dy hat sich auf einem der von dem Boote besuchten Bruchstücke wiedergefunden. Im Augenblick der Katastrophe war der junge Mann, mit seiner bewußtlosen Braut auf dem Arme, nach dem Steuerbordhafen geeilt, und von diesem Theile Standard-Islands ist auf der Oberfläche des Oceans nichts zurückgeblieben...

Am Nachmittage nimmt der Wind von Stunde zu Stunde ab, der Wellengang legt sich und die Bruchstücke empfinden fast gar nichts mehr von der sanfteren Bewegung des Wassers. Dank dem ermöglichten Verkehr der Boote [397] aus dem Backbordhafen kann der Commodore Simcoë die Schiffbrüchigen mit Speise und Trank soweit versorgen, daß sie wenigstens nicht vor Hunger und Durst umkommen.

Die gegenseitige Verbindung wird übrigens immer leichter und schneller. Den Gesetzen der Anziehungskraft folgend, streben die verschiednen Fragmente, wie in einer Wasserschüssel schwimmende Korkscheiben, sich einander zu nähern. Das mußte doch dem vertrauensseligen Calistus Munbar, der darin schon eine Wiederherstellung des Juwels des Stillen Oceans sehen wollte, von guter Vorbedeutung sein.

Die Nacht verläuft in tiefster Finsterniß. Die Zeit ist weit, wo die Avenuen von Milliard-City, die Straßen seiner Handelsviertel, die Rasenflächen des Parks, die Felder und die Wiesen in elektrischem Lichtglanze strahlten, wo die Aluminiummonde über ganz Standard-Island eine blendende Helligkeit verbreiteten.

Während der Dunkelheit ist es zu einigen Zusammenstößen zwischen mehreren Bruchstücken gekommen. Solche waren ja nicht zu verhüten, zum Glück sind sie aber nicht stark genug gewesen, um noch weitern Schaden anzurichten.

Bis Tagesanbruch zeigt sich, daß die Bruchstücke einander sehr nahe gerückt sind und gleichmäßig weiter treiben, ohne auf dem ruhigen Meere zu collidieren. Mit wenigen Ruderschlägen gelangt man von dem einen zum andern. Dem Commodore Simcoë fällt es deshalb leicht, den zulässigen Verbrauch an Nahrungsmitteln und Trinkwasser zu regeln. Das bleibt immer die Hauptsache, und die Schiffbrüchigen, die das einsehen, fügen sich ohne Widerspruch.

Die Boote werden auch von verschiednen Familien benützt, um Angehörige zu suchen, die sie noch nicht wiedergesehen haben. Welche Freude bei denen, die sich wiederfinden, wie verblaßt dagegen die Sorge wegen noch drohender Gefahren! Und welcher Schmerz bei denen, deren Mühen und Rufen nach den Anwesenden vergeblich bleibt!

Es ist offenbar ein sehr glücklicher Umstand, daß das Meer ganz ruhig geworden ist. Höchstens könnte man bedauern, daß auch der Südostwind nicht mehr weht. Er hätte die Strömung unterstützt, die in diesem Theile des Oceans nach der australischen Landmasse hin verläuft.

Auf Anordnung des Commodore Simcoë werden die Wachposten so vertheilt, daß sie den Horizont im ganzen Umkreise beobachten können. Wenn ein Schiff auftaucht, sollen ihm Signale gegeben werden. Solche kommen aber nur [398] selten durch diese weitab liegende Gegend, und am wenigsten in jetziger Jahreszeit, wo die Aequinoctialstürme auftreten.

Die Aussicht, eine Rauchsäule zwischen Himmel und Wasser zu entdecken, oder ein Segel, das am Horizonte hinzöge, ist also recht schwach. Und doch erhält der Commodore Simcoë am Nachmittage gegen zwei Uhr von einem der Wachposten folgende Meldung:

»Im Nordosten ist ein sich bewegender Punkt aufgetaucht, und wenn auch ein Rumpf nicht zu erkennen ist, so unterliegt es doch keinem Zweifel, daß ein Schiff seewärts von Standard-Island vorüberzieht.«

Diese Nachricht bringt eine gewaltige Aufregung hervor. Der König von Malecarlien, der Commodore Simcoë, die Officiere, die Ingenieure – alle begeben sich nach der Seite, von der aus das Fahrzeug beobachtet worden ist. Hier wird befohlen, seine Aufmerksamkeit durch Hissung von Fahnen an beliebigen Stangen zu erwecken, vielleicht auch durch gleichzeitige Schüsse aus den noch vorhandnen Feuerwaffen. Käme die Nacht heran, ohne daß diese Signale bemerkt würden, so soll auf dem vordersten Bruchstücke ein Feuer angezündet werden, und da ein solches in der Dunkelheit weithin sichtbar sein muß, ist es fast unmöglich, daß es übersehen würde.

Bis zum Abend zu warten, erwies sich als unnöthig. Die unerkennbare Masse näherte sich augenscheinlich. Darüber schwebt eine dichte Rauchwolke, und es liegt auf der Hand, daß sie auf die Ueberbleibsel von Standard-Island zusteuert.

Die Fernrohre verlieren sie nicht mehr aus dem Gesichtsfelde, obgleich ihr Rumpf die Meeresfläche nur wenig überragt und weder Maste noch Segelwerk führt.

»Liebe Freunde, rief bald darauf der Commodore Simcoë, ich täusche mich nicht!... Das ist ein Stück unsrer Insel und kann nur der Steuerbordhafen sein, der durch Strömungen verschlagen worden war. Gewiß hat M. Somwah seine Maschine wieder in Stand setzen können und kommt er nun auf uns zu!«

Freudenrufe, die mehr an Wahnsinn grenzen, begrüßen diese Erklärung. Jetzt erscheint aller Rettung gesichert. Es ist, als ob mit diesem Stück Steuerbordhafen ein lebenswichtiger Theil Standard-Islands zurückkehrte.


Die Versammlung an der Rammspornbatterie. (S. 395.)

Es ist in der That so gewesen, wie der Commodore Simcoë vermuthete. Nach seiner Loslösung war der Steuerbordhafen von einer Gegenströmung nach[399] Nordosten zurückgetragen worden. Mit Tagesanbruch hatte sich der Hafencommandant Somwah, nach Ausbesserung einiger leichten Beschädigungen seiner Maschine, bemüht, wieder nach dem Schauplatze des Schiffbruchs zu steuern, wobei er auch noch mehrere hundert Ueberlebende mitbrachte.

Drei Stunden später befindet sich der Steuerbordhafen kaum noch eine Kabellänge von der Trümmerflottille. Freudengeschrei und begeisterte Rufe schallen ihm entgegen. Walter Tankerdon und Miß Dy Coverley, die vor der Katastrophe Zuflucht darauf gefunden hatten, stehen Arm in Arm bei einander...

[400] Das Wiedererscheinen des Steuerbordhafens mit seinen Vorräthen an Lebensmitteln und Trinkwasser eröffnet nun eine wirkliche Aussicht auf Rettung. Seine Lagerhäuser enthalten hinreichende Mengen von Brennmaterial, um die Treibmaschinen, die Dynamos in Thätigkeit zu erhalten und die Propeller eine Zeit lang in Bewegung zu setzen. Die fünf Millionen Pferdekraft, worüber er verfügt, müssen ihn in den Stand setzen, das nächst gelegne Land zu erreichen.

Dieses Land ist nach der Beobachtung eines Hafenofficiers Neuseeland.

[401] Eine Schwierigkeit entsteht nur bezüglich der Unterbringung von mehreren tausend Personen auf dem Bruchstück mit dem Steuerbordhafen, das eine Oberfläche von nur sechs- bis siebentausend Quadratmetern hat. Sollte man sich gezwungen sehen, es erst fünfzig Meilen weit vorauszuschicken, um weitre Hilfe zu holen?


Die Schiffbrüchigen werden durch Boote mit Speise und Trank versehen. (S. 398.)

Nein, die Fahrt würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen, und hier sind die Stunden gezählt. Es ist wirklich kein Tag zu verlieren, wenn die Schiffbrüchigen nicht den Schrecken des Hungers preisgegeben werden sollen.

»Wir können uns besser helfen, sagt der König von Malecarlieu. Die Theilstücke vom Steuerbordhafen, von der Rammsporn- und der Achterbatterie können bequem alle Ueberlebenden von Standard-Island aufnehmen. Verbinden wir die drei Bruchstücke durch starke Ketten und reihen sie hintereinander auf, wie Flußkähne hinter einem Schlepper, dann mag der Steuerbordhafen vorausfahren und uns mittelst seiner fünf Millionen Pferdekräfte nach Neuseeland befördern!«

Dieser Rath ist vortrefflich, praktisch durchführbar und hat die beste Aussicht, zum Ziele zu führen, da der Steuerbordhafen über eine so gewaltige Triebkraft verfügt. Schon kehrte das Vertrauen in die Herzen der Bevölkerung zurück, als läge man bereits vor einem Hafen.

Der Rest des Tages wird nun zur Anbringung der schweren Ketten verwendet, die sich in den Magazinen des Steuerbordhafens vorfanden. Der Commodore Simcoë meint, daß der Schleppzug unter den gegebnen Umständen in vierundzwanzig Stunden etwa acht bis zehn Meilen vorwärts kommen könne. In fünf Tagen würde er, unter Mithilfe der Meeresströmung, also die fünfzig Meilen bis Neuseeland zurücklegen können. Jetzt ist man auch sicher, daß der Proviantvorrath so lange ausreichen wird. Aus Vorsicht und um durch eine etwaige Verspätung nicht in Gefahr zu kommen, wird die beschränkte Lieferung der Nahrungsmittel aber in voller Strenge aufrecht erhalten.

Nach Vollendung der Vorbereitungen setzt sich der Steuerbordhafen am Abend gegen sieben Uhr an die Spitze des Schleppzuges. Unter dem Antrieb seiner Schrauben kommen die beiden andern Bruchstücke hinter ihm auf dem glatten Meere langsam in Bewegung.

Bei Anbruch des nächsten Tages haben die Wachposten auch die letzten kleinen Trümmer von Standard-Island aus dem Auge verloren.

Die Tage vom 4. bis zum 8. April verlaufen ohne Zwischenfall. Das Wetter bleibt günstig, die Dünung ist kaum noch fühlbar, und die Fahrt geht unter den besten Bedingungen vor sich.

[402] Am 9. April gegen acht Uhr morgens wird vom Backbord Land in Sicht gemeldet, ein hohes Land, das schon aus großer Entfernung zu sehen ist.

Nach der Ortsbestimmung, die mittelst der im Steuerbordhafen erhalten gebliebnen Instrumente ausgeführt wurde, unterliegt es keinem Zweifel, welches Land man vor sich hat.

Es ist das Vorgebirge von Ika-Na-Mawi, der großen Nordinsel von Neuseeland.

Noch verstreichen ein Tag und eine Nacht, am Morgen des 10. April aber läuft der Steuerbordhafen eine Kabellänge vom Ufer der Ravarakibucht auf dem Grunde auf.

Wie glücklich, wie sicher fühlte sich da die ganze Einwohnerschaft, den Fuß wieder auf wirkliche Erde und nicht mehr auf den künstlichen Boden Standard-Islands setzen zu können! Und dennoch: wie lange hätte dieses solide, schwimmende Bauwerk bestehen können, wenn ihm nicht menschliche Leidenschaften, die sich mächtiger als die Winde und das Meer erwiesen, ein vorzeitiges Ende bereiteten!

Die Schiffbrüchigen werden von den Neuseeländern sehr gastlich aufgenommen und eiligst mit allem Nothwendigen versorgt.

Nach der Ankunft in Auckland, der Hauptstadt von Ika-Na-Mawi, erfolgt endlich die Trauung Walter Tankerdon's und der Miß Dy Coverley mit allem unter den gegebnen Verhältnissen möglichen Prunke. Wir bemerken hier, daß sich das Concert-Ouartett bei dieser Feierlichkeit, zu der alle Milliardeser herbeiströmen, zum letztenmale hören läßt. Das muß eine glückliche Ehe werden, nur schade, daß sie im Interesse der Allgemeinheit nicht schon früher geschlossen wurde! Freilich besitzen die Neuvermählten jedes nur noch eine lumpige Million Renten...

»Na, bemerkt Pinchinat, sie werden sich ja wohl auch unter so beschränkten Vermögensverhältnissen glücklich fühlen!«

Die Tankerdon's, die Coverley's und andre Notabeln wollen schleunigst nach Amerika zurückkehren, wo sie sich um den Gouvernementsposten einer Propeller-Insel nicht mehr zu streiten brauchen.

Denselben Entschluß fassen der Commodore Simcoë, der Colonel Stewart und deren Officiere, das Personal des Observatoriums und selbst der Oberintendant Calistus Munbar, der übrigens, was ihn betrifft, auf den Gedanken, eine neue künstliche Insel herzustellen, nicht verzichtet.

[403] Der König und die Königin von Malecarlien machen kein Hehl daraus, daß sie es bedauern, nicht, wie sie gehofft hatten, ihre Tage auf Standard-Island in Frieden beschließen zu können. Hoffen wir, daß die Ex-Souveräne ein Fleckchen Erde finden werden, wo ihr Lebensabend ohne politische Streitigkeiten verläuft.

Und das Concert-Quartett?

Nun, das Concert-Quartet hat, was Sebastian Zorn auch sagen möge, kein übles Geschäft gemacht, und wenn die Künstler Calistus Munbar zürnen wollten, von ihm gegen ihren Willen hierher gebracht worden zu sein, so wäre das die reine Undankbarkeit.

Seit dem 25. Mai des vergangnen bis zum 10. April des jetzigen Jahres sind nicht ganz elf Monate verstrichen, während unsre Künstler das sorgenloseste, herrlichste Leben geführt haben. Das Honorar für die vier Vierteljahre ihres Engagements haben sie in der Tasche; drei Viertel davon liegen sicher in der Bank von San Francisco und der von New-York, die das Geld gegen Quittung jederzeit herausgeben werden...

Nach der Hochzeitsfeier in Auckland nehmen Sebastian Zorn, Yvernes, Frascolin und Pinchinat von ihren Freunden – Athanase Dorémus nicht zu vergessen – Abschied und schiffen sich bald darauf auf einem nach San Diego bestimmten Dampfer ein.

Am 3. Mai in der Hauptstadt Nieder-Californiens angelangt, ist es ihre erste Sorge, sich durch eine Mittheilung an die dortigen Journale zu entschuldigen, daß sie ihre Zusage elf Monate vorher nicht eingehalten haben, und ihr lebhaftes Bedauern auszudrücken, daß sie so lange hätten auf sich warten lassen.

»Meine Herren, wir hätten noch zwanzig Jahre auf Sie gewartet!«

So lautet die Antwort, die ihnen von dem liebenswürdigen Director der musikalischen Soiréen in San Diego zu Theil wird.

Kann einer wohl nachsichtiger und entgegenkommender sein? Die einzige Art und Weise dankender Anerkennung für solche Höflichkeit ist die, das so lange angekündigte Concert nun wirklich zu geben.

Von einem ebenso zahlreichen, wie begeisterten Publicum ernten die dem Schiffbruche Standard-Islands entronnenen Künstler für den meisterhaften Vortrag des Quartetts in F-dur, Op. 9, von Mozart, einen der größten Erfolge ihrer bisherigen Laufbahn.

So endet die Geschichte jenes neunten Wunders der Welt, des unvergleichlichen Juwels des Stillen Oceans. Ende gut, alles gut, pflegt man ja zu [404] sagen, doch sollte es bezüglich Standard-Islands nicht richtiger: »Ende schlecht, alles schlecht!« lauten?

Das wäre dessen Ende?... O nein, über kurz oder lang wird ein neues Standard-Island erstehen... Das behauptet wenigstens Calistus Munbar.

Und doch – wir können es nicht oft genug wiederholen – heißt es nicht die dem Menschengeiste gezognen Grenzen überschreiten, wenn man eine künstliche Insel erschafft, eine Insel, die sich auf den Meeren nach Belieben fortbewegt? Ist es dem Menschen, der Wind und Wellen nicht in seiner Macht hat, nicht verboten, sich so kühn über den Schöpfer der Welt erheben zu wollen?


Ende.

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TextGrid Repository (2012). Verne, Jules. Romane. Die Propeller-Insel. Die Propeller-Insel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-7550-0