Jules Verne
Reisestipendien

1. Teil

1. Kapitel
Erstes Kapitel.
Der Wettbewerb.

»Erste Preisträger mit gleicher Punktzahl: Louis Clodion und Roger Hinsdale«, verkündete der Direktor Julian Ardagh mit lauter Stimme.

[5] Schallende Hochrufe und kräftiges Händeklatschen begrüßte die zwei ersten Sieger im Wettbewerbe. Dann nannte der Direktor, der auf einem erhöhten Platze in der Mitte des großen Hofes der Antilian School saß, von einer vor ihm liegenden Liste ablesend, noch folgende Namen:

»Zweiter Preisträger: Axel Wickborn.«

»Dritter: Albertus Leuwen.«

Eine neue Beifallskundgebung, nicht so stürmisch wie die erste, doch gleichfalls der Beweis warmer Anerkennung der Zuhörer.

Ardagh fuhr weiter fort:

»Vierter Preisträger: John Howard.«

»Fünfter: Magnus Anders.«

»Sechster: Niels Harboe.«

»Siebenter Preisträger: Hubert Perkins.«

Wiederum ertönte ein lautes Bravo und setzte sich mit zunehmender Macht in den Reihen der Anwesenden fort.

Jetzt war nur noch ein letzter Name bekannt zu geben, da bei dem vorliegenden Wettbewerb neun Sieger in Aussicht genommen waren.

Der Direktor nannte nach wieder eingetretener Ruhe auch diesen:

»Tony Renault.«

Obwohl dieser Tony Renault der letzte Preisempfänger war, geizte man ihm gegenüber doch nicht mit herzlichen Bravos und schmetternden Hips. Ein guter, munterer und gefälliger Kamerad und klarer Kopf, hatte er in der Antilian School alle Zöglinge zu Freunden.


Nach Nennung seines Namens war jeder Preisträger auf das Podium gestiegen. (S. 6.)

Nach Nennung seines Namens war jeder Preisträger auf das Podium gestiegen, um von Herrn Ardagh noch einen Händedruck zu empfangen, dann hatte er seinen Platz wieder unter den minder erfolgreichen Schulgenossen einzunehmen, die ihn aus vollem Herzen begrüßten.

Dem Leser wird die Verschiedenheit der Namen der neun Preisträger aufgefallen sein, denn schon diese wies offenbar auf die verschiedene Nationalität der betreffenden Schulbesucher hin. Sie erklärt sich aber wohl schon allein durch den Umstand, daß die von Julian Ardagh in London, Oxfordstreet 314, geleitete Anstalt unter dem merkwürdigen Namen »Antilian School« bekannt, übrigens sehr rühmlich bekannt war.

Etwa vor fünfzehn Jahren war diese Unterrichtsanstalt für die Söhne auf den Großen und Kleinen Antillen ansässiger Kolonisten gegründet worden, für [6] [11]bewerb nicht hatten teilnehmen können, da dieser nur für mindestens siebzehnjährige junge Leute offen stand.

Der Wettbewerb bezog sich nämlich nicht allein auf wissenschaftliche und literarische Fächer, sondern auch – das kann hier ja nicht auffallen – auf ethnologische, geographische und kommerzielle Fragen bezüglich des Archipels der Antillen, seiner Geschichte, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sowie seines Verhältnisses zu verschiedenen europäischen Staaten, die sich auf Grund der ersten Entdeckung dieser Inselwelt Teile davon als Kolonien angegliedert hatten.

Der Zweck des in Frage stehenden Wettbewerbs und die Vorteile, die daraus den Preisträgern zufielen, waren folgende: Die Sieger sollten ein Reisestipendium erhalten, das es ihnen ermöglichte, einmal einige Monate richtige »Forscher« zu spielen und sie in die weite Welt zu führen... eine Aussicht, die gewiß dem Herzenswunsche junger, noch nicht einundzwanzigjähriger Leute entsprach.

Neun von ihnen gestattete also der errungene Preis – zwar nicht die ganze Erde zu bereisen, wie die meisten davon gewünscht hätten, doch – irgend eine interessante Gegend der Alten und sogar vielleicht der Neuen Welt zu besuchen.

Der Gedanke, diese Reisestipendien zu begründen, war von einer reichen Antillanerin englischer Abkunft, einer Mrs. Kathlen Seymour, ausgegangen, die auf Barbados, einer der britischen Kolonien des Archipels, wohnte und deren Name vom Direktor Ardagh jetzt zum erstenmal genannt wurde.

Natürlich wurde dieser Name von allen Anwesenden mit heller Begeisterung begrüßt und das »Hip... hip... hip für Mistreß Seymour!« wollte gar kein Ende nehmen.

Hatte aber der Direktor der Antilian School den Namen der Wohltäterin bekannt gegeben, so äußerte er sich doch nicht über das Ziel der Reise, das überhaupt weder er, noch hier ein anderer kannte. Vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden hoffte man jedoch darüber klar zu sein. Der Direktor wollte das Ergebnis des Wettbewerbs telegraphisch nach Barbados mitteilen, und wahrscheinlich antwortete ihm Mrs. Kathlen Seymour durch ein Telegramm, das wenigstens angab, wohin sich die Reise der jungen Stipendiaten richten solle.

Man wird sich leicht den lebhaften Gedankenaustausch unter den Pensionären vorstellen können, die als Ziel schon die merkwürdigsten, entlegensten [11] und unbekanntesten Gebiete der Erdkugel ins Auge faßten. Je nach Temperament und Charakter ließen sie in Bezug hierauf ihrer Phantasie die Zügel schießen oder zogen diese straffer an... jedenfalls herrschte unter den Zöglingen aber ein tolles Durcheinander.

»Ich glaube immer, sagte Roger Hinsdale, ein Engländer vom Kopf bis zu den Zehen, wir werden einen Teil des britischen Kolonialreichs besuchen, das ja groß genug ist, darin wählen zu können.

– Zentralafrika wird es sein, meinte Louis Clodion, oder die berühmte Africa portentosa, wie unser würdiger Hausvater sagen würde, dort könnten wir den Fährten der großen Entdecker nachgehen.

– Nein... eine Fahrt ins Polargebiet, rief Magnus Anders, der gern den Fußspuren seines berühmten Landsmannes Nansen gefolgt wäre.

– Ich wünsche, daß Australien gewählt werde, ließ sich John Howard vernehmen. Auch nach Tasman, Dampier, Burs, Vancouver, Baudin, Dumont d'Urvil le und andern sind dort noch genug Entdeckungen zu machen, vielleicht gar neue Goldlager auszubeuten...

– O, lieber eine schöne Gegend Europas, warf dagegen Albertus Leuwen ein, dessen echter Holländercharakter keine Übertreibungen zuließ. Wer weiß, vielleicht kommt's auf einen einfachen Ausflug nach Schottland oder Irland hinaus.

– Das wäre mir! unterbrach ihn der leicht übersprudelnde Tony Renault. Ich wette, daß wir mindestens eine Fahrt um die Erde machen werden.

– Nur nicht zu hoch hinaus! äußerte der verständige Axel Wickborn. Bedenkt immer, daß uns nur sieben bis acht Wochen zu Gebote stehen, und da muß sich die Reise wohl auf benachbarte Länder beschränken.«

Er hatte recht, der junge Däne. Übrigens hätten die Familien der Schüler sich einer mehrmonatigen Reise widersetzt, die ihre Kinder immerhin gewissen Gefahren auszusetzen drohte, und auch Ardagh hätte eine so große Verantwortlichkeit schwerlich auf sich genommen.

Nachdem dann die noch unbekannten Absichten der Mrs. Kathlen Seymour lang und breit besprochen waren, erörterten die jungen Leute die Frage, in welcher Weise die Ferienreise vor sich gehen werde.

»Etwa zu Fuß, als Touristen, den Rucksack auf dem Rücken und den Stock in der Hand? fragte Hubert Perkins.

– Nein... im Wagen... in der Postkutsche! meinte Niels Harboe.

[12] – Auf der Eisenbahn, rief Albertus Leuwen, mit Rundreisebilletts unter Leitung der Agentur Cook...

– Ich glaube eher, sie wird an Bord eines Schiffes, vielleicht eines transatlantischen Dampfers ausgeführt werden, erklärte Magnus Anders, der sich schon auf dem weiten Ozeane schaukeln sah.

– Nein... im Ballon, rief Tony Renault, und geraden Wegs nach dem Nordpole!«

In dieser Weise ging das Gespräch weiter... im Grunde unnütz, doch mit dem bei jungen Leuten ja so natürlichen Eifer, und obgleich Roger Hinsdale und Louis Clodion diesem einen Dämpfer aufzusetzen suchten, wollte doch keiner der anderen seine einmal gefaßte Ansicht aufgeben.

Der Direktor mußte hier also eingreifen, nicht um die Brauseköpfe unter einen Hut zu bringen, doch um darauf hinzuweisen, daß die Zöglinge nur erst die Antwort auf sein Telegramm nach Barbados abwarten sollten.

»Nur Geduld! sagte er. Ich habe der Mistreß Kathlen Seymour die Namen der Preisträger und deren Reihenfolge mitgeteilt, sowie ihr deren Nationalität bekannt gegeben; die freigebige Dame wird uns nun schon über ihre Meinung bezüglich der Verwendung der Reisestipendien aufklären. Antwortet sie durch Kabeltelegramm, so können wir noch heute, schon nach wenigen Stunden wissen, woran wir sind. Antwortet sie brieflich, so werden wir darauf sechs bis sieben Tage zu warten haben. Und nun genug. Gehe jeder an seine Arbeit und tue er, was ihm obliegt!

– Fünf bis sechs Tage! murmelte das Satansbürschchen Tony Renault, das halte ich auf keinen Fall aus!«

Vielleicht kennzeichnete er hiermit auch ganz treffend den Gemütszustand mehrerer seiner Kameraden, wie Hubert Perkins, Niels Harboes und Axel Wickborns, die ihm an Lebhaftigkeit kaum nachgaben. Louis Clodion und Roger Hinsdale, die beiden ersten Preisträger, verhielten sich etwas ruhiger, die Schweden, Dänen und Holländer konnten sich ihres angebornen Phlegmas nicht entäußern. Hätte die Antilian School aber amerikanische Zöglinge gehabt, so wären diese es wohl kaum gewesen, die den Preis für geduldiges Abwarten davongetragen hätten.

Die Erregtheit der jungen Geister erschien ja recht erklärlich: nicht zu wissen, nach welchem Teile der Erde Mrs. Kathlen Seymour sie senden würde! Dazu kommt ferner, daß es jetzt erst Mitte Juni war, und wenn die der Reise [13] gewidmete Zeit in die Sommerferien fallen sollte, so galt es wenigstens noch sechs Wochen zu warten.

Daß das anzunehmen war, darin stimmte der Direktor Ardagh mit den Lehrern der Schule überein. Die Abwesenheit der jungen Stipendiaten würde dann nicht über zwei Monate dauern. Sie wären im Oktober zum Eintritt in die Klassen wieder zur Stelle, gewiß ebenso zur Beruhigung ihrer Angehörigen, wie zur Befriedigung des Lehrpersonals der Anstalt.

Bei der einmal festgesetzten Dauer der Ferien konnte von einer Reise in sehr entfernte Gegenden kaum die Rede sein. Die Klügsten hüteten sich auch, schon in Gedanken durch die Steppen Sibiriens, die Wüsten Zentralasiens, durch die Urwälder Afrikas oder die Pampas Amerikas zu reisen. Ohne die Alte Welt und selbst Europa zu verlassen, gab es ja außerhalb des Vereinigten Königreichs genug interessante Länder zu besuchen, wie Deutschland, Rußland, die Schweiz, Österreich, Frankreich, Italien, Spanien, Holland oder Griechenland; diese lieferten ja eine Menge wertvoller Erinnerungen für das Tagebuch eines Touristen und boten den jungen Antilianern, die meist noch als Kinder den Atlantischen Ozean gekreuzt hatten, um sich nach Europa zu begeben, eine reiche Fülle neuer Eindrücke. Selbst auf die Nachbarländer Englands beschränkt, mußte eine solche Reise ja die Ungeduld und Neugier der jungen Leute aufs höchste erregen.

Da das ersehnte Telegramm weder am ersten Tage noch an den folgenden eintraf, konnte der Direktor nur Antwort durch einen Brief erwarten, der von Barbados unter der Adresse: »Herrn Julian Ardagh, Antilian School, 314, Oxfordstreet, London, Vereinigtes Königreich Großbritannien« abgesendet sein mußte.

Hier noch eine Bemerkung zu dem Worte »Antilian«, das über dem Haupteingange der Anstalt prangte. Ohne Zweifel war es erst besonders gebildet worden. In dem Namensverzeichnis der britischen Geographie findet man die Antillen nur als »Caraïbische Inseln« angeführt. Auf den Karten des Vereinigten Königreichs wie auf denen Amerikas sind sie niemals anders bezeichnet. Caraïbische Inseln bedeutet aber doch »Inseln der Caraïben«, und das erinnert zu unangenehm an die wilden, rohen Eingeborenen der betreffenden Gruppe, an die Schlächtereien und die Menschenfresserei, die Westindien so stark entvölkerten. Sollte nun über den Prospekten der Anstalt der abstoßende Name: »Schule der Caraïben« stehen? Hätte das nicht den Gedanken [14] erweckt, daß man hier lehrte, einander umzubringen, und dazu Vorschriften zur Zubereitung von Menschenfleisch lieferte? Nein, da erschien doch »Antilian School« passender für junge, von den Antillen stammende Leute, die ja nur eine gründliche europäische Ausbildung erhalten sollten.

An Stelle einer Depesche war also ein Brief zu erwarten, wenn dieser Wettbewerb um Reisestipendien nicht gar etwa auf einen albernen Scherz hinauskam. Doch nein... zwischen Mrs. Kathlen Seymour und dem Direktor Ardagh waren schon mehrfach Briefe gewechselt worden.

Die freigebige, edle Dame war kein Luftgebilde, sie wohnte auf Barbados, man kannte sie dort seit langer Zeit und sie galt für eine der reichsten Damen der Insel.

Jetzt hieß es also nur: sich die nötige Portion Geduld anzuschaffen, jeden Morgen und jeden Abend dem Postboten aufzulauern. Selbstverständlich waren es vorzüglich die neun Preisträger, die die nach der Oxfordstreet gelegenen Fenster belagerten, um den Briefträger ja sofort zu sehen. Wenn sich dann der rote Rock – bekanntlich ist die rote Farbe am weitesten hin erkennbar – auch erst in großer Entfernung zeigte, stürmten sie gleich zu Vieren die Treppe hinunter und in den Hof, drängten sich nach dem großen Tore, riefen den Briefträger an, betäubten ihn mit ihren Fragen und es fehlte nicht viel, so hätten sie ihm gleich seine Ledertasche entrissen.

Nein... kein Brief von den Antillen... kein einziger! Da erschien es doch fast geboten, ein zweites Telegramm an Mrs. Kathlen Seymour mit der Anfrage zu senden, ob das erste richtig an seine Adresse gekommen wäre, und daneben mit dem Ersuchen, auf telegraphischem Wege Anwort zu geben.

Inzwischen erging sich die ungeduldige Jugend in den abenteuerlichsten Mutmaßungen, die unerklärliche Verzögerung zu erklären. Hatte das Paketboot, das den Postdienst zwischen den Antillen und Großbritannien vermittelt, bei einem Sturm etwa einen Unfall erlitten? War es infolge eines Zusammenstoßes etwa gar zu Grunde gegangen? War es auf eine noch unbekannte Untiefe aufgelaufen? War vielleicht ganz Barbados bei einem der in Westindien so furchtbar auftretenden Erdbeben völlig vernichtet worden? Hatte die freigebige Dame bei einem dieser schrecklichen Naturereignisse den Tod gefunden? Sollten Frankreich, Holland, Dänemark, Schweden und die Vereinigten Königreiche die schönsten Perlen ihres Kolonialbesitzes in der Neuen Welt verloren haben?...

[15] »Nein, nein, das nicht, versicherte Herr Ardagh, eine solche Katastrophe wäre schon bekannt geworden, die Zeitungen hätten darüber bereits unzählige Einzelheiten berichtet.

– Da sieht man's ja, rief Tony Renault. Nähmen die überseeischen Dampfer Brieftauben mit, so wüßte man stets, ob bei ihnen alles in Ordnung ist oder nicht!«

Sehr richtig! Jener Zeit gab es aber noch keine regelmäßige Taubenpost... zum großen Mißvergnügen der Pensionäre der Antilian School.

Dieser Zustand der Dinge konnte indes nicht lange währen. Den Lehrern gelang es nicht, die Erregung der jungen Hitzköpfe zu dämpfen. Keiner arbeitete mehr in den Klassen oder in den Studiensälen. Nicht allein die Sieger im Wettbewerbe, sondern auch deren Kameraden dachten an ganz andere Dinge als an ihre Pflichten.

Allgemein herrschte geradezu eine Überreizung, nur den Direktor brachte die Ungewißheit nicht aus seiner Ruhe. Es erschien ja ganz natürlich, daß Mrs. Kathlen Seymour nicht durch ein Telegramm geantwortet hatte, das doch kaum alles hätte sagen können. Nur ein Brief, ein ausführlicher Brief konnte die Anordnungen bekanntgeben, denen man nachzugehen hatte, konnte ankündigen, welches das Reiseziel sein sollte, unter welchen Verhältnissen die Fahrt vor sich gehen und zu welcher Zeit sie unternommen werden sollte, wie lange sie dauern werde, in welcher Weise die Kosten gedeckt werden sollten und wie hoch sich die Stipendien belaufen würden, die den neun Preisträgern zukommen sollten. Das alles erforderte wenigstens zwei bis drei Briefseiten und konnte nicht in der negrogrammatischen Sprache gesagt werden, die bei den Schwarzen der westindischen Kolonien noch im Gebrauch ist.

Alle diese völlig richtigen Bemerkungen blieben jedoch ohne Wirkung und die Unruhe in der Anstalt legte sich nicht. Die Pensionäre, die keinen Preis davongetragen hatten und auf den Erfolg ihrer Kamera den etwas neidisch waren, begannen schon diese zu hänseln, sie zu »uzen«... um hier ein Wort zu gebrauchen, das bald auch in die gute Schriftsprache übergehen dürfte. Die ganze Geschichte wäre die reine Komödie... an Reisestipendien würde kein Centime und kein Farthing herauskommen. Der Mäcen im Unterrocke, der sich Kathlen Seymour nannte, existierte überhaupt nicht. Der Wettbewerb sei nichts weiter gewesen als so ein Humbug, ein Import aus Amerika, wo dieser ja üppig ins Kraut schösse!


Diese neun Inseln sollten die neun Zöglinge gemeinschaftlich besuchen. (S. 22.)

[16][19]

Der Direktor Ardagh machte sich endlich dahin schlüssig, die Ankunft des nächsten Postdampfers in Liverpool, der die Briefschaften von den Antillen bringen mußte, ruhig abzuwarten. Das Schiff war am 23. des laufenden Monats zu erwarten. Träfe auch dann kein Brief von Mrs. Kathlen Seymour an seine Adresse ein, so wollte er eine zweite Depesche absenden.

Das wurde jedoch nicht nötig. Am 23. kam mit der Nachmittagspost ein mit »Barbados« abgestempelter Brief an. Er war von Mrs. Kathlen Seymours eigener Hand. Er enthielt, wie man vorausgesehen hatte, die Bestimmungen der Dame, und zwar dahin gehend, daß die Stipendien zu einer Reise nach den Antillen verwendet werden sollten.

2. Capitel
Zweites Capitel.
Die Gedanken der Mrs. Kathlen Seymour.

Eine Reise nach verschiedenen Inseln Westindiens hatte also die Freigebigkeit der Mrs. Kathlen Seymour den Preisträgern beschert, und diese konnten davon wohl vollkommen befriedigt sein.

Freilich hieß es nun verzichten auf weit ausgedehnte Fahrten, wie durch Afrika, Asien, Ozeanien, nach den wenig bekannten Teilen der Neuen Welt oder auf einen »Ausflug« nach dem Nord- oder Südpole.

Wenn das auch anfänglich eine leichte Enttäuschung hervorrief, wenn die jungen Leute jetzt fast noch schneller aus den Ländern ihrer Träume zurückkehren mußten, als sie sich dahin versetzt hatten, und es sich also nur um eine Fahrt nach den Antillen handelte, so war das nichtsdestoweniger eine verlockende Verwendung der bevorstehenden Ferien, und der Direktor führte den Auserwählten vom Wettbewerbe ohne Schwierigkeit vor Augen, wie viel sie damit eigentlich gewonnen hätten.

Die Antillen... das war ja aller Preisträger Vaterland. Die meisten davon hatten es als Kinder verlassen, um in Europa ausgebildet und erzogen zu werden. Kaum mochten sie den Boden der Inseln betreten haben, wo ihre [19] Wiege gestanden hatte, und vielleicht bewahrten sie in ihrem Gedächtnis daran kaum noch eine klare Erinnerung. Obwohl ihre Familien – mit Ausnahme einer einzigen – den Archipel ohne den Gedanken an eine Rückkehr dahin verlassen hatten, waren doch viele unter ihnen, die dort Verwandte oder Freunde wiederfinden mußten... kurz, alles in allem eröffnete die Reise den jungen Antilianern höchst verlockende Aussichten.

Der Leser wird das aus den persönlichen Verhältnissen der neun Preisträger selbst erkennen, denen die Reisestipendien zugefallen waren.

Nennen wir zuerst die von englischer Abkunft, die in der Antilian School überhaupt die Mehrheit bildeten.

Roger Hinsdale aus Sankta-Lucia, zwanzig Jahre alt, dessen Familie, nachdem sie sich von den Geschäften zurückgezogen hatte, in London lebte.

John Howard aus Sankt-Domingo, achtzehn Jahre, dessen Vater sich nebst seinen Angehörigen als Fabrikant in Manchester niedergelassen hatte.

Hubert Perkins aus Antigoa, siebzehn Jahre, dessen Familie, Vater, Mutter und zwei jüngere Schwestern, seine Geburtsinsel niemals verlassen haben und der nach Vollendung seiner Ausbildung dahin zurückkehren soll, um in das väterliche Handelshaus einzutreten.

Es folgen die Franzosen, die zu einem Dutzend die Antilian School besuchten:

Louis Clodion aus Guadeloupe, zwanzig Jahre alt, der Sohn einer Reederfamilie, die seit einigen Jahren in Nantes ansässig war.

Tony Renault aus Martinique, siebzehn Jahre, der älteste von den vier Kindern einer Beamtenfamilie, die in Paris wohnte.

Ferner die Dänen:

Niels Harboe aus Sankt-Thomas, neunzehn Jahre alt, der keinen Vater und keine Mutter mehr hatte und dessen um sechs Jahre älterer Bruder sich nach wie vor auf den Antillen befand.

Axel Wickborn aus Sankta-Cruz, neunzehn Jahre, dessen Familie, nach Dänemark verzogen, in Kopenhagen Holzhandel betrieb.

Die Holländer waren durch Albertus Leuwen aus Sankt-Martin vertreten, der zwanzig Jahre zählte und der einzige Sohn einer in der Nähe von Rotterdam wohnenden Familie war.

Was Magnus Anders, einen neunzehnjährigen, auf Sankt-Barthelemy gebornen Schweden betraf, so hatte sich dessen Familie neuerdings nach [20] Gothenburg in Schweden gewendet, ohne – nach Erwerbung eines hinreichenden Vermögens – auf die Rückkehr nach den Antillen zu verzichten.

Man wird zugeben, daß die Reise, die sie für einige Wochen nach ihrem Heimatlande führen sollte, den jungen Antilianern willkommen sein mußte, denn wer weiß, ob es den meisten von ihnen sonst vergönnt sein sollte, die Stätte ihrer Geburt je wiederzusehen. Nur Louis Clodion hatte einen Onkel, einen Bruder seiner Mutter, auf Guadeloupe, Niels Harboe einen Bruder auf Sankt Thomas und Hubert Perkins seine ganze Familie auf der Insel Antigoa. Ihre Kameraden waren aber durch keine Verwandtschaftsbande mehr mit den Antillen verknüpft; deren Angehörige hatten diese Inseln endgültig verlassen.

Die ältesten der Stipendiaten waren: Roger Hinsdale, ein etwas hochmütiger junger Mann; Louis Clodion, ein ernster, fleißiger, allgemein beliebter Jüngling, ferner Albertus Leuwen, dessen holländisches Blut auch die Sonne der Antillen nicht zu erwärmen vermocht hatte. Hierauf folgten: Niels Harboe, über dessen Zukunft man noch im Unklaren war, Magnus Anders, ein großer Freund von allem, was das Meer betraf, und der in die Handelsmarine einzutreten beabsichtigte, Axel Wickborn, dessen Wunsch dahin ging, im dänischen Heer zu dienen. Dem Alter nach folgte dann John Howard, der etwas weniger »englisiert« auftrat als sein Landsmann Roger Hinsdale; endlich die zwei Jüngsten: der für den Handelsstand bestimmte Hubert Perkins, und Tony Renault, dem seine Vorliebe für das Bootfahren später wohl eine gleiche für die große Schiffahrt einflößen würde.

Zunächst bestand nun noch die wichtige Frage, ob die bevorstehende Reise sich nach allen Antillen, den Großen und den Kleinen, denen Im Winde und Unter dem Winde, erstrecken sollte. Ein eingehender Besuch des gesamten Archipels hätte freilich mehr als die wenigen Wochen beansprucht, über die die Preisträger verfügen konnten. Es gibt ja tatsächlich nicht weniger als dreihundertfünfzig Inseln und Eilande in den Archipeln Westindiens, und selbst wenn es möglich gewesen wäre, davon täglich eine oder eins zu besuchen, so wäre diese höchst oberflächliche Besichtigung doch erst im Verlaufe eines Jahres auszuführen gewesen.

Nein, dahin ging die Absicht der Mrs. Kathlen Seymour nicht. Die Pensionäre der Antilian School sollten vielmehr jeder einige Tage auf seiner Heimatinsel zubringen, die Verwandten und Freunde, die sich da befanden, einmal wiedersehen und noch einmal den Fuß setzen auf den Boden ihres Vaterlandes.

[21] Nach dieser Anordnung blieb, wie man sieht, von Anfang an eine Rundfahrt über die Großen Antillen, über Cuba, Haïti, Sankt-Domingo und Portorico ausgeschaltet, da die spanischen Zöglinge der Anstalt keinen Preis errungen hatten, ebenso Jamaika, da keiner der Sieger aus dieser britischen Kolonie stammte, und die holländische, Curaçao, war aus demselben Grunde ausgeschlossen. Ferner sollten auch die unter venezolanischer Herrschaft stehenden Kleinen Antillen nicht besucht werden, weder Tortigos und Marguerite, noch Tortega und Blanquilla oder Ordeilla und Havas. Die einzigen, für einen Besuch der Stipendiaten in Aussicht genommenen Inseln Mikro-Antiliens waren also Sankta-Lucia, Domingo, Antigoa (lauter englische), Guadeloupe und Martinique (französische), Sankt-Thomas und Santa-Cruz (dänische Inseln) Sankt Barthelemy (eine schwedische) und Saint Martin (eine zur Hälfte holländische und zur Hälfte französische Insel).

Diese neun Inseln, alle zu denen Im Winde gehörig, sollten also die neun Zöglinge der Antilian School eine nach der andern gemeinschaftlich besuchen.

Es wird nicht wundernehmen, daß auch noch eine zehnte Insel ins Auge gefaßt war, die ohne Zweifel den längsten und bestbegründeten Besuch verdiente.

Das war die ebenfalls zur Gruppe derer Im Winde gehörige Insel Barbados, eine der wichtigsten von dem Kolonialgebiete, die das Vereinigte Königreich in jener Gegend besitzt.

Dort wohnte ja Mrs. Kathlen Seymour, und es verstand sich wohl allein, daß die von ihr beschenkten jungen Leute sich der Dame vorstellten, um dieser ihren Dank abzustatten.

Ebenso kann man sich leicht vorstellen, daß die Zöglinge der Antilian School, wenn es die freigebige Engländerin danach verlangte, die neun Preisgekrönten zu empfangen, daß diese nicht minder den Wunsch hegten, die reiche Eingeborne von Barbados kennen zu lernen und ihr für das, was diese für sie getan hatte, herzlich zu danken.

Sie würden das auch nicht zu bereuen haben, denn eine Nachschrift in dem Briefe an den Direktor zeigte, wie weit die Opferfreudigkeit der Mrs Kathlen Seymour reichte.

Außer den Kosten, die die Fahrt selbst verursachte und die sie vollständig auf sich nahm, sollte jedem der jungen Leute bei der Abreise von Barbados noch die Summe von siebenhundert Pfund (14.000 Mark) eingehändigt werden.

[22] Nun bestand noch die weitere Frage, ob die Zeit der Ferien ausreichen würde. Ja, unter der Bedingung, daß man für die Sieger im Wettbewerbe die Ferienzeit einen Monat eher als regelmäßig beginnen ließ, was dann noch den Vorteil bot, daß Hin- und Rückfahrt über den Atlantischen Ozean in die schöne Jahreszeit fielen.

Diese Bedingung konnte man ja mit Freuden annehmen, ja das geschah sogar mit reiner Begeisterung. Es war dann auch nicht zu befürchten, daß die Angehörigen der Schüler Einspruch gegen eine so angenehme und in jeder Hinsicht vorteilhafte Reise erhöben. Sieben bis acht Wochen, das war der Zeitraum, auf den man unter Berücksichtigung gelegentlicher Verzögerungen rechnen mußte, und dann trafen die jungen Stipendiaten in Europa wieder ein, voller unvergeßlicher Erinnerungen an die ihnen so teuern Inseln der Neuen Welt.

Endlich war noch eine Angelegenheit zu ordnen, über die die Familien der jungen Leute aber bald beruhigende Aufklärung erhalten sollten.

Es betraf die Frage, ob man die Preisträger, von denen auch der älteste das zwanzigste Lebensjahr noch nicht überschritten hatte, sich völlig selbst überlassen sollte oder ob nicht die Hand eines erfahrenen Leiters nötig wäre, sie in Zaum und Zügel zu halten. Wenn sie den, verschiedenen europäischen Staaten gehörigen Archipel besuchten, konnte es ja leicht zu Eifersüchteleien und Reibungen kommen, sobald sich eine Nationalitätsfrage erhob. Würden sie dann immer daran denken, daß sie alle antillanischer Abkunft und Pensionäre derselben Bildungsanstalt wären, wenn der kluge und einsichtige Direktor Ardagh das Regiment nicht mehr führte?

An derartige Schwierigkeiten dachte der Spiritus rector der Antilian School mit einiger Sorge, und da es ihm nicht möglich war, seine Zöglinge zu begleiten, legte er sich die Frage vor, wer in dieser heiklen Sache wohl seine Stelle vertreten könnte.

Das war übrigens eine Seite der Frage, die auch der sehr praktisch veranlagten Mrs. Kathlen Seymour nicht entgangen war. Es wird sich bald zeigen, wie sie dieser gerecht geworden war, denn die verständige Dame hätte es nie zugelassen, daß die jungen Leute während der Reise ohne jede Aufsicht blieben.

Wie sollte nun die Fahrt über den Ozean vor sich gehen?... Vielleicht an Bord eines der Paketboote, die den regelmäßigen Verkehr zwischen England [23] und den Antillen vermitteln? Sollten da Plätze besorgt, eine Kabine für jeden der neun Preisträger belegt werden?... Wir wiederholen, daß sie ja nicht auf eigene Kosten reisen sollten, daß keinerlei Auslage auf die siebenhundert Pfund, die ihnen versprochen waren, wenn sie Barbados zur Rückkehr nach Europa verließen, angerechnet werden durften.

In dem Briefe der Mrs. Kathlen Seymour befand sich nun ein längerer Satz, der diese Frage, und zwar mit folgenden Worten löste:

»Die Überführung über den Ozean wird auf meine Unkosten. erfolgen. Ein für die Fahrt nach den Antillen gemietetes Schiff wird die Passagiere im Hafen von Cork, Queenstown, Irland, erwarten. Dieses Schiff ist der »Alert«, Kapitän Paxton, und wird bereit liegen, an dem für die Abfahrt bestimmten Tage in See zu gehen. Das soll am 30. Juni sein. Der Kapitän Paxton rechnet darauf, seine Reisegesellschaft an diesem Datum an Bord zu sehen, und er wird sofort nach deren Eintreffen die Anker lichten.«

Die jungen Leute sollten also, wenn auch nicht als Fürstensöhne, so doch als vornehme Jachtmen reisen. Sie hatten ein eigenes Schiff zur Verfügung, das sie nach Westindien bringen und nach Europa zurückbefördern sollte. Wahrlich, Mrs. Kathlen Seymour machte ihre Sache gut! Sie sorgte einfach für alles, die westindisch britische Mäcenin! Ja, wenn die steinreichen Leute ihre Millionen immer für so gute Werke verwendeten, dann könnte man ihnen nur Glück wünschen, deren so viele und womöglich noch mehr zu besitzen.

In der kleinen Welt der Antilian School kam es nun, als es bekannt geworden war, unter welch angenehmen Verhältnissen die Reise erfolgen sollte, freilich dahin, daß die schon früher von ihren Kameraden beneideten Preisträger nur noch mehr beneidet wurden.

Diese selbst waren dagegen rein entzückt. Die Wirklichkeit erreichte den Gipfel ihrer Träume: Nach Durchkreuzung des Ozeans würden sie die Hauptinseln des antillanischen Archipels besuchen.

»Und wann geht's nun fort? fragten sie.

– Morgen...

– Nein, noch heute...

– Nein doch, wir haben noch sechs Tage bis dahin, erklärten die verständigsten.

– Ach, wären wir doch auf dem »Alert« schon eingeschifft! rief Magnus Anders.


Patterson hatte seine Überraschung bei diesen Worten nicht verhehlen können. (S. 30.)

– Auf unserm, unserm Schiffe!« fügte Tony Renault hinzu.

Keiner der Zöglinge dachte daran, daß eine solche [24] überseeische Reise doch mancherlei Vorbereitungen erforderte.

Zunächst mußten die Eltern darum befragt und deren Zustimmung eingeholt werden, da es sich darum handelte, die Preisträger zwar nicht in die andre, aber doch in die Neue Welt zu senden. Julian Ardagh hatte sich also zu bemühen, diese Vorfrage zu erledigen. Außerdem machte der auf dritthalb Monate berechnete Ausflug doch auch gewisse Anschaffungen nötig, wie geeignete [25] Kleidung, vorzüglich eine Ausrüstung für die Seefahrt: tüchtiges Schuhwerk, Überröcke, Wachsleinwandmützen, sogenannte Südwester, kurz alles, was der Seemann gelegentlich braucht.

Dann mußte der Direktor die Vertrauensperson wählen, der die Verantwortlichkeit für die jungen Leute obliegen sollte. Zugegeben, daß sie groß genug waren, sich allein in allem zurecht zu finden, und auch verständig genug, eines Führers und Aufsehers entbehren zu können... immerhin erschien es geratener, ihnen einen Mentor mitzugeben, dem sie sich zu fügen hatten. Das war wenigstens die in ihrem Schreiben ausgesprochene Ansicht der Mrs. Kathlen Seymour, und dieser mußte jedenfalls Rechnung getragen werden.

Es versteht sich von selbst, daß die Familien der Schüler dringend ersucht wurden, dem Reiseplane zuzustimmen, den Ardagh ihnen schriftlich entwickelte. Von den jungen Leuten sollten ja mehrere auf den Antillen nähere oder entferntere Angehörige wiederfinden, die sie seit einer Reihe von Jahren nicht gesehen hatten, z. B. Hubert Perkins auf Antigoa, Louis Clodion auf Guadeloupe und Niels Harboe auf Sankt-Thomas. Jetzt bot sich ja, und obendrein unter ausnehmend günstigen Verhältnissen, eine unerwartete Gelegenheit zu einem Wiedersehen.

Die Familien waren vom Direktor Ardagh übrigens immer auf dem Laufenden erhalten worden. Sie wußten schon, daß in der Antilian School unter den Pensionären ein Wettbewerb um Reisestipendien veranstaltet worden war. Vernahmen sie dann, nach Verkündigung des Ergebnisses, daß die Preisträger Westindien besuchen sollten, so glaubte der Direktor annehmen zu dürfen, daß das deren eigenem sehnlichen Wunsche entsprechen werde.

Inzwischen dachte Ardagh über die ihm zufallende Wahl eines Führers nach, der an der Spitze der wandernden Klasse stehen sollte, eines Mentors, dessen weise Ratschläge die Harmonie unter den noch etwas »grünen« Telemachs zu erhalten verspräche. Das bereitete ihm jedoch keine geringe Verlegenheit. Sollte er sich etwa an den Lehrer der Antilian School wenden, der am geeignetsten erschien, in diesem Falle allen Anforderungen zu entsprechen? – Das Schuljahr war aber noch nicht zu Ende. Vor den Ferien durfte der Unterricht auf keinen Fall unterbrochen werden, das Lehrerkollegium mußte also beisammen bleiben.

Aus gleichem Grunde glaubte auch Ardagh, die neun Preisträger nicht selbst begleiten zu können. Seine Anwesenheit war in den letzten Monaten des[26] Schuljahrs unbedingt erforderlich, er mußte personlich die für den 7. August festgesetzten Prüfungen und die Zensur- und Prämienverteilung leiten.

Die Lehrer und er selbst kamen also nicht in Frage, dagegen hatte er gerade einen Mann, wie er ihn brauchte, an der Hand, einen durchweg ernsten und gediegenen Mann, der seine Aufgabe gewissenhaft erfüllen würde, der das vollste Vertrauen verdiente, allgemein beliebt war und den die jungen Reisenden gern als Mentor annehmen würden.

Nun fragte es sich freilich, ob die betreffende Persönlichkeit ein solches Angebot annehmen, ob der Mann zustimmen würde, diese Reise zu unternehmen, und ob es ihm paßte, sich übers Weltmeer hinauszuwagen.

Am 24. Juni, fünf Tage vor der für die Abfahrt des »Alert« bestimmten Zeit, ließ der Direktor Ardagh zeitig am Vormittage Herrn Patterson wegen einer wichtigen Mitteilung zu sich rufen.

Patterson, der Verwalter der Antilian School, war wie gewöhnlich damit beschäftigt, die Abrechnung vom letztvergangenen Tage abzuschließen, als er zu dem Leiter der Anstalt entboten wurde.

Patterson schob sich die Brille auf die Stirne und antwortete dem an der Tür wartenden Schuldiener:

»Ich werde keinen Augenblick säumen, dem Rufe des Herrn Direktors zu folgen.«

Dann ergriff er, die Brille wieder auf die Nase bringend, seine Feder, um den untern Halbbogen einer 9 zu vollenden, die er eben der Ziffernreihe der Ausgaben in seinem Hauptbuche anfügen wollte. Mit Hilfe seines Ebenholzlineals zog er hierauf einen Strich unter die Zahlenreihe, deren Zusammenrechnung er eben vollendet hatte. Ferner spritzte er die Feder mehrmals leicht über dem Tintenfasse aus, tauchte sie wiederholt in ein kleines Gefäß mit feinem Schrote und trocknete sie endlich mit größter Sorgsamkeit ab. Dann legte er sie neben das Lineal auf sein Pult, drehte den Auslauf des Schreibzeugs nach oben, um die Tinte darin wieder zurücklaufen zu lassen, legte ein sauberes Löschblatt auf die Seite mit den Ausgabeposten, wobei er sorgsam darauf achtete, den frischen Schwanz der 9 nicht zu verwischen, und legte das geschlossene Buch in das dafür bestimmte Fach im Bureau. Endlich kamen Radiermesser, Bleistift und Radiergummi wieder in ihren Behälter, er blies noch über seine. Schreibunterlage hin, um einige Staubkörnchen davon zu entfernen, erhob sich, indem er seinen runden Ledersessel zurückschob, zog die Schreibärmel ab und hängte sie [27] in der Nähe des Kamins auf und bürstete auch Rock, Weste und Beinkleider sorgfältig ab. Jetzt ergriff er den Hut, strich mit dem Ellbogen darüber, um seinen Glanz zu erneuern, setzte ihn auf und legte die schwarzen Glacéhandschuhe an, als gälte es, einer hochstehenden Person von der Universität einen Staatsbesuch zu machen. Nun noch einen letzten Blick in den Spiegel, um sich zu überzeugen, daß seine Toilette ganz tadellos sei – dabei ergriff er noch eine Schere, um einige unvorschriftsmäßig lange Haare des Backenbartes zu kürzen – dann untersuchte er noch, ob Taschentuch und Portemonnaie richtig in der Tasche wären, öffnete schließlich die Tür seines Kabinetts, überschritt deren Schwelle und verschloß sie wieder sorgsam mit einem der siebzehn Schlüssel, die an seinem Schlüsselbunde klirrten. Hierauf stieg er die nach dem großen Hofe führende Treppe hinunter, überschritt den Raum langsam und gemessen in schräger Richtung und auf das besondere Gebäude zu, worin die Wohnung und das Amtszimmer des Direktors lagen. Vor dessen Tür machte er Halt, drückte auf den elektrischen Knopf, daß die schrille Klingel im Innern ertönte, und wartete geduldig des Weitern.

Jetzt legte sich Patterson, mit dem Zeigefinger auf der Stirn, die Frage vor:

»Was mag der Herr Direktor mir nur zu sagen haben?«

Dem würdigen Herrn Patterson, der den verschiedensten Mutmaßungen nachhing, mußte zu dieser Morgenstunde die Einladung, sich nach dem Zimmer des Herrn Adagh zu begeben, entschieden auffallend erscheinen.

Man bedenke nur: Die Uhr des Herrn Patterson zeigte erst neun Uhr siebenundvierzig Minuten, und auf den vortrefflichen Chronometer, der noch keine volle Sekunde des Tages von der richtigen Zeit abwich und in seiner Regelmäßigkeit mit der des Eigentümers wetteiferte, auf den konnte man sich ruhig verlassen. Niemals... nein, niemals begab sich Patterson vor elf Uhr dreiundvierzig Minuten zu Herrn Ardagh, um diesem über die ökonomische Lage der Antilian School Bericht zu erstatten, und es war ohne Beispiel, daß er sich nicht zwischen der zwei- und der dreiundvierzigsten Minute bei Ardagh eingestellt hätte.

Patterson mußte also vermuten und vermutete auch wirklich, daß heute ein ganz besonderer Grund für diese Abweichung vorliegen müsse, da der Direktor nach ihm verlangte, bevor er die Bilanz zwischen Einnahmen und Ausgaben des vorigen Tages abgeschlossen hatte. Das würde er natürlich nachher tun, und man konnte getrost darauf rechnen, daß sich dabei trotz der ungewöhnlichen Störung kein Fehler einschlich.

[28] Die Tür öffnete sich durch einen Zug an der Kette aus dem Stübchen des Hausmanns. Patterson machte einige Schritte – wie gewöhnlich deren fünf – über den Vorraum und klopfte leise an die Füllung der zweiten Tür, über der die Worte »Zimmer des Direktors« zu lesen waren.

»Herein!« ertönte es sofort von innen.

Patterson nahm seinen Hut ab, schüttelte einige Staubkörnchen von den Stiefeln, strich die Handschuhe glatt und betrat das Innere des Zimmers, das vom Hof aus durch zwei Fenster mit halb herabgelassenen Gardinen erhellt wurde.

Der Direktor Ardagh saß, verschiedene Papiere vor sich, an seinem Schreibtische, der mehrere elektrische Druckknöpfe zeigte. Er erhob den Kopf und machte gegen den Verwalter eine einladende Handbewegung.

»Sie haben mich hierher rufen lassen, Herr Direktor? begann Patterson.

– Ja, Herr Verwalter, und zwar zur Besprechung einer Angelegenheit, die Sie sehr persönlich angeht.«

Damit wies er nach einem Stuhle in der Nähe des Schreibtisches.

»Nehmen Sie gefälligst Platz,« sagte er.

Patterson setzte sich, nachdem er umständlich die langen Schöße seines Rockes aufgehoben hatte. Er legte dann die eine Hand aufs Knie und hielt mit der andern den Hut vor die Brust.

Ardagh eröffnete nun das Gespräch.

»Sie kennen ja, Herr Verwalter, das Ergebnis des unter unseren Pensionären veranstalteten Wettbewerbs zur Gewinnung von Reisestipendien.

– Gewiß, Herr Direktor, antwortete Patterson, und ich meine, das edelmütige Angebot einer unserer kolonialen Landsmänninnen gereicht der Antilian School zu hoher Ehre.«

Patterson sprach stets gemessen, hob die Silben der von ihm gebrauchten Wörter einzeln scharf hervor und betonte die Worte, die über seine Lippen kamen, stets mit einer gewissen Ziererei.

»Sie wissen auch, fuhr Ardagh fort, in welcher Weise die Reisestipendien Verwendung finden sollen?

– Ja freilich, Herr Direktor, bestätigte Patterson, der, sich verneigend, mit seinem Hute irgend eine Person jenseits des Ozeans zu begrüßen schien. Ich glaube, es dürfte schwierig sein, ererbte oder durch eigene Anstrengung erworbene Schätze besser zu verwenden wie hier zu Gunsten junger Menschen, denen die[29] Sehnsucht nach der Ferne aus den Augen leuchtet. Mrs. Kathlen Seymour ist eine Dame, deren Name noch in später Zukunft rühmend genannt werden wird.

– Sie sprechen mir aus der Seele, Herr Verwalter. Doch... kommen mir zum Kern der Sache. Es ist Ihnen natürlich ebenso bekannt, unter welchen Verhältnissen die Reise nach den Antillen vor sich gehen soll?

– Ich bin darüber unterrichtet, Herr Direktor. Ein Schiff erwartet unsere jungen Reisenden, und ich hoffe, diese werden Neptun nicht anzuflehen haben, daß er den tobenden Wogen des Atlantischen Meeres sein Quos ego zurufe.

– Das hoffe ich ebenfalls, Herr Patterson, da ja die Hin- und die Rückfahrt in der schönen Jahreszeit erfolgen soll.

– Jawohl, bemerkte dazu der Verwalter, Juli und August sind ja die Monate, wo die launische Thetis mit Vorliebe ausruht...

– Und diese Reise, fiel Ardagh ein, wird für meine Preisträger nicht weniger angenehm sein, als für die Person, die sie dabei begleiten wird.

– Eine Person, sagte Patterson salbungsvoll, der die ehrenvolle Aufgabe zufallen wird, Mrs. Kathlen Seymour die tiefempfundene Ehrerbietung und die unverlöschliche Dankbarkeit der Pensionäre der Antilian School zu entbieten.

– O, ich bedaure wirklich lebhaft, äußerte dazu der Direktor, daß ich nicht selbst diese Person sein kann. Am Ende des Schuljahres und angesichts der Prüfungen, denen ich beiwohnen muß, ist mein Fernsein aber unmöglich.

– Freilich... leider unmöglich, Herr Direktor, stimmte der Verwalter ein, der aber – wer es auch sei – ist zu beneiden, der deshalb an Ihre Stelle treten wird.

– Gewiß, mich bedrückt hierbei nur die Qual der Wahl. Ich brauche einen erfahrenen Mann, auf den ich mich unter allen Umständen verlassen kann und der auch ohne Widerspruch den Familien unserer jungen Stipendiaten angenehm ist. Jetzt habe ich diesen Mann aber unter dem Personal der Anstalt gefunden...

– Ohne Zweifel in einem der wissenschaftlichen oder technischen Lehrer...

– Nein, es kann nicht davon die Rede sein, den Unterricht vor den Ferien zu unterbrechen. Eine solche Unterbrechung erschien mir minder folgenschwer in der Finanzverwaltung der Schule, und deshalb, Herr Verwalter, ist meine Wahl, die jungen Leute nach den Antillen zu begleiten, auf Sie gefallen.«

Patterson hatte seine Überraschung bei diesen Worten nicht verhehlen können. Er erhob sich seiner ganzen Länge nach und schob die Brille nach der Stirn.

[30] »Ich... Herr Vorsteher? rief er etwas befangenen Tones.

– Jawohl, Sie, Herr Verwalter, denn ich bin überzeugt, daß das Rechnungswesen während der Reise der Stipendiaten dann ebenso geordnet geführt werden wird, wie von jeher das der Schule.«

Mit einem Zipfel seines Taschentuchs wischte Patterson bedächtig die etwas angelaufenen Gläser seiner Brille ab.

»Ich bemerke Ihnen noch, setzte Ardagh hinzu, daß dem Mentor – dank der Hochherzigkeit der Mistreß Kathlen Seymour – dem Mentor, dem diese wichtige und allerdings verantwortungsreiche Aufgabe zufällt, ebenfalls ein Preis von siebenhundert Pfund Sterling zugesichert ist. Ich ersuche Sie also, Herr Patterson, sich binnen fünf Tagen zur Abreise bereit zu halten«

3. Kapitel
Drittes Kapitel.
Herr und Frau Patterson.

Horatio Patterson nahm die Stelle des Verwalters der Antilian School erst ein, seit er den Lehrerberuf aufgegeben und sich einer Art Beamtenlaufbahn zugewendet hatte. Er war ein vortrefflicher Lateiner, obwohl in England die Sprache Ciceros und Virgils sonst nicht die Beachtung erfährt, die ihr in Frankreich zu teil wird, wo sie in Universitätskreisen einen hohen Rang einnimmt. Bei der französischen Rasse kommt freilich in Betracht, daß sie lateinischen Ursprungs ist, was für die Söhne Albions ja nicht zutrifft, und deshalb kann sich in diesem Lande die Sprache Roms kaum gegenüber dem Ansturm der neueren Sprachen behaupten.

Doch wenn Herr Patterson sie auch nicht mehr lehrte, so blieb er im Grunde seines Herzens doch den Meistern des von ihm verehrten römischen Altertums unverbrüchlich treu. Während er jedoch viele Aussprüche von Virgil. Ovid und Horaz für sich wiederholte, widmete er der Verwaltung der Antilian School seine Veranlagung zu einem zuverlässigen, methodischen Rechner. Mit der peinlichen – fast kleinlichen – Ordnungsliebe, die ihn auszeichnete, [31] machte er den Eindruck eines Muster-Verwalters, dem alle Geheimnisse des »Soll und Habens« geläufig sind und der die geringsten Einzelheiten der Buchführung kennt. War er in früherer Zeit in den Prüfungen in alten Sprachen prämiiert worden, so hätte er das jetzt bei einem Wettbewerb in der Buchführung oder in der Aufstellung eines Schulbudgets gewiß nicht weniger verdient.

Höchst wahrscheinlich fiel Herrn Horatio Patterson auch die Direktion der Anstalt zu, sobald Herr Ardagh sich, nach Erwerbung eines genügenden Vermögens, davon zurückzog, denn die Antilian School war jetzt im besten Gedeihen und sie verblieb es jedenfalls auch unter den Händen, die so würdig waren, die wertvolle Erbschaft anzutreten.

Horatio Patterson hatte jetzt seit einigen Monaten das vierzigste Lebensjahr überschritten. Mehr ein Mann der Studien als des Sports, erfreute er sich doch einer vortrefflichen Gesundheit, die er niemals durch irgendwelche Exzesse erschüttert hatte: er hatte einen guten Magen, ein regelmäßig arbeitendes Herz und Atmungsorgane ersten Ranges. Eine rücksichtsvolle, eher etwas verschlossene Natur, kam er nie aus dem seelischen Gleichgewicht, hatte es stets verstanden, sich weder durch Taten noch durch Worte zu kompromittieren, und war bei seiner gleichzeitig theoretischen und praktischen Lebensweisheit gar nicht im stande, jemand zu nahe zu treten. Das machte ihn auch höchst duldsam gegen andere... kurz, um eine ihm jedenfalls zusagende Bezeichnung anzuwenden: er war sui compos im höchsten Grade.

Etwas über mittelgroß, doch schmächtig und mit ein wenig abfallenden Schultern, war Horatio Patterson in seinem Auftreten ziemlich linkisch und in seiner Haltung wenig elegant. Jedes mit besonderem Nachdrucke ausgesprochene Wort begleitete er gerne mit einer ausdrucksvollen Handbewegung. Obwohl ernst von Gesichtszügen, konnte er doch gelegentlich auch lächeln. Er hatte wasserblaue Augen, denen man die Kurzsichtigkeit anmerkte, weshalb er eine recht starke Brille trug, die ihm meist auf der Spitze der weit vorstehenden Nase saß. Auch mit den langen Beinen hatte er häufig seine liebe Not, hielt beim Gehen die Fersen zu nahe beieinander und setzte sich so ungeschickt nieder, daß man fürchten mußte, er werde von dem Sitze abgleiten, und ob er im Bette ein bequeme oder eine unbequeme Lage einnehme, das konnte der brave Mann nur allein wissen.

Nun gab es auch eine jetzt siebenunddreißigjährige Mrs. Patterson, eine recht verständige Frau ohne jede Koketterie oder Hoffart. An ihrem Gatten fand [32] sie nichts Lächerliches, und dieser wußte dagegen ihre Dienste zu schätzen, wenn sie ihn bei seinen Buchhaltungsarbeiten unterstützte. Wenn der Verwalter der Antilian School aber auch ein Zahlenmensch war, so darf man nicht glauben, daß er, trotz geringer Wertschätzung seiner Toilette. in seinem Äußern vernachlässigt wurde. Das wäre ein Irrtum. Es gab wohl kaum einen besser geknüpften Krawattenknoten als den seinigen, keine glänzendere Fußbekleidung als seine Lackleder-Halbstiefel, abgesehen von seiner Person nichts gleichmäßig steiferes als seinen Brustlatz, nichts tadelloseres als seine schwarzen Beinkleider, nichts besser [33] geschlossenes als seine – der eines Geistlichen ähnliche – Weste und nichts sorgfältiger zugeknöpftes als seinen weiten Rock, der ihm bis über die Knie reichte.

Mr. und Mrs. Patterson hatten in den Gebäuden der Anstalt eine sehr hübsche Wohnung inne. Deren Fenster lagen einerseits nach dem großen Hofe und anderseits nach einem Garten mit großen Bäumen, unter denen sich ein wohlgepflegter, angenehm frischer Rasen ausbreitete. Die Wohnung bestand aus einem halben Dutzend Räumen im ersten Stockwerke.

Hierher begab sich Horatio Patterson nach seinem Besuche beim Direktor; er beeilte sich dabei aber nicht, um seine Entschlüsse erst reisen zu lassen, obwohl sie schließlich nur die wenigen Minuten alt waren, um die er seine Abwesenheit verlängert hatte. Bei einem Manne, der gewöhnt war, klar zu sehen, die Dinge zu nehmen, wie sie waren, bei einer Frage jedes Für und Wider abzuwägen, wie er das Soll und das Haben in seinem Hauptbuche auszugleichen pflegte, bei einem solchen mußte es gewöhnlich schnell zu einer endgültigen Entschließung kommen. Diesmal freilich hieß es, sich nicht leichten Sinnes in ein Abenteuer stürzen.


»In erster Linie gedenke ich mein Testament zu machen.« (S. 38.)

Bevor er eintrat, machte Horatio Patterson seine hundert Schritte über den zu dieser Zeit leeren Hof... immer gerade wie ein Blitzableiter, steif wie ein Pfahl, blieb einmal stehen und ging dann wieder weiter, legte jetzt die Arme auf den Rücken und kreuzte sie nachher vor der Brust, während seine Blicke weit hinaus- und über die Mauern der Antilian School hinwegschweiften.

Bevor er jedoch mit Mrs. Patterson über die Sache sprach, die ihm im Kopfe herumging, konnte er nicht dem Drange widerstehen, erst noch sein Bureau aufzusuchen und die Rechnung über den vorigen Tag abzuschließen. Erst wenn er diese sorgsam geprüft hatte und sein Kopf vollkommen frei war, konnte er über die Vorteile und die Nachteile des Vorschlages, den ihm sein Direktor gemacht hatte, ohne jede Ablenkung sprechen.

Übrigens erforderte seine Arbeit nur kurze Zeit, und sein Bureau im Erdgeschoß verlassend, stieg er nach dem ersten Stockwerke zu derselben Minute hinauf, wo die Pensionäre die verschiedenen Klassen verließen.

Sofort bildeten sich da und dort einzelne Gruppen, unter andern eine der neun Preisträger. Man hätte da wirklich glauben können, diese schwömmen schon an Bord des »Alert« einige hundert Meilen weit von der irischen Küste. Daß die jungen Leute dabei mit mehr oder weniger Zungenfertigkeit schwätzten, kann man sich wohl leicht genug vorstellen.

[34] Wenn es auch entschieden war, daß die Reise nach den Antillen gehen sollte, so harrte doch eine andere, sie berührende Frage noch immer der Lösung. Würden sie von der Abfahrt bis zur Heimkehr einen Begleiter haben? Sie vermmieten allerdings selbst, daß man sie in die weite Welt nicht so allein hinausziehen lassen werde. Doch wußten sie nicht, ob Mrs. Kathlen Seymour schon selbst jemand als Führer bestimmt oder es Herrn Ardagh überlassen hätte, einen solchen auszuwählen. Daß der Direktor zu dieser Zeit von der Anstalt fernbleiben könnte, ließ sich kaum annehmen. Wem würde also der Auftrag zu teil werden, und hatte Herr Ardagh seine Wahl schon getroffen oder nicht?

Vielleicht mutmaßten einige, daß Herr Patterson der Auserwählte sein werde. Doch würde der ruhige und häusliche Verwalter, der die engere Heimat niemals verlassen hatte, sich auch bewegen lassen, alle seine Gewohnheiten zu ändern und sich eine Reihe von Wochen von Mrs. Patterson zu trennen? Würde er den mit so mancher Verantwortlichkeit verbundenen Auftrag annehmen? Das war kaum zu erwarten.

War Horatio Patterson schon nicht wenig erstaunt, als der Direktor ihm den erwähnten Vorschlag machte, so liegt es auf der Hand, daß Frau Patterson nicht weniger verwundert sein mußte, als sie von ihrem Gatten die betreffende Mitteilung erhielt. Es wäre unter anderen Umständen gewiß niemand in den Sinn gekommen, daß zwei so eng – man möchte fast sagen, durch chemische Verwandtschaft – verbundene Elemente getrennt, gewaltsam voneinander gerissen werden könnten, wäre es auch nur für wenige Wochen. Daß aber Frau Patterson die Reise etwa mitmachte, davon konnte ja keine Rede sein.

Solche Gedanken beschäftigten den guten Patterson, als er sich seiner Wohnung näherte. Es sei hier aber bemerkt. daß seine Entscheidung gefallen. sein Entschluß gefaßt war, als er durch die Tür des Zimmers trat, worin Frau Patterson ihn erwartete.

Diese wußte ja nicht, daß ihr Ehegemahl zum Direktor gerufen worden war, und so begrüßte sie ihn bei seinem Erscheinen mit den Worten:

»Oho, Herr Patterson, was hat denn das zu bedeuten?

– Etwas neues, liebe Frau, etwas ganz neues...

– Aha, es ist also wohl ausgemacht worden, daß Herr Ardagh die jungen Pensionäre nach den Antillen begleiten wird?

– Keineswegs, er kann zu dieser Zeit des Jahres unmöglich der Anstalt fernbleiben.

[35] – So hat er also einen andern gewählt?

– Ja.

– Und wer ist das?

– Ich.

– Du... Horatio?...

– Ja, ja... ich, ich bin es!«

Frau Patterson überwand ohne besondere Mühe das Erstaunen, das ihr diese Überraschung erregt hatte. Als verständige Frau und würdige Gefährtin des Herrn Patterson wußte sie sich zu fügen und erging sich nicht in leeren Einwänden.

Der Verwalter aber war nach dem Austausch jener wenigen Worte an das Fenster getreten und trommelte mit vier Fingern der linken Hand an einer Scheibe.

Seine Ehehälfte gesellte sich sofort zu ihm.

»Du hast die Wahl doch angenommen? fragte sie.

– Ja freilich!

– Meiner Ansicht nach hast Du daran gut getan.

– Das glaube ich auch, liebe Frau. Da mir der Direktor ein so gutes Zeugnis seines Vertrauens zu mir ausstellte, konnte ich die Sache gar nicht abschlagen.

– Nein, Horatio, das war unmöglich; ich bedaure dabei nur eines...

– Nun, was denn?

– Daß es sich nicht um eine Land-, sondern um eine Seereise handelt, daß Du über das Meer fahren mußt...

– Ja, das ist dabei nicht zu umgehen, Juliette. Die Aussicht auf eine zwei- bis dreiwöchige Fahrt erschreckt mich aber nicht. Wir haben ein gutes Schiff zur Verfügung. Zu dieser Jahreszeit, zwischen Juli und September, ist das Meer meist ruhig und die Schiffahrt bequem. Obendrein ist auch eine Prämie für den Leiter des Ausfluges ausgeworfen, für den Mentor, mit welchem Titel ich beehrt worden bin.

– Eine klingende Prämie? fragte Frau Patterson, die für Vorteile dieser Art nicht unempfindlich war.

– Jawohl, bestätigte Patterson, ein Betrag in gleicher Höhe wie der, den die Preisträger erhalten sollen.

– Siebenhundert Pfund Sterling?

[36] – Siebenhundert Pfund.

– Na, das ist ja schon der Mühe wert!«

Horatio Patterson erklärte, derselben Ansicht zu sein.

»Wann soll die Fahrt angetreten werden? fragte Frau Patterson, die nun gar keine Einwendung mehr zu machen hatte.

– Schon am dreißigsten Juni, und binnen fünf Tagen müssen wir in Cork sein, wo der »Alert« uns erwartet. Es ist also keine Zeit zu verlieren und wir werden gleich von heute an die nötigen Vorbereitungen treffen müssen...

– Das las' getrost meine Aufgabe sein, Horatio, antwortete Frau Patterson.

– Du wirst auch dabei nichts vergessen?...

– Beruhige Dich darüber.

– Leichte Kleidung, denn wir reisen nach sehr warmen Ländern, die unter den feurigen Strahlen der Tropensonne braten...

– Deine leichteste Sommerkleidung wird bereit liegen...

– Doch eine von schwarzer Farbe, denn es würde der mir zugewiesenen Stellung ebenso wie meinem Charakter widersprechen, etwa in der phantastischen Tracht eines Touristen aufzutreten.

– Verlass' Dich nur auf mich, Horatio. Ich werde auch nicht das Wergal-Rezept gegen die Seekrankheit vergessen und ebensowenig die Ingredienzien deren Gebrauch es empfiehlt.

– Ach was... die Seekrankheit! rief Patterson etwas verächtlich.

– O, es ist immer klug und weise, dagegen gewappnet zu sein, entgegnete seine Gattin. Aber es bleibt doch wohl dabei: es ist nur eine Reise von zwei bis höchstens dritthalb Monaten in Aussicht genommen?

– Von zweiundeinhalb Monaten oder zehn bis elf Wochen, Juliette. Freilich, auch in diesem Zeitraume kann ja so mancherlei passieren. Hat nicht ein Weiser gesagt, man wisse zwar, wann man abreise, doch niemals, wann man wiederkomme?

– O, wenn man nur überhaupt zurückkommt, antwortete Frau Patterson sehr richtig. Du solltest mir keine Angst machen, Horatio. Sieh, ich finde mich ja ohne drängenden Einspruch in Dein zweiundeinhalbmonatiges Fernsein und wende sogar nichts gegen eine Fahrt übers Meer ein, trotzdem daß mir dessen Gefahren nicht unbekannt sind. Ich glaube jedoch, Du wirst diese mit gewohnter [37] Klugheit zu vermeiden wissen, nur lass' mich nicht das eine fürchten, daß diese Reise sich noch weiter ausdehnen könnte.

– Die Bemerkungen, die ich machen zu müssen glaubte, antwortete Patterson mit einer entschuldigenden Handbewegung, die Grenze zarter Rücksicht überschritten zu haben, diese Bemerkung sollte Dir keine Unruhe und Angst erregen, liebes Kind. Ich wünschte im Gegenteil, Dir alle unnötige Unruhe zu ersparen, im Falle unsere Rückkehr sich etwas verzögern sollte, was ja doch ganz harmlose Gründe haben kann.

– Das mag ja sein, Horatio. Hier ist aber von einer zweiundeinhalbmonatigen Abwesenheit die Rede, und ich hoffe, daß sie nicht noch länger dauern werde.

– Ich ja auch, versicherte Patterson. Worum handelt es sich denn übrigens?... Um einen Ausflug in eine herrliche Erdengegend, um eine Spazierfahrt von Insel zu Insel in dem gesegneten Westindien. Wenn wir da nun wirklich um vierzehn Tage später heimkehrten...

– Nein, nein, Horatio, das darf nicht sein!« antwortete die vortreffliche Frau, die hierbei ihren Kopf mehr aufsetzte als gewöhnlich.

Ganz unerklärlich erscheint es, daß Herr Patterson bei dieser Gelegenheit fast etwas hitzig wurde, was doch sonst gar nicht in seiner Natur lag. Er schien es ordentlich darauf abzusehen, der Frau Patterson noch etwas mehr Angst einzujagen.

Jedenfalls bestand er hartnäckig darauf, die Gefahren, die jede Reise, und vorzüglich eine solche über das Meer böte, mit kräftigen Farben auszumalen. Frau Patterson wollte diese Gefahren, die er eindringlich darstellte und mit lebhaften Gesten noch weiter schilderte, aber trotz alledem nicht glauben.

»Ich verlange ja gar nicht, erklärte er dagegen, daß Du sie für unabwendbar hältst, doch daß Du wenigstens mit ihrer Möglichkeit rechnest und wegen dieser Möglichkeit gewisse notwendige Maßregeln ins Auge faßt.

– Und welche, Horatio?

– In erster Linie, Juliette, gedenke ich mein Testament zu machen.

– Dein Testament?

– Jawohl, in bindender, rechtskräftiger Form...

– Du wirst mich langsam töten! rief Frau Patterson, der diese Reise jetzt allerlei Schreckbilder vorgaukelte.

[38] – Nein, liebe Frau, das gewiß nicht! Ich will nur die kluge Vorsicht nicht aus den Augen setzen. Ich gehöre doch einmal zu den Menschen, die ihre irdischen Angelegenheiten in Ordnung wissen wollen, ehe sie einen Bahnzug besteigen, und erst recht, wenn es sich darum handelt, sich auf das große Wasser hinauszuwagen.«

Das war nun einmal die Art des würdigen Mannes, und wer konnte wissen, ob er jetzt allein an die Festlegung seines letzten Willens dachte Jedenfalls bedrückte dieser Teil des Zwiegesprächs Frau Patterson schon aufs schwerste, zunächst der Gedanke, daß ihr Ehegatte die sonst nie berührte Erbschaftsfrage regeln wollte, dann das Nebelbild der Gefahren einer Reise über den Atlantischen Ozean, die Zusammenstöße, Strandungen, Schiffbrüche, das Ausgesetztwerden auf irgend einer Insel mit schrecklichen Kannibalen...

Da empfand es Horatio Patterson doch, daß er vielleicht etwas zu weit gegangen sei, und er versuchte mit tröstlicherem Zuspruch die Gattin wieder zu beruhigen, diese Hälfte seiner selbst von ihrer Angst zu befreien. Schließlich gelang es ihm auch, sie zu überzeugen, daß selbst ein Übermaß von Vorsicht niemals schädliche oder bedauerliche Folgen haben könne, und wie man damit, daß man sich gegen jede Möglichkeit schütze, den Freuden dieses Lebens doch noch keineswegs auf ewig Lebewohl sage.

»Das aeternum vale, setzte er hinzu, das Ovid dem Orpheus in den Mund legte, als dieser die geliebte Eurydike zum zweiten Male verlor!«

O nein, Frau Patterson sollte ihren Gatten ja nicht verlieren, auch nicht zum ersten Male. Der ordnungssüchtige Mann würde aber trotzdem jeder Möglichkeit vorbeugen wollen und den Gedanken, sein Testament zu machen, gewiß nicht aufgeben. Noch denselben Tag suchte er einen Notar auf, und sein letzter Wille wurde von diesem den gesetzlichen Vorschriften entsprechend und so aufgesetzt, daß er bei seiner etwaigen Eröffnung keine zweifelhafte Auslegung zuließ.

Man kann also überzeugt sein, daß Herr Patterson alle denkbare Vorsicht gebraucht hatte für den Fall, daß der »Alert« im Ozean mit Mann und Maus versinken und man von dessen Mannschaft und Passagieren nie wieder etwas hören sollte.

Das erwartete Patterson zwar selbst nicht, denn er fügte seinen Worten noch hinzu:

»Es wäre vielleicht noch eine andere Maßregel zu treffen...

– Und welche, Horatio?« fragte Frau Patterson.

[39] Ihr Gatte glaubte sich augenblicklich nicht weiter aussprechen zu sollen.

»Ach... nichts... nichts... das wird sich finden,« begnügte er sich zu erwidern.

Und wenn er nichts weiter sagen wollte, so geschah es, um Frau Patterson nicht aufs neue zu ängstigen. Vielleicht wäre es ihm auch nicht gelungen, sie zur Billigung seiner Idee zu bekehren, selbst wenn er diese durch weitere lateinische Citate unterstützte, womit er die würdige Gattin gewohnheitsgemäß nicht verschonte.

Um das Gespräch abzubrechen, schloß er es mit den Worten:

»Und nun wollen wir uns mit meinem Reisekorbe und mit meiner Hutschachtel beschäftigen.«

Die Abfahrt sollte zwar erst in fünf Tagen erfolgen, doch was getan ist, ist ja getan und braucht also nicht später gemacht zu werden.

Kurz, was Patterson ebenso wie die neun Preisträger anging, es war von jetzt an nur noch von den Reisevorbereitungen die Rede.

Wenn die Abfahrt des »Alert« übrigens für den 30. Juni bestimmt war, mußte man von den noch übrigen fünf Tagen volle vierundzwanzig Stunden abziehen, die die Fahrt von London nach Cork beanspruchte.

Die Reisenden sollten sich nämlich mit der Eisenbahn zuerst nach Bristol begeben. Dort bestiegen sie dann den Dampfer, der den täglichen Dienst zwischen England und Irland versieht, fuhren die Savern hinunter, überschritten hierauf den Kanal von Saint-Georges und den von Bristol und landeten in Queenstown, am Eingange der Bai von Cork und an der Südwestseite des Grünen Erin. Einen Tag erforderte die Fahrt zwischen Großbritannien und Irland, und Patterson glaubte, das werde ihn schon hinreichend »seefest« machen.

Von den Familien der jungen Stipendiaten, die wegen des Vorhabens befragt worden waren, trafen bald, auf telegraphischem Wege oder brieflich, die erbetenen Antworten ein. Was Roger Hinsdale anging, geschah das schon am ersten Tage, da dessen Eltern in London wohnten, und diesen teilte der preisgekrönte Sohn die Absichten der Mrs. Kathlen Seymour persönlich mit. Die übrigen Antworten trafen nacheinander von Manchester, Paris, Nantes, Kopenhagen, Rotterdam und Gothenburg ein, und von der Familie des jungen Hubert Perkins kam ein aus Antigoa abgesandtes Telegramm.

Der Vorschlag war allerseits mit Freuden und unter Bezeugung der wärmsten Dankbarkeit für Mrs. Kathlen Seymour auf Barbados angenommen worden.

[40] [43]Während sich Frau Patterson nun mit den Reisevorbereitungen für ihren Gatten beschäftigte, legte dieser die letzte Hand an die Buchführung der Antilian School, und sicherlich ließ er dabei keine Rechnung unerledigt, kein Schriftstück unvollendet liegen. Dann wollte er sich noch Entlastung bezüglich seiner, seit dem 28. Juni 1877 geführten Verwaltung erbitten.

Gleichzeitig vernachlässigte er aber auch seine persönlichen Angelegenheiten nicht im geringsten und ordnete vor allem die, die ihm am meisten am Herzen lag und über die er seiner Gattin noch mehr mitteilen wollte, als er es bei jenem ersten Gespräch getan hatte.


Als dann die neun Stipendiaten den Break besteigen wollten... (S. 44.)

Die beiden Beteiligten bewahrten darüber das strengste Stillschweigen. Sollte nur in Zukunft an den Tag kommen, um was es sich handelte?... Ja; unzweifelhaft wenigstens dann, wenn Patterson aus der Neuen Welt unglücklicherweise nicht zurückkehren sollte.

Gewiß ist nur, daß das Ehepaar wiederholte Besuche bei einem Manne des Gesetzes, einem Sollicitor (etwa: Staatsanwalt) machte und sich auch persönlich gewissen Magistratspersonen vorstellte. Das Personal der Antilian School bemerkte auch, daß Patterson eines Tages bei der Heimkehr ein noch ernsthafteres Gesicht zeigte und noch zugeknöpfter erschien als gewöhnlich, und auch daß Frau Patterson so gerötete Augen hatte, als ob sie eben einen ganzen Strom von Tränen vergossen hätte.

Man schrieb das aber nur dem Schmerze über die bevorstehende Trennung zu und fand den Ausdruck von Trauer unter den vorliegenden Umständen ganz am Platze.

Der 28. Juni kam heran. Am Abend sollte die Abfahrt stattfinden und um neun Uhr der Mentor mit seinen jungen Begleitern den Zug nach Bristol besteigen.

Am Morgen hatte Herr Julian Ardagh noch eine letzte Zusammenkunft mit Herrn Patterson. Während er ihm einerseits empfahl, die Buchführung auf der Reise streng in Ordnung zu halten – übrigens eine recht unnötige Ermahnung – setzte er ihm anderseits die Wichtigkeit der ihm anvertrauten Stellung auseinander und wie viel es auf ihn ankäme, ein gutes Einvernehmen zwischen den Zöglingen der Antilian School zu erhalten.

Um halb neun Uhr nahmen alle im großen Hofe der Anstalt Abschied. Roger Hinsdale. John Howard, Hubert Perkins, Louis Clodion, Tony Renault, Niels Harboe, Axel Wickborn, Albertus Leuwen und Magnus Anders drückten [43] dem Direktor, den Lehrern und ihren Kameraden noch einmal die Hand, von denen die letztgenannten sie nicht ohne einen ziemlich natürlichen Neid von dannen ziehen sahen.

Horatio Patterson hatte sich von seiner Juliette verabschiedet, deren Photographie er mitnahm, und hatte dabei tiefbewegte Worte gesprochen mit dem Bewußtsein eines praktischen Mannes, der sich gegen alle Zufälle gesichert hat.

Als dann die neun Stipendiaten den Break besteigen wollten, der alle nach dem Bahnhofe bringen sollte, wendete er sich an die jungen Leute und sagte, jede Silbe dieses Verses des Horaz voll betonend:


Cras ingens iterabimus aequor.


Nun sind sie fort. In einigen Stunden wird sie der Schnellzug nach Bristol befördert haben. Morgen kommen sie über den Kanal von Saint-Georges, den Patterson als ingens aequor bezeichnet hat. Den Stipendiaten der Antilian School: Glückliche Reise!

4. Kapitel
Viertes Kapitel.
Das Gasthaus »Zum blauen Fuchs«.

Cork hieß in früherer Zeit Coves, ein Name, der einen sumpfigen Boden bezeichnet und sich in gaëlischer Mundart als Corroch wiederfindet. Anfänglich ein ärmliches Dorf, entwickelte sich Cork allmählich zum Landflecken und ist jetzt als die Hauptstadt von Munster die dritte unter allen Städten Irlands.

Trotz seiner ziemlich bedeutenden Industrie überragt doch noch sein reicher Seeverkehr – dank dem Hafen von Queenstown – das alte, stromaufwärts am Lee gelegene Coves. In Queenstown sind Werfte, Lagerhäuser und Werkstätten errichtet. Ein Verproviantierungs- und Schutzhafen nimmt die Fahrzeuge auf, vorzüglich die Segelschiffe, denen der Lee keine hinreichende Wassertiefe bietet.

Da die Ankunft in Cork erst spät erfolgte, hatten die Stipendiaten und ihr Führer keine Zeit, es zu besichtigen, oder die hübsche Insel zu besuchen, die[44] durch zwei Brücken mit den beiden Ufern des Lee verbunden ist; ebensowenig konnten sie die reizenden Anlagen auf einigen Nachbarinseln durchstreifen oder kleinere Holme neben diesen betreten. Die gesamte Stadtgemeinde umfaßt jetzt nicht weniger als neunundachtzigtausend Seelen, wovon neunundsiebzigtausend auf Cork und zehntausend auf Queenstown kommen.

Um derlei Spaziergänge, die einige Stunden höchst angenehm ausfüllen, kümmerten sich freilich kaum drei Personen, die am Abend des 29. Juni im Hintergrunde eines der Gastzimmer im »Blauen Fuchs« an einem Tische saßen. Die in ihrer dunkeln Ecke kaum sichtbaren Männer sprachen gedämpften Tones miteinander vor ihren Bechern, die oft geleert und oft wieder gefüllt wurden. Schon an ihrem wilden Gesichtsausdruck und ihrer unruhigen Haltung hätte man sie als Burschen von schlimmer Art erkannt, als Spitzbuben, denen die Polizei wahrscheinlich an den Fersen war. Sie warfen auch forschende und verdächtige Blicke auf jeden, der die schlecht besuchte Spelunke »Zum blauen Fuchs« betrat.

Übrigens fehlte es hier im Hafenviertel nicht an Schenken, und Leute, die einen Schlupfwinkel suchten, hatten höchstens die Qual der Wahl.

Ist Cork eine recht elegante Stadt, so trifft das für das verkehrsreiche Queenstown, einem der bedeutendsten Häfen Irlands, gar nicht zu. Bei einer jährlichen Schiffsbewegung von viertausendfünfhundert Fahrzeugen mit einer Million zweimalhunderttausend Tonnen kann man sich leicht vorstellen, welche flottierende Bevölkerung hier jeden Tag zusammenströmt. Deshalb gibt es hier auch so viele Gasthäuser und Schankstätten mit einer Kundschaft, die auf Ruhe, Sauberkeit und Bequemlichkeit weniger Anspruch macht. Fremde Matrosen und einheimische wimmeln vielfach durcheinander, und dabei kommt es häufig zu wüsten Schlägereien, so daß die Polizei sich einmischen muß.

Wäre diese heute in die niedrige Gaststube im »Blauen Fuchs« gekommen, so hätte sie eine ganze Bande von Verbrechern festnehmen können, denen sie schon seit einigen Stunden nachspürte und die aus dem Hafengefängnis von Queenstown entwichen waren.

Die Sache war folgende:

Vor acht Tagen hatte ein englisches Kriegsschiff nach Queenstown die Besatzung des englischen Dreimasters »Halifax« eingeliefert, den man einige Zeit verfolgt und schließlich im Großen Ozean abgefangen hatte. Sechs volle Monate hatte dieses Schiff die Gewässer im Westen der Salomonsinseln, der [45] Neuen Hebriden und des Archipels von Neubritannien durchkreuzt. Seine Aufbringung setzte einer Reihe von Seeräubereien und anderer Verbrechen, wovon vorzüglich die englische Nationalität zu leiden hatte, ein langersehntes Ziel.

Im Hinblick auf die Verbrechen, deren sie von den Behörden beschuldigt wurden – Verbrechen, die durch Zeugenaussagen ebenso wie durch Tatsachen erwiesen waren – mußte gegen die Gefangenen die härteste Strafe ausgeworfen werden, und das konnte nur die Strafe des Todes am Galgen sein, wenigstens für die am meisten belasteten Anführer, den Kapitän und den Obersteuermann des »Halifax«.

Die Bande bestand aus zehn Mitgliedern, die man an Bord des Schiffes dingfest gemacht hatte. Sieben andere, die auch noch zur Mannschaft gehörten, waren, nachdem sie sich in ein Boot gerettet hatten, nach irgend einer Insel entflohen, wo es gewiß schwierig sein mußte, sie aufzufinden. Die schlimmsten Kumpane befanden sich bei ihrem Eintreffen aber in den Händen der englischen Polizei, und in Erwartung ihrer baldigen Verurteilung hatte man sie in das Hafengefängnis von Queenstown eingesperrt.

Sich die Kühnheit, schon mehr die Tollkühnheit des Kapitäns Harry Markel, und seiner rechten Hand, des Obersteuermannes John Carpenter vorzustellen, das dürfte fast unmöglich sein. Mit Ausnützung gewisser Umstände war es ihnen an demselben Tage gelungen zu entweichen, wo sie sich in der Schenke »Zum blauen Fuchs«, einer der berüchtigtesten des Hafens, verborgen hatten. Sofort wurden Abteilungen von Polizisten ausgesendet. Die jedes Verbrechens fähigen Übeltäter konnten Cork oder Queenstown nicht verlassen haben, und so wurden denn in den verschiedenen Teilen der beiden Städte Nachsuchungen vorgenommen.

Aus Vorsicht bewachte auch eine gewisse Zahl von Polizisten die Nachbarschaft des Ufers der Bai von Cork mehrere (engl.) Meilen weit hin. Gleichzeitig begannen sorgfältige Nachforschungen, die sich auf alle Schenken des Hafenviertels erstrecken sollten.

Das sind aber gerade die Schlupfwinkel, wo es den Verbrechern noch gar zu häufig gelingt zu entwischen. Die Schenkwirte sind eine höchst verdächtige Gesellschaft. Wer ihnen etwas Geld zeigt, den nehmen sie auf und bieten ihm Zuflucht, ohne zu fragen, woher er kommt oder wes Geistes Kind er ist.

Hier kommt noch hinzu, daß die Matrosen der »Halifax« alle aus verschiedenen Häfen Englands und Schottlands herstammten. Keiner hatte bisher in [46] Irland gewohnt, und weder in Cork noch in Queenstown kannte sie ein einziger Mensch, was ihre Wiedergefangennahme sehr unwahrscheinlich machte. Da die Polizei jedoch das Signalement jedes Einzelnen besaß, fühlten sie sich immerhin arg bedroht, und natürlich kam es ihnen gar nicht in den Sinn, den so gefährlichen Aufenthalt in der Stadt zu verlängern. Sie wollten vielmehr die erste Gelegenheit, die sich ihnen zum Entfliehen böte, benützen und entweder ins Land hinein entweichen oder wieder aufs Meer gehen.

Vielleicht sollte sich ihnen diese Gelegenheit, und zwar unter besonders günstigen Umständen bieten, wenigstens nach dem Gespräch der drei Bösewichte zu urteilen, die in der dunkelsten Ecke des »Blauen Fuchses« an einem Tische saßen, wo sie reden konnten, ohne von einem indiskreten Ohr gehört zu werden.

Harry Markel war der würdige Anführer dieser Bande, die nicht gezögert hatte, ihm beizuspringen, als er aus dem Dreimaster »Halifax«, den er für Rechnung eines Liverpooler Handelshauses führte, in der Einöde des Großen Ozeans ein Seeräuberschiff machte.

Fünfundvierzig Jahre alt, mittelgroß, von kräftigem Körper, unerschütterlicher Gesundheit und von wildem Gesichtsausdruck, schreckte der Mann vor keiner Grausamkeit zurück. Obwohl nur aus der Reihe der gewöhnlichen Matrosen hervorgegangen, hatte er sich doch umfassendere Kenntnisse angeeignet und war infolgedessen nach und nach zum Kapitän in der Handelsmarine emporgestiegen. Als gründlicher Kenner seines Berufes hätte er sich recht leicht eine ehrenvolle Laufbahn sichern können, wenn seine schrecklichen Leidenschaften, seine unersättliche Geldgier und das Verlangen, sein eigener Herr zu sein, ihn nicht auf die Bahn des Verbrechens gedrängt hätten. Bei einer großen Gewandtheit, seine Laster unter der Rauheit des Seemanns zu verbergen, und immer von merkwürdigem Glücke begünstigt, hatte er bei den Reedern, für die er fuhr, niemals Mißtrauen erweckt.

Der vierzigjährige Obersteuermann John Carpenter, der von Gestalt etwas kleiner, aber von nie erschlaffter Energie war, unterschied sich von Harry Markel durch sein tückisches Aussehen, sein scheinheiliges Auftreten, seine Gewohnheit, den Leuten zu schmeicheln, ebenso wie durch seine instinktive Schurkerei und die Fähigkeit, sich zu verstellen, was ihn eher noch gefährlicher machte als den Kapitän. Nicht weniger geldgierig und nicht weniger grausam als sein Vorgesetzter, übte er auf diesen einen höchst verderblichen Einfluß aus, gegen den sich Harry Markel nicht im mindesten auflehnte.

[47] Der dritte, der mit an demselben Tische saß, war der Koch der »Halifax«, Ranyah Cogh, von indobritischem Ursprung. Seinem Kapitän – übrigens ebenso wie alle die anderen – auf Leben und Tod ergeben, hätte er wie diese schon hundertmal den Strick verdient für die Schandtaten, die alle in den letzten drei, auf dem Großen Ozean zugebrachten Monaten verübt hatten.

Diese drei Männer sprachen, immer weiter trinkend, leise miteinander.

»Hier können wir unmöglich bleiben, sagte John Carpenter, noch heute Nacht müssen wir aus dieser Schenke verschwunden sein. Die Polizei ist uns auf der Spur und morgen säßen wir einfach wieder hinter Schloß und Riegel.«

Harry Markel antwortete zwar nicht, seine Ansicht ging aber ebenfalls dahin, daß seine Genossen und er Queenstown vor Sonnenaufgang verlassen haben müßten.

»Will Corty bleibt recht lange aus, bemerkte Ranyah Cogh.

– Er wird schon noch zeitig genug kommen, antwortete der Obersteuermann. Er weiß, daß wir im »Blauen Fuchs« auf ihn warten, und er wird uns hier finden...

– Wenn wir noch hier sind, fiel der Koch ein, der einen unruhig spähenden Blick nach der Tür warf, und wenn die Konstabler uns nicht genötigt haben, Fersengeld zu geben.

– Gleichviel, erklärte Harry Markel, für jetzt müssen wir hier aushalten! Will die Polizei auch diese Schenke, wie alle andern des Viertels, durchsuchen, so werden wir uns schon nicht überrumpeln und nicht festnehmen lassen. Es gibt hier noch einen hinteren Ausgang und wir entwischen beim ersten Alarm!«

Für wenige Augenblicke begnügten sich der Kapitän und seine beiden Genossen, ihre mit Grog oder Whisky gefüllten Gläser zu leeren. In ihrer Ecke des nur von drei Gasflammen erleuchteten Raumes waren sie kaum zu sehen. Überall schwirrten Stimmen durcheinander und wurde mit den Bänken gepoltert, dann und wann unterbrochen von einem groben Zuruf an den Gastwirt oder seinen Gehilfen, die sich dann beeilten, ihre rohe Kundschaft zu bedienen. Hier und da kam es auch zu einem hitzigeren Streite, der in eine Schlägerei auslief. Das aber fürchtete Harry Markel am meisten, denn ein solcher Lärm drohte die in der Nähe befindlichen Polizisten herbeizulocken, und die verbrecherischen Teerjacken liefen damit ernste Gefahr, erkannt zu werden.

Das Gespräch zwischen den Dreien ging inzwischen weiter.

[48] »Wenn Corty nur ein Boot gefunden hat, das er benützen konnte! sagte John Carpenter.

– Das muß ihm jetzt schon gelungen sein, meinte der Kapitän. In einem Hafen liegt allemal da und dort ein Boot, das unbeaufsichtigt an seiner Leine schaukelt. Da ist es doch kein Kunststück, unbemerkt hineinzuspringen, und Corty wird es dann schon an einen sichern Platz gebracht haben.

– Doch die sieben andern? fragte Ranyah Cogh. Werden sie ihn aufgesucht haben?

[49] – Natürlich, versicherte Harry Markel, das war ja ausgemacht worden. Sie bewachen jedenfalls das Boot, bis wir darin einsteigen.

– Mich beunruhigt es, fuhr der Koch fort, daß wir nun schon seit einer Stunde hier sitzen, und daß Corty immer noch nicht gekommen ist. Sollte er etwa verhaftet worden sein?

– Was mich weit mehr beunruhigt, erwiderte darauf John Carpenter, das ist die Frage, ob das Schiff noch an seinem Ankerplatze liegt.


In dem Gespräche der drei Männer war kein Wort gefallen... (S. 50.)

– Daran ist nicht zu zweifeln, antwortete Harry Markel, denn es war ja erst dabei, einen der Anker aufzuwinden.«

Der Plan des Kapitäns und seiner Genossen ging also offenbar dahin, das Vereinigte Königreich, wo ihnen der Boden zu heiß war, und womöglich überhaupt Europa zu verlassen, um jenseit des Ozeans Zuflucht zu suchen. Doch wie gedachten sie diese Absicht auszuführen, und wie würde es ihnen gelingen, auf ein segelfertiges Schiff zu kommen? Aus den Worten Harry Markels schien ja hervorzugehen, daß sie dafür schon ein bestimmtes Schiff ins Auge gefaßt hatten und darauf rechneten, sich nach diesem in dem von ihrem Kameraden Corty bereitgestellten Boote zu begeben. Doch wollten sie sich darauf etwa verstecken? Hier lag eine ernste Schwierigkeit vor. Was vielleicht ein oder zwei Männern möglich ist, das gelingt doch kaum zehnen. Auch wenn sie in den Frachtraum geschlüpft wären, vorausgesetzt, daß das unbemerkt geschehen konnte, so mußten sie hier doch sehr bald entdeckt werden, und dann wäre über den Vorfall sofort nach Queenstown berichtet worden.

Harry Markel mußte also an einen praktischeren und sichereren Weg denken. Doch an welchen? Hatte er sich die Unnterstützung mehrerer Matrosen des Schiffes sichern können, das am nächsten Tage auslaufen sollte?... Wußten seine Kameraden und er bestimmt im voraus, daß sie darauf einen Schlupfwinkel finden würden?

In dem Gespräche der drei Männer war kein Wort gefallen, aus dem sich ihre Absichten hätten erkennen lassen. Da sie übrigens verstummten, sobald einer der Gäste des »Blauen Fuchses« sich ihrem Tische näherte, konnte sie niemand überraschen.

Nach der letzten, an den Obersteuermann gerichteten Antwort schwieg Harry Markel völlig still. Er grübelte über ihre so gefährdete Lage, die bald irgend welche Lösung finden mußte. Nach Mitteilungen, die ihm zugekommen waren, äußerte er dann:

[50] »Nein, nein, das Schiff kann noch nicht abgefahren sein... Es wird erst morgen in See gehen. Hier der Beweis...«

Dabei zog Harry Markel ein abgerissenes Zeitungsblatt aus der Tasche und las aus den Hafen- und Schiffsnachrichten folgendes vor:

»Der ›Alert‹ liegt in der Bai von Cork, nahe der Farmarbucht, noch vor Anker, ist aber klar zum Auslaufen. Der Kapitän Paxton erwartet nur noch seine Passagiere, die sich nach den Antillen begeben wollen. Die Fahrt erleidet übrigens keine Verzögerung, da die Abreise vor dem 30. dieses Monats nicht stattfinden sollte. Die Preisträger der Antilian School werden an diesem Tage an Bord kommen, und der ›Alert‹ geht dann ohne weiteren Aufenthalt in See, wenn die Witterung das irgend zuläßt.«

Hier handelte es sich also um das auf Wunsch und auf Kosten der Mrs. Kathlen Seymour gecharterte Fahrzeug. Harry Markel und seine Genossen wollten an Bord des »Alert« zu entfliehen suchen. Mit diesem wollten sie sich gleich nach der nächsten Nacht aufs Meer hinaus begeben, um den Nachforschungen der Konstabler zu entgehen. Ungewiß war es freilich, ob sich die Umstände der Ausführung ihrer Absicht günstig gestalten würden. Auf Helfershelfer unter der Mannschaft des Kapitän Paxton konnten sie nicht rechnen. So mußten sie sich des Schiffes vielleicht durch einen plötzlichen Überfall zu bemächtigen und sich seiner Besatzung mit Gewalt zu entledigen suchen.

Von so entschlossenen Verbrechern, bei denen es sich jetzt um Tod und Leben handelte, konnte man sich wohl jedes Schurkenstreichs versehen. Sie waren ihrer zehn, und auf dem »Alert« befanden sich jedenfalls kaum mehr Matrosen. In diesem Falle war der Vorteil auf ihrer – der Angreifer – Seite.

Nachdem er seine Vorlesung beendigt hatte, steckte Harry Markel das Zeitungsblatt, das ihm im Gefängnisse von Queenstown in die Hände gefallen war, wieder in die Tasche.

»Wir haben heute den neunundzwanzigsten Juni, fuhr er fort; erst morgen also soll der ›Alert‹ die Anker lichten und diese Nacht wird er noch an der alten Stelle in der Farmarbucht still liegen, selbst wenn seine Passagiere schon angekommen wären, was übrigens nicht anzunehmen ist. Wir würden es demnach nur mit der Mannschaft zu tun haben.«

Hierzu möge bemerkt werden, daß die Räuber auch im Falle, daß die Pensionäre der Antilian School schon an Bord waren, nicht darauf verzichtet hätten, sich des Fahrzeugs zu bemächtigen. Da gab es nur ein stärkeres Blutbad, [51] das war alles, und auf ein paar Tropfen Blut mehr oder weniger kam es den Verbrechern am Morgen ihrer erneuten Seeraubzüge gewiß nicht an.

Inzwischen verging die Zeit, ohne daß der sehnlichst erwartete Corty erschien. Vergebens musterten die Drei alle Eintretenden, sobald sich die Tür des »Blauen Fuchses« öffnete.

»Wenn er nur nicht den Polizisten in die Hände gelaufen ist! sagte Ranyah Cogh.

– Wenn er verhaftet wäre, würde das bei uns nicht lange auf sich warten lassen, antwortete John Carpenter.

– Das könnte wohl zutreffen, meinte Harry Markel, doch gewiß nicht deswegen, weil Corty uns verraten hätte. Nein, das täte er nicht, selbst wenn ihm die Schlinge schon fast die Kehle zuschnürte.

– Das habe ich auch gar nicht sagen wollen, erwiderte John Carpenter. Die Konstabler könnten ihn aber erkannt haben und ihm gefolgt sein, während er hierher nach der Schenke ging. In diesem Falle würden alle Ausgänge besetzt sein, und an ein Entfliehen wäre nicht mehr zu denken!«

Harry Markel antwortete nicht. Einige Minuten herrschte tiefes Schweigen.

»Sollte ihm nicht einer von uns entgegen gehen? schlug da der Koch vor.

– Ich unternehme es, wenn's euch recht ist, erbot sich der Obersteuermann.

– So geh', sagte Harry Markel, doch entferne dich nicht zu weit. Corty kann jeden Augenblick kommen. Erblickst du draußen Polizisten, so komme sofort zurück; wir schlüpfen dann durch die Hintertür hinaus, ehe sie haben in die Gaststube eindringen können.

– Ja, wendete Ranyah Cogh ein, dann wird uns Corty aber hier nicht mehr finden.

– Gleichviel, es bleibt uns ja nichts anderes zu tun übrig,« erklärte der Kapitän.

Die Sachlage wurde entschieden bedrohlicher. Vor allem kam es aber darauf an, sich nicht abfangen zu lassen. Schlug der Streich mit dem »Alert« fehl, gelang es ihnen in der Nacht nicht, sich mit ihren Genossen zu vereinigen, dann wollte man überlegen, was weiter zu tun wäre. Vielleicht bot sich ja noch eine andere, gleich gute Gelegenheit. Jedenfalls hielten sie sich nicht eher für gesichert, als bis sie Queenstown verlassen hatten.

Der Obersteuermann leerte sein Becherglas zum letzten Male, warf einen flüchtigen Blick über die Gaststube, und sich durch die Gruppen darin drängend, [52] erreichte er die Tür, die sich hinter ihm sofort wieder schloß. Um halb neun Uhr war es hier noch nicht dunkel. Die Sonne war zu Mittag noch nahe ihrem höchsten Stande, und zu dieser Jahreszeit sind bekanntlich die Tage am längsten.

Der Himmel zeigte sich nahezu ganz bedeckt. Große, schwere Wolken lagen aufgetürmt am Horizonte, jene Art von Wolken, die bei großer Hitze ein heftiges Gewitter anzukündigen pflegen. Die Nacht würde ganz dunkel sein; die Sichel des Mondes war im Westen schon versunken.

John Carpenter war kaum seit fünf Minuten weg, als sich die Tür des »Blauen Fuchses« öffnete und er wieder erschien.

Ihn begleitete ein Mann, der, den man erwartete, ein untersetzter, kräftiger Matrose von kleiner Gestalt, der die Seemannsmütze fast bis über die Augen hinuntergedrückt trug. Der Obersteuermann war ihm kaum fünfzig Schritt von der Tür aus begegnet, als dieser auf dem Weg zu der Schenke war, und beide hatten sich sofort zurückbegeben, um Harry Markel und den Koch zu treffen.

Corty schien eine weite Strecke schnellen Schrittes zurückgelegt zu haben, der Schweiß rann ihm über die Wangen hinab. War er von Polizeiagenten verfolgt worden und hatte er vor ihnen flüchten müssen?

Mit einem Zeichen wies ihn John Carpenter nach der Ecke, wo Harry Markel und Ranyah Cogh saßen. Er trat sogleich an den Tisch heran und stürzte zunächst ein Glas Whisky hinunter.

Jedenfalls hätte Corty jetzt Mühe gehabt, etwaige Fragen des Kapitäns zu beantworten; man mußte ihn erst etwas zu Atem kommen lassen. Übrigens erschien er noch recht unruhig, denn immer hingen seine Augen an der nach der Straße führenden Tür, als fürchtete er, jede Minute eine Rotte Polizisten eintreten zu sehen.

»Ist dir niemand gefolgt? fragte Harry Markel ihn, als er sich etwas erholt hatte, mit gedämpfter Stimme.

– Ich glaube es nicht, antwortete er.

– Befinden sich denn Konstabler auf der Straße?

– Jawohl, wenigstens ein Dutzend! Sie suchen die Gasthäuser ab und werden auch bald im ›Blauen Fuchs‹ erscheinen.

– Dann also vorwärts!« drängte der Koch.

Harry Markel nötigte ihn, sich wieder zu setzen.

»Ist alles in Ordnung? fragte er Corty.

[53] – Alles.

– Das Schiff liegt noch vor Anker wie vorher?

– Noch immer, Harry. Auf dem Wege über den Kai hörte ich aber, daß die Passagiere des › Alert‹ in Queenstown schon eingetroffen wären...

– Nun, erwiderte Harry Markel, dann ist es nur unsere Aufgabe, noch vor ihnen an Bord zu sein...

– Wie? stieß Ranyah Cogh hervor.

– Die andern und ich, erklärte Corty, wir haben ein Boot weggenommen...

– Wo liegt es? fiel ihm Harry Markel ins Wort.

– Fünfhundert Schritt von der Schenke hier, draußen am Kai und unten an einer Landungsbrücke.

– Und unsere übrigen Leute?

– Die erwarten uns. Es ist keine Zeit zu verlieren.

– So brechen wir auf,« antwortete Harry Markel.

Die Zeche war schon bezahlt, der Gastwirt brauchte also nicht erst herbeigerufen zu werden. Die vier Schurken hätten den Raum verlassen können, ohne bei dem hier herrschenden Höllenlärme besonders bemerkt zu werden.

Gerade jetzt entstand draußen ein Aufruhr, das Toben und Gröhlen von Leuten, die schreiend aufeinander losschlugen.

Als kluger Mann, der seine Kunden nicht gern unliebsamen Überraschungen ausgesetzt sehen will, öffnete der Schenkwirt ein wenig die Tür und rief:

»Achtung!... Die Konstabler!«

Gewiß lag verschiedenen Stammgästen des »Blauen Fuchses« sehr daran, nicht mit der Polizei in Berührung zu kommen, wenigstens kam es sofort zu einem geräuschvollen Abzuge. Drei oder vier wendeten sich der Hintertür zu.

Den Augenblick danach drangen ein Dutzend Polizisten in die Schenke ein und schlossen die Tür hinter sich ab.

Harry Markel und seine drei Spießgesellen hatten die Gaststube, ohne bemerkt zu werden, schon verlassen können.

– Alles.

– Das Schiff liegt noch vor Anker wie vorher?

– Noch immer, Harry. Auf dem Wege über den Kai hörte ich aber, daß die Passagiere des, Alert' in Queenstown schon eingetroffen wären...

– Nun, erwiderte Harry Markel, dann ist es nur unsere Aufgabe, noch vor ihnen an Bord zu sein...

– Wie? stieß Ranyah Cogh hervor.

– Die andern und ich, erklärte Corty, wir haben ein Boot weggenommen...

– Wo liegt es? fiel ihm Harry Markel ins Wort.

– Fünfhundert Schritt von der Schenke hier, draußen am Kai und unten an einer Landungsbrücke.

– Und unsere übrigen Leute?

– Die erwarten uns. Es ist keine Zeit zu verlieren.

– So brechen wir auf,« antwortete Harry Markel.

Die Zeche war schon bezahlt, der Gastwirt brauchte also nicht erst herbeigerufen zu werden. Die vier Schurken hätten den Raum verlassen können, ohne bei dem hier herrschenden Höllenlärme besonders bemerkt zu werden.

Gerade jetzt entstand draußen ein Aufruhr, das Toben und Gröhlen von Leuten, die schreiend aufeinander losschlugen.

Als kluger Mann, der seine Kunden nicht gern unliebsamen Überraschungen ausgesetzt sehen will, öffnete der Schenkwirt ein wenig die Tür und rief:

»Achtung!... Die Konstabler!«

Gewiß lag verschiedenen Stammgästen des »Blauen Fuchses« sehr daran, nicht mit der Polizei in Berührung zu kommen, wenigstens kam es sofort zu einem geräuschvollen Abzuge. Drei oder vier wendeten sich der Hintertür zu.

Den Augenblick danach drangen ein Dutzend Polizisten in die Schenke ein und schlossen die Tür hinter sich ab.

Harry Markel und seine drei Spießgesellen hatten die Gaststube, ohne bemerkt zu werden, schon verlassen können.

[54]
5. Kapitel
Fünftes Kapitel.
Ein Handstreich.

Ein tollkühner Handstreich fast ohnegleichen war es, den Harry Markel und seine Genossen wagen wollten, um sich der Verfolgung durch die Polizei zu entziehen. Noch diese Nacht und inmitten der Bai von Cork, nur wenige (englische) Meilen von Queenstown, wollten sie versuchen, sich eines Schiffes zu bemächtigen, worauf sich dessen Kapitän jedenfalls mit seiner vollständigen Mannschaft befand. Selbst wenn von dieser noch zwei oder drei Mann am Lande zurückgeblieben waren, mußten sie, da es schon zu dunkeln begann, bald an Bord zurückkehren. Vielleicht waren die Übeltäter dann also nicht einmal in der Mehrzahl.

Freilich mußten gewisse Umstände den durchschlagenden Erfolg des Vorhabens begünstigen. Zählte die Besatzung des »Alert«, den Kapitän inbegriffen, auch zwölf Mann, die Räuberbande aber mit Harry Markel nur zehn, so hatte diese doch den Vorteil des überraschenden Angriffs für sich. Auf dem in der Farmarbucht liegenden Schiffe war jetzt gewiß kein besonders scharfer Wachtdienst eingerichtet. Vom Schiffe ausgehende Rufe konnten nirgends gehört werden. Die Mannschaft würde umgebracht und ins Wasser geworfen werden, ehe sie zu einer Abwehr Zeit gewann. Dann wollte Harry Markel die Anker lichten und brauchte, unter Entfaltung aller Segel, nur durch den Sankt-Georgskanal zu steuern, um aufs Atlantische Meer hinaus zu kommen.

In Cork würde sich freilich niemand erklären können, warum der Kapitän Paxton unter solchen Umständen und sogar noch vorher ausgelaufen wäre, ehe die Pensionäre der Antilian School, für die das Schiff doch gemietet war, an Bord gekommen wären. Und was würden Horatio Patterson und seine jungen Begleiter dazu sagen, daß sie, nach ihrem vorher angemeldeten Eintreffen in Cork, das Fahrzeug an seinem Ankerplatze in der Farmarbucht nicht mehr vorfänden?... Schwamm der »Alert« einmal auf dem offenen Meer, so mußte es schwierig werden, ihn aufzuspüren, und die Räuber, die die Mannschaft ermordet hatten, einzufangen. Harry Markel hoffte übrigens nicht ohne [55] Berechtigung, daß die Passagiere erst am folgenden Morgen zu Schiffe gehen wollten, und dann war der »Alert« schon ein gutes Stück von Irland weg.

Gleich vor der Schenke und nach Überschreitung des Hofes, von dem eine Tür nach einem Seitengäßchen führte, schlichen sich Harry Markel und Corty auf der einen, John Carpenter und Ranyah Cogh auf der andern hin in der Voraussetzung, dadurch die Polizei leichter zu täuschen, wenn sie sich nach dem Hafen hinunter begaben, nach der Stelle, wo das Boot mit ihren übrigen sechs Genossen sie an einer Landungsbrücke erwartete. Der Obersteuermann kannte die örtlichen Verhältnisse vollkommen, denn er hatte in Queenstown schon wiederholt gelegen.

Harry Markel und Corty gingen zuerst die Straße aufwärts und taten gut daran. denn deren niedriger gelegener, auf den Kai mündender Ausgang war schon von Konstablern besetzt. Ebenso befanden sich, inmitten einer immer anwachsenden Volksmenge, bereits mehrere Polizisten in der Straße selbst. Männer und Weiber aus diesem Stadtteile wollten der Verhaftung der Seeräuber von der »Halifax« beiwohnen, die aus dem Hafengefängnisse entwichen waren.

Binnen wenigen Minuten hatten Harry Markel und Corty das andere, noch freie und obendrein nur dürftig beleuchtete Ende der Straße erreicht. Dann schlüpften sie durch ein winkeliges Gäßchen, das diese mit einer Parallelstraße verband und trabten nachher nach dem Hafen hinunter.

Unterwegs entgingen ihnen da die Bemerkungen nicht, die in den überall versammelten Menschenhaufen laut wurden, und obwohl diese hauptsächlich aus der ambulanten Bevölkerung des Hafenquartiers bestand, klangen jene Bemerkungen doch recht ungünstig für die Verbrecherrotte, die reichlich den Strick um den Hals verdient hatte. Natürlich bekümmerten sie sich aber um die öffentliche Meinung blutwenig. Ihre Sorge ging nur dahin, allen Polizisten aus dem Wege zu gehen, ohne den Anschein von Flüchtenden zu erwecken, und vor allem, den Ort des Zusammentreffens zu erreichen.

Beim Austritt aus der Schenke waren Harry Markel und Corty einzeln gegangen, da sie wußten, daß sie nur die Straße weiter zu verfolgen hatten um zum Kai zu gelangen. Am Ende der Straße schlossen sie sich wieder zusammen und schritten nach der Landungsbrücke hin.

Der Kai war fast menschenleer und nur durch wenige Gasflammen matt beleuchtet. Jetzt und auch vor Ablauf mehrerer Stunden kam kein Fischerboot [56] [59]vom Fange herein. Die Flut machte sich noch kaum bemerkbar. Das Boot lief also nicht Gefahr, bemerkt zu werden, wenn es über die Bai von Cork dahinglitt.

»Dorthin!« sagte Corty, und wies nach der linken Seite, wo das Hafenlicht sichtbar war und auf einer Anhöhe weiter draußen der Leuchtturm, die Einfahrt nach Queenstown bezeichnend, seine glänzenden Strahlen hinaussandte.

»Ist es weit? fragte Harry Markel.

– Fünf- bis sechshundert Schritte.

– Ich sehe aber weder John Carpenter noch Ranyah Cogh...

– Vielleicht haben sie am unteren Ende der Straße nicht herausgekonnt und sind nicht auf den Kai gekommen...

– Dann werden sie haben einen Umweg machen müssen und wir erleiden eine Verzögerung.


Cork. Patrick Street.

– Wenigstens wenn sie nicht bereits an der Landungsbrücke sind, meinte Corty.

– Nun, jedenfalls vorwärts!« sagte Harry Markel.

Beide nahmen ihren Marsch wieder auf, immer bedacht, den wenigen Vorüberkommenden auszuweichen, die der Gegend des »Blauen Fuchses« zustrebten, von wo noch immer das Lärmen der Volksmenge herüberdrang.

Eine Minute später machten Harry Markel und sein Begleiter auf dem Kai Halt.

Die sechs andern waren zur Stelle; sie saßen in dem Boote, das sie auch beim tiefsten Ebbestand schwimmend erhalten hatten. Für die neuen Ankömmlinge war noch genügend Platz vorhanden.

»Habt ihr denn John Carpenter und Ranyah Cogh nicht gesehen? fragte Corty.

– Nein, antwortete einer der Matrosen, der sich an der Fangleine haltend aufstand.

– Sie können nicht mehr fern sein, erklärte Harry Markel. Wir wollen hier auf sie warten.«

Die Stelle war in Dunkel gehüllt, sie liefen also kaum Gefahr, bemerkt zu werden.

Fünf bis sechs Minuten verstrichen. Weder der Obersteuermann noch der Koch wurde sichtbar. Das erregte einige Beunruhigung. Sollten sie etwa schon verhaftet sein?... Man konnte sie doch unmöglich im Stich lassen. Übrigens [59] hatte Harry Markel von seinen Leuten auch nicht zu viele beisammen, das Unternehmen zu wagen und vielleicht ernsthaft gegen die Mannschaft des »Alert« zu kämpfen, wenn sich diese nicht überraschen ließ.

Schon war es fast neun Uhr... ein dunkler Abend mit einem Himmel, den schwere, fast stillstehende Wolken bedeckten. Wenn es auch nicht regnete, rieselte doch ein feuchter Nebel auf die Bai nieder, ein günstiger Umstand für die Flüchtlinge, wenn er ihnen auch die Auffindung des »Alert« erschwerte.

»Wo liegt das Schiff? fragte Harry Markel.

– Dort,« antwortete Corty, nach Südwesten weisend.

Wenn das Boot mehr in seine Nähe kam, mußte man ja die am Stag des Fockmastes hängende Laterne erkennen.

Voller Ungeduld und Unruhe ging Corty noch einmal ein halbes hundert Schritt längs der den Kai begrenzenden Häuserreihe hin, wo verschiedene Fenster erleuchtet waren. Er kam damit in die Nähe der Straßen, aus deren einer John Carpenter und der Koch herauskommen mußten. Wenn da nur ein Mensch auftauchte, fragte sich Corty, ob es nicht einer der Beiden wäre, die sich ja vielleicht hatten trennen müssen. Dann hätte der Obersteuermann auch noch den andern abgewartet, der ja nicht wußte, wohin er sich wenden sollte, das Boot am Fuße der Landungsbrücke zu finden.

Corty schlich sich nur mit größter Vorsicht weiter. Er glitt, auf das geringste Geräusch lauschend, längs der Hausmauern hin; jeden Augenblick konnte ja eine Konstablerpatrouille auftauchen. Nach vergeblicher Durchsuchung der Schenken setzte die Polizei ihre Nachforschungen im Hafen fort und besichtigte alle Boote, die dort angeseilt lagen.

Gerade in diesem Augenblicke wurden Harry Markel und die andern aufgestört und mußten glauben, daß das bisherige Glück sich gegen sie wenden werde.

Am Ausgange der Straße, worin der »Blaue Fuchs« lag, entstand nämlich ein lautes Getümmel. Unter Schreien und Stoßen wich die Volksmenge zurück. Eine Gaslaterne beleuchtete die Ecken der nächsten Häuser, und der Ort des Gedränges war also weniger dunkel.

Harry Markel, der am Rande des Kais stehen blieb, konnte sehen, was dort vorging. Auch Corty kam bald zurück, da ihm doch nichts daran gelegen war, in den Tumult hineinzugeraten, wo er ja vielleicht erkannt werden konnte.

Aus der aufgeregten Menge hatten die Konstabler zwei Männer verhaftet, die sie fest gepackt hielten und nach der anderen Seite des Kais abführten.

[60] Die beiden Burschen wehrten sich heftig und setzten den Polizisten den ärgsten Widerstand entgegen. Zu dem Geschrei, das sie ausstießen, kam noch das von zwanzig andern, die für oder gegen die Verhafteten Partei nahmen. Daß diese der Obersteuermann und der Koch wären, eine solche Vermutung lag ja nicht gerade fern.

Dasselbe glaubten auch die Genossen Harry Markels, denn einer von diesen rief wiederholt:

»Sie sind abgefaßt... sind verhaftet worden!

– Und wie könnten wir sie aus der Schlinge ziehen? fragte ein anderer.

– Legt euch platt nieder!« befahl Harry Markel..

Das war eine kluge Maßregel, denn im Falle daß sich John Carpenter und der Koch in der Gewalt der Polizisten befanden, würden diese vermuten, daß die übrigen auch nicht fern sein könnten; jedenfalls mußten sie annehmen, daß auch die anderen die Stadt noch nicht verlassen hätten und dann suchten sie nach ihnen den ganzen Hafen ab. Sie visitierten ohne Zweifel alle auf der Reede verankerten Schiffe, nachdem ein allgemeines Verbot des Auslaufens erlassen war. Kein Boot, keine Fischerschaluppe würde dabei übergangen werden, und die Entdeckung der Flüchtlinge war also so gut wie gewiß.

Harry Markel verlor aber deswegen den Kopf noch nicht.

Als seine Genossen sich im Boote ausgestreckt hatten, so daß sie bei der herrschenden Dunkelheit kaum jemand sehen konnte, verliefen einige Minuten, die den Verbrechern freilich sehr lang erschienen. Das Getöse auf dem Kai wurde noch lauter. Die Gefangenen leisteten noch immer Widerstand. Aus der Volksmenge erschallten höhnende Zurufe, von denen anzunehmen war, daß sie Leuten wie denen aus der Räuberhorde Harry Markels galten. Zuweilen glaubte Markel auch die Stimmen John Carpenters und Ranyah Coghs herauszuhören. Da fragte es sich doch, ob diese nach der Landungsbrücke zu geführt würden und ob die Konstabler wüßten, daß deren Spießgesellen unten an dieser in einem Boote lagen. Dann würden freilich alle abgefangen und ins Gefängnis geschleppt, woraus sie ein zweites Mal gewiß nicht entweichen konnten.

Endlich legte sich der Lärm ein wenig. Die Gruppe der Polizisten entfernte sich mit den in der Straße des »Blauen Fuchses« ergriffenen Burschen und führte diese die andere Seite des Kais hinaus. Harry Markel und die sieben anderen waren augenblicklich nicht weiter bedroht.

[61] Doch was sollten sie nun beginnen? Ob verhaftet oder nicht: der Obersteuermann und der Koch waren jedenfalls nicht zur Stelle. Mit noch zwei Leuten weniger konnte Harry Markel, der überhaupt nur über eine Minderzahl verfügte, seine Absicht, den »Alert«, so lange dieser still vor Anker lag, zu überfallen, doch nicht auszuführen wagen, da es schon tollkühn genug war, zu zehn Mann einen Kampf gegen zwölf zu versuchen. Jedenfalls mußte er sich dann aber des Bootes bedienen, um fort und nach einer Stelle der Bai zu kommen, von der aus sich alle im Lande zerstreuen konnten.

Vor jeder Entscheidung stieg Harry Markel noch einmal auf die Landungsbrücke. Da er auf dem Kai niemand erblickte, wollte er schon wieder hinuntergehen und abfahren, als zwei Männer am Ausgange der rechts gelegenen Straße erschienen, der Corty und Harry Markel gefolgt waren.

Das waren John Carpenter und Ranyah Cogh, die raschen Schrittes auf die Landungsbrücke zugingen. Kein Polizist war ihnen auf der Fährte. Bei dem erwähnten, lärmenden Auftritte hatte man zwei Matrosen verhaftet, die im »Blauen Fuchse« einen dritten geschlagen und verletzt hatten.

Mit wenigen Worten wurde Harry Markel von allem unterrichtet. Als der Obersteuermann und der Koch sich entfernen wollten, hatte ein Trupp Konstabler die Mündung der Straße abgesperrt, so daß sie nicht nach dem Kai gelangen konnten. Sie mußten deshalb umkehren, zunächst nach jenem Seitengäßchen, das die anderen schon benutzt hatten, dann aber, da sie auch dieses besetzt fanden, bis nach dem höher gelegenen Stadtteile ausweichen. Daher kam die Verzögerung, die fast den ganzen Plan der Bande vereitelt hätte.

»Schnell einsteigen!« begnügte sich Harry Markel zu antworten.

In einem Augenblicke hatten John Carpenter, Ranyah Cogh und er im Boote Platz genommen. Vier Mann saßen mit den ausgelegten Rudern in der Hand im Vorderteile. Die Halteleine wurde losgeworfen. Der Obersteuermann ergriff die Ruderpinne, und neben und vor ihm saßen Markel und die übrigen.

Das Meer war noch im Sinken, und da der Ebbestrom auch noch eine halbe Stunde anhalten mußte, konnte das Boot die Farmarbucht bequem erreichen, die ja nur zwei Seemeilen weiter draußen lag. Die Flüchtlinge erkannten dann gewiß den »Alert« an seinem Ankerplatze, und es erschien recht wohl möglich, das Schiff zu überraschen, bevor sich dessen Besatzung ernsthaft zur Wehr setzen konnte. John Carpenter kannte die Bai ganz genau. Selbst bei der tiefen Dunkelheit war er sicher, bei einem Kurse nach Südsüdost [62] auf die Bucht zu treffen, und dort sah man dann ja das vorschriftsmäßige weiße Licht, das jedes in einer Bai oder einem Hafen ankernde Schiff am Vordermaste führen mußte.

Je weiter das Boot hinausglitt, desto mehr erloschen die Lichter der Stadt in dem feuchten Nebel. Kein Lufthauch war zu spüren, die Fläche der Bai lag wie eingeschlummert still und auch draußen auf dem Meere mußte vollkommene Ruhe herrschen.

Zwanzig Minuten nach der Abfahrt von der Landungsbrücke hielt das Boot still.

John Carpenter richtete sich halb auf.

»Ein Schiffslicht... dort!« sagte er.

Etwa in der Entfernung von hundert Faden und gegen fünfzehn Fuß über der Wasserfläche glänzte ein weißer Lichtschein.

Das Boot durchmaß die Hälfte dieser Entfernung und wurde dann noch einmal angehalten.

Ohne Zweifel lag dort der »Alert« vor ihm, denn soweit es bekannt war, ankerte kein anderes Schiff in der Farmarbucht. Jetzt handelte es sich also darum, an dieses heranzukommen, ohne Aufmerksamkeit zu erwecken. Daß die Mannschaft sich bei dem Nebelrieseln unter Deck aufhalte, war ja wohl anzunehmen; mindestens mußte aber doch ein einzelner Mann Deckwache haben, bei dem man keinen Verdacht erregen durfte. Die Ruder wurden also außer Wasser gehalten, da schon die Strömung allein das Schiff an die Bordwand des »Alert« tragen mußte.

Binnen einer Minute sollten Harry Markel und seine Genossen schon an das Schiff streifen. Ungesehen und ungestört würde es ihnen dann ein Leichtes sein, über die Schanzkleidung zu klettern und den wachthabenden Matrosen unschädlich zu machen, ehe dieser ein Alarmzeichen geben konnte.

Das Schiff drehte sich eben – »schwainte«, wie der Seemann sagt – vor seinem Anker, da die Flut schon einsetzte, die jedoch keinen Wind mitbrachte. In dieser Lage war der Vorderteil des »Alert« nach der Bai, der Hinterteil nach der Farmarbucht zu gerichtet, die von einer nach Südosten vorspringenden Landspitze begrenzt wird. Diese Spitze mußte umschifft werden, um aufs freie Wasser zu kommen und nach Südwesten hin durch den Sankt-Georgskanal zu steuern. In diesem Augenblicke legte das Boot inmitten der tiefsten Finsternis an der Steuerbordwand des Schiffes an. Ganz einsam [63] leuchtete über dem Vorderkastell die am Stag des Fockmastes hängende Laterne, die sich zuweilen verdunkelte, wenn eine dichtere Nebelwolke darüber hinstrich.

Nirgends war ein Geräusch zu vernehmen, und die Annäherung Harry Markels und seiner Helfershelfer hatte auch die Aufmerksamkeit des wachthabenden Matrosen nicht erweckt.

Immerhin konnten die Flüchtlinge glauben, daß ihre Anwesenheit bemerkt sein könnte. Vielleicht hatte der Matrose, dessen Schritte längs der Schanzkleidung deutlich vernehmbar waren, doch ein leichtes Anschlagen des Wassers gehört. Deutlich erkannte man den Schattenriß des Mannes einen Augenblick am Deckhause, dann beugte er sich über das Vorderkastell hinaus und wendete den Kopf nach links und nach rechts, als ob er etwas zu sehen suchte.

Harry Markel und die übrigen hatten sich auf den Bänken des Bootes wieder hingestreckt. Wenn der Matrose dann auch sie selbst nicht bemerkte, konnte das Boot seinen Blicken doch nicht entgehen, er rief dann jedenfalls seine Kameraden aufs Deck und wäre es nur, um ein weggetriebenes Boot einstweilen anzulegen. Diese würden es dann beim Weitergleiten aufzufangen suchen, und an eine Überrumpelung des Schiffes war damit nicht mehr zu denken.

Auch in diesem Falle wollte Harry Markel jedoch auf seine Pläne nicht verzichten. Sich des »Alert« zu bemächtigen, war für seine Spießgesellen ebenso wie für ihn zur Lebensfrage geworden. Sie versuchten also gar nicht. sich wieder davonzuschleichen, im Gegenteil, jetzt galt es, das Messer in der Hand, das Verdeck zu erklettern, und da der Angriff von ihnen ausging, waren sie zu Anfang voraussichtlich im Vorteil.

Die Umstände sollten sie sogar noch weiter begünstigen. Nachdem der Matrose kurze Zeit auf dem Vorderkastell geblieben war, kehrte er nach dem Deck zurück. Man hörte ihn auch nicht rufen. Offenbar hatte er nicht einmal das im Dunkel herangleitende Boot gesehen.

Eine Minute später streifte dieses den Rumpf des Schiffes in der Gegend des Großmastes und hielt nun still, da die Rüsten der Wanten hier das Aufentern der Verbrecher erleichterten.

Der »Alert« reichte übrigens nur sechs Fuß über seine Schwimmlinie empor, die wiederum kaum über dem Kupferbeschlag der unteren Rumpfhälfte lag. Wenn sie sich mit Hilfe der Hände und Füße emporschnellten, mußten Harry Markel und seine Genossen auf das Deck springen können.

[64] [67]Sobald das Boot fest angelegt war, so daß es durch die Flut nicht wieder nach der Bai zurückgetrieben werden konnte, wurden in die Gürtel die Faschinenmesser gesteckt, die die Flüchtlinge nach ihrer Entweichung gestohlen hatten. Corty war der erste, der sich über die Regeling schwang. Seine Kameraden folgten ihm so geschickt und vorsichtig, daß der Wachthabende sie weder sah noch hörte. Stumm schlichen sich die Eindringlinge nach dem Vorderkastell. Hier saß der Matrose, mit dem Rücken an das Gangspill gelehnt, halb im Schlafe. John Carpenter trat zuerst an ihn heran und stieß ihm das Messer in die Brust.

Der Unglückliche gab keinen Laut mehr von sich und fiel, ins Herz getroffen, auf das Deck nieder, wo er nach einigen Zuckungen den letzten Seufzer aushauchte.

Harry Markel nebst Corty und Ranyah Cogh waren nach dem Deckhause geschlichen und Corty sagte mit verhaltener Stimme:

»Jetzt gilt's dem Kapitän!«


Auch Corty kam bald zurück... (S. 60.)

Die Kabine des Kapitän Paxton lag unter dem Deckhause an der Backbordwand, mit dem Zugange von der gemeinsamen Kajüte aus. Ein nach dem Deck zu gelegenes Fenster gestattete das Eindringen des Tageslichtes, und durch dieses jetzt mit Gardinen verschlossene Fenster schimmerte der Schein der in doppelten Ringen hängenden Lampe.

Um diese Stunde hatte sich der Kapitän Paxton wie gewöhnlich noch nicht niedergelegt. Er ordnete noch die Schiffspapiere im Hinblick auf die Abfahrt, die morgen, wenn seine Passagiere eingetroffen wären, beim Wechsel der Gezeiten erfolgen sollte.

Da wurde plötzlich die Kabinentür aufgerissen, und ehe er recht zur Besinnung kommen konnte, röchelte er schon, von dem Messer Harry Markels durchbohrt, und rief nur noch:

»Hierher!... Zu Hilfe!«

Auf diese Rufe stürzten fünf oder sechs Matrosen aus dem Volkslogis hervor. – Corty und die andern erwarteten sie schon an dessen Ausgang, und sowie sie einzeln hervortraten, wurden sie meuchlings niedergestochen, ohne daß sie sich hätten verteidigen können.

Nach wenig Augenblicken lagen sechs Matrosen hingestreckt auf dem Verdecke. Tödlich getroffen, stießen einige noch einen Schreckens- und Schmerzensschrei aus. Diese Schreie konnte aber niemand hören, und wie hätte ihnen [67] Hilfe werden können hier in der Bucht, wo der »Alert« ganz allein, und jetzt von der Finsternis der Nacht verhüllt, vor Anker lag.

Sechs Mann und der Kapitän bildeten nicht die ganze Besatzung. Drei oder vier mochten noch im Volkslogis sein, trauten sich aber nicht herauszukommen.

Trotz ihres Widerstandes wurden sie jedoch hervorgezerrt, und in einem Augenblick rötete das Blut von elf Opfern der Mörder das Verdeck.

»Die Leichen ins Meer!« rief Corty.

Schon griff er mit zu, die Getöteten über Bord zu werfen.

»Halt, halt! mischte sich Harry Markel ein. Die Flut würde sie jetzt nach dem Hafen hintragen. Warten wir die Ebbeströmung ab, dann schwimmen sie mit dieser ins offene Meer hinaus!«

Harry Markel und seine Spießgesellen waren nun die Herren an Bord des »Alert«.

6. Kapitel
Sechstes Kapitel.
Als Herren an Bord.

Der Streich war gelungen. Der erste Teil des Dramas hatte sich mit all seinem entsetzlichen Schrecken und infolge tollkühnster Waghalsigkeit schnell abgespielt.

Früher der der »Halifax«, war Harry Markel jetzt der Herr des »Alert«.

Niemand hätte eine Ahnung von dem hier Vorgefallenen haben, niemand ein Verbrechen zur Anzeige bringen können, das in einem der verkehrsreichsten Häfen Großbritanniens, am Eingange zur Bai von Cork begangen worden war, wo so viele Fahrzeuge vor Anker gehen, die die Verbindung Europas mit Amerika unterhalten.

Jetzt hatten die Mordgesellen die englische Polizei nicht mehr zu fürchten, an Bord des »Alert« suchte diese sie gewiß nicht. Jetzt hinderte sie nichts [68] mehr, ihre Seeräubereien auf den entfernten Gewässern des Großen Ozeans wieder aufzunehmen. Sie brauchten nur die Anker aufzuwinden, nach dem offenen Meer zuzusteuern und in wenigen Stunden hatten sie dann den Sankt-Georgskanal hinter sich liegen.

Kamen freilich die Pensionäre der Antilian School an, um sich am Morgen des nächsten Tages einzuschiffen, so lag der »Alert« nicht mehr an seinem Ankerplatz und man würde vergeblich in der Bai von Cork und im Hafen von Queenstown nach ihm sachen.

Wie hätte man sich sein Verschwinden wohl erklären sollen?... Welche Mutmaßungen wären da gehegt und erwogen worden? Wären der Kapitän Paxton und seine Mannschaft vielleicht gezwungen gewesen, unter Segel zu gehen, selbst ohne die angemeldeten Passagiere abzuwarten? Doch aus welchem Grunde? Schlechtes Wetter konnte es nicht gewesen sein, das den »Alert« genötigt hätte, die Farmarbucht zu verlassen. Der Seewind machte sich kaum in der Einfahrt zur Bai bemerkbar... Die Segelschiffe lagen auch alle regungslos still. Nur einige Dampfer waren seit achtundvierzig Stunden ein- oder ausgelaufen. Noch am vorigen Abend hatte man den »Alert« an seiner Stelle liegen sehen, und anzunehmen, daß er in der Nacht angesegelt worden und infolge eines solchen Zusammenstoßes untergegangen sei, ohne daß auch nur ein Trümmerstück von ihm zu entdecken wäre, das war doch gar zu unwahrscheinlich.

Es lag also die Annahme nahe, daß die Wahrheit nicht so schnell und vielleicht überhaupt niemals an den Tag kommen werde, wenn nicht eine von den Leichen an den Strand getrieben wurde und das Geheimnis des furchtbaren Blutbades entschleierte.

Für Harry Markel blieb es immerhin wichtig, den Ankerplatz in der Farmarbucht baldigst zu verlassen, den »Alert« also bei Tagesanbruch von seiner früheren Stelle weggeführt zu haben. Begünstigten ihn dann die Verhältnisse beim Austritte aus dem Sankt-Georgskanal, so würde er, statt nach Südwesten in der Richtung nach den Antillen, einen Kurs nach Süden einschlagen, und Harry Markel gedachte in diesem Falle darauf zu achten, daß der »Alert« niemals in Sicht eines Landes käme und sich so weit wie möglich von dem gewöhnlichen Wege entfernte, den die nach dem Äquator segelnden Schiffe fast alle einhalten. Dann mußte der Vorsprung, den er hatte, ihn dagegen sichern, wieder aufgebracht zu werden, wenn man etwa einen Aviso zu seiner [69] Aufsuchung absendete. Übrigens konnte vorläufig kein Mensch auf den Gedanken kommen, daß der Kapitän Paxton mit seinen Leuten nicht an Bord des von Mrs. Kathlen Seymour gemieteten Schiffes wäre. Warum er ausgelaufen sei, das würde sich ja später zeigen, und zunächst erschien es gewiß angezeigt, wenigstens einige Zeit auf die Aufklärung des seltsamen Vorfalls zu warten.

Harry Markel hatte ohne Zweifel also die günstigsten Aussichten. Seine neun Mann mußten vollkommen für die vorkommenden Arbeiten auf dem »Alert« ausreichen. Alle waren ja, wie erwähnt, tüchtige Seeleute, die ihrem Kapitän ein unbegrenztes und auch verdientes Vertrauen entgegenbrachten.

Alles stimmte also überein, den Erfolg des verbrecherischen Unternehmens zu sichern. War das Schiff nach einigen Tagen in der Bai von Cork nicht wieder erschienen, so mußte das Seeamt glauben, daß es nach der aus unbekannten Gründen erfolgten Abfahrt im Atlantischen Meere mit Mann und Maus untergegangen sei. Jedenfalls konnte niemand der Gedanke kommen, daß sich die aus dem Gefängnisse von Queenstown entwichenen Häftlinge seiner bemächtigt haben könnten. Die Polizei setzte gewiß ihre Nachforschungen fort und dehnte diese auch auf die Umgebung der Stadt aus. Die ganze Grafschaft wurde voraussichtlich strengstens überwacht und das Land weithin mit Steckbriefen überschwemmt. Kurz, niemand würde daran zweifeln, daß die Verbrecherbande bald wieder hinter Schloß und Riegel käme.

Nur eines machte deren Lage doch etwas bedenklicher: die Unmöglichkeit, sofort abfahren zu können.

Das Wetter hatte sich nicht geändert und schien auch keine Neigung zu haben, bald umzuschlagen. Noch immer der feuchte Nebel, der aus niedrigen Luftschichten herabrieselte. Die unbeweglichen Wolken schienen sich zur Meeresfläche herabsenken zu wollen. Zuweilen konnte man nicht einmal den doch so hellen Lichtschein des Leuchtturmes am Eingange der Bai wahrnehmen. Bei der tiefen Finsternis versuchte es gewiß kein Dampfer, hinaus oder herein zu kommen. Jeder hätte sich damit großen Gefahren ausgesetzt, da nicht einmal die Leuchtfeuer der Küste und des Sankt-Georgskanals zu erkennen waren. Segelschiffe aber mußten draußen einige Seemeilen von der Küste schon wegen der Windstille liegen bleiben. Das Meer »fühlte nichts«, wie die Seeleute sagen. Kaum bewegte sich die Oberfläche der Bai von der langsam eindringenden Flutwelle, kaum plätscherte das Wasser hörbar am Vordersteven des »Alert«, und das am Hinterteile angeseilte Boot rührte sich nicht von der Stelle.

[70] »Nicht einmal Wind genug, meine Mütze zu füllen!« rief John Carpenter und begleitete seine Worte mit einem gemeinen Fluche.

An ein Abfahren war also nicht zu denken. Träge hingen die Segel an den Masten herunter und das Schiff wäre mit dem Flutstrome höchstens nach dem Hafen von Queenstown getragen worden.

Beim Wechsel der Gezeiten führt das vom hohen Meere eindringende Wasser gewöhnlich etwas Wind herbei, und obgleich ein solcher jetzt eine widrige Richtung gehabt hätte, würde ihn Harry Markel doch benutzt haben, lavierend aus der Bai hinaus zu kommen. Der Obersteuermann kannte die Wasserverhältnisse hier so genau, daß die Fahrt des Schiffes unbehindert geblieben wäre, und einmal draußen, mußte es dem »Alert« schon möglich werden, jeden schwachen Windhauch auszunutzen. Wiederholt stieg John Carpenter nach einer der Marsen (Mastkörbe) hinauf, vielleicht hielt nur die von einem steilen, hohen Ufer eingeschlossene Bucht den Wind noch zurück. Nein... vergeblich; der Wimpel am Großmast blieb so schlaff hängen wie bisher.

Alle Hoffnung war jedoch noch nicht verloren, selbst wenn sich vor Tagesanbruch kein Wind erhob. Nach Mitternacht trat wieder der Gezeitenwechsel ein. Mit dem dann einsetzenden Ebbestrome konnte Harry Markel ja versuchen, nach dem offenen Meere zu gelangen. Mit Hilfe der Boote, worin die gesamte Mannschaft Platz nehmen und rudern mußte, konnte der »Alert« ja fortgeschleppt und bis zur Bai hinaus gebracht werden. Harry Markel und John Carpenter hatten an diese Aushilfe gewiß auch schon gedacht. Was geschah aber, wenn das Fahrzeug draußen noch immer in eine Windstille geriet? Fanden die Passagiere das Schiff nicht mehr an seinem Platze, so kehrten sie natürlich zum Hafen zurück, und dort erfuhr man von ihnen, daß der »Alert« abgefahren sei. Dann suchte man ihn jedenfalls in der Bai. Und wenn nun das Hafenamt eine Dampfschaluppe hinausschickte, die es etwa jenseits der Rochespitze einholte? Da wären Harry Markel und seine Leute ja der schlimmsten Gefahr ausgesetzt. Das still liegende Fahrzeug wäre erkannt, bestiegen und durchsucht worden. Dann wurden alle verhaftet und die Polizei erfuhr von dem blutigen Auftritte, der dem Kapitän Paxton und seiner Mannschaft das Leben gekostet hatte.

Es war also augenscheinlich mit einer wirklichen Gefahr verbunden, jetzt abzufahren, da der »Alert« nicht sicher war, draußen auch weiter fortzukommen; freilich lag kaum eine kleinere Gefahr darin, in der Farmarbucht noch länger [71] zu verweilen. Zu dieser Jahreszeit hielten Windstillen nicht selten gleich mehrere Tage hintereinander an.

Jedenfalls mußte ein Entschluß gefaßt werden.

Erhob sich im Laufe der Nacht gar kein Wind und war es also ganz unmöglich, abzusegeln, so blieb Harry Markel und seinen Genossen nichts anderes übrig, als das Schiff wieder zu verlassen, sich im Boote nach dem Hintergrunde der Bucht zu flüchten und sich auf dem Lande in der Hoffnung zu zerstreuen, daß die Bemühungen der Polizei erfolglos sein würden. Später einmal konnte dann vielleicht ein ähnlicher Handstreich unternommen werden. Vielleicht konnten sie auch, in einem Einschnitt des hohen Ufers versteckt, das Wiederaufleben des Windes abwarten und mit Anbruch der Nacht doch noch wieder an Bord zurückkehren. Trafen freilich die Passagiere am kommenden Morgen an dem verlassenen Schiffe ein, so begaben sie sich unzweifelhaft nach Queenstown zurück, und von da schickte man dann Leute aus, den »Alert« zu besetzen und ihn in den Hafen zurück zu schleppen.

Das waren die verschiedenen Fragen, die Harry Markel, der Obersteuermann und Corty eingehend erörterten, während die übrigen auf dem Vorderkastell beisammen saßen.

»Verwünschter Wind! rief John Carpenter wiederholt, wenn man ihn nicht braucht, hat man davon zu viel, und wieder gar keinen, wenn man ihn wie jetzt so dringend nötig hat!

– Und wenn die Flut keinen mitbringt, sagte Corty, dann wird mit dem Eintritt der Ebbe etwas Landwind kommen.

– Aber das Boot, das morgen früh schon seine Ladung Passagiere hierher bringen soll... müßten wir denn diese abwarten?

– Ja, wer weiß, John, wie sich das gestaltet.

– Übrigens sind es zusammen nur zehn, erklärte John Carpenter, und dazu nach dem, was in den Zeitungen zu lesen war, sehr junge Leute mit ihrem Lehrer. Sapperment, wir sind doch mit der Mannschaft des »Alert« fertig geworden, da kann es doch kein so großes Kunststück sein...«

Corty schüttelte mit dem Kopfe, wenn er auch John Carpenters Gedankengang nicht mißbilligte. Er glaubte jedoch hinzusetzen zu müssen:

»Was in der Nacht leicht genug gewesen ist, wird das nur nicht am hellen Tage sein. Die Passagiere könnten auch von Personen aus dem Hafen begleitet werden, von Leuten, die den Kapitän Paxton persönlich kannten. Was [72] [75]sollen wir zur Antwort geben, wenn diese dann fragen, warum er nicht an Bord sei?

– O, man sagt ihnen, er hätte sich ans Land begeben, erwiderte der Obersteuermann, sie fahren dann mit ihrem Boote nach Queenstown zurück, und später...«

Hier in der ziemlich ganz verlassenen Farmarbucht und zu einem Zeitpunkte, wo gerade kein anderes Schiff in Sicht war, mußten die Elenden ja ihre Passagiere ohne Zweifel bald überwältigen können, und vor diesem neuen Verbrechen schreckten sie gewiß nicht zurück. Patterson und seine jungen Begleiter wären ermordet worden, ehe sie an eine Verteidigung denken konnten... ganz wie es der Besatzung des »Alert« ergangen war.

Seiner Gewohnheit gemäß ließ Harry Markel die Leute reden. Er überdachte, was in dieser sehr bedrohlichen Lage notwendig wäre, in die sie durch die Unmöglichkeit, in See zu gehen, versetzt waren. Zögern würde er ja auf keinen Fall, vielleicht empfahl es sich aber doch, noch bis zum nächsten Abend, etwa noch zwanzig Stunden, zu warten. Dabei bestand freilich noch eine erschwerende Tatsache: der Kapitän Paxton war jedenfalls einem oder dem andern persönlich bekannt, und wie hätte man sein Fernsein an dem Tage, ja in der Stunde, die für die Abreise bestimmt war, irgendwie glaubwürdig erklären sollen?


Queenstown.

Nein, das wünschenswerteste blieb es doch, daß ein aufspringender Wind gestattete, die Segel zu benutzen und sich im Laufe der Nacht so einige zwanzig Seemeilen von Irland zu entfernen. Offenbar hatten sie, wie das Volk sagt, Pech, sich der Verfolgung durch die Polizei nicht sofort entziehen zu können.

Alles in allem blieb aber doch nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu fassen. Noch war es nicht elf Uhr, und ein Umschlag der atmosphärischen Verhältnisse vor Sonnenaufgang ja recht wohl möglich, obwohl Harry Markel und seine Leute trotz ihrer Erfahrungen über den Witterungsverlauf noch keine Anzeichen dafür wahrnahmen. Der anhaltende Nebel verursachte ihnen eine gerechtfertigte Unruhe. Er deutete auf eine völlig elektrizitätslose Atmosphäre, auf eine »verrottete Witterung«, wie die Seeleute sagen, von der nichts zu hoffen ist und die sich zuweilen gleich auf mehrere Tage ausdehnt.

Doch wie gesagt, hier gab es nichts anderes, als das weitere abzuwarten, und darauf beschränkte sich auch die Antwort Harry Markels. Zur gegebenen Zeit würde man darüber schlüssig werden, ob es angezeigt sei, den »Alert« [75] zu verlassen und nach einer geeigneten Uferstelle der Farmarbucht zu gehen, um von da aus in das Hinterland zu flüchten. Für jeden Fall versorgten sich die Raubgesellen gleich mit Nahrungsmitteln, nachdem sie sich schon das Geld aus dem Schreibtische des Kapitäns und aus den Reisesäcken der Matrosen angeeignet hatten. Auch die vorgefundenen Kleidungsstücke der Matrosen sollten angelegt werden, da sie nicht so leicht Verdacht erregen konnten als die der Verbrecher, die aus dem Queenstowner Gefängnis entwichen waren. Mit Geld und sonstigen Bedürfnissen reichlich ausgestattet, durften sie vielleicht hoffen, die Nachsuchungen der Polizei zu vereiteln, sich nach einem andern Hafen Irlands begeben und von da nach einem andern Erdteil in voller Sicherheit entkommen zu können.

Vor der letzten Entscheidung mußten also noch fünf bis sechs Stunden vergeben. Harry Markel und seine von der Polizei gehetzte Bande waren schon zum Zusammenbrechen ermüdet gewesen, als sie den »Alert« überrumpelten. Außerdem kamen sie fast um vor Hunger. Sobald sie sich des Schiffes bemächtigt hatten, war es deshalb ihre erste Sorge gewesen, sich Nahrung zu verschaffen.

Der von ihnen, dem diese Aufgabe fast selbstverständlich zufiel, war Ranyah Cogh. Dieser zündete eine Laterne an, durchsuchte die vor dem Fockmaste gelegene Küche und die Vorratskammer an der gemeinschaftlichen Kajüte, nach der er durch eine Treppenkappe hinunterging. Übrigens versprach der Inhalt des Frachtraumes, der mit allen Bedürfnissen für die Hin- und Rückreise ausgestattet war, für die Fahrt des »Alert« nach dem Großen Ozean alles Notwendige zu bieten.

Ranyah Cogh hatte es leicht genug, nicht nur den Hunger seiner Genossen zu stillen, sondern auch ihren Durst: Brandy, Whisky und Gin gab es in hinreichender Menge.

Alle sättigten sich nun zur Genüge, und dann gab Harry Markel, der sich auch an dem Essen beteiligt hatte, John Carpenter und den übrigen Befehl ihre Kleidung gegen die der Matrosen auszutauschen, deren Leichen noch auf dem Decke lagen. Dann könnten sie sich irgendwo, nötigenfalls in der Hauptkajüte, zum Schlaf niederlegen, aus dem sie geweckt werden sollten, wenn es möglich wäre, die Segel zu hissen.

Harry Markel dachte gar nicht daran, sich Ruhe zu gönnen. Ihm lag es zunächst am Herzen, einen Einblick in die Schiffspapiere zu nehmen, der ihm voraussichtlich nach allen Seiten von Nutzen sein mußte. Er begab sich [76] also nach der Kabine des Kapitäns, zündete die Lampe an und öffnete alle Schubladen mit den Schlüsseln, die er den Taschen des unglücklichen Paxton entnommen hatte. Nachdem er daraus verschiedene Schriftstücke hervorgeholt hatte, setzte er sich mit derselben Kaltblütigkeit an den Tisch, von der er im Laufe seines abenteuerlichen Lebens schon so viele Beweise geliefert hatte.

Die verschiedenen Schriftstücke waren, wie nicht anders zu erwarten, in bester Ordnung, da ja die Abfahrt am nächsten Morgen stattfinden sollte. Das Durchfliegen der Mannschaftsrolle belehrte ihn, daß alle Matrosen, zwölf an der Zahl, bei der Überrumplung des »Alert« anwesend gewesen waren Er konnte also sicher sein, daß nicht der eine oder andere an Bord zurückkehren würde, der zu jener Stunde sich in Erfüllung eines Auftrages oder mit Landurlaub in Queenstown befunden hätte. Nein: die Leute waren bis auf den letzten Mann abgeschlachtet worden.

Aus dem Ladungsverzeichnis ersah Harry Markel, daß das Schiff an getrocknetem Fleisch, Dörrgemüsen, Zwieback, an eingesalzenen Nahrungsmitteln, an Mehl u. dergl. für mindestens drei Monate ausgestattet war, und diese Zeit mußte auf jeden Fall genügen, den Großen Ozean zu erreichen. Das Geld im Kassenschranke der Kabine belief sich in runder Summe auf sechshundert Pfund Sterling (12.000 Mark).

Für Harry Markel hatte es ferner ein begreifliches Interesse, die bisherigen Reisen des Kapitän Paxton mit dem »Alert« kennen zu lernen, da es ihm darauf ankam, bei seinen späteren Fahrten keinen der Häfen zu berühren, die der Ermordete früher angelaufen hatte und wo er dem oder jenem gewiß bekannt sein mußte. Harry Markel faßte eben jede Möglichkeit ins Auge und er war nicht der Mann dazu, irgend welche Vorsichtsmaßregel zu vernachlässigen. Die Durchsicht der betreffenden Bücher gab ihm auch den erwünschten Aufschluß.

Der »Alert« war ein erst drei Jahre altes Fahrzeug und in Birkenhead in der Werft von Simpson & Cie. erbaut. Er hatte erst zwei Reisen nach Indien gemacht, dabei die Häfen von Bombay, Ceylon und Kalkutta angelaufen und war dann unmittelbar nach Liverpool, seinem Heimathafen, zurückgekehrt. Da er nach den Gewässern des Großen Ozeans niemals gekommen war, konnte Harry Markel wegen des Feldes seiner geplanten Raubzüge völlig beruhigt sein. Schlimmsten Falles hätte er sich ja auch für den Kapitän Paxton ausgeben können.

[77] Aus dem von dem Kapitän geführten Reisejournal ging ferner hervor, daß er niemals die Antillen – weder die französischen oder englischen, noch die holländischen, dänischen oder schwedischen – besucht hatte. War er von Mrs. Kathlen Seymour erwählt worden, die Stipendiaten der Antilian School dahin zu befördern, und war der »Alert« für diese Reise gechartert worden, so war das auf die besondere Empfehlung eines in Liverpool ansässigen Korrespondenten geschehen, der sich für das Schiff und für den Kapitän verbürgte.

Gegen halb ein Uhr, wo Harry Markel nach dem Auslöschen der Lampe die Kabine wieder verließ, bestieg er das Vorderkastell. Hier trat ihm John Carpenter entgegen.

»Noch immer windstill? fragte er.

– Noch immer, antwortete der Obersteuermann, und auch keine Aussicht auf eine Änderung des Wetters!«

In der Tat rieselte auch jetzt noch der Nebel aus den niedrig hängenden, den Himmel bedeckenden Wolken nieder, wie vorher war es auf der Bai totenstill, eine Ruhe, die von keinem Plätschern der Strömung unterbrochen wurde. Jetzt war eben die Zeit des sogenannten Geviertscheines, wo die Gezeiten zu dieser Jahreszeit nur ziemlich schwach auftreten. Auch die Flutwelle schritt nur langsam durch die Hafeneinfahrt nach Cork hin vor und reichte nicht weiter als zwei Seemeilen im Bette des Lees hinaus.

Der nächste Wechsel des Wasserstandes mußte um drei Uhr früh eintreten und mit ihm wieder die Ebbeströmung bemerkbar werden.

John Carpenter hatte gewiß Ursache genug, über die Widerwärtigkeiten, durch die sie hier zurückgehalten wurden, zu schimpfen. Mit der Ebbe und nur einer Handvoll Wind, mochte er wehen, woher er wollte, hätte der »Alert« unter Segel gehen, die Landspitze an der Farmarbucht umschiffen und die Hafeneinfahrt erreichen können. Selbst wenn man dabei ein paarmal hin- und herlavieren mußte, hätte er bei Tagesanbruch schon weit draußen vor der Bai von Cork sein können. Doch nein... noch lag er hier vor seinem Anker, unbeweglich wie eine Boje oder ein toter Körper. An ein Abfahren unter diesen Verhältnissen war gar nicht zu denken.

Es galt also nur, sich zu bezähmen und vorläufig ohne die Hoffnung auf eine Änderung, wenn die Sonne über die Uferhöhen der Farmarbucht emporstieg. Wiederum vergingen zwei Stunden. Weder Harry Markel noch John Carpenter oder Corty hatten daran gedacht, sich niederzulegen, während [78] ihre Genossen, meist auf dem Vorderdeck längs der Schanzkleidung ausgestreckt, in tiefem Schlummer lagen. Das Aussehen des Himmels änderte sich nicht. Die Wolken blieben an derselben Stelle stehen. Strich auch dann und wann ein schwacher Lufthauch von der Seeseite herein, so erstarb er doch sofort wieder, und nichts deutete darauf hin, daß eine Brise, sei es vom Meere, sei es vom Lande her, aufspringen würde.

Um drei Uhr siebenundzwanzig Minuten, als schon ein fahler Lichtschein über dem östlichen Horizonte stand, stieß das von der Ebbeströmung erfaßte Boot, das noch an der Leine hing, leicht gegen den Rumpf des »Alert«, der sich nun ebenfalls vor seinem Anker drehte und das Heck der Seite des Meeres zuwendete.

Vielleicht kannte man hoffen, daß das Sinken des Wassers ein wenig Nordostwind herbeiführen würde, der es dem Schiffe dann ermöglicht hätte, seinen Ankerplatz zu verlassen und in den Sankt-Georgskanal zu gelangen. Diese Hoffnung täuschte jedoch. Die Nacht verging, ohne daß es möglich wurde, den Anker einzuziehen.


Ranyah Cogh zündete eine Laterne an, durchsuchte die Küche und die Vorratskammer. (S. 76.)

Jetzt wurde es aber dringend nötig, sich der Leichen zu entledigen. Vorher wollte John Carpenter sich nur überzeugen, daß diese nicht durch einen Wasserwirbel in der Farmarbucht zurückgehalten würden. Corty und er bestiegen deshalb das Boot, erkannten aber mit Befriedigung, daß die Strömung nach dem Landvorsprünge der Bucht zu verlief. Die Ebbe nahm das Wasser in dieser Richtung mit.

Das Boot kehrte zurück, legte sich mittschiffs dicht an den Rumpf des Fahrzeugs, und einer nach dem andern wurden die toten Körper darin niedergelegt.

Um ganz vorsichtig zu sein, trieb man das Boot bis zur andern Seite der Landspitze, gegen die sie sonst hätte die Strömung tragen und vielleicht am Strande liegen lassen können.

Dann versenkten John Carpenter und Corty die Leichen eine nach der andern in das stille Wasser, und zwar so behutsam, daß man kaum ein Plätschern hörte. Zuerst versanken die Kadaver, dann stiegen sie wieder zur Oberfläche auf, und von der Ebbeströmung erfaßt, trieben sie hinaus in die Tiefen des Weltmeeres.

[79]
7. Kapitel
Siebentes Kapitel.
Der Dreimaster »Alert«.

Der »Alert«, ein dreimastiges Barkschiff von vierhundertfünfzig Tonnen, stammte, wie schon erwähnt, aus den Werften von Birkenhead; er war mit Kupfer beschlagen und verbolzt und im Bureau Veritas unter Klasse 1 eingetragen. [80] Am Gaffeltaue die britische Flagge führend, bereitete er sich zu seine dritten Fahrt vor.

Nachdem er bei den zwei ersten Reisen über den Atlantischen Ozean gesegelt, um die Südspitze von Afrika gekommen war und den Indischen Ozean durchkreuzt hatte, sollte er jetzt für Rechnung der Mrs. Kathlen Seymour auf dem Wege nach den Antillen von Anfang an nach Südwesten steuern.

Der »Alert«, bei großer Segelfläche ein guter Läufer, hatte unter allen Verhältnissen alle die vortrefflichen Eigenschaften der schnellen Klipper und brauchte [81] zur Zurücklegung der Strecke von Irland bis zu den Antillen voraussichtlich nicht mehr als drei Wochen, wenn er durch Windstillen keine Verzögerung erlitt.

Von seiner ersten Fahrt an hatte der »Alert« als Befehlshaber den Kapitän Paxton gehabt, als zweiten Offizier den Leutnant Davis und als Besatzung neun Mann, die zur Führung eines Segelschiffes von sei nem Tonnengehalt ausreichten. Bei der zweiten Fahrt, von Liverpool nach Kalkutta, war hierin keine Veränderung eingetreten.


Man trieb das Boot bis zur andern Seite der Landspitze. (S. 80.)

Dieselben Offiziere, dieselbe Mannschaft, die er vorher gehabt hatte, sollte er auch bei dieser Fahrt von Europa nach Amerika behalten. Der Kapitän Paxton verdiente das weitgehendste Vertrauen, er war ein vortrefflicher, ebenso kenntnisreicher, wie gewissenhafter Seemann, der der Mrs. Kathlen Seymour in wärmster Weise empfohlen worden war. Die jungen Preisträger der Antilian School und ihr gelehrter Begleiter fanden an Bord des »Alert«, auf dem für diese Fahrt noch besondere Vorrichtungen getroffen waren, alle Bequemlichkeit und Sicherheit, die deren Eltern ihnen nur wünschen konnten. Die Hin- und Rückreise sollte ja auch in der schönen Jahreszeit erfolgen und die Abwesenheit der Pensionäre der Antilian School nicht zweiundeinhalb Monate überdauern.

Leider stand der »Alert« jetzt nicht mehr unter dem Befehle des Kapitäns Paxton. Seine Mannschaft war auf dem Ankerplatz in der Farmarbucht ermordet worden. Das Fahrzeug befand sich in der Gewalt der Seeräuberrotte von der »Halifax«.

Beim ersten Morgenlichte besichtigten Harry Markel und John Carpenter das Schiff, dessen sie sich bemächtigt hatten, genauer im einzelnen. Auf den ersten Blick erkannten sie seine nautischen Eigenschaften: die Feinheit der Formen, die günstige Gestalt der Wasserlinie, die passende Erhöhung des Vorder- und die angemessene Senkung des Hinterteils, die Höhe seiner Masten, das weite Ausladen der Raaen und die Tiefe seiner Eintauchung, die es gestattete, eine sehr große Segelfläche zu führen. Wäre es ihm möglich gewesen, noch am vergangenen Abend gegen neun Uhr abzufahren, so hätte es, selbst bei ganz schwacher Brise, in der Nacht den Sankt-Georgskanal noch hinter sich gebracht und bei Tagesanbruch wäre es schon dreißig Seemeilen von der irischen Küste entfernt gewesen.

Am Morgen zeigte sich der Himmel noch immer mit niedrig stehenden Wolken oder vielmehr mit Nebelmassen bedeckt, die schon ein mäßiger Wind in[82] wenig Minuten zerstreut hätte. Dunst und Wasser gingen kaum drei Kabellängen vom »Alert« völlig ineinander über. Ob sich bei dem Fehlen des Windes dieser Nebel durch die weiter aufsteigende Sonne auflösen würde, das war mindestens zweifelhaft. Da ein Abfahren einmal unmöglich war, mußte es Harry Markel vorziehen, daß die Dunstmassen sich nie bis jetzt erhielten und das Schiff auf seinem Ankerplatze unsichtbar blieb.

Das sollte jedoch nicht zutreffen. Gegen sieben Uhr und ohne daß auch nur eine Spur von Land- oder Seewind auftrat, wurden die Dunstmassen unter der Einwirkung der Sonnenstrahlen durchsichtiger, was einen warmen Tag versprach, der von keiner Brise gekühlt wurde. Bald lag dann die ganze Bai völlig frei da.

Zwei Seemeilen von der Farmarbucht wurde bald das Panorama des Hafens von Queenstown und darauf, weiter im Hintergrunde, die erste Häuserreihe der Stadt sichtbar. Vorn im Hafen lagen da und dort Segelschiffe vor Anker, die ebenfalls aus Mangel an Wind nicht in See gehen konnten.

So lange der »Alert« von dem dichten Nebel umhüllt wurde, liefen Harry Markel und seine Leute dadurch, daß sie auf dem Schiffe blieben, keinerlei Gefahr. Doch wäre es, sobald die Luft klarer wurde, nicht ratsamer gewesen, davon wegzugehen und sich auf dem Lande zu verbergen? Binnen ein oder zwei Stunden hatten sie ja zu erwarten, die Passagiere des »Alert« empfangen zu müssen, da diese nach dem, was sie noch in der Stadt gehört hatten, am vorigen Abend in Queenstown angekommen waren. Würde es auch noch Zeit sein, wenn sie jetzt den Hintergrund der Bucht zu erreichen suchten, weiter ins Land hinein zu entkommen?

John Carpenter, Corty und die andern hatten sich um Harry Markel gedrängt und erwarteten jeden Augenblick dessen Anordnung, Proviant in das Boot zu schaffen. Mit wenigen Ruderschlägen hätten sie eine flache Strandstelle im Hintergrunde der Bucht erreicht.

Auf eine bezügliche, vom Obersteuermann gestellte Frage antwortete Harry Markel aber nur:

»Wir sind und bleiben an Bord!«

Die Leute, die ihm voll vertrauten, fragten nicht weiter: Harry Markel hatte jedenfalls guten Grund, in dieser Weise zu sprechen.

Auf der Bai wurde es allmählich etwas lebhafter. Zwar keine Segelschiffe, doch mehrere Dampfer begannen mit dem Aufwinden der Anker. Fünf oder[83] sechs Dampfschaluppen glitten von dem einen zu dem andern hin, steuerten in den Hafen ein oder daraus hervor und ließen einen langen Streifen weißschäumenden Kielwassers hinter sich. Keine davon näherte sich jedoch der Farmarbucht. An Bord des »Alert« war nichts zu befürchten.

Gegen acht Uhr freilich wurde es notwendiger, auf seiner Hut zu sein.

In die Bai war ein Dampfer eingelaufen, der sich gerade vor der Farmarbucht befand, als er nach Steuerbord beidrehte, als suche er einen Ankerplatz in der Nachbarschaft des »Alert«. Wollte er das wirklich, statt an einem der Piere vor Queenstown anzulegen, so bedeutete das, daß er sich wahrscheinlich nur einige Stunden, höchstens wenige Tage aufzuhalten denke. Jedenfalls kamen dann aber Boote aus dem Hafen an ihn heran, und das konnte für Harry Markel und seine Leute die schlimmsten Folgen haben.

Das betreffende Schiff, das die britische Flagge an der Gaffel führte, war einer der großen Lastdampfer, die nach den englischen Kolonien Steinkohlen befördern und von da Getreide oder Nickelerz wieder mitbringen.

Es war an der Landspitze vorüberfahrend näher herangekommen und bewegte sich nur langsam weiter. Harry Markel fragte sich, ob es jetzt vielleicht stoppen oder ob es beidrehen werde, um in die Farmarbucht einzulaufen.

Die »Concordia« – man konnte am Vorderteile diesen Namen erkennen – steuerte offenbar nicht in gerader Linie auf den Hafen von Queenstown zu. Das Schiff näherte sich vielmehr dem »Alert« und hielt kaum eine halbe Kabellänge von diesem an. Dennoch schien es nicht so, als wenn es sich an derselben Stelle festlegen wollte.

Was beabsichtigte der Kapitän der »Concordia« also mit diesem Manöver? Hatte er den »Alert« erkannt, vielleicht an dessen Heck den Namen gelesen? Stand er zum Kapitän Paxton in irgend welcher Beziehung und wollte er ihm vielleicht etwas mitteilen?... Ließ er etwa gar ein Boot klar machen und kam selbst an Bord des Dreimasters?

Begreiflicherweise mußten diese Möglichkeiten Harry Markel, John Carpenter, Corty und die andern aufs tiefste beunruhigen. Offenbar wäre es besser gewesen, das Schiff im Dunkel der Nacht zu verlassen, da es doch einmal nicht abfahren konnte, und besser, sich auf dem Lande zu zerstreuen und eine Gegend aufzusuchen, die mehr Sicherheit bot, als die Umgebung von Queenstown, wo die Konstabler eifrig nach den Entflohenen spähten.

Jetzt war es dazu zu spät.

[84] Harry Markel beobachtete jedenfalls die Vorsicht, sich nicht auf dem Vorderkastell zu zeigen, er hielt sich vielmehr an der Tür des Deckhauses auf, wo er auch durch die Schanzkleidung mehr verdeckt wurde. In diesem Augenblicke ertönte die Stimme eines Matrosen von der »Concordia« nach dem »Alert« herüber.

»Ohe!... ›Alert‹! Ist der Kapitän an Bord?«

Auf diese Frage gab Harry Markel nicht sogleich Antwort. Allem Anscheine nach wollte die »Concordia« mit dem Kapitän Paxton sprechen.

Gleich darauf kam aber durch das Sprachrohr die weitere Frage:

»Wer befehligt den › Alert‹?«

Die eben Angekommenen kannten von dem Dreimaster also nur den am Heck angebrachten Namen, wußten aber nicht, wer das Schiff führte.

Einigermaßen konnte sich Harry Markel also beruhigen. Da ein längeres Stillschweigen hätte Verdacht erwecken können, stellte er nach Besteigung des Vorderkastells nun selbst einige Fragen:

»Wer ist Befehlshaber der ›Concordia‹?

– Der Kapitän James Brown, antwortete dieser in eigener Person von der Kommmandobrücke aus, wo man ihn an seiner Uniform erkannte.

– Was wünscht der Kapitän Brown? fragte Harry Markel weiter.

– Wißt Ihr, ob der Preis des Nickelerzes in Cork jetzt gestiegen oder gefallen ist?

– Sage ihm, er sei gefallen, dann schert er sich seiner Wege, raunte Corty dem andern zu.

– Gefallen! rief Harry Markel hinüber.

– Um wieviel?

– Drei Schilling sechs Pence... soufflierte Corty.

– Um drei Schilling sechs Pence, wiederholte Harry Markel.

– Dann ist hier kein Geschäft zu machen, erwiderte James Brown. Ich danke Kapitän!

– Bitte... gern geschehen.

– Hätten Sie etwas in Liverpool auszurichten?

– Nein.

– Glückliche Reise dem › Alert‹!

– Gute Fahrt der › Concordia‹!«

Nach Empfang dieser Mitteilung, deren Zuverlässigkeit der Leser ja selbst beurteilen kann, wendete der Dampfer wieder, um aus der Farmarbucht herauszukommen. [85] Sobald er die Landspitze erreicht hatte, gab er Volldampf und schlug einen nordöstlichen Kurs nach Liverpool ein.

Da machte John Carpenter die sehr naheliegende Bemerkung:

»Zum Dank dafür, daß wir ihn so prompt über den Preis des Nickelerzes unterrichtet haben, hätte der Kapitän der ›Concordia‹ uns wahrlich ins Schlepptau nehmen und uns aus dieser verwünschten Bai heraushelfen können.«

Hätte sich jetzt auch die erwünschte Brise erhoben, so wäre es doch zu spät gewesen, sie zu benutzen. Zwischen Queenstown und dem Hafeneingange herrschte schon ein lebhafter Verkehr. Fischerboote glitten hinaus und herein, und mehrere davon waren beschäftigt, ihre Angelschnüre an der Rückseite der Landspitze und wenige Kabellängen von dem Schiffe auszulegen. Harry Markel und seine Genossen ließen sich aus Vorsicht so wenig wie möglich sehen. Wäre der »Alert« jetzt abgesegelt, ohne seine Passagiere zu erwarten, die ja jede Stunde kommen konnten, so mußte dieses unerklärliche Verhalten unbedingt verdächtig erscheinen. Am ratsamsten war es noch immer, nicht vor der nächsten Nacht – wenn es dann überhaupt möglich war – von hier abzufahren.

Die Sachlage war natürlich eine recht beunruhigende; der Zeitpunkt nahte, wo der Mentor und seine jungen Reisegefährten an Bord des »Alert« kommen mußten.

Wie wir wissen, war die Abreise von Mrs. Kathlen Seymour in Übereinstimmung mit dem Direktor der Antilian School auf den 30. Juni festgesetzt worden. Patterson würde gestern Abend angekommen sein und sich gewiß um keine Stunde verspäten. Als pünktlicher und gewissenhafter Mann gönnte er sich jedenfalls nicht einmal so viel Zeit, Cork und Queenstown im Fluge zu besichtigen, obwohl er noch keine der beiden Städte kannte. Nach einer ruhig verbrachten Nacht, in der er sich von den Anstrengungen der langen Fahrt erholte, würde er sich – das durfte man wenigstens annehmen – zur richtigen Stunde erheben, seine Gesellschaft wecken und sich nach dem Hafen begeben. Hier erfuhr er dann den Ankerplatz des »Alert«, und an einem Boote, alle dahin überzuführen, konnte es ja nicht fehlen.

Solche Gedanken drängten sich Harry Markel jetzt ganz unwillkürlich auf, obgleich er gar nicht wußte, wes Geistes Kind der Herr Patterson wäre Während er immer darauf achtete, sich nicht auf dem Vorderkastell sehen zu lassen, aus Furcht, von den Fischern bemerkt zu werden, behielt er doch die Bai immer scharf im Auge. Mit dem Fernrohr in der Hand beobachtete Corty [86] durch die Fenster der Achterkajüte sorgsam alle Vorgänge im Hafen, dessen zwei Seemeilen entfernte Kais und Gebäude er genau erkennen konnte. Der Himmel war völlig klar geworden; die Sonne stieg an dem ganz reinen Horizonte empor, von dem sie alle Nebelmassen verscheucht hatte. Vom Wind spürte man aber gar nichts, nicht einmal draußen an der Seeseite, und die Zeichen der Semaphore meldeten völlige Ruhe auf dem glatt daliegenden Meere.

»Nun ja, rief John Carpenter unmutig, ein Gefängnis an Stelle des anderen! Da wäre das von Queenstown auch nicht schlechter gewesen!... Aus dem haben wir wenigstens entweichen können, doch hier...

– Nur Geduld!« schnitt Harry Markel seine weitere Rede ab.

Kurz vor halb elf Uhr erschien Corty wieder an der Tür des Deckhauses.

»Ich glaube ein Boot, etwa mit zehn Personen darin, gesehen zu haben, das eben den Hafen verlassen hat.

– Das wird die Schaluppe sein, die unsere Passagiere bringt!« rief der Obersteuermann.

Harry Markel und er begaben sich sofort in die gemeinschaftliche Kajüte und richteten ihre Fernrohre nach dem von Corty erwähnten Boote.

Bald war es nicht mehr zweifelhaft, daß dieses, von der Ebbeströmung unterstützt, auf den »Alert« zusteuerte. Es wurde von zwei Matrosen fortgetrieben, während ein dritter am Steuer saß. In der Mitte und im Hinterteile hatten zehn Personen Platz genommen, zwischen denen noch Reisesäcke und große Pakete lagen.

Alles deutete also darauf hin, daß das die Passagiere des »Alert« waren, die sich an Bord begeben wollten.

Jetzt nahte der entscheidende Augenblick, der das ganze Gebäude Harry Markels zum Zusammenbruch zu bringen drohte.

Alles hing nur noch davon ab, ob Patterson oder einer der jungen Leute den Kapitän Paxton schon persönlich kannte. Das war ja ziemlich unwahrscheinlich, und auf diese Unwahrscheinlichkeit hatte Harry Markel seine weiteren Pläne gegründet. Immerhin war noch zu bedenken, ob der Kapitän Paxton auch den Seeleuten aus dem Hafen nicht bekannt wäre, den dreien, die jetzt das Boot führten, und was würden diese sagen, wenn er sich etwa für Paxton ausgäbe?

Freilich kam hierbei in Betracht, daß der »Alert« zum ersten Male im Hafen von Queenstown, oder vielmehr in der Bai von Cork ankerte. Sein [87] Kapitän hatte sich zwar unbedingt ans Land begeben müssen, um die Formalitäten zu erfüllen, die jedem ein- oder ausfahrenden Schiffe durch das Seegesetz auferlegt sind, es ließ sich jedoch ohne zu kühne Voraussetzung annehmen, daß die Matrosen im Boote mit ihm in Queenstown nicht in Berührung gekommen wären.

»Auf jeden Fall, sagte John Carpenter am Schlusse des Gesprächs, das er mit seinen Kameraden über dieses Thema geführt hatte, auf jeden Fall lassen wir die Leute ruhig an Bord steigen!

– Das ist wohl das gescheiteste, meinte Corty, wir wollen auch behilflich sein, das Gepäck herauszuschaffen.

– Jeder an seinen Posten!« befahl Harry Markel.

Zunächst gebrauchte er aber noch die Vorsicht, das Boot verschwinden zu lassen, das sie am Tage vorher gestohlen und zur Fahrt nach der Farmarbucht benutzt hatten. Wollten sie noch entfliehen, so genügten ihnen die Boote vom »Alert«. Einige Axtschläge zertrümmerten das Boot, dessen Bruchstücke schnell versanken.

Sofort begab sich dann Corty nach dem Vorderdeck und stellte sich bereit, eine Fangleine auszuwerfen, wenn das andere Boot dicht heran wäre.

»Nun, jetzt gilt's, einer Gefahr entgegenzutreten, sagte John Carpenter zu Harry Markel.

– Wir haben schon so mancher getrotzt, und das wird auch nicht die letzte sein, John.«

Inzwischen glitt das Boot immer nahe am Ufer weiter, so daß es scharf um die Landspitze einbiegen mußte, die die Farmarbucht vor dem Wellengange schützt. Jetzt war es nur noch gegen hundert Toisen entfernt; man konnte seine Insassen schon einzeln erkennen.

Die Ungewißheit mußte nun in wenigen Minuten gehoben sein. Verlief alles so, wie Harry Markel dachte und lebhaft wünschte, kam das Verschwinden des Kapitäns Paxton nicht an den Tag, so würde er je nach den Umständen handeln. Nachdem er die Stipendiaten der Mrs. Kathlen Seymour nach Gebühr und ebenso begrüßt hätte, wie es durch den Kapitän Paxton geschehen wäre, wollte er sich mit deren Unterbringung beschäftigen, und das nahm voraussichtlich den ganzen Tag in Anspruch, so daß diese nicht daran denken würden, das Schiff zu verlassen. Bedachte Patterson freilich, daß der »Alert« bei der herrschenden Windstille doch nicht absegeln konnte, so verlangten er und [88] [91]die jungen Leute vielleicht, noch einmal nach Queenstown zurückbefördert zu werden, da sie vorher keine Zeit gehabt hatten, die Handelsviertel oder die Teile am Hafen zu besichtigen. Da sie jetzt dazu Muße fanden, lag ja ein solcher Vorschlag ziemlich nahe.

Das war aber mit wirklicher Gefahr verknüpft, die möglichst vermieden werden mußte. Nachdem seine Passagiere das Schiff betreten hatten, kehrte das Boot, worauf sie hierher gekommen waren, doch gleich nach dem Hafen zurück. Dann mußte ihnen also ein Boot vom »Alert« zur Verfügung gestellt und diesem zwei oder drei der Leute Harry Markels mitgegeben werden.

Dabei war aber zu befürchten, daß die Konstabler nach vergeblicher Durchsuchung der Schenken im Hafenviertel ihre Nachsuchung in den Straßen und auf den Kais fortsetzten. Wurde auch nur einer der Entwichenen erkannt, so war ja alles verloren. Sofort würde eine Dampfschaluppe mit einer Abteilung Polizisten nach der Farmarbucht gesendet werden, diese nahmen den »Alert« wieder in Beschlag und die ganze Bande fiel unrettbar in ihre Hände.


Der Hafen von Queenstown.

Waren die Passagiere also einmal an Bord, so würde ihnen nicht erlaubt werden, davon noch einmal wegzugehen, selbst wenn die Verzögerung der Abfahrt sich noch auf mehrere Tage erstreckte, und... wer konnte wissen, ob es Harry Markel nicht in der nächsten Nacht gelänge, sich ihrer ebenso zu entledigen, wie er den Kapitän Paxton samt seinen Leuten beiseite geschafft hatte.

Harry Markel richtete an seine Helfershelfer noch einige ermahnende Worte. Sie sollten vor allem daran denken, daß sie nicht mehr die aus dem Gefängnis von Queenstown entwichene Mannschaft der »Halifax« wären, sondern die Matrosen des »Alert«... das wenigstens für diesen Tag. Sie sollten wohl auf sich acht geben, kein unkluges Wort fallen lassen, als ehrbare Seeleute »in straffer Haltung« auftreten, wie John Carpenter sich ausdrückte, um der freigebigen Mrs Kathlen Seymour Ehre zu machen. Alle begriffen auch die Rolle, die sie zu spielen hatten.

Inzwischen und bis zu der Minute, wo das Boot wieder abstieß, hätten sie sich möglichst zurückzuhalten, am besten ganz im Deckhause zu bleiben. Der Obersteuermann und Corty würden schon genügen, das Gepäck heraufzuschaffen und den Passagieren ihre Räume anzuweisen. Das Frühstück, und zwar ein guter Imbiß, den die Kambüse des »Alert« liefern würde, sollte in der gemeinschaftlichen Kajüte aufgetragen werden. Das hatte Ranyah Cogh zu besorgen, und der nahm sich vor, seine Kochkunst ins beste Licht zu setzen.

[91] Der Zeitpunkt war nun gekommen, ebenso zu handeln, wie es der Kapitän Paxton und seine Leute getan hätten. Das Boot war nur noch wenige Toisen entfernt, und da es doch nicht anging, daß sich gar niemand gezeigt hätte, die Passagiere zu empfangen, begab sich Harry Markel nach der Falltreppe an Steuerbord.

Selbstverständlich hatte er dazu die Uniform des unglücklichen Kapitäns angelegt, und seine Gefährten trugen alle die Kleidung, die sie im Volkslogis gefunden hatten.

Jetzt riefen die Matrosen im Boote den »Alert« an, und Corty warf eine Leine hinunter, die mit einem Haken gefangen und dann mehr nach vorne zu befestigt wurde.

Tony Renault und Magnus Anders kletterten den andern voran die Strickleiter hinauf und sprangen auf das Deck. Ihre Kameraden folgten ihnen, dann kam die Reihe an Horatio Patterson, dem John Carpenter zuvorkommend half, durch die Öffnung in der Schanzkleidung das Schiff zu betreten.

Dann wurde das Gepäck heraufgeschafft, was nur wenige Minuten beanspruchte, da es nur aus einfachen, nicht zu schweren und nicht zu umfangreichen Reisesäcken und einer Anzahl einzelner Pakete bestand.

Die Matrosen des Bootes kamen nicht an Bord. Da sie ihre Bezahlung unter Hinzufügung eines reichlichen Trinkgeldes von Herrn Patterson schon vorher erhalten hatten, stießen sie sofort wieder ab und ruderten nach dem Hafen zurück.

Da verbeugte sich der immer korrekte Horatio Patterson leicht und sagte:

»Herr Kapitän Paxton?...

– Der bin ich, mein Herr,« antwortete Harry Markel.

Patterson machte eine zweite, besonders höfliche Verbeugung und setzte hinzu:

»Herr Kapitän Paxton, ich habe die Ehre, Ihnen die Pensionäre der Antilian School vorzustellen und Ihnen gleichzeitig die Versicherung meiner unbegrenzten Hochachtung zu entbieten...

– Unterzeichnet Horatio Patterson,« flüsterte der Spaßvogel Tony Renault seinem Nebenmanne Louis Clodion ins Ohr, und dann begrüßte er mit allen seinen Kameraden den Kapitän des »Alert« in höflichster Weise.

[92]
8. Kapitel
Achtes Kapitel.
An Bord.

Die Bahnfahrt Pattersons und der Pensionäre der Antilian School war ganz nach Wunsch verlaufen. Alle hatten sich dabei für die kleinsten Vorkommnisse lebhaft interessiert. Die Reisegesellschaft glich einem Völkchen aus ihrem Käfig freigelassener, aber zahmer Vögel, die gewiß nach diesem zurückkehrten. Jetzt war der Ausflug freilich erst im Anfang.

Die jungen Leute unternahmen zwar nicht ihre erste Reise mit der Eisenbahn oder mit einem Schiffe – alle hatten ja den Atlantischen Ozean gekreuzt, als sie von den Antillen nach Europa kamen – doch deshalb konnte man noch lange nicht sagen, daß das Meer für sie keine Geheimnisse mehr habe. Sie bewahrten ja kaum noch eine Erinnerung an ihre frühere Überfahrt. Der älteste von ihnen hatte höchstens zehn Jahre gezählt, als er den Fuß auf Englands Boden setzte. Die Fahrt an Bord des »Alert« mußte also für alle den Reiz der Neuheit haben. Bei ihrem Mentor war es gar überhaupt das erste Mal, daß er sich – zu seiner größten Befriedigung – dem »treulosen« Elemente anvertraute.

»Hoc erat in votis!« rief er – achtzehnhundert Jahre nach Horaz.

Nach dem Verlassen des Bahnzuges in Bristol begab sich die kleine Gesellschaft nach dem Paketboote, das auf einem Wege von ungefähr dreihundertzwanzig Kilometern die regelmäßige Verbindung zwischen England und Irland vermittelte.

Diese Paketboote sind schöne, aufs beste ausgestattete und auch schnelllaufende Schiffe, denn sie legen in der Stunde etwas über vierzig Kilometer zurück. Gegenwärtig war die Witterung sehr ruhig und es wehte nur eine ganz leichte Brise. Gewöhnlich ist das Meer am Eingange des Sankt-Georgskanals, sobald man über Milford Haven hinausgekommen ist, sehr unruhig. Bis dahin ist dann zwar die Hälfte des Weges schon zurückgelegt, die zweite Hälfte macht sich den Passagieren aber oft genug noch recht unangenehm fühlbar. Diesmal schien es jedoch nur wie auf eine Lustfahrt über das stille Gewässer des Lac [93] Lomond und des Lac Catrine im Lande Rob Roys im romantischen Schottland hinauszulaufen.

Horatio Patterson hatte im Sankt-Georgskanal in keiner Weise zu leiden gehabt und zog daraus auch die günstigsten Schlüsse für die Zukunft. Seiner Rede nach hatte ein gesunder, kluger und energischer Mann wie er von der Seekrankheit überhaupt nichts zu fürchten.

»Was da, pflegte er zu sagen, hier heißt's nur, einen festen Willen zu haben, das ist das ganze Kunststück!«

Der Mentor und die Preisträger kamen also körperlich frisch und guten Mutes im Hafen von Queenstown an. Voraussichtlich blieb ihnen aber nicht Muße genug, diese Stadt zu besichtigen, oder Cork, der Hauptstadt, einen Besuch abzustatten.

Alle fühlten auch lebhaft das Verlangen, bald an Bord des »Alert« zu sein, auf das für sie gemietete Schiff – das ihnen gleichsam als Lustjacht dienen sollte – den Fuß zu setzen, sich jeder in seiner Kabine einzurichten, auf dem Deck vom Bug bis zum Heck zu spazieren, mit dem Kapitän Paxton und seinen Leuten Bekanntschaft anzuknüpfen, die erste Mahlzeit an der Tafel der gemeinschaftlichen Kajüte zu verzehren und dann die zur Abfahrt nötigen Arbeiten zu beobachten, bei denen sie, wenn es irgend nötig wäre, selbst mit Hand anlegen wollten.

Es konnte also gar nicht in Frage kommen, durch die Straßen von Queenstown zu schlendern, und wenn der »Alert« hier im Hafen gelegen hätte, würden sich Patterson und seine jungen Begleiter unverzüglich eingeschifft haben. Es war aber schon spät, fast neun Uhr; am nächsten Morgen sollte es nach der Farmarbucht weiter gehen.

Das bereitete eine kleine Enttäuschung, denn alle hatten gehofft, schon die erste Nacht an Bord zuzubringen, sich auf den wie »Schubladen einer Kommode« – sagte Tony Renault – übereinander angebrachten Lagerstätten auszustrecken, und es wäre doch eine Lust gewesen, in solchen Kasten zu schlummern.

Die Einschiffung mußte jedoch bis zum nächsten Tage verschoben werden. Noch am Abend verabredeten indes Louis Clodion und John Howard, mit einem Seemann im Hafen den Zeitpunkt, wo dieser sie in seinem Boote nach dem Ankerplatze des »Alert« befördern sollte. Auf ihre Fragen zeigte der Mann ihnen auch die Lage der Farmarbucht am Eingange der Bai etwa in einer Entfernung [94] von zwei Seemeilen. Hätten sie es gewünscht, so hätte der Seemann sie auch sofort nach ihrer Ankunft noch dahin gebracht, und die besonders Ungeduldigen zeigten sich auch sehr geneigt dazu. So eine Nachtfahrt über die Bai bei dem stillen, warmen Wetter wäre doch gewiß höchst angenehm gewesen.

Patterson gab dazu aber nicht seine Zustimmung. Es bedingte ja keine Verzögerung, wenn sich alle dem Kapitän Paxton erst morgen früh vorstellten, da die Abreise doch erst für den 30. Juni angesetzt war. Die Preisträger wurden auch vor diesem Termine jedenfalls nicht erwartet. Inzwischen verstrich die Zeit; von den Türmen Queenstowns ertönte die zehnte Stunde. Ohne Zweifel hatten sich der Kapitän Paxton und seine Matrosen bereits niedergelegt... wozu sie also unnötigerweise wecken?

»Oho, rief Tony Renault, wenn wir an Bord wären, lichtete der »Alert« vielleicht noch diese Nacht die Anker...

– Glauben Sie das nicht, lieber junger Herr, erklärte der Seemann. Es wäre unmöglich, jetzt abzufahren; ja, wer weiß, ob die gegenwärtige Windstille nicht noch mehrere Tage anhält.

– Das vermuten Sie, Herr... Herr Seemann? fragte Patterson.

– Es ist wohl zu befürchten.

– Ja, in diesem Falle, fuhr Patterson fort, wäre es für uns wohl besser, ein Hotel in Cork oder in Queenstown aufzusuchen und da einen günstigen Wind, unsere Segel zu schwellen, ruhig abzuwarten.

– Ach, Herr Patterson... Herr Patterson! riefen Magnus Anders und einige andere, die vor einer solchen Aussicht zurückschreckten.

– Ja... meine jungen Freunde...«

Man sprach hin und her, und das Ende der Verhandlung war, daß die ganze Gesellschaft für die Nacht ein Hotel aufsuchen und das gleich zurückgehaltene Boot bei Tagesanbruch und mit Eintritt der Ebbe alle samt ihrem Gepäck nach der Farmarbucht überführen sollte.

Nebenbei kam freilich Patterson der für einen solchen Zahlenmenschen ganz natürliche Gedanke, daß die Hotelkosten vermieden würden, wenn alle schon an Bord sein könnten, und das schien ihm wohl der Mühe wert. Schlimmsten Falles und wenn sich die Abreise wegen Mangel an Wind um mehrere Tage verzögerte, stand ja nichts einer einstweiligen Rückkehr nach Queenstown oder Cork im Wege.

[95] Patterson und die jungen Stipendiaten ließen sich also nach einem am Kai gelegenen Hotel führen. Hier legten sie sich nieder, schliefen den Schlaf der Gerechten, und am nächsten Morgen nahmen sie, nach einem aus Tee und Sandwichs bestehenden ersten Frühstück, in dem Boote Platz, das sie nach dem »Alert« bringen sollte.

Wie schon erwähnt, hatte sich der Nebel zu dieser Zeit verzogen, und als das Boot kaum eine Seemeile weit hinausgeglitten war, zeigte sich die Farmarbucht hinter einer Landzunge, die sie an der Nordseite begrenzte.

»Dort... der, Alert'! rief Tony Renault, nach dem einzigen Fahrzeug weisend, das jetzt in der Bucht vor Anker lag.

– Richtig, junger Freund, der ›Alert‹ antwortete der Bootsführer, ein hübsches Schiff, das versichere ich Ihnen.

– Sie kennen wohl den Kapitän Paxton? fragte Louis Clodion.

– Nein, das nicht, er ist nur sehr selten ans Land gekommen, er gilt aber für einen vortrefflichen Seemann und hat auch eine ausgewählt gute Mannschaft.

– Welch schöner Dreimaster! jubelte Tony Renault, in dessen Bewunderung sein Kamerad Magnus Anders rückhaltlos einstimmte.

– Das ist ja eine richtige Jacht!« sagte Roger Hinsdale, der seine Eigenliebe geschmeichelt fühlte, daß Mrs. Kathlen Seymour ihnen ein so prächtiges Fahrzeug zur Verfügung gestellt hatte.

Eine Viertelstunde später legte das Boot an der Steuerbordtreppe des »Alert« an.

Wie schon mitgeteilt, blieb der Führer mit seinen zwei Leuten der Verabredung gemäß in dem Boote zurück, das sofort nach dem Hafen zurücksteuerte.

Der Leser weiß auch, unter welchen Umständen die gegenseitige Vorstellung stattfand und wie Harry Markel seine Passagiere unter dem Namen des Kapitäns Paxton aufnahm. Gleich darauf erbot sich John Carpenter, in seiner Eigenschaft als Obersteuermann, die Passagiere nach der Kajüte zu führen, woneben deren für ihren Empfang in stand gesetzte Kabinen lagen.

Vorher fühlte sich Patterson noch verpflichtet, an den Kapitän eine höfliche Begrüßung zu richten. Er beglückwünschte sich, daß Mrs. Kathlen Seymour das Schicksal seiner jungen Ausflüglergesellschaft einem ebenso ausgezeichneten, wie in Marinekreisen hochgeachteten Befehlshaber in die Hände gelegt habe. Natürlich setzten sie sich mit dem Wagnis, sich der unberechenbaren Thetis [96] [99]anzuvertrauen, allemal einiger Gefahr aus; mit dem Kapitän Paxton, einem so guten Schiffe, wie dem »Alert«, und einer so tüchtigen Mannschaft könne man aber auch dem Ingrimm Neptuns wohl trotzen.


»Herr Kapitän Paxton?...« (S. 92)

Harry Markel blieb sehr kühl und ließ diese Flut von schönen Redensarten ruhig über sich ergehen. Er begnügte sich zu antworten, daß er und seine Leute ihr möglichstes tun würden, den Passagieren des »Alert« eine recht angenehme Reise zu sichern.

Nun galt es aber, das Schiff »vom Kiel bis zu den Masttoppen«, wie Tony Renault sich ausdrückte, gründlich in Augenschein zu nehmen.

Es erscheint ja nicht wunderbar, daß das die jungen Leute aufs höchste interessierte. Das Schiff war ja die Wohnstätte, die schwimmende Stadt, die man auf die Zeit von fast drei Monaten für sie gewählt hatte... es war gleichsam ein Teil der Antilian School, den sie, losgelöst vom Vereinigten Königreiche, während der Reise bewohnen sollten.

Da war zunächst die große Kajüte, wo gemeinschaftlich gespeist werden sollte, mit ihrem Tische mit aufklappbaren Seitenleisten, die Stühle mit den beweglichen Lehnen, die in Ringen schwebenden Lampen, die verschiedenen Gerätschaften an dem Teile des Besanmastes, der mitten in der Tafel aufragte, das vergitterte Deckenfenster, durch das reichliches Licht von außen eindrang, die Pantry (besondere Kammer oder Kabine), worin Teller, Karaffen, Gläser und anderes Geschirr, gegen das Schlingern und Stampfen geschützt, aufbewahrt wurden.

Daneben lagen an beiden Seiten die Kabinen der Passagiere, jede mit den Lagerstätten, einem Toilettetisch, einem kleinen Schranke und erhellt durch ein rundes Fensterchen mit einer Linsenglasscheibe in der Schiffswand. In diesen Kabinen sollten die Stipendiaten nach ihrer Nationalität gruppiert untergebracht werden: an Backbord Hubert Perkins und John Howard in der ersten, Roger Hinsdale für sich allein in der zweiten, Louis Clodion und Tony Renault in der dritten; an Steuerbord Niels Harboe und Axel Wickborn in der vierten, Albertus Leuwen in der fünften und Magnus Anders in der sechsten.

Die für Horatio Patterson vorgesehene, der des Kapitäns gegenüberliegende Kabine befand sich rechter Hand vom Eingange in die Kajüte mit Aussicht nach der Hütte und war etwas geräumiger als die der jungen Fahrgäste. Der Mathematiker hätte sich danach eigentlich als zweiten Offizier [99] des »Alert« betrachten können und wäre als solcher berechtigt gewesen, zwei Goldstreifen vorn auf dem Rockärmel zu tragen.

Selbstverständlich hatte die umsichtige Mrs. Kathlen Seymour nichts vergessen, was der Bequemlichkeit und der Gesundheit der jungen Antilianer förderlich sein konnte. Ein Arzt war freilich nicht mit an Bord, tatsächlich war ja aber auch nicht zu besorgen, daß während der Fahrt eine ernstere Erkrankung oder ein schwererer Unfall eintreten könnte, Patterson würde auch schon jede Unklugheit der Vorwitzigsten seiner Gesellschaft zu verhindern wissen. Übrigens war die Apotheke des »Alert« mit allen am häufigsten gebrauchten Arzneimitteln reichlich genug ausgestattet. Für den Fall schlechten Wetters mit Sturmwinden oder Böen stand den Passagieren außerdem Matrosenkleidung zur Verfügung: Südwester, Röcke und Beinkleider aus Wachsleinwand hingen schon in jeder Kabine.

Natürlich wollten Tony Renault und einige andere, kaum daß sie das Schiff betreten hatten, schon »Matrosen spielen«. Treu dem hohen Hute, dem schwarzen Rocke und der weißen Halsbinde, hielt es Horatio Patterson freilich für unter seiner Würde, eine dicke Seemannsjacke anzulegen und die traditionelle Teerjackenmütze aufzusetzen.

Bei der ruhigen Witterung und auf dem stillen Wasser der Bai von Cork, wo der Dreimaster nicht das geringste von einem Wellengange verspürte, lag ja auch kein Grund vor, von den bisherigen Gewohnheiten abzugehen. Hätte sich Frau Patterson an seiner Seite befunden, so würde er jedenfalls geglaubt haben, er befände sich nach wie vor in seiner Wohnung in der Antilian School. Vielleicht sah er überhaupt keinen großen Unterschied zwischen der Farmarbucht und der Oxfordstreet, außer daß hier nicht so viele Leute vorüberkamen.

Nach dem Besuche der gemeinschaftlichen Kajüte und der Unterbringung der Gepäckstücke in jeder Kabine begann nun die Besichtigung des Schiffes, wobei John Carpenter den »Ehrendienst« versah und bereitwillig alle Fragen beantwortete, die – vorzüglich von Tony Renault und Magnus Anders – an ihn gerichtet wurden. Oben im Deckhause wurde das Rad des Steuers sowie das Kompaßhäuschen genauestens in Augenschein genommen und, wie es bei solchen »Ferienseeleuten« nicht zu verwundern ist, es kribbelte ihnen in der Hand, die Griffe des Steuerrades zu packen und dem Schiffe eine Richtung »Nordnordost ein Strich Ost« oder »Südsüdwest Halbstrich [100] West« zu geben. Danach liefen die jungen Leute wieder auf dem Deck umher, betrachteten die in Davits hängenden zwei Rettungsboote und die am Hinterteile gehißte Jolle. Vor dem Fockmaste stand die Küche und darin brodelte und schmorte schon das Frühstück unter den Händen Ranyah Coghs, dessen schönen afrikanischen Typus Horatio Patterson ganz besonders rühmte. Endlich kam das Volkslogis an die Reihe, dessen Durchstöberung die Mannschaft widerspruchslos zuließ, ferner das gesamte Vorderkastell, das Gangspill und einer der Hauptanker, der am Kranbalken des Steuerbords hing, während der des Backbords im Grunde festlag... alles aber erregte in hohem Grade die Aufmerksamkeit der wißbegierigen und wohl auch etwas neugierigen Jugend.

Zur Beendigung des Rundganges im Schiffe war nun bloß noch der Frachtraum zu besuchen.

Es kann wohl nicht wundernehmen, daß Horatio Patterson sich nicht beeilte, seinen Pensionären in die dunkeln Tiefen des Schiffes zu folgen. Eine Treppe dahin gab es nämlich nicht, nur eine Art Kerben in den Deckstützen, in die man bei gespreizten Beinen die Füße setzen mußte. In den Laderaum verirrte er sich gewiß nicht, ebensowenig wie ihm jemals einfallen konnte, die Webeleinen der Wanten zu betreten, um nach den Marsen und den Raaen des Groß- oder des Fockmastes hinaufzuklettern, selbst wenn er dazu hätte durch das »Soldatenloch« kriechen dürfen. Die jungen Leute dagegen glitten gelenkig nach dem untersten Raume des »Alert« hinab. Den Frachtraum durchstreiften sie vom Vorderteile, das durch eine Leiter mit dem Volkslogis in Verbindung stand, bis nach dem Hinterteile, wo eine feuersichere Scheidewand und Deckenbekleidung den großen Raum von der darüber stehenden Kambüse trennte.

Hier unten lagen Segel, Takelwerk, Reservespieren und auch eine Menge Kisten mit Konserven neben Fässern mit Wein, Tönnchen mit Branntwein und vielen Säcken mit Mehl. Der »Alert« war wirklich so reichlich mit allem versorgt, als sollte er zu einer Weltumseglung abgehen.

Nach dieser gründlichen Besichtigung gesellten sich alle wieder zu ihrem Mentor, der bei dem Kapitän stand. Beide unterhielten sich über das und jenes, Patterson mit der gewohnten und geschraubten Redseligkeit, Harry Markel kurz angebunden und zugeknöpft wie immer. Der Kapitän mochte ja ein ganz tüchtiger Seemann sein, mitteilsam war er aber nicht.

Tony Renault umkreiste die Steuervorrichtung, besichtigte das Gehäuse, das den Kompaß enthielt, legte die Hand auf das Rad, bewegte es einmal [101] hier-, einmal dorthin, wie es ein Steuermann getan hätte. und sagte endlich:

»Herr Kapitän, ich hoffe, Sie erlauben uns... nur dann und wann, ein wenig zu steuern... wenn gerade gutes Wetter ist...

– O, fiel Patterson ein, ich glaube doch nicht, daß das klug und weise wäre!

– Keine Angst, Herr Patterson, wir werden das Schiff schon nicht zum Untergang bringen!« erwiderte Tony Renault.

Harry Markel hatte sich begnügt, eine zusagende Handbewegung zu machen.

Woran mochte der Mann wohl denken? Hatte ihn vielleicht etwas wie Mitleid beschlichen, als er die jungen Leute so glücklich, so vergnügt darüber sah, sich auf dem »Alert« zu befinden?... Nein, schon in der nächsten Nacht sollte womöglich keiner von ihnen vor ihm Gnade finden.

Eben jetzt ertönte auf dem Vorderdeck die Schiffsglocke. Einer der Matrosen verkündigte mit vier Schlägen die elfte Stunde.

»Aha, jetzt kommt das Frühstück, sagte Louis Clodion.

– Dem wir alle Ehre antun werden, setzte Horatio Patterson hinzu. Ich habe Hunger wie ein Wolf...

– Wie ein Meerwolf. ergänzte Tony Renault, und

– Lupus maritimus«, übersetzte der gelehrte Patterson.

Es war jetzt in der Tat die Stunde des Frühstücks, an dem Harry Markel sich entschuldigte, nicht teilnehmen zu können, da er von jeher gewöhnt sei, alle Mahlzeiten in seiner Kabine einzunehmen.

Das Frühstück wurde in der gemeinsamen Kajüte aufgetragen, wo jeder an dem großen Tische Platz fand. Weiche Eier, kaltes Fleisch, ganz frisch gefangene Fische, Biskuit und Tee... alles mundete vortrefflich. Übrigens würden sich die durch die Morgenpromenade ausgehungerten jungen Magen nicht wählerisch erwiesen haben, und auch Horatio Patterson aß hier zweimal soviel als er im Refektorium der Antilian School genossen hätte.

Nach beendigtem Frühstücke suchten nun alle Harry Markel wieder auf dem Deck auf.

Zuerst wendete sich, einer Verabredung entsprechend, Louis Clodion an diesen.

»Herr Kapitän, fragte er, gedenken Sie wohl bald unter Segel zu gehen?

[102] – Sobald etwas Wind aufspringt, und das kann alle Augenblicke eintreffen, antwortete Harry Markel, der recht gut erriet, worauf die Frage hinauswollte.

– Und wenn es nun ein widriger Wind wäre? bemerkte Patterson.

– Auch der würde uns nicht hindern abzufahren. Was wir brauchen, ist eine hübsche Brise, gleichviel aus welcher Himmelsgegend.

– Ja freilich, rief Tony Renault, im Notfalle wird dagegen aufgekreuzt...

– Und zwar ganz dicht am Winde, setzte Magnus Anders hinzu.

– Ganz richtig, meine Herren«, bestätigte Harry Markel.

Tatsächlich ist es ja eine interessante Fahrt, wenn ein Schiff unter vollen Segeln jetzt mit Backbord-, dann mit Steuerbordhalfen dicht am Winde läuft.

»Sind denn Vorzeichen da, Herr Kapitän, fragte Niels Harboe, daß bald wieder Wind kommen wird?...

– Etwa schon am Nachmittage? fügte John Howard hinzu.

– Ich hoffe es wenigstens, antwortete Harry Markel, die Windstille hält nun schon sechzig Stunden an, sie muß doch bald aufhören.

– Ja, Herr Kapitän, ließ sich jetzt Roger Hinsdale vernehmen, wir wüßten vor allem gern, ob Aussicht vorhanden ist, daß der ›Alert‹ noch heute ausläuft.

– Ich wiederhole Ihnen, meine Herren, daß das sehr wohl möglich wäre, da das Barometer langsam fällt... bestimmt kann ich es natürlich nicht sagen.

– Wenn es so liegt, meinte Louis Clodion, könnten wir ja den Nachmittag wohl auf dem Lande zubringen?

– Ach ja... ja!« stimmten auch alle andern Antilianer ein.

Das war aber ein Vorschlag, dem Harry Markel auf keinen Fall zustimmen wollte. Ans Land sollte niemand wieder gehen, weder von den Passagieren noch von der Mannschaft... das hätte die ohnehin gefährdete Lage nur zu leicht verschlimmern können.

Horatio Patterson glaubte das Gesuch der jungen Leute mit einigen passenden Bemerkungen unterstützen zu müssen. Seine Begleiter und er kannten weder Cork noch Queenstown. Sie hatten die beiden Städte nicht besuchen können. die eine sehr interessante Umgebung haben sollen, darunter das Dorf [103] Blarney, nach dem die irischen Gasconnaden (Prahlereien) ihren Namen erhalten haben, ferner das Schloß, von dem ein gewisser Stein – wie man erzählt – jeden, der ihn mit den Lippen berührt, für immer mit der Wahrheit auf gespannten Fuß bringt.

Natürlich stimmten alle ihrem Mentor bei. In einer halben Stunde würde ein Boot mit zwei Ruderern sie vom »Alert« nach dem Hafen gebracht haben, und sie versprachen hoch und heilig, am Abend zurück zu sein.


Der Mann zeigte ihnen die Lage der Farmarbucht am Eingange der Bai. (S. 94.)

[104] »Herr Kapitän, nahm Patterson das Wort, wir richten unsere Bitte hier an den Nächsten nach Gott...


Der Hauptanker erregte in hohem Grade die Aufmerksamkeit der neugierigen Jugend. (S. 101.)

– O, ich möchte sie ja gern erfüllen, erklärte Harry Markel in etwas schroffem Tone, ich kann es aber nicht. Für den heutigen Tag ist die Abfahrt schon lange festgesetzt, und wenn sich auch nur ein ganz schwacher Wind erhebt, denke ich, selbst wenn dieser ausbliebe, allein mit Hilfe der Ebbeströmung aus der Bai von Cork hinauszusegeln.

[105] – Wenn wir nun aber, warf Louis Clodion ein, auch draußen nicht von der Stelle kommen?

– So legen wir uns während der Flut nahe der Küste nochmals vor Anker, der ›Alert‹ wird dann wenigstens aus der Farmarbucht heraus sein. Erhebt sich wieder Wind, wie ich das erwarte, so werden wir ihn auf offenem Meere eher benützen können, als hier in der sehr geschützten Farmarbucht.«

Das waren ja Gründe, die sich hören ließen, und am Ende mußte man sich doch wohl der Anschauung des Kapitäns fügen.

»Ich ersuche Sie also, meine Herren, schloß dieser, auf die Absicht eines Landbesuches zu verzichten, da wir dadurch leicht die nächste Ebbe versäumen könnten.

– Ja, ja, Sie haben recht, Herr Kapitän, antwortete Patterson, wir wollen die Sache ruhen lassen.«

Die jungen Leute nahmen auch ohne weiteren Widerspruch hin, was nicht zu ändern war. Übrigens sehnten sich zwei von ihnen nicht im mindesten danach, noch einmal fortzugehen... selbstverständlich waren das Magnus Anders und Tony Renault. Ihnen genügte es vollständig, jetzt an Bord zu sein. Einmal auf dem »Alert« eingeschifft, gedachten sie sich erst in einem der Häfen von Antilien wieder auszuschiffen. Wenn nun ein Wind aufsprang, während ihre Kameraden Cork und Queenstown besuchten, und das Schiff, weil seine Passagiere noch nicht zurückgekehrt waren, nicht absegeln könnte! Wer hätte voraussehen können, ob dann nicht weitere Verzögerungen den ganzen Reiseplan zerstörten?... Was hätte Mrs. Kathlen Seymour dann wohl gesagt?...

Was hätte der Direktor der Antilian School davon gedacht?... Und schließlich die Verantwortlichkeit des Mentors, der diese Gedanken ernstlich erwog?

Nein: die Frage war entschieden... sie blieben an Bord. An dem sich weiter fortspinnenden Gespräche mußte sich Harry Markel wohl oder übel beteiligen. Es betraf natürlich die Reise, und Roger Hinsdale fragte da, ob der »Alert« schon eine Fahrt von England nach den Antillen gemacht habe.

»Nein, junger Herr, erwiderte Harry Markel, unser Schiff hat überhaupt erst zwei Reisen, und diese nach dem Indischen Ozean ausgeführt.

– Sie, Herr Kapitän, kennen aber schon die Antillen? fragte Hubert Perkins.

– Nein, ich kenne sie noch nicht.

[106] – Ein Seemann kann also geraden Wegs dahin gehen, wo er noch niemals gewesen ist? bemerkte Horatio Patterson.

– Das versteht sich doch, rief Tony Renault, sogar mit geschlossenen Augen!

– Nein, das nicht, entgegnete Harry Markel, er muß im Gegenteil die Augen immer offen halten, muß pünktlich sein Besteck machen und die Seekarten bei der Hand haben, um den einzuhaltenden Kurs zu bestimmen.

– Und das werden wir alles sehen? sagte Magnus Anders.

– Alles... freilich erst, wenn wir in der offenen See sind, statt hier im Hintergrunde einer Bucht halb zu verschimmeln.«

Louis Clodion und seine Kameraden verzichteten also auf ihre früheren Wünsche. Wenn sie nun aber den ganzen Tag an Bord des »Alert« zubringen mußten, ohne die Erlaubnis zu einem Besuche des Landes zu erhalten, darf man doch nicht glauben, daß ihnen die Stunden zu lang geworden wären. Nein; es kam ihnen nicht einmal der Gedanke, das ganz nahe liegende Ufer der Bucht betreten zu wollen, was Harry Markel jedenfalls zugestanden hätte, da das mit keiner Gefahr für ihn verbunden gewesen wäre... Der Nachmittag verstrich schon ohne jede Langeweile damit, daß die jungen Reisenden auf den Bänken am Deckhause plauderten, sich auf den Schaukelstühlen ausstreckten, auf dem Deck hin- und herspazierten, oder auch damit, daß sie nach den Marsen oder auf die Kranbalken kletterten.

Obgleich das Wasser der Bai von Cork jetzt ganz ruhig war, herrschte darauf doch ein ziemlich reges Leben. Die Schiffsbewegung im Hafen von Queenstown erlitt durch die Fortdauer der Windstille ja keine völlige Unterbrechung. Die Feldstecher der jungen Pensionäre und das mächtige, reichlich vier Fuß lange Fernrohr Horatio Pattersons gingen auch fleißig von Hand zu Hand.

Alle verfolgten gespannt hier die Fischerboote in der Bai, dort die Dampfschaluppen, die den Verkehr mit dem Ufer vermittelten, oder die kräftigen Schlepper, die Segelschiffe, welche besondere Eile hatten, hinausbugsierten. Dazwischen fuhren noch atlantische Dampfer hinaus und herein, und deren Zahl ist in der Bai von Cork Tag für Tag recht beträchtlich.

Nach dem Mittagsmahle um fünf Uhr, das dem Frühstück in keiner Weise nachstand, und worüber Horatio Patterson dem Koch Ranyah Cogh eine wohlverdiente Anerkennung zollte, erklärte Harry Markel, als alle wieder auf dem [107] Deck beisammen waren, daß sich schon ein wenig Landwind bemerkbar mache. Hielte dieser nur noch eine Stunde an, so würde er sofort auslaufen.

Natürlich erregte diese Mitteilung allgemeinen Jubel.

In der Tat wurden jetzt im Nordosten einzelne Wolken sichtbar, die einen Witterungsumschlag erwarten ließen. Sie stiegen zwar über dem Lande auf, doch das war eher besser, als wenn sie von der Seeseite herangezogen wären. Jedenfalls konnte der »Alert« seinen Ankerplatz nun bald verlassen, und einmal draußen, würde man ja sehen, was dann zu tun wäre.

»Alle Mann auf Deck, kommandierte Harry Markel, und fertig zum Ankerheben!«

Einige Leute begaben sich nach der Winde und ihnen folgten mehrere von den jungen Leuten, die mit Hand anlegen wollten. Inzwischen wurden die Segel losgebunden und die Raaen festgelegt Als dann der Anker an die Oberfläche kam und noch auf seinen Kranbalken angekettet wurde, trieb das Schiff mit Fock-, Klüver- und Marssegeln, mit Bram- und Gaffelsegel schon vorwärts und in kurzer Zeit war es um die Landspitze an der Farmarbucht herumgekommen.

Unter den neuesten Mitteilungen meldeten dann die Abendblätter, daß der Dreimaster »Alert«, Kapitän Paxton, mit den Preisträgern der Antilian School an Bord, zur Fahrt nach den Antillen abgesegelt sei.

9. Kapitel
Neuntes Kapitel.
In Sicht des Landes.

Es war fast sieben Uhr, als der »Alert« aus der Bai von Cork hinaussegelte und das Vorgebirge Roche-Pointe an Backbord hatte. Die Küste der Grafschaft Cork lag einige Seemeilen von ihm im Westen.

Ehe die Passagiere die Augen über die weite, unbegrenzte Meeresfläche hinschweifen ließen, betrachteten sie das hochaufsteigende, in der Dämmerung halb verschwindende Uferland der Südküste Irlands. Vom Deck aus, dessen [108] Zeltdach jetzt zusammengerollt war, schauten sie hinaus... erfüllt von einer seltsamen Erregung, die ja bei ihrem Alter natürlich war. An die erste Überfahrt, als sie sich von den Antillen nach Europa begeben hatten, bewahrten sie ja kaum noch eine schwache Erinnerung.

Mit lebhaft arbeitender Phantasie dachten alle an die nun angetretene große Reise, die sie nach ihrer Heimat zurückführen sollte. In ihrem Kopfe wirbelte es von Zauberbildern, von Ausflügen, Erforschungen, von Abenteuern und Entdeckungen, kurz, von allem, was dem Touristen nur vorschweben kann. Die Berichte, die sie – und mit besonderem Eifer in den letzten, auf der Antilian School verbrachten Tagen – gelesen hatten, traten ihnen jetzt vor das geistige Auge. Wie viele Reisebeschreibungen hatten sie heißhungrig verschlungen, als sie das Ziel des »Alert« noch gar nicht kannten!... Wie eifrig hatten sie ihre Atlasse benutzt und die Karten darin studiert!

Das zu verstehen, muß man sich den Zustand der seltsam überreizten jungen Gehirne vergegenwärtigen und den Überschwang ihrer Hoffnungen und Wünsche in Rechnung ziehen. Doch auch jetzt, wo sie das Ziel der Reise kannten, unterlagen sie noch immer den Eindrücken von ihrer Lektüre. Sie verfolgten die großen Entdecker auf deren ausgedehnten Zügen, sie nahmen in Gedanken Besitz von neuen Ländern und pflanzten darin die Flagge ihres Vaterlandes auf. Sie däuchten sich ein Christoph Columbus in Amerika, ein Vasco de Gama in Indien, ein Magellan auf Feuerland, ein Jacques Cartier in Canada, ein James Cook auf den Inseln des Großen Ozeans und ein Dumont d'Urville in Neuseeland wie im unwirtlichen Polargebiete! Sie verglichen sich schon mit Livingstone und Stanley in Afrika, mit James Roß in den Einöden des Nordpols, und wiederholten mit Chateaubriand, daß der Erdball eigentlich viel zu klein sei, da man schon um ihn herumgekommen wäre, und bedauerten, daß er nur fünf Erdteile und nicht wenigstens ein Dutzend solcher aufweise!.. Sie sahen sich schon weit, weit fort, obwohl der »Alert« erst im Anfange seiner Fahrt und noch in englischem Gewässer war!

Anderseits hätte sich freilich bei der Abreise von Europa jeder von ihnen glücklich geschätzt, seine engere Heimat noch einmal begrüßen zu können: Louis Clodion und Tony Renault ihr Frankreich, Niels Harboe und Axel Wickborn ihr Dänemark, Albertus Leuwen seine Niederlande und Magnus Anders sein altes Schweden; daran war aber natürlich nicht zu denken. Nur Roger Hinsdale, John Howard und Hubert Perkins wurde die Genugtuung zu teil, [109] Irland, das mit Schottland und England das Vereinigte Königreich bildet, noch einen letzten Gruß senden zu können. Wenn sie morgen den Sankt-Georgskanal hinter sich hatten, sollten sie kein Festland, keine einzige Insel zu Gesicht bekommen, bevor sie in Amerika eintrafen, wo jeder von ihnen ein wenig von dem wiederfand, was er in Europa zurückgelassen hatte.

Übrigens sollte, wie der Leser sehen wird, noch eine gewisse Zeit vergehen, ehe die britischen Küsten unter den Horizont versanken.

Die jetzt noch wehende Brise, die es dem »Alert« ermöglicht hatte, seinen Ankerplatz in der Farmarbucht zu verlassen, erstarb, wie die Landwinde gewöhnlich, voraussichtlich schon nach kurzer Dauer, wenn das Schiff sich einige Seemeilen weit draußen befand.

Aus dem Sankt-Georgskanal herausgekommen, mußte der »Alert« einen Kurs nach Südwesten einschlagen, was der Kapitän Paxton jedenfalls nicht versäumt hätte, denn kam er dann nur hundert Seemeilen weit aufs offene Meer, so wäre dort gewiß ein günstigerer Wind zu erwarten gewesen. Harry Markel hegte dagegen andere Absichten; er wollte jenseit des genannten Kanals sofort nach Süden steuern.

Seinen verbrecherischen Zwecken diente es weit besser, sich während der Nacht so weit wie möglich vom Lande zu entfernen und damit den zahlreichen Schiffen aus dem Wege zu gehen, die hier verkehrten und aus Mangel an Wind mehr oder weniger zurückgehalten wurden.

Das Meer lag vollständig ruhig da. Nicht die kleinste Welle furchte seine Fläche, keine bespülte die Küste oder die Seiten des Fahrzeuges. Das Wasser des Irischen Meeres strömte geräuschlos in den Atlantischen Ozean.

Natürlich lag auch der » Alert« so unbeweglich fest, als befände er sich zwischen den Ufern eines Binnensees oder eines Flusses. Dank dem Schutze durch das Land, verspürte man nicht das geringste Schlingern. Horatio Patterson beglückwünschte sich darüber, da es ihm Zeit gewährte, sich zu akklimatisieren und den »Seemannsfuß« (oder -gang) anzugewöhnen.

Die Passagiere fügten sich also der Lage der Dinge in Geduld... was hätten sie auch dagegen tun können? Harry Markel und seinen Leuten flößte die Nähe des Landes freilich die größte Unruhe ein; immer war ja zu befürchten, daß ein Aviso des Staates am Ausgange des Sankt-Georgskanales lag und den Auftrag hatte, alle aus der Bai von Cork kommenden Schiffe zu untersuchen.

[110] Zu dieser Unruhe kam auch noch ein gewisser Ingrimm, und Harry Markel fragte sich, ob er dessen sichtbaren Ausbruch werde verhindern können. Corty und die anderen zeigten einen so abstoßenden Gesichtsausdruck, daß die Passagiere schließlich darüber erschrecken mußten.

John Carpenter und er versuchten vergebens, die Leute etwas zu besänftigen. Durch die Ungunst des Wetters ließ sich deren gereizte Stimmung nicht erklären. Wenn die Verzögerung unangenehm war, so konnten das wohl Patterson und seine jungen Begleiter empfinden, nicht aber Matrosen, die solche Launen und Widerwärtigkeiten des Meeres kaum noch berührten.

Harry Markel und John Carpenter gingen im Gespräch auf dem Deck hin und her und schließlich sagte John Carpenter:

»Eh... Harry, nun wird's bald finster, und was wir in der Farmarbucht getan haben, als wir uns die Besatzung des ›Alert‹ vom Halse schafften, sollten wir das nicht auch eine bis zwei Seemeilen von der Küste entfernt fertig bringen können? Mir scheint doch, in der Bai von Cork war die Sache doch weit riskanter...

– Ja, du vergißt aber, John, antwortete Harry Markel, daß wir dort nicht anders handeln konnten, da wir uns des Schiffes um jeden Preis bemächtigen mußten.

– Doch, wenn die Passagiere in ihren Kabinen eingeschlafen sind, Harry, was könnte uns da hindern, mit ihnen in gleicher Weise zu verfahren?

– Was uns daran hindern sollte, John?...

– Jawohl, erwiderte John Carpenter. Sie sind doch jetzt auf dem Schiffe, der ›Alert‹ hat die Bai verlassen... da wird doch kein Mensch mehr hierherkommen, sie zu besuchen.

– Kein Mensch? entgegnete Harry Markel. Wenn nun durch die Semaphore gemeldet worden wäre, daß unser Schiff wegen Mangels an Wind noch still liegt, weißt du dann wohl bestimmt, daß es nicht dem oder jenem ihrer Freunde oder Bekannten einfallen könnte, ihnen hier ein letztes Lebewohl zu sagen?... Was geschähe dann aber, wenn man sie nicht mehr an Bord fände?

– Na du wirst zugeben, Harry, daß das höchst unwahrscheinlich ist.«

Höchst unwahrscheinlich... ja freilich, doch möglich immerhin. Lag der »Alert« auch morgen noch in der Nähe des Landes, so konnte recht wohl ein Boot mit Lustfahrern an ihm anlegen. Die Genossen Harry Markels wollten solche Einwände aber nicht gelten lassen; wenn's nach ihnen ging, müßte [111] das entsetzliche Drama seine Lösung noch vor Ablauf der Nacht gefunden haben.

Der Abend kam heran mit erquickender Frische nach der erstickenden Hitze des Sommertags. Nach acht Uhr mußte die Sonne unter den wolkenlosen Horizont versinken und nichts ließ noch auf einen baldigen Umschlag im Zustande der Atmosphäre schließen.

Die jungen Leute ergingen sich noch auf dem Verdeck und keiner von ihnen beeilte sich, die gemeinschaftliche Kajüte aufzusuchen. Nur Patterson wünschte ihnen gute Nacht, als er sich in seine Kabine zurückzog, wo er mit gewohnter Sorgfalt für die Nacht Toilette machte. Nachdem er sich methodisch entkleidet hatte, hängte er alle Kleidungsstücke an den Platz, den sie während der ganzen Reise einnehmen sollten; dann setzte er noch ein schwarzes Seidenkäppchen auf und streckte sich auf seinem Lager aus.

»Du vortreffliche Frau Patterson – war vor dem Einschlummern sein letzter Gedanke – meine Vorsichtsmaßregeln werden dir gewiß manche Unruhe verursacht haben!... Ich habe aber nur als kluger und weiser Mann gehandelt, und nach der Heimkehr wird sich schon alles ausgleichen.«

Waren Luft und Meer jetzt auch eines so ruhig wie das andere, so unterlag der »Alert« doch der Wirkung der Strömung, die am Eingange zum Sankt-Georgskanal ziemlich kräftig auftritt. Die von der Seeseite heranwallende Flut drängte das Schiff noch weiter zur Küste hin. Außer daß Harry Markel fürchtete, dabei zuletzt aufzulaufen, wollte er sich auf keinen Fall weiter nach Norden dem Irischen Meer zu tragen lassen. Strandete der »Alert« aber nahe der Küste, so verschlimmerte das, obgleich er gewiß ohne Mühe wieder flott gemacht werden konnte, die Lage der Flüchtlinge sehr ernstlich, denn diese hätten dann ans Land gehen müssen, während die Polizei die Umgebung von Queenstown und Cork gewiß noch nach ihnen absuchte.

Außerdem befanden sich in Sicht des »Alert« noch viele – vielleicht hundert – Segelschiffe, die den Hafen jetzt nicht erreichen konnten. Wie sie heute Abend dalagen, würden sie auch am nächsten Morgen daliegen, da die meisten vor Anker gegangen waren, um der Flut in den Nachtstunden widerstehen zu können.

Gegen zehn Uhr war der Dreimaster nur noch eine halbe Seemeile von der Küste entfernt und dabei ein wenig nach Westen bis gegenüber Roberts-Cove getrieben worden.

[112] [115]Harry Markel hielt es nun für dringend nötig, einen Anker fallen zu lassen, und er rief deshalb seine Leute zusammen.


Es schien, als ob sie den »Alert« mit besonderer Aufmerksamkeit beobachteten. (S. 118.)

Als Louis Clodion, Roger Hinsdale und die anderen das hörten, kamen sie sofort herbeigelaufen.

»Sie wollen vor Anker gehen, Herr Kapitän? fragte Tony Renault.

– Ja... sogleich, antwortete Harry Markel. Die Flutströmung wird stärker, wir liegen zu nahe am Ufer und ich befürchte, daß wir stranden könnten.

– Danach rechnen Sie also nicht darauf, daß sich bald etwas Wind erhöbe? bemerkte Roger Hinsdale.

– Dazu ist keine Aussicht.

– Das fängt allmählich an, ärgerlich zu werden, ließ sich Niels Harboe vernehmen.

– Ja, recht ärgerlich.

– Auf dem offenen Meere wäre es immerhin eher möglich, daß Wind aufspränge, sagte Magnus Anders.

– Gewiß, und wir werden auch bereit sein, ihn uns zu nutze zu machen, denn der ›Alert‹ wird nur vor einem Anker liegen, antwortete Harry Markel.

– O, dann teilen Sie uns das wohl mit, Herr Kapitän, damit wir beim Aufwinden mit zufassen können? fragte Tony Renault.

– Gewiß, das versprech' ich Ihnen.

– Ja, ja, Sie sollen schon rechtzeitig geweckt werden!« murmelte John Carpenter ironisch.

Eine Viertelmeile von der Küste, die hier eine mehr westlich hinausragende Landspitze zeigte, sollte das Schiff nun festgelegt werden. Als dann der Anker den Grund gefaßt und seine Kette sich angespannt hatte, lag der »Alert« mit dem Hintersteven nach dem Lande zu.

Nachdem die Passagiere diesen Vorgang beobachtet hatten, zogen sie sich in ihre Kabinen zurück, wo alle bald tief in Schlummer fielen.

Was würde nun Harry Markel tun?... Würde er sich dem Verlangen seiner Leute fügen? Sollte das Gemetzel noch diese Nacht vor sich gehen oder erschien es wirklich nicht klüger, dazu günstigere Verhältnisse abzuwarten?

Gewiß, in erster Linie, weil der »Alert«, statt auf den Gewässern von Roberts-Cove so vereinsamt zu liegen wie in der Farmarbucht, sich hier inmitten zahlreicher Fahrzeuge befand, die die Windstille am westlichen Eingange des Sankt-Georgskanals festhielt. Die meisten hatten, ebenso wie der »Alert«, einen [115] Anker ausgeworfen, um sich gegen die nach der Küste zu laufende Flut zu halten. Zwei oder drei lagen von dem Dreimaster übrigens kaum eine halbe Kabellänge weit entfernt. Wie hätte man es da wagen können, die Passagiere über Bord zu werfen?... Wenn es auch leicht war, sie im Schlafe zu überfallen, so konnten sie doch recht wohl versuchen, sich zu verteidigen und um Hilfe zu rufen, und dann mußten ihre Rufe von den Wachtposten auf den nächsten Schiffen jedenfalls gehört werden.

Alles das stellte Harry Markel eindringlich John Carpenter, Corty und den übrigen elenden Gesellen vor, die es so eilig hatten, der Sache ein Ende zu machen, und diese mußten wohl oder übel nachgeben. Wäre der »Alert« freilich fünf bis sechs Seemeilen weit draußen gewesen, so hätten Horatio Patterson und die jungen Preisträger von der Antilian School heute unzweifelhaft ihr letzte Nacht erlebt.

Schon um fünf Uhr am nächsten Morgen schlenderten Louis Clodion, Roger Hinsdale und ihre Kameraden auf dem Deck umher, während der weniger ungeduldige und minder lebhafte Herr Patterson sich noch gravitätisch in seiner Kabine zu tun machte.

Weder Harry Markel noch der Obersteuermann war schon aufgestanden. Ihre gestrige Unterredung hatte sich bis Mitternacht ausgedehnt. Sie lauerten nur auf das Aufspringen einer Brise, die sich doch weder von der Land- noch von der Seeseite her erheben wollte. Hätte es nur genügend geweht, die obern Segel zu schwellen, so würden sie nicht gezögert haben, den Anker – mit der Vorsicht, die Passagiere nicht zu erwecken – aufzuwinden und sich aus der sie umgebenden Flottille zu entfernen. Als aber gegen vier Uhr Morgens nach Eintritt des Niedrigwassers sich die Flut schon wieder bemerkbar zu machen anfing, mußten sie auf jede Hoffnung verzichten, von Roberts-Cove bald wegzukommen. Darauf waren sie denn auch wieder, der eine in seine Kabine unter dem Deckhause, der andere in die seinige neben dem Volkslogis gegangen, um noch einige Stunden auszuschlafen.

Die jungen Leute trafen also nur Corty auf dem Hinterdeck, während zwei Matrosen auf dem Vorderdeck Wache hielten.

An Corty richteten sie denn auch die unter den obwaltenden Umständen nächstliegende Frage:

»Nun... die Witterung?...

– Gar zu schön.

[116] – Und der Wind?

– Nicht genug, eine Kerze auszublasen!«

Draußen über dem Sankt-Georgskanäle stieg jetzt, wie aus einer Schicht warmer Dünste, der Sonnenball empor. Die Dunstmasse löste sich aber sehr schnell auf und das Meer glitzerte unter den ersten Strahlen des jungen Morgens.

Um sieben Uhr traf Harry Markel, als er die Tür seiner Kabine öffnete, mit Patterson zusammen, der eben aus seiner Kabine trat. Da hörte man dann ein verbindliches »Guten Morgen!«, das der eine mit wohlgesetzten Worten darbrachte, der andere aber nur mit einer leichten Verbeugung beantwortete.

Patterson ging nach dem Deckhause hinauf, wo er die ganze junge Welt antraf.

»Nun, meine lieben Preisträger, begann er, wird denn heute unser scharfer Bug die endlose Wasserwüste durchfurchen?

– Ich fürchte vielmehr, Herr Patterson, daß wir noch einen Tag verlieren werden, antwortete Roger Hinsdale, wobei er nach dem spiegelglatten Meere wies, das kaum unter einer schwachen Dünung zu atmen schien.

Diem perdidi, werde ich dann am Abend mit Titus ausrufen können.

– Gewiß, bemerkte dazu Louis Clodion. Titus meinte damit freilich, daß er an dem betreffenden Tage habe keine gute Tat ausführen können... wir drücken dadurch leider nur aus, daß es uns nicht vergönnt war abzufahren!«

Eben jetzt wurden Harry Markel und John Carpenter, die auf dem Vorderdeck beieinander standen, in ihrem Gespräche unterbrochen. Corty rief ihnen mit verhaltener Stimme zu:

»Vorsicht!... Achtung!

– Was gibt es denn? fragte der Obersteuermann.

– Seht nur dort hinaus, doch haltet euch verborgen«, antwortete Corty, der mit dem Finger nach einer hoch und steil aufragenden Stelle der Küste zeigte.

Da am Rande bewegte sich ein Trupp von etwa zwanzig Menschen. Sie gingen auf und ab und lugten einmal zurück nach dem Lande und dann nach dem vor ihnen liegenden Meere hinaus.

»Das sind Konstabler, sagte Corty.

– Ja... gewiß, bestätigte Harry Markel.

– Und was sie sachen, das kann man sich wohl denken, setzte der Obersteuermann hinzu.

[117] – Alle Mann unter Deck, befahl Harry Markel, und daß sich keiner sehen läßt!«

Die auf dem Vorderkastell beisammen stehenden Matrosen stiegen sofort herunter.

Harry Markel und die beiden anderen blieben auf dem Deck, traten aber dicht an die Schanzkleidung des Backbords heran, um nicht frei gesehen zu werden und doch die Polizisten im Auge behalten zu können.

Diese waren wirklich zur Aufspürung der Flüchtlinge ausgesandt. Nach erfolgloser Absuchung der Stadt und des Hafens hatten sie sich längs des Ufers zerstreut, und es schien, als ob sie den »Alert« mit besonderer Aufmerksamkeit beobachteten.

Immerhin war doch kaum anzunehmen, daß sie die Bande Harry Markels an Bord dieses Dreimasters vermuteten, dessen sich die Verbrecherrotte am Abend vorher in der Farmarbucht bemächtigt hatte. Vor Roberts-Cove lagen obendrein so viele Schiffe, daß es ganz unmöglich war, alle zu untersuchen. Freilich kamen hierbei nur die in Frage, die die Bai von Cork im Laufe der Nacht verlassen hatten, und den Konstablern mußte jedenfalls bekannt sein, daß der »Alert« zu diesen gehörte.

Nun kam es also darauf an, ob sie nach dem Strande heruntergehen, dort etwa ein Fischerboot requirieren und sich an Bord führen lassen würden.

Harry Markel und seine Gefährten erwarteten mit begreiflicher Angst die nächste Entwicklung der Dinge.

Auch die Aufmerksamkeit der Passagiere war durch das Erscheinen des Konstablertrupps erregt worden, den sie als solchen ja an der Uniform erkannten. Jedenfalls handelte es sich hier nicht um einen harmlosen Spaziergang an dem hohen Ufer. Die Polizisten waren offenbar in einer Nachsuchung in der Umgebung von Cork und Queenstown begriffen und beobachteten jetzt das Küstengewässer. Vielleicht wollten sie eine verdächtige Landung verhindern, einem Schmuggelversuche oder etwas ähnlichem zuvorkommen.

»Wahrhaftig, das sind Konstabler, erklärte Axel Wickborn.

– Und sie haben sogar Revolver bei sich«, versicherte Hubert Perkins, der die Gestalten mit dem Feldstecher vor den Augen besichtigt hatte.

Die Entfernung, die den Dreimaster noch von dem Steilufer trennte, betrug höchstens zweihundert Toisen. Konnte man also von Bord aus deutlich [118] erkennen, was auf dem Lande vorging, so konnte man auch von da aus alles sehen, was auf dem Schiffe geschah.

Das verursachte Harry Markel natürlich eine sehr begründete Unruhe, eine Unruhe, die sich gelegt hätte, wenn das Schiff nur um eine viertel Seemeile weiter draußen verankert gewesen wäre. Jetzt konnte der Führer der Polizisten die drei Männer auf dem Deck mit dem Fernrohr wohl gut genug erkennen, und wenn das geschah, dann lagen die Folgen davon ja auf der Hand.

Der »Alert« konnte sich nicht von der Stelle bewegen und die steigende Flut trieb ihn, wenn's unglücklich ging, nur noch näher ans Land. Flüchteten sie in eines der Boote und versuchten sie, damit irgendwo ans Ufer zu kommen, so wären Harry Markel und seine Gefährten doch zweifellos abgefangen worden. So zeigten sie sich lieber überhaupt nicht, indem die einen sich im Volkslogis aufhielten und die andern – immer mit der Vorsicht, bei den Passagieren keinen Argwohn zu erregen – sich hinter der Schanzkleidung verbargen.

Doch wie hätten die jungen Leute überhaupt auf den Gedanken kommen können, daß sie den Flüchtlingen aus dem Gefängnisse in Queenstown in die Hände gefallen wären?

Tony Renault behauptete denn auch scherzend, es sei hier von gar keiner Razzia der Polizei die Rede.

»Die wackeren Konstabler sind nur hier hinausgeschickt worden, um sich zu überzeugen, ob der ›Alert‹ habe in See stecken können, und um dann unsere Familien davon zu unterrichten.

– Du machst noch Witze darüber? antwortete John Howard, der die Sache weit ernster nahm.

– O nein, John, gewiß nicht! Wir wollen doch den Kapitän Paxton darum fragen.«

Alle begaben sich darauf nach dem Vorderdeck des Schiffes.

Harry Markel, John Carpenter und Corty sahen sie nicht ohne unbehagliches Gefühl herantreten. Konnte man ihnen befehlen, in der Deckhütte zu bleiben – warum das?... Und etwa ihre Fragen unbeantwortet lassen... ja warum?

Da ergriff Louis Clodion schon das Wort.

»Sehen Sie dort auf der Uferhöhe den Trupp Leute, Herr Kapitän Paxton?

[119] – Jawohl, bestätigte Harry Markel, ich begreife nur nicht, was sie da zu suchen haben.

– Und sieht es nicht aus, als ob sie gerade den ›Alert‹ beobachteten? ließ sich Albertus Leuwen vernehmen.

– Den ›Alert‹ nicht mehr als die anderen Schiffe, erwiderte John Carpenter.

– Doch sind das nicht Konstabler? fragte Roger Hinsdale.

– Ja, das glaub' ich auch, sagte Harry Markel ruhig.

– Sollten sie in der Aufsuchung von Verbrechern begriffen sein? setzte Louis Clodion hinzu.

– Von Verbrechern? entfuhr es dem Obersteuermanne.

– Jawohl, fuhr Louis Clodion fort. Haben Sie denn nicht davon gehört, daß die Seeräuberrotte vom Halifax, die man auf dem Großen Ozean gefangen hatte, nach Irland, und zwar nach Queenstown, geschafft worden war, um hier abgeurteilt zu werden, und daß es den Burschen gelungen ist, aus dem Gefängnisse zu entweichen?

– Davon wissen wir nichts, versicherte John Carpenter im natürlichsten und gleichgültigsten Tone.

– Nun wir, bemerkte dazu Hubert Perkins, wir haben bei unserer vorgestrigen Ankunft und seit wir das Paketboot verließen, fast von nichts anderem sprechen hören.

– Das kann wohl sein, fiel jetzt Harry Markel ein, wir aber, wir haben weder gestern noch vorgestern das Schiff auch nur einen Augenblick verlassen und deshalb von dieser Neuigkeit nichts erfahren.

– Es kann Ihnen aber doch nicht unbekannt geblieben sein, fragte Louis Clodion weiter, daß die gesamte Mannschaft des ›Halifax‹ nach Europa gebracht worden war?

– Nein, gewiß nicht, gab John Carpenter zu, der nicht ununterrichteter als gerade nötig erscheinen wollte. Freilich wußten wir noch nicht, daß jene Leute aus dem Gefängnisse in Queenstown geflüchtet waren.

– Und doch ist das eine Tatsache, versicherte Roger Hinsdale,... gerade am Vortage, wo sie abgeurteilt...

– Und verurteilt werden sollten! rief Tony Renault. Hoffentlich entdeckt die Polizei aber baldigst ihre Fährte...


Es war der »Jemmapes«. (S. 126.)

– Und hoffentlich, setzte Louis Clodion hinzu, erhalten sie dann die ihren abscheulichen Untaten entsprechende Strafe!

[120] [123]– Ja ja, da haben Sie recht!« begnügte sich Harry Markel zu antworten.

Die Befürchtungen, die auf Harry Markel und seinen Gefährten lasteten, sollten übrigens bald ein Ende nehmen. Nach einviertelstündigem Aufenthalt am Rande der Uferhöhe zogen die Polizisten in südwestlicher Richtung an der Küste weiter. Bald waren alle verschwunden und Corty murmelte tief aufatmend:

»Endlich!... Ich war auch nahe daran, zu ersticken!

– Einverstanden, stimmte John Carpenter ein, doch wenn die Konstabler gekommen waren, so war doch der Wind noch immer beim Teufel zum Besuch geblieben, und wenn er sich nicht einstellt, ehe es dunkel wird, so müssen wir um jeden Preis von hier fort.

– Das wird auch geschehen, nicht wahr, Harry? fragte Corty. Unsere Boote nehmen den ›Alert‹ ins Schlepptau, die Passagiere werden es nicht abschlagen, sich an die Ruder zu setzen, um uns zu unterstützen...

– Gut, erklärte der Obersteuermann; hat uns der Ebbestrom erst drei bis vier Meilen vom Ufer weggetragen, dann sind wir ja nicht mehr so sehr gefährdet wie hier...

– Und, schloß Corty das Gespräch, wir können ausführen, was uns noch zu tun bleibt.«

In diesem Augenblicke ließ sich ein Aufschrei vernehmen, der von einem der jungen Leute herrührte. Über die Reling gebeugt, zeigten dieser und seine Kameraden nach einem Gegenstande, der drei Kabellängen weit vom Schiff schwamm.

»Herr Gott... ein toter Mensch!« rief Horatio Patterson.

Er hätte auch sagen können, ein ertrunkener Mensch, der durch ein großes Messer schwer verwundet worden war, bevor er ins Meer fiel, und dessen Kleidung sich noch jetzt vom Blute gerötet zeigte.

Es war der Leichnam eines der am vorgestrigen Abend an Bord des »Alert« ermordeten Matrosen, der jetzt einmal nach der Oberfläche auftauchte, bald aber wieder in die Tiefe des Meeres versinken mußte.

[123]
10. Kapitel
Zehntes Kapitel.
Nordostwind.

Hatte der Anblick des dahintreibenden Körpers die jungen Passagiere auch aufs tiefste erregt, so sahen sie an ihm doch nur das Opfer eines Unglücksfalles, vielleicht eines Sturzes, bei dem sich der Ärmste schwer verletzt hatte, ehe er vollends ins Meer fiel. Wer hätte auch ahnen können, daß hierbei ein Verbrechen im Spiele war?

Harry Markel und seine Genossen wußten das freilich besser, und Corty raunte noch John Carpenter zu:

»Nun fehlte bloß noch, daß der Kapitän Paxton und seine Mannschaft an den Strand geschwemmt würden!«

Soweit der Blick reichte, behielten sie die Wasserfläche scharf im Auge, es kam aber kein anderer Leichnam zum Vorschein, der von einem der Fahrzeuge in der Nähe des »Alert« hätte aufgefischt werden können. Natürlich harrten sie jedoch ungeduldig darauf, weiter zu fahren und nicht mehr in Sicht des Landes zu sein.

Jetzt erschienen am Himmel auch einzelne Vorzeichen, die auf einen Witterungsumschlag hindeuteten. Im Osten stiegen Wolken auf und vielleicht erhob sich noch vor dem Ende des Tages ein Wind von der Landseite.

Den dachte man sich zu nutze zu machen, selbst im Falle, daß er zum Sturme ausartete, wenn er nur den »Alert« so zwanzig Meilen auf das offene Meer hinaustrieb.

Doch ob diese Hoffnung nicht täuschte? Würden sich die Wolken nicht bei den letzten Strahlen der Sonne wieder zerstreuen, und sollte Harry Markel doch noch die Boote zu Hilfe nehmen müssen, um aufs hohe Meer zu kommen?

Geschützt unter einem Zelte auf dem Deck beobachteten die jungen Leute den lebhaften Verkehr am Eingange des Sankt-Georgskanals. Hier liefen nicht nur Dampfer ein und aus, die einen nach den Gestaden Irlands, die anderen nach dem Atlantischen Ozean, sondern auch einige Segelschiffe kamen zum Vorschein, die sich von Schleppdampfern aus Queenstown hinausbugsieren ließen.

[124] Ja, wenn es Harry Markel nur gewagt hätte, wie gern würde er einen solchen Dampfer angerufen und seine Dienste reichlich belohnt haben, wenn er dadurch nur hinaus, hinaus aufs offene Meer gekommen wäre!

Tony Renault empfahl auch diesen Ausweg, da fünf bis sechs Meilen vor dem Kanal wohl auf Seewinde zu hoffen wäre.

Harry Markel widersetzte sich dem aber mit aller Entschiedenheit und so trockenen Tones, daß jede weitere Einrede verstummen mußte. Ein Kapitän weiß ja auch selbst, was er zu tun hat, und nimmt von keinem andern Ratschläge an.

So viel Harry Markel auch daran gelegen war, sich von der für ihn und seine Genossen so gefährlichen Küste zu entfernen, hätte er sich doch auf keinen Fall entschlossen, ein Schleppboot zu Hilfe zu nehmen. Was wäre dann die Folge gewesen, wenn der Führer dieses Bootes den Kapitän Paxton oder einen von dessen Leuten zufällig gekannt und an Bord des »Alert« nicht wiedergefunden hätte?.. Nein, da war es jedenfalls ratsamer, ruhig noch länger zu warten.

Gegen drei Uhr nachmittags zeigte sich im Südwesten eine dichte Rauchsäule von einem Dampfer, dessen Annäherung zu einer interessanten Beobachtung Gelegenheit gab.

Das Fahrzeug glitt sehr schnell dahin und schon eine halbe Stunde später erkannte man deutlich, daß es ein Kriegsschiff war, das dem Kanal zusteuerte.

Jetzt richteten sich alle kleinen Ferngläser nach ihm hin. Tony Renault und die anderen wetteiferten untereinander, wer die Nationalität dieses Dampfers zuerst entdecken würde.

Louis Clodion gelang das, und nach genauerer Prüfung des vom Top des einen Gefechtsmastes wehenden Wimpels rief er erfreut:

»Das ist ein Franzose... ein Schiff der Kriegsmarine!

– Ein Franzose! Ein Franzose! jubelte Tony Renault. Den begrüßen wir, wenn er hier vorüberkommt.«

Sofort bat er Harry Markel, Frankreich, das hier durch eines seiner Panzerschiffe vertreten wurde, den üblichen Salut zu erweisen.

Harry Markel, der ja keine Urfache hatte, das zu verweigern, ging gleich darauf ein und fügte noch hinzu, daß der Franzose den »Alert« dann jedenfalls auch salutieren werde, wie das ja bei allen Flotten üblich ist.

Das Fahrzeug war ein Panzerkreuzer zweiter Klasse von sieben- bis achthundert Tonnen und mit zwei Gefechtsmasten. Die Trikolore wehte von [125] seinem Heck und schnell durchschnitt es mit dem Rammsporn am Bug das ruhige Meer und ließ – eine Folge seiner ausgezeichneten Wasserlinien – einen langen Streifen nur sehr flachen Kielwassers hinter sich.

Mit den Fernrohren war beim Vorüberfahren des Panzers vor dem »Alert« auch dessen Name zu erkennen.

Es war der »Jemmapes«, einer der schönsten Typen der französischen Flotte.

Louis Clodion und Tony Renault standen auf dem Hinterdeck am Gaffelreep des Besanmastes. Als der »Jemmapes« nur noch eine Viertelmeile entfernt war, zogen sie das Reep an und ließen mit dem Rufe Vive la France! die britische Flagge dreimal auf- und niedergleiten. Engländer, Dänen, Holländer, kurz alle, stimmten in den Ruf ihrer Kameraden ein, während die Flagge des »Jemmapes« an ihrer Stange auf- und abstieg.

Eine Stunde darauf wurden in gleicher Weise die englischen Farben begrüßt, als diese an der Gaffel eines transatlantischen Dampfers sichtbar wurden.

Es war das die »City-of-London« von der zwischen Liverpool und New York verkehrenden Cunardlinie. Gewohnheitsmäßig lieferte das Schiff seine Postsäcke schon in Queenstown ab, wodurch diese ihr Ziel einen halben Tag früher erreichten, als das Paketboot selbst an seinem Ziele ankam.

Die »City-of-London« salutierte den »Alert«, dessen Flagge von John Howard und Hubert Perkins unter dem Hurra der jungen Passagiere gehißt worden war.

Gegen fünf Uhr hatten sich die Wolkenmassen im Nordosten wesentlich vermehrt und ragten jetzt auch über die Höhenzüge hinter der Bai von Cork auf. Überdies bot der Himmel heute gegenüber der gleichen Stunde an den letzten Tagen ein sehr verändertes Aussehen.

Versank die Sonne heute auch noch hinter einem klaren Horizonte, so war doch anzunehmen, daß sie morgen früh inmitten jener schweren Dunstmassen aufgehen werde.

Harry Markel und John Carpenter standen auf dem Vorderdeck beieinander. Aus Vorsicht zeigten sie sich nicht auf dem Hinterkastell, wo sie vom Steilufer oder von dem mit schwärzlichen Felsblöcken besäten Strande aus hätten gesehen und vielleicht erkannt werden können.

»Da scheint endlich Wind zu kommen, sagte der Obersteuermann, indem er die Hand nach der Roche-Spitze zu ausstreckte.

– Das glaub' ich auch, antwortete Harry Markel.

[126] – Na, wenn das zutrifft, wollen wir uns keine Handvoll davon entgehen lassen, Kapitän Paxton... ja: Kapitän Paxton. Ich muß mich schon daran gewöhnen, dich so zu nennen... wenigstens für ein paar Tage oder doch noch für einige Stunden. Morgen, vielleicht schon heute Nacht, hoffe ich ja, daß du wieder zum Kapitän Markel wirst, zum Befehlshaber des... Oh, ich werde für unser Schiff nach einem Namen suchen... mit dem ›Alert‹ fangen wir unsere Fahrten im Stillen Ozean doch nicht an!«

Harry Markel ließ den Mann reden und fragte nur:

»Ist denn alles zur Abfahrt fertig?

– Alles, Kapitän Paxton, versicherte der Obersteuermann. Wir brauchen nur den Anker einzuholen und Segel zu setzen. Ein Schiff mit so scharfem Bug und so schlankem Heck wie unseres braucht nicht viel Wind, schnell dahinzugleiten.

– Gewiß, es würde mich auch wundern, wenn wir heut' Abend bei Sonnenuntergang nicht fünf bis sechs Meilen von Roberts-Cove weg wären...

– Und mich noch mehr beunruhigen als verwundern! erwiderte John Carpenter. Doch da kommen zwei von unseren Passagieren, die dich, wie es scheint, sprechen wollen.

– Was sollten sie mir zu sagen haben?« murmelte Harry Markel.

Magnus Anders und Tony Renault – die beiden Novizen, wie ihre Kameraden sie nannten – wandten sich eben dem Vorderkastell zu, vor dem Harry Markel und John Carpenter im Gespräch standen.

Tony Renault nahm zuerst das Wort.

»Herr Kapitän Paxton, begann er, meine Kameraden senden uns, Magnus Anders und mich, Sie zu fragen, ob denn immer noch kein Umschlag des Wetters in Aussicht steht.

– Ja freilich... ich hoffe sogar recht bald, antwortete Harry Markel.

– Dann könnte der ›Alert‹ vielleicht also noch heute Abend absegeln? sagte Magnus Anders.

– Das wäre wohl möglich. Eben hab' ich mit John Carpenter darüber gesprochen.

– Aber jedenfalls nicht vor dem Abend? fragte Tony Renault.

– Eher wahrscheinlich nicht, erklärte Harry Markel. Die Wolken dort steigen sehr langsam herauf, und wenn sich überhaupt Wind erhebt, wird das doch vor zwei bis drei Stunden nicht der Fall sein.

[127] – Wir haben bemerkt, daß die Wolkenbank ununterbrochen zusammenhängt und jedenfalls von tief unter dem Horizonte heraufsteigt. Deshalb meinen Sie, Herr Kapitän, ja wohl auch, daß eine Änderung des Wetters eintreten werde?«

Harry Markel nickte als Bestätigung mit dem Kopfe und für ihn nahm der Obersteuermann das Wort.

»Jawohl, meine jungen Herren, ich glaube auch, daß wir endlich Wind bekommen, und zwar einen günstigen Wind, der uns nach Westen hinaustreibt. Nur noch ein wenig Geduld, der ›Alert‹ wird schon bald die irische Küste verlassen haben. Jetzt ist übrigens Zeit zum Essen. Ranyah Cogh hat alles mögliche für Ihre Mahlzeit aufgeboten... für die letzte, die letzte in Sicht des Landes!«

Harry Markel runzelte die Stirn; er verstand gut genug, worauf John Carpenter mit der »letzten« anspielte. Es war nur zu schwierig, das Geschwätz des Elenden zu hemmen, dem nun einmal eine rohe und wilde Scherzhaftigkeit im Blute lag.

»Schön, antwortete Magnus Anders, wir setzen uns zu Tische, sobald das Essen aufgetragen ist.

– Und fürchten Sie nicht, uns davon abzurufen, setzte Tony Renault hinzu, wenn Sie inzwischen abfahren wollten. Wir wollen alle bei der Abfahrt helfen.«

Die beiden jungen Leute begaben sich wieder nach dem Hinterdeck und plauderten hier weiter, während sie den Himmel im Auge behielten, bis einer der Matrosen, Namens Wagah, ihnen meldete, daß der Tisch gedeckt sei.

Wagah hatte den Dienst im Deckhause und alles zu besorgen, was die Hauptkajüte und die Kabine betraf; er vertrat sozusagen die Stelle eines Stewards an Bord.

Der Mann zählte fünfunddreißig Jahre; die Natur hatte aber einen Fehlgriff getan, als sie ihn mit einem offenherzigen Gesichtsausdruck, überhaupt mit einer ansprechenden Erscheinung ausstattete: er war in der Tat nicht einen Heller mehr wert als seine Genossen. Seine zur Schau getragene Willfährigkeit wäre wohl andern nicht frei von heimlicher Schurkerei erschienen, denn er konnte eigentlich niemand gerade ins Gesicht sehen; den noch so jungen Passagieren entgingen aber solche Einzelheiten, sie waren ja zu unerfahren, derlei Anzeichen menschlicher Verworfenheit zu erkennen.

[128] Wagah hatte vorzüglich auch Horatio Patterson zu täuschhen verstanden, denn wenn auch älter, war der gelehrte Herr in dieser Hinsicht ebensowenig gewitzigt, wie Louis Clodion und dessen Kameraden.


Die Passagiere eilten zu den Querbalken, die Leute zu unterstützen. (S. 133)

Bei seiner Pünktlichkeit in allen Dienstleistungen und dem Eifer, den er dabei markierte, mußte Wagah ja einem so naiven Manne wie dem Verwalter der Antilian School gefallen. Harry Markel hatte eine glückliche Hand gehabt, als er ihn zum Steward wählte, denn keiner hätte seine Rolle besser als er gespielt. Auch wenn Wagah diese Stellung während der ganzen Reise beibehalten [129] hätte, würde in Patterson kein Verdacht gegen den Mann aufgestiegen sein. Der Leser weiß jedoch, daß diese Rolle eigentlich schon nach wenigen Stunden ausgespielt sein sollte.

Der Mentor war also ganz bezaubert von seinem Steward. Er hatte diesem schon in seiner Kabine den Platz seiner Toilettengegenstände und Kleidungsstücke gezeigt, da er sich von Wagah der ersprießlichsten Dienste versah, wenn ihn die Seekrankheit packen sollte, obgleich er das nicht erwartete, da er sich nach der Überfahrt von Bristol nach Queenstown dagegen gefestigt glaubte. Gleichzeitig deutete er auf eine reichliche, klingende Anerkennung aus dem für die Reise ausgeworfenen Fonds hin, wenn jener seine Wünsche wie bis jetzt so willig befriedige.

Als er so mit dem Steward über das und jenes und auch über den »Alert« und dessen Personal plauderte, kam Patterson auch auf Harry Markel zu sprechen. Ihm erschien »der Kommandant« – wie er sagte – etwas kühl und zugeknöpft, überhaupt von wenig mitteilsamer Natur.

»Darin haben Sie recht, Herr Patterson, antwortete ihm Wagah. Ja, für einen alten Seemann ist er etwas gar zu ernst. Der Kapitän Paxton denkt eben immer nur an seine Pflichten; er ist sich seiner Verantwortlichkeit bewußt und bemüht sich, seine Obliegenheiten zu erfüllen. Sie werden ihn ja beobachten können, wenn der ›Alert‹ etwa in schlechtes Wetter käme. In unserer Handelsflotte gibt es keinen, der ein Schiff besser führen könnte als er, und er wäre ebensogut befähigt, ein Kriegsschiff zu kommandieren, wie Se. Hoheit der erste Lord der Admiralität...

– Ein Zeugnis, das er mit Recht verdient, Wagah, meinte Horatio Patterson, und in gleich lobender Weise ist er auch uns geschildert worden. Als die hochsinnige Mistreß Kathlen Seymour uns den ›Alert‹ zur Verfügung stellte, haben wir schon vernommen, was der Kapitän Paxton wert wäre, dieser Deus – ich sage nicht: ex machina, sondern – dieser Deus machinae, den Gott der wunderbaren Maschine, die ein Schiff darstellt, das jeder Wut des Meeres zu trotzen vermag!«

Auffallend erschien hierbei, es gewährte Horatio Patterson aber ein besonderes Vergnügen, daß der Steward ihn selbst dann zu verstehen schien, wenn ihm ein lateinisches Citat entschlüpfte. Er erschöpfte sich daher in Lobsprüchen über Wagah, und seine jungen Begleiter hatten keinerlei Ursache, an seinen Worten zu zweifeln.

[130] Die Hauptmahlzeit verlief unter ebenso freudiger Stimmung wie das Frühstück und war – das verdiente alle Anerkennung – auch ebensogut zubereitet. Der Koch Ranyah Cogh erntete dafür seine redlich verdienten Lobsprüche, bei denen in den hochtönenden Phrasen Horatio Pattersons von cibus und potus nicht zu wenig die Rede war.

Trotz der Bemerkungen des würdigen Schulverwalters verließ Tony Renault, der seine Ungeduld nicht zügeln konnte, doch wiederholt die Kajüte, um zu sehen, was auf dem Deck, wo die Mannschaft beschäftigt war, vorginge. Zuerst wollte er sich da überzeugen, ob der Wind seine günstige Richtung beibehielte, dann wieder, ob er zunähme oder etwa abflaute, ein drittes Mal, ob endlich Vorbereitungen zur Abfahrt im Gange wären, und schließlich, um den Kapitän Paxton an sein Versprechen zu erinnern, es den jungen Leuten melden zu lassen, wenn sie am Gangspill mit anfassen könnten.

Natürlich überbrachte Tony Renault seinen Kameraden, die ebenso ungeduldig waren wie er, allemal die erwünschte Antwort. Der »Alert« sollte nun ohne weitere Verzögerung absegeln, doch nicht vor halb acht Uhr, d. h. mit der Umkehr der Gezeiten, wo ihn dann der Ebbestrom schnell aufs offene Meer hinaustragen würde.

Die Passagiere hatten also genügende Zeit zu essen und brauchten auch keine doppelten Bissen zum Munde zu führen, was für Horatio Patterson unbehaglich gewesen wäre. Ebenso besorgt um die gute Verwaltung seiner Angelegenheiten wie um die Gesundheit seines Magens, nahm er seine Mahlzeiten stets mit weiser Langsamkeit ein, verzehrte nur kleine Bissen, trank dazu nur kleine Schlucke und kaute alles tüchtig, ehe er es in den muskulo-membranösen Kanal des Pharynx hinabgleiten ließ.

Dabei predigte er wiederholt zum Ergötzen der Zöglinge der Antilian School.

»Dem Munde fällt die erste Arbeit zu. Er hat zum Zerkauen die Zähne, die dem Magen fehlen. Der Mund soll zerkleinern und einspeicheln, der Magen nur verdauen, dann hat der Körper den richtigen Nutzen vom Essen!«

War das ohne Zweifel richtig, so bedauerte Patterson doch lebhaft, daß weder Horaz noch Virgil oder ein anderer Dichter des alten Rom diesen Lehrsatz in lateinische Verse gebracht hatte.

So verlief die Mahlzeit am letzten Ankerplatze des »Alert«, ohne daß Wagah genötigt war, die Schutzkanten der Tafel wegen der Bewegungen des [131] Schiffes aufzuklappen. Roger Hinsdale brachte deshalb auch, an seine Schulgenossen gewendet, ein Hoch auf den Kapitän Paxton aus, wobei er nur bedauerte, daß dieser nicht bei dem Essen in der Kajüte den Vorsitz führen könnte, Niels Harboe aber versicherte hoch und teuer, daß es ihnen allen während der ganzen Fahrt nicht an Appetit mangeln werde.

»Ja, warum sollte es uns denn an Appetit fehlen? bemerkte dazu der Mentor, den ein Glas Portwein mehr als gewöhnlich belebt hatte. Wird er denn nicht fortwährend durch die frische, salzhaltige Seeluft angeregt werden?

– Oho, wandte Tony Renault mit ironischem Augenzwinkern dagegen ein, wie steht's denn da mit der Seekrankheit?

– Pah... Seekrankheit! rief John Howard. Ein paarmal Übelwerden, das ist ja alles!

– Übrigens, bemerkte Albertus Leuwen, ist es fraglich, ob man als bestes Mittel, ihr zu entgehen, auf einen vollen oder einen leeren Magen achten soll.

– Auf einen leeren, behauptete Hubert Perkins.

– Nein... auf einen vollen, versicherte Axel Wickborn.

– Liebe junge Freunde, fiel da Horatio Patterson ein, glaubt meiner alten Erfahrung: das beste ist, sich an die abwechselnden Bewegungen des Schiffes zu gewöhnen. Wie wir es auf der Überfahrt von Bristol nach Queenstown gehalten haben, werden wir bei gleichem Verhalten auch fernerhin nichts von dieser – übrigens ungefährlichen – Krankheit zu fürchten haben. Hier heißt's nur, sich gewöhnen; auf dieser Erde kommt ja alles auf Gewohnheit hinaus.«

O, er sprach klug und weise, der vortreffliche Mann, und jetzt fügte er noch hinzu:

»Ach, meine jungen Freunde, da fällt mir eben noch ein Beispiel ein, das meine Anschauung wesentlich unterstützt...

– Erzählen... erzählen! rief die ganze Tafelrunde.

– Ja... sofort, erklärte Patterson, den Kopf etwas zurücklehnend. Ein Gelehrter, ein Ichthyolog, dessen Name mir entfallen ist, hat bezüglich der Macht der Gewohnheit einen Versuch durchgeführt, der – wenigstens was die Fische betrifft – einen schlagenden Beweis lieferte. Er besaß ein Aquarium und darin einen Karpfen, der in dem Aquarium ein sorgloses Leben führte. Eines Tages kam da dem Gelehrten der Gedanke, dieses Schuppentier an das [132] Leben außerhalb des Wassers gewöhnen zu wollen. Er nahm ihn aus dem Aquarium, anfänglich nur einige Sekunden, dann einige Minuten, später mehrere Stunden, zuletzt gleich für einige Tage, und siehe da, das intelligente Tier gewöhnte sich wirklich daran, in der freien Luft zu atmen.

– Das ist nicht glaublich, wendete Magnus Anders ein.

– Die Tatsache ist aber unumstößlich, entgegnete Patterson, und ihre wissenschaftliche Bedeutung läßt sich gar nicht bestreiten.

– Dann, fiel Louis Clodion ungläubig ein, dann müßte wohl auch der Mensch bei einer ähnlichen Vorbereitung schließlich im Wasser leben können?

– Die Wahrscheinlichkeit ist nicht anzuzweifeln, lieber Louis.

– Kann man wohl, fragte Tony Renault, auch erfahren, was aus diesem interessanten Karpfen geworden ist?... Lebt er vielleicht noch heute?

– Nein... er ist tot, ist eingegangen, nachdem er zu jenem herrlichen Versuche gedient hatte, schloß Patterson, umgekommen durch einen Unfall, der an sich wieder höchst interessant ist. Eines Tages fiel er nämlich zufällig wieder in das Aquarium, und darin ist er... ertrunken! Ohne dieses Mißgeschick hatte er, wie seinesgleichen, jedenfalls hundert Jahre lang gelebt!«

In diesem Augenblicke ertönte der Ruf: »Alle Mann auf Deck!«

Das Kommando Harry Markels unterbrach den Mentor, gerade als ihm laute Hurras für seine wahrhaftige Mitteilung danken sollten. Keiner der Passagiere hätte es aber versäumen mögen, sich an den Abfahrtmanövern zu beteiligen.

Der Wind, eine leichte Brise aus Nordosten, war ziemlich stetig geworden.

Schon standen vier Mann am Gangspill, es in Drehung zu setzen, und die Passagiere eilten jetzt zu den Querbalken, die Leute zu unterstützen. John Carpenter und einige Matrosen waren beschäftigt, Klüver-, Top- und Bramsegel sowie die unteren Segel loszubinden, dann die Raaen zu hissen, sie fest zu sorren und anzuholen, sobald das Schiff sich gewendet hätte.

»Den Anker herauf!« befahl Harry Markel einen Augenblick später.

Mit noch einigen Drehungen des Gangspills wurde der Anker bis zu seinem Kranbalken emporgewunden und hier ausgepentert.

»Alles los, rief Harry Markel, und nach Südwesten gesteuert!«

Der »Alert« setzte sich in Bewegung und entfernte sich damit von Roberts-Cove, während die jungen Leute die britische Flagge hißten und mit lauten Hurras begrüßten.

[133] Horatio Patterson stand eben bei Harry Markel vor dem Kompaßhäuschen, und nachdem er zuerst ausgesprochen hatte, daß die große Reise nun endlich begonnen habe, fügte er noch hinzu:

»Eine große und früchtereiche Reise, Kapitän Paxton! Dank der fürstlichen Freigebigkeit der Mistreß Kathlen Seymour wird jeder von uns bei der Abfahrt von Barbados noch einen Preis von siebenhundert Pfund erhalten.«

Harry Markel, der von dieser Bestimmung noch nichts wußte, sah Patterson scharf an und entfernte sich dann, ohne ein Wort zu äußern.

Es war jetzt halb neun Uhr. Die Passagiere konnten noch die Lichter im Kinsale-Harbour und das Leuchtfeuer der Corrakilty-Bai sehen.

Da trat John Carpenter an Harry Markel heran mit der Frage:

»Nun... diese Nacht wird's doch?...

– Weder diese noch eine andere Nacht, erwiderte Harry Markel. Auf der Rückfahrt sind unsere Passagiere jeder siebenhundert Pfund mehr wert!«

11. Kapitel
Elftes Kapitel.
Auf dem hohen Meere.

Am nächsten Morgen stieg die Sonne, »das pünktliche Faktotum des Weltalls«, wie Charles Dickens gesagt hat, über den von einer hübschen Brise reingefegten Horizont empor. Der »Alert« hatte kein Land mehr in Sicht.

Harry Markel hatte also beschlossen, die Ausführung seiner verbrecherischen Pläne vorläufig zu verschieben.

Im Grunde war es ihm ja leicht genug gewesen, sich für den Kapitän Paxton auszugeben, da dieser seinen Passagieren nicht persönlich bekannt gewesen und von der früheren Mannschaft kein einziger an Bord geblieben war. Hatte er sich erst Pattersons und dessen junger Begleiter entledigt, so war für ihn nichts mehr zu befürchten und der »Alert« konnte ruhig dem Großen Ozean zusteuern.

[134] Der Plan des tollkühnen Verbrechers hatte jedoch eine unerwartete Änderung erfahren. Jetzt wollte Harry Markel mit dem Dreimaster nach dessen Bestimmungsort segeln, das Antillenmeer befahren, die geplante Reise bis zum Schlusse durchführen, denn vor allem sollten die jungen Leute erst auf Barbados die Geldsumme eingesteckt haben, die die klingende Zugabe zu dem Reisestipendium bildete, und erst nach dem Verlassen der Antillen gedachte er sie über Bord zu werfen.

Immerhin war das aber noch mit großen Gefahren verknüpft, wenigstens nach der Ansicht einiger der Leute, unter andern auch Cortys, obwohl diesen die Erbeutung des Geldes nicht wenig reizte. Zunächst konnte ja der Kapitän Paxton oder der und jener der früheren Besatzung auf den Antillen bekannt sein, wenn auch bezüglich der Besatzung des »Alert« anzunehmen oder doch leicht vorzugeben war, daß diese vor der Abfahrt nach den Antillen gewechselt hätte.

»Ja ja... zugegeben, meinte Corty, vielleicht ein oder zwei Matrosen, doch der Kapitän Paxton, wie sollten wir dessen Abwesenheit erklären?

– Das wäre freilich fast unmöglich, antwortete Harry Markel. Glücklicherweise hab' ich mich aber bei Durchsicht der Papiere Paxtons überzeugt, daß er weder mit dem ›Alert‹ noch mit einem anderen Schiffe jemals nach Westindien gekommen ist, danach dürfte er also dort wohl nirgends bekannt sein. Ich leugne ja nicht, daß wir ein etwas gefährliches Spiel wagen, doch ist die Summe, die Mrs. Kathlen Seymour den Stipendiaten der Antilian School zugesagt hat, wohl der Mühe des Versuches wert.

– Ich stimme Harry bei, erklärte darauf John Carpenter, wir wagen den Streich! Zum Kuckuck, da war's doch schwieriger, von Queenstown wegzukommen, und jetzt schwimmen wir schon an die dreißig Meilen weit draußen. Und was die Prämie betrifft, die jeder der jungen Leute einstecken soll...

– Fällt sie im vollen Betrage jedem von uns zu, unterbrach ihn Harry Markel. Sie sind ihrer zehn und wir ja gerade auch.

– Ganz richtig, meinte der Obersteuermann, und rechnet man noch den Wert des Dreimasters hinzu, so ist das Ganze ein gutes Geschäft. Na, das will ich unseren Kameraden schon klar machen.

– Ob sie's nun einsehen oder nicht, erklärte Harry Markel, die Sache ist beschlossen. Jeder denke daran, auf der Ausreise seine Rolle gut zu spielen und sich weder durch Taten noch durch Worte einen Verdacht zuzuziehen. Ich werde ein scharfes Auge darauf haben.«

[135] Corty fügte sich schließlich den Anschauungen Harry Markels, und im Gedanken an die großen Vorteile der Sache verblaßten allmählich auch seine Befürchtungen. Dazu waren ja, wie John Carpenter gesagt hatte, die Gefangenen von Queenstown jetzt außer dem Machtbereiche der Polizei, und auf dem offenen Meere hatten sie keine Verfolgung mehr zu fürchten.

So kühn der Plan Harry Markels auch sein mochte, fand er doch allgemeine Billigung, und nun galt es nur, die Sachen ihren Gang gehen zu lassen.

Im Laufe des Vormittags wollte Harry Markel noch einmal die Schiffspapiere einsehen, und die des Kapitäns Paxton besonders mit Rücksicht auf alles, was für die Reise und das Anlaufen der Antillen vorher festgesetzt war.

Er selbst hätte es ja beiweitem vorgezogen, sogleich an Barbados zu landen, wo die Passagiere die Mrs. Kathlen Seymour finden und die versprochene Prämie in Empfang nehmen sollten. Statt dann erst von Insel zu Insel zu segeln, hätte Harry Markel sogleich einen Kurs nach dem offenen Meere eingeschlagen... in der ersten Nacht wären die Passagiere über Bord geworfen worden, und dann hätte sich der »Alert« nach Südosten gewendet, um das Kap der Guten Hoffnung zu umschiffen.

Mrs. Kathlen Seymour hatte aber einen bestimmten Reiseweg vorgeschrieben und der mußte im einzelnen genau eingehalten werden. Horatio Patterson und seine Schützlinge kannten ihn ja ebenso, wie Harry Markel davon hatte Kenntnis nehmen müssen.

Dieser Reiseweg war ganz verständig entworfen, denn der »Alert« sollte Antilien zuerst im Norden berühren und auf der Fahrt nach Süden die lange Kette der Inseln Vor dem Winde anlaufen.

Der erste Halt wäre dabei in Sankt-Thomas, der zweite in Sankta-Cruz zu nehmen, wo Niels Harboe und Axel Wickborn wieder dänischen Boden betreten sollten.

Als dritter Ankerplatz war ferner der halb französische, halb holländische Hafen von Sankt-Martin vorgesehen, wo Albertus Leuwen das Licht der Welt erblickt hatte.


Patterson, unsicheren Schrittes hinschwankend, traf mehrmals mit Corty zusammen. (S. 140.)

Die vierte Haltestelle sollte Sankt-Barthelemy sein, die einzige Besitzung Schwedens unter den Antillen und die Insel, wo Magnus Anders geboren war.

Als fünfte sollte Hubert Perkins die englische Insel Antigoa, und als sechste Louis Clodion die französische Insel Guadeloupe besuchen.

[136] Endlich würde der »Alert« John Howard an der englischen Insel Dominique. Tony Renault an der französischen Insel Martinique und zuletzt Roger Hinsdale an der englischen Insel Sankta-Lucia ans Land setzen.

Nach diesen neun Fahrtunterbrechungen sollte der Kapitän Paxton nach der englischen Insel Barbados steuern, wo Mrs. Kathlen Seymour wohnte. Dort beabsichtigte Horatio Patterson die neun Preisträger der Antilian School ihrer Wohltäterin vorzustellen. Dort sollten sie dieser für ihre Güte Dank sagen und von da aus die Rückfahrt nach Europa antreten.

[137] So lautete das Programm, dem der Kapitän Punkt für Punkt zu folgen hatte und dem sich Harry Markel wohl oder übel fügen mußte. Es lag ja sogar im Interesse der Schurken, davon keine Abweichung eintreten zu lassen. Vorausgesetzt, daß auf den Antillen niemand den Kapitän Paxton persönlich kannte – und dafür sprach die größte Wahrscheinlichkeit – hatte Harry Markel die beste Aussicht, seine Pläne sich erfüllen zu sehen, denn niemand könnte auf die Vermutung kommen, daß der »Alert« den Raubgesellen von der »Halifax« in die Hände gefallen wäre.

Bezüglich der Fahrt über den Atlantischen Ozean mit einem guten Schiffe und in der Zeit des Jahres, wo die Passate über die Tropenzone wehen, ließ sich ja annehmen, daß diese unter den günstigsten Verhältnissen verlaufen würde.

Gleich von den englischen Gewässern aus hatte Harry Markel einen südwestlichen Kurs eingehalten, statt eines südöstlichen, wenn seine Passagiere schon in der vergangenen Nacht hätten verschwinden sollen. Der »Alert« wäre in diesem Falle zuerst nach dem Indischen Meere und dann auf kürzestem Wege nach dem Großen Ozean gegangen. Jetzt handelte es sich darum, nach Antilien zu segeln und den Wendekreis des Krebses etwa beim vierzigsten Längengrad zu kreuzen. Unter allen Segeln, selbst mit den Oberbram-, Top- und Stagsegeln, glitt der »Alert« mit Steuerbordhalfen bei einer frischen Brise und mit der Geschwindigkeit von elf Seemeilen in der Stunde dahin.

Natürlich litt hierbei keiner von der Seekrankheit. Vor dem Segeldruck, der ihn leicht nach Backbord neigte, empfand man auf den langen, glatten Wellen kaum ein Rollen des Schiffes, und der »Alert« glitt von einer Welle zur andern mit solcher Leichtigkeit, daß auch kein Stampfen bemerkbar wurde.

Trotz dieser günstigen Verhältnisse fühlte sich Horatio Patterson am Nachmittage doch recht unbehaglich. Dank der Vorsorge der Frau Patterson und der berühmten Vorschriften Vergalls enthielt seine Reisetasche aber die verschiedenen Mittelchen, die, wenn man minder erfahrenen Leuten glauben dürfte, es ermöglichen, die Seekrankheit – von unserem gelehrten Herrn »Pelagalgie« genannt – mit bestem Erfolge zu bekämpfen.

Übrigens hatte der vorsichtige Verwalter der Antilian School in der letzten Woche wiederholt und immer etwas steigend Purgantien genommen, um sich im besten Gesundheitszustande zu befinden und den neckischen Launen Neptuns möglichst Widerstand leisten zu können. Man hält das für eine von der Erfahrung [138] bestätigte Vorsichtsmaßregel, und der zukünftige Passagier des »Alert« hatte ihr gewissenhaft Rechnung getragen.

Endlich hatte Horatio Patterson – einer weit angenehmeren Vorschrift folgend – vor dem Weggange aus Queenstown und der Einschiffung auf dem »Alert« ein vortreffliches Frühstück in Gesellschaft seiner jungen Begleiter verzehrt, die ihm dabei das Beste versprechende Toaste ausbrachten.

Außerdem wußte Patterson recht gut, daß in der Mitte die Stelle des Schiffes war, wo die Stöße am wenigsten bemerkbar wurden. Auf dem Vorderwie auf dem Hinterteile traten Schlingern und Stampfen weit stärker hervor. In den ersten Stunden der Seefahrt glaubte er es noch im Deckhause aushalten zu können. Dort sah man ihn mit gespreizten Beinen nach Seemannsart zur besseren Erhaltung des Gleichgewichtes gravitätisch hin- und herschreiten.

Der würdige Mann empfahl auch den jungen Leuten, seinem Beispiele zu folgen, diese schienen aber seine Vorsicht, als ihrem Temperamente und Alter nicht angepaßt, leichten Herzens zu mißachten.

Heute nahm Horatio Patterson sein Frühstück schon nicht mehr mit demselben Appetit ein wie am vergangenen Tage, obwohl der Koch seine Sache recht gut gemacht hatte. Nachher drängte es ihn auch gar nicht mehr, auf und ab zu gehen, er setzte sich vielmehr ruhig auf eine Bank und beobachtete Louis Clodion nebst den andern, die munter um ihn herliefen. Nach dem Mittagessen, das er kaum mit den Lippen berührte, geleitete ihn Wagah nach seiner Kabine und hieß ihn, sich auf dem Lager lang auszustrecken und auch, ohne zu schlafen, die Augen geschlossen zu halten.

Am folgenden Morgen verließ Patterson sein Bett so unwohl wie vorher und nahm in der Kajüte auf einem Klappstuhle Platz.

Da kam Harry Markel einmal vorüber.

»Nichts neues, Kapitän Paxton? fragte er diesen mit schwacher Stimme.

– Nein, gar nichts, Herr Patterson, antwortete Harry Markel.

– Noch dasselbe Wetter?

– Dasselbe und auch derselbe Wind.

– Sie vermuten auch keine baldige Veränderung?

– Nein, höchstens scheint der Wind auffrischen zu wollen.

– Also geht alles gut?

– Alles... ganz nach Wunsch.«

[139] Patterson meinte für sich freilich, es ginge nicht alles so gut wie am vorigen Tage. Vielleicht täte er besser, sich etwas Bewegung zu machen. Er erhob sich also, ging hinaus und begab sich, die rechte Hand auf die Regeling stützend, vom Deckhause nach dem Großmaste. Das hatte unter anderen Vorschriften Vergall auch empfohlen, vorzüglich sollte es jeder Passagier zu Anfang einer Seereise streng einhalten. In der Schiffsmitte angelangt, hoffte er das Stampfen des Schiffes vertragen zu können, das weit unangenehmer ist als das Schlingern, das hier übrigens kaum fühlbar war, da der »Alert« stetig nach Backbord überhing.

Während da Patterson unsicheren Schrittes so hinschwankte, traf er mehrmals mit Corty zusammen.

»Wollen Sie erlauben, Ihnen einen Rat zu geben? fragte dieser.

– Reden Sie... reden Sie, bester Freund!

– Nun, Sie dürfen niemals weit über das Schiff hinaussehen, dann werden Sie weniger belästigt.

– Ich habe aber doch, erwiderte Patterson, der sich an einer Klampe festhielt, in den ›Vorschriften zum Gebrauche für Passagiere, die noch nicht seefest sind‹, gelesen, daß es sich empfehle, die Augen aufs Meer zu richten.«

Tatsächlich findet sich diese Empfehlung in jenen Vorschriften, gleichzeitig aber auch die andere, obgleich sich beide zu widersprechen scheinen. Patterson war übrigens entschlossen, allen ohne Ausnahme nachzukommen. Er hatte sich deshalb auch mit einer roten Flanellbinde versorgt, die ihm dreimal um den Leib reichte und diesen eng einschnürte.

Trotz seiner Vorsichtsmaßregeln fühlte sich der Mentor allmählich aber immer unbehaglicher. Das Herz schien ihm in der Brust wie ein Pendel hin und her zu schwingen, und als Wagah die Frühstücksstunde anschlug und die ungen Leute in die allgemeine Kajüte eintreten ließ, da blieb er ruhig am Großmaste stehen.

Mit einer Teilnahme, bei der es ihm nicht Ernst war, redete Corty den Ärmsten an.

»Sehen Sie nun, lieber Herr, wenn bei Ihnen da inwendig nicht mehr alles in Ordnung ist, haben Sie sich das selbst zuzuschreiben, weil Sie auch im Sitzen den Bewegungen des Schiffes nicht gefolgt sind.

– Ja, guter Freund, das war nur gar so schwierig...

– Ach... nicht doch! Sehen Sie... so...«

[140] Corty machte es ihm vor, beugte sich nach rückwärts, wenn der »Alert« mit der Nase in eine Welle einschnitt, und nach vorwärts, wenn das Heck sich im schäumenden Kielwasser befand.

Patterson stand jetzt zwar, konnte sich aber nicht im Gleichgewicht halten und murmelte:

»Nein... das ist unmöglich!... Helfen Sie mir wieder zurück auf meinen Sitz. Wir haben eine gar zu grobe See!

– Grobe See, werter Herr?... Das ist ja das reine Öl!« versicherte Corty.

Natürlich ließen die Passagiere ihren Patterson mit seinem kläglichen Zustand nicht außer Acht. Immer traten einige heran, sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Sie suchten ihn durch Geplauder zu zerstreuen, überschütteten ihn mit Ratschlägen, erinnerten daran, daß in den »Vorschriften« noch so manches andere empfohlen wäre, und Patterson schlug es auch nicht ab, alles zu probieren.

Hubert Perkins ging nach der Kajüte, ein Fläschchen mit Rum zu holen. Daraus füllte er ein Gläschen mit dem herzstärkenden Getränk, und Patterson nahm dieses in kleinen Schlucken zu sich.

Eine Weile nachher brachte ihm Axel Wickborn Melissenwasser, und er verschlang davon einen tüchtigen Löffel voll.

Die Beschwerden des Armen hielten jedoch an, sie verbreiteten sich sogar über die Magengrube hinunter, und ein Stück mit Kirschwasser getränkter Zucker vermochte sie auch nicht zu mildern.

Schon rückte der Augenblick heran, wo Patterson, dessen gelbe Gesichtsfarbe zur weißen geworden war, sich genötigt sehen mußte, seine Kabine aufzusuchen, wo das Übel freilich eher noch schlimmer zu werden drohte. Louis Clodion fragte ihn noch, ob er denn auch alles versucht habe, was in den berühmten »Vorschriften« empfohlen war.

»Ja... alles! stammelte er mit so wenig wie möglich geöffnetem Munde. Ich trage sogar auf dem bloßen Körper ein von meiner Frau angefertigtes Beutelchen mit Seesalz darin!«

Wenn freilich dieses Beutelchen keinen Erfolg hatte, wenn Flanellgürtel und Seesalz wirkungslos blieben, dann... dann war ja nichts mehr zu machen.

Die drei folgenden Tage, an denen eine ziemlich steife Brise wehte, war Patterson jämmerlich krank. Trotz dringendster Aufforderung wollte er seine [141] Kabine nicht verlassen; er hielt sich ad vomitum, wie er gewiß gesagt hätte, wenn er noch im stande gewesen wäre, ein lateinisches Citat über die Lippen zu bringen.

Da fiel ihm noch ein, daß seine Gattin ihm auch ein Säckchen mit Kirschkernen in die Reisetasche gesteckt hatte. Nach den oft genannten Vorschriften Vergalls sollte es nun genügen, einen dieser heilsamen Wunderkerne im Munde zu halten, um ebenso die Entstehung wie die Fortdauer der Seekrankheit zu verhindern. Da der Mentor davon einen kleinen Vorrat besaß, konnte er ja auch einen aus Versehen verschluckten Kern leicht durch einen andern ersetzen.

Patterson bat also Louis Clodion, das bewußte Säckchen zu öffnen und ihm einen Kirschkern zu entnehmen, den er dann sogleich in den Mund steckte. Leider flog dieser bei einem heftigen Schlucksen gleich wieder wie die Kugel eines Blaserohres daraus hervor.

Was nun anfangen?... Gab es noch weitere, nicht geprüfte Vorschriften? Waren schon alle Verhinderungs-, alle Heilmittel erschöpft?... Es war doch wohl auch empfohlen, ein wenig zu essen?... Gewiß, ebenso wie das Gegenteil, d. h. überhaupt nichts zu essen.

Die jungen Leute wußten keine Hilfe mehr für ihren wackeren Patterson, der in höchster Erschöpfung dalag. Dennoch blieben sie so viel wie möglich bei ihm, sie wollten ihn nicht sich allein überlassen, wußten sie doch, daß vielfach empfohlen war, den Kranken zu zerstreuen, ihn seiner Niedergeschlagenheit zu entreißen... leider hätte hier nur auch eine Vorlesung aus dessen Lieblingsschriftstellern nicht den gewünschten Erfolg gehabt.

Da er aber vor allem der frischen Luft bedurfte, woran es ihm in seiner Kabine gefehlt hatte, machte Wagah dem Leidenden ein Matratzenlager auf dem Verdeck vor dem Deckhause zurecht.

Darauf streckte sich Patterson stöhnend aus. jetzt auch überzeugt, daß Energie und guter Wille gegen die Seekrankheit ebensowenig ausrichteten, wie die zahlreichen Vorschriften, deren Befolgung ihm auch nichts genützt hatte.

»Wie steht es denn jetzt mit unserem armen Schulverwalter? fragte Roger Hinsdale.

– Na, es scheint, er hat gut daran getan, sein Testament zu machen,« antwortete John Howard.

Das war freilich eine Übertreibung, denn an der Seekrankheit ist noch kein Mensch gestorben.

[142] Am Nachmittage, als es dem Kranken ganz jämmerlich übel zu Mute war, stellte sich der hilfswillige Steward wieder bei diesem ein.

»Ein Mittel weiß ich noch, werter Herr, sagte er, ein Mittel, das zuweilen entschieden geholfen hat...

– Ach, wenn das doch auch diesmal zuträfe, jammerte Patterson; nennen Sie es, wenn noch Zeit dazu ist!

– Es kommt darauf hinaus, während der ganzen Reise eine Zitrone... Tag und Nacht... in der Hand zu halten.

– Gebt mir eine Zitrone,« flüsterte Patterson mit von Krämpfen unterbrochener Stimme.

Wagah hatte das nicht erfunden und scherzte jetzt auch nicht. Die Zitrone findet sich angeführt in der Reihe von Heilmitteln, die Spezialisten gegen die Seekrankheit empfohlen haben.

Leider erwies sich dieses Mittel nicht wirksamer als die andern. Im Gesichte noch gelber als die erfrischende Frucht aus der Familie der Arrantiaceen, hielt Patterson die Zitrone krampfhaft in der Hand, drückte sie zusammen, daß der Saft herausspritzte; eine Erleichterung empfand er deshalb aber nicht und das Herz pendelte ihm in der Brust ebenso hin und her wie früher.

Nach dieser Probe versuchte Patterson schließlich noch eine Brille mit roten Gläsern. Das nützte jedoch ebensowenig und damit schien die Schiffsapotheke nun erschöpft zu sein. Solange Patterson die Kraft dazu nicht ausging, würde er jedenfalls krank bleiben, und nur von der Natur selbst hatte er noch Heilung zu erhoffen.

Nach dem Steward brachte Corty indes noch ein allerletztes Mittel in Vorschlag.

»Haben Sie Courage, Herr Patterson?« fragte er.

Der Verwalter verriet durch ein Zeichen mit dem Kopfe, daß er das selbst nicht wüßte.

»Um was handelt es sich denn? erkundigte sich Louis Clodion, der der ganzen Seefahrer-Therapie nicht recht traute.

– Sehr einfach darum, ein Glas Meerwasser hinunterzustürzen, antwortete Corty. Das bringt nicht selten die außerordentlichsten Wirkungen hervor.

– Wollen Sie's denn versuchen, Herr Patterson? ließ sich Hubert Perkins vernehmen.

[143] – Alles, was man verlangt! seufzte der Unglückliche.

– Schön, schön, bemerkte Tony Renault, es gilt ja nicht, das ganze Meer auszutrinken...

– Nein, nur ein Glas voll!« erklärte Corty, der schon einen Eimer über Bord hinuntergleiten ließ und ihn gefüllt mit Wasser von tadelloser Klarheit wieder herauszog.

Patterson erhob sich mit entschieden lobenswerter Energie – er wollte sich ja nicht dem Vorwurf aussetzen, irgend etwas unversucht gelassen zu haben – zur Hälfte von seiner Matratze, ergriff das Glas mit zitternder Hand, führte es zum Munde und würgte einen tüchtigen Schluck daraus hinunter.

Das war aber der Gnadenstoß! Ihm folgten Übelkeiten mit Krämpfen ohne gleichen, Konvulsionen, Verdrehungen des Körpers und massenhaftes Erbrechen, und wenn das alles auch verschiedenerlei ist, so vereinigte es sich hier doch so innig, daß der Leidende zuletzt gar nicht mehr wußte, was um ihn vorging.

»In diesem Zustande dürfen wir ihn nicht lassen, sagte Louis Clodion, er wird in seiner Kabine besser aufgehoben sein...

– Ja ja, fiel John Carpenter ein, das ist einer, der sein Lager drücken wird, bis man ihn in Sankt-Thomas davon wegschleppt!«

Vielleicht dachte der Obersteuermann jetzt auch daran, daß er mit seinen Kameraden volle siebenhundert Pfund weniger zu teilen haben würde, wenn Patterson vor der Ankunft an den Antillen den letzten Seufzer aushauchte.

Sofort rief er Corty herbei, Wagah beim Hinuntertragen des Kranken zu helfen, und dann legten ihn die beiden, ohne daß er zum Bewußtsein gekommen wäre, auf sein Lager nieder.

Nachdem sich nun alle inneren Arzneimittel als unwirksam erwiesen hatten, sollten noch einige äußerliche Hilfsmittel versucht werden, die sich schon wiederholt bewährt hatten. Roger Hinsdale bestand darauf, daß man sich von allen den Empfehlungen der berühmten »Vorschriften« an die einzige halten solle, die noch nicht geprobt war und von der man vielleicht glückliche Folgen erwarten könnte.

Patterson, der sich jetzt nicht einmal dagegen aufgelehnt haben würde, wenn man ihn bei lebendigem Leibe hätte abhäuten wollen, wurde seiner Kleidung bis auf die Leibbinde entledigt, und dann rieb man ihm die Magengegend mit einem angefeuchteten Leinentuche ab.


Hubert Perkins füllte ein Gläschen mit dem herzstärkenden Getränk. (S. 141.)

[144] [147]Man darf aber nicht glauben, daß das in sachverständiger Weise und mit sanfter Hand geschah... o nein, der muskelstarke Wagah besorgte das – sozusagen aus Leibeskräften – mit solcher Gewissenhaftigkeit, daß Patterson gerechten Anlaß hatte, ihm sein Trinkgeld am Ende der Reise zu verdreifachen.

Kurz, aus dem einen oder anderen Grunde, vielleicht daß da, wo nichts ist, die Natur ebenso wie der Kaiser sein Recht verliert, vielleicht weil der Patient so ausgepumpt war, daß in ihm der horror vacui zur Geltung kam, gab der Mentor endlich durch ein Zeichen zu erkennen, daß er an der Behandlung genug habe. Dann wendete er sich nach der Seite um, lehnte den Magen an den überstehenden Rand des Lagers und verfiel in die tiefste Bewußtlosigkeit.

Die anderen ließen ihn ruhen und hielten sich nur bereit, ihm jeden Augenblick wieder helfend beizuspringen. Vielleicht kam Patterson vor dem Ende der Überfahrt doch wieder auf, und vielleicht gewann er auch alle seine moralischen und physischen Eigenschaften wieder, wenn er den Fuß auf die erste Insel der Antillengruppe setzte.

Der ernste, gründliche und praktische Mann hatte aber gewiß das Recht, die Vergallschen »Vorschriften« für falsch und täuschend zu erklären, nachdem er vorher ihren achtundzwanzig Paragraphen ein so großes Vertrauen entgegengebracht hatte.

Doch wer weiß, verdiente ein solches Vertrauen nicht vielleicht gerade die achtundzwanzigste Empfehlung, die wortgetreu lautet:

»Gar nichts unternehmen wollen, sich vor der Seekrankheit zu schützen!«

12. Kapitel
Zwölftes Kapitel.
Über den Atlantischen Ozean.

Die weitere Fahrt verlief zunächst unter den günstigsten Verhältnissen, bei denen sich sogar Pattersons Zustand sichtlich verbesserte, so daß der Mentor nicht einmal länger eine Zitrone in der Hand hielt. Die Abreibungen, die [147] Wagah mit ihm vorgenommen hatte, blieben offenbar nicht ohne günstige Wirkung. Das Herz des braven Mannes schlug wieder mit derselben chronometrischen Regelmäßigkeit, wie der Pendel der Uhr im Verwaltungsgebäude der Antilian School.

Zuweilen traten jetzt einzelne Böen auf, die den »Alert« zwar heftig erschütterten, die er aber doch leicht aushielt. Die Mannschaft arbeitete übrigens unter der Leitung Harry Markels so geschickt, daß die Passagiere – vorzüglich Tony Renault und Magnus Anders – daran ihre helle Freude hatten. Diese beiden waren ebenso flink bei der Hand, die oberen Segel zu streichen, wie die Raaen zu brassen oder Reffe einzubinden, eine Operation, die durch das Vorhandensein geteilter Marssegel wesentlich erleichtert wurde. Patterson unterließ es zwar nicht, sie zur Vorsicht zu ermahnen, er beruhigte sich aber in der Überzeugung, daß John Carpenter die jungen Marsgasten geradezu väterlich überwachte... und der wußte ja, warum.

Die atmosphärischen Störungen arteten übrigens niemals zum Sturm aus. Der Wind hielt sich aus östlicher Richtung und der »Alert« machte recht gute Fahrt.

Unter anderen Zerstreuungen, die die Seefahrt bot, vergnügten sich die Preisträger eifrig und nicht ohne Erfolg mit dem Fischfange. Die langen Schnüre die sie nachschleppen ließen und mit der bei dieser großen Kunst gewöhnlichen Aufmerksamkeit beobachteten, lieferten an jedem Angelhaken Fische der verschiedensten Art. Der phlegmatisch-kühle Albertus Leuwen und der geduldige Hubert Perkins zeigten dafür die größte Neigung und widmeten sich dieser Unterhaltung mit dem wärmsten Eifer. Für die Mahlzeiten war das von großem Vorteil, und an den schmackhaften Seefischen – Boniten, Goldbrachsen, Stören, Schellfischen und Thunfischen – labte sich schmunzelnd auch die Mannschaft.

Patterson hätte wohl gern dem Verlaufe des Fanges zugesehen, doch wagte er sich vorläufig aus seiner Kabine nur einmal heraus, um frische Luft zu schöpfen. Er hätte sich sonst gewiß nicht weniger dafür interessiert, das Spiel der Meerschweine (Braunfische) und Tümmler zu beobachten, die an den Seiten des »Alert« auftauchten und wieder versanken, und den Jubel der jungen Passagiere mit anzuhören, in den diese über die Purzelbäume und Sprünge der »Clowns des Ozeans« ausbrachen.

»Da sind zwei, die hätten wir eigentlich leicht fangen können, erklärte der eine.

[148] – Und dort die, die sich am Steven bald den Kopf eingerannt hätten,« rief ein anderer.

Die geschmeidigen und rasch beweglichen Wasserbewohner erschienen zuweilen in Gruppen von fünfzehn bis zu zwanzig, bald vor dem Schiffe und bald in seinem Kielwasser. Sie glitten schneller als dieses dahin und tauchten jetzt auf der einen, im nächsten Augenblick aber schon unter dem Kiel wegschlüpfend auf der anderen Seite auf. Dabei machten sie drei bis vier Fuß hohe Sprünge und fielen in schönem Bogen wieder zurück, wobei sie das Auge in dem grünlichen, klar durchsichtigen Wasser bis zu großer Tiefe verfolgen konnte.

Wiederholt versuchten auf den Wunsch der Passagiere der Obersteuermann und Corty eines der Meerschweine mittels Harpune zu fangen; es gelang ihnen aber nicht, da die Tiere zu schnell waren.

Anders verhielt sich das mit den gewaltigen Haifischen, die in diesen Teilen des Atlantischen Ozeans so zahlreich vorkommen. Diese sind so gefräßig, daß sie auf alles losstürzen, was ins Meer gefallen ist, einerlei ob das ein Hut, eine Flasche, ein Stück Holz oder ein Tauende ist. Für ihren furchtbaren Magen ist fast alles verdaulich, und sie behalten auch bei sich, was sie nicht verdauen können.

Am 7. wurde ein Hai gefangen, der nicht weniger als zwölf Fuß lang war. Als er den mit einem Stück Fleisch versehenen Haken verschlungen hatte, wand er sich so heftig umher, daß die Mannschaft Mühe hatte, ihn an Bord zu ziehen. Louis Clodion und seine Kameraden standen natürlich dabei und betrachteten nicht ohne Entsetzen das riesige Ungeheuer, hüteten sich aber, auf die Warnung Pattersons hin, ihm zu nahe zu kommen, denn seine Schwanzschläge können noch die furchtbarste Wirkung haben.

Auf den Hai schlug man sofort mit Äxten ein, doch selbst als sein Magen schon geöffnet war, suchte sich der Fisch noch durch gewaltige Bewegungen zu befreien, wobei er sich von einem Bord zum andern wälzte.

Patterson hatte dem interessanten Fange nicht beiwohnen können. Das war schade: er hätte ihn in seinem Reisetagebuche gewiß eingehend geschildert und ohne Zweifel dem Naturforscher Roquefort reckt gegeben, der das Wort Requin (die französische Bezeichnung des Haifisches) als eine Korruption des Wortes Requiem hingestellt hat.

So verliefen die Tage, die also niemand eintönig fand. Jeden Augenblick – eine weitere Abwechslung – flatterten ganze Völker von Meervögeln durch [149] und um die Takelage. Einige davon wurden von Roger Hinsdale und Louis Clodion erlegt; beide bedienten sich der an Bord vorhandenen Flinten überhaupt mit offenbarem Geschick.

Hier sei auch nebenbei bemerkt, daß die Leute des Schiffes auf ausdrücklichen Befehl Harry Markels zu den Passagieren des »Alert« nicht näher in Beziehung traten. Nur der Obersteuermann sowie Corty und der den Dienst in der Hauptkajüte versehende Wagah waren hiervon ausgenommen. Harry Markel selbst blieb, wie vom ersten Tage an, immer kühl und wenig mitteilsam.

Häufig zogen in Sicht des Dreimasters Segler und Dampfer vorüber, doch in zu großer Entfernung, als daß man sie hätte ansprechen können. Übrigens suchte, was den jungen Leuten entging, Harry Markel immer sorgsam den auftauchenden Schiffen auszuweichen, und wenn sich ein entgegenkommendes ihm zu nähern schien, ließ er sofort anluven oder um ein oder zwei Viertelstriche abfallen, um sich von dem andern zu entfernen.

Am 18., gegen drei Uhr Nachmittag, wurde der »Alert« aber doch von einem schnellfahrenden Dampfer eingeholt, der wie er einen südwestlichen Kurs einhielt.

Dieser Dampfer, ein Amerikaner, der »Portland« von San Diego, wollte von Europa durch die Magellanstraße nach Kalifornien zurückkehren.

Als die beiden Fahrzeuge sich auf eine Kabellänge nahe gekommen waren, entwickelte sich das folgende, unter solchen Umständen gewöhnliche Gespräch:

»An Bord alles wohl?

– Ich danke, alles.

– Nichts neues seit der Abfahrt?

– Nein... gar nichts.

– Wohin die Fahrt?

– Nach den Antillen. Und die eure?..

– Nach San Diego..

– Dann glückliche Reise!

– Glückliche Reise!«

Der »Portland«, der seine Geschwindigkeit etwas vermindert hatte, gab wieder Volldampf, und noch lange Zeit konnte man seine Rauchsäule sehen, ehe sie unter dem Horizonte verschwand..

Nach vierzehntägiger Fahrt verlangte es Tony Renault und Magnus Anders schon dringend, auf der Karte das erste Land aufzusuchen, das die [150] Wachen melden würden. Dieses Land mußten nach dem vom »Alert« eingehaltenen Kurse die Bermudasinseln sein.

Die unter vierundsechzig Grad westlicher Länge und einunddreißig Grad nördlicher Breite gelegene Inselgruppe ist im Besitz Englands. Auf dem Wege liegend, dem die von Europa nach dem Meerbusen von Mexiko steuernden Schiffe folgen, umfaßt sie nicht weniger als vierhundert Inseln und Eilande, darunter als die wichtigsten Bermudas, Sankt-Georg, Cooper und Somerset. Diese bieten zahlreiche Hafenplätze und hier finden die Schiffe alles, was sie brauchen, ob sie nun Proviant fassen wollen oder Beschädigungen ausbessern lassen müssen. Das ist von hoher Bedeutung in einer Gegend, wo der Atlantische Ozean ziemlich häufig von furchtbaren Stürmen heimgesucht wird.

Der »Alert« war am 19. Juli etwa noch sechzig Seemeilen davon entfernt, als sich die Fernrohre an Bord schon nach dem westlichen Horizonte zu richten begannen. Ungeübte Augen konnten freilich die hohe Landmasse der Bermudas leicht mit dichten Wolkenansammlungen verwechseln, die an der Linie zwischen Himmel und Wasser aufragten.

Die Inseln konnten jedoch wirklich im Laufe des Vormittags gesichtet werden, was John Carpenter Tony Renault und Magnus Anders, den beiden ungeduldigsten der Gesellschaft, zu deren Befriedigung mitteilte.

»Da draußen... sehen Sie... sagte er, über Steuerbord nach vorn weisend.

– Sie erkennen schon die Gipfel der Berge? fragte Magnus Anders.

– Jawohl, junger Herr, sie erheben sich deutlich über die Wolkenbank und Sie werden sie auch bald selbst sehen.«

Wirklich hoben sich noch vor Sonnenuntergang rundliche Landmassen, wenn auch etwas undeutlich, vom Firmamente ab, und am nächsten Morgen kam der »Alert« in Sicht der Insel Sankt-David, der östlichsten der Gruppe, vorüber.


Ein Hai wurde gefangen. (S. 149.)

Jetzt hatte das Schiff mit mehreren Sturmböen zu kämpfen. Heftige, von Blitzen begleitete Regenschauer zogen aus Südosten darüber weg und zwangen den »Alert«, aus seinem Kurse zu weichen. Den ganzen Tag und die folgende Nacht war das Meer in ärgster Aufregung. Mit dreifach gerefften Marssegeln trieb der Dreimaster auf falschem Wege weiter, denn er hätte sich nicht ohne Gefahr den schäumenden Wogen entgegenhalten können, die über ihn hinweggerollt wären.

[151] Vielleicht hätte Harry Markel klüger daran getan, in einem Hafen des Archipels Schutz zu suchen, am besten in dem von Sankt-Georg. Begreiflicherweise setzte er aber lieber das Schiff aufs Spiel, als daß er eine englische Besitzung angelaufen wäre, wo ja der Kapitän Paxton hätte bekannt sein können. Er hielt sich also auf freiem Wasser und manövrierte da übrigens mit der größten Geschicklichkeit. Der »Alert« erlitt nur einzelne ganz unbedeutende Havarien: die Zerreißung einiger Segel, und außerdem bekam er eine Sturzwelle, die das Boot an Steuerbord beinahe weggeschwemmt hätte.

[152] [155]Patterson befand sich besser, als man es bei dem sechzigstündigen abscheulichen Wetter erwartet hatte, besser sogar als einige der jungen Leute, die, ohne gerade ebenso schwer wie er früher zu leiden, von der bösen Seekrankheit arg mitgenommen wurden, vorzüglich John Howard, Niels Harboe und Albertus Leuwen; Louis Clodion, Roger Hinsdale, Hubert Perkins und Axel Wickborn hielten sich dagegen wacker und konnten also diesen Kampf der Elemente mit allen seinen Schrecken während des zweitägigen Unwetters beobachten.


Eines der Boote des »Essex« war zu Wasser gelassen worden. (S. 159)

Tony Renault und Magnus Anders hatten offenbar schon Teerjackenherzen, jenes aes triplex, das Patterson abging und um das er den Schiffer des Horaz so sehr beneidete.

Durch das abscheuliche Wetter wurde der »Alert« etwa um hundert Seemeilen aus seinem richtigen Kurse verschlagen. Das bedingte eine Verzögerung, die nicht wieder einzubringen war, selbst wenn das Schiff ohne weitere Widerwärtigkeiten in der Meeresgegend davonkam, wo die Passate in ostwestlicher Richtung wehen. Unglücklicherweise traf Harry Markel nicht wieder auf stetige Winde, die ihn seit der Abfahrt von Queenstown begünstigt hatten. Zwischen den Bermudas und der Landveste Amerikas herrschte stets recht wechselndes Wetter: einmal Windstillen, bei denen der Dreimaster in der Stunde kaum eine Seemeile vorwärts kam, und dann wieder Sturmböen, bei denen die Topsegel eingezogen und die Mars- und Focksegel dicht gerefft werden mußten.

Die Passagiere sahen also voraus, daß sie nur mit einigen Tagen Verspätung vor Sankt-Thomas eintreffen würden, ein Umstand, der wegen des Schicksals des »Alert« schon einige Beunruhigung zu erwecken drohte. Durch Kabeltelegramm war die Zeit der Abfahrt des Kapitäns Paxton aus der Bai von Cork nach Barbados gemeldet worden, und jetzt waren schon zwanzig Tage ohne weitere Nachricht von dem Schiffe vergangen.

Wegen solcher peinigender Vermutungen ließen sich Harry Markel und seine Genossen kein graues Haar wachsen; sie verzehrte nur die Ungeduld, diese Fahrt von einer der Antillen zur anderen beendigt zu sehen und nichts mehr zu fürchten zu haben, wenn sie darauf um das Kap der Guten Hoffnung segelten.

Am Morgen des 20. Juli kreuzte der »Alert« den Wendekreis des Krebses in der Höhe des Kanals von Bahama, durch den sich mit dem Austritte aus der Straße von Florida die Gewässer des Golfs von Mexiko in den Atlantischen Ozean ergießen.

[155] Wäre der »Alert« bei seiner Fahrt auch über den Äquator gekommen, so würden Roger Hinsdale und seine Kameraden es nicht unterlassen haben, die Passage der Linie gebührend zu feiern. Sie hätten sich gern allen Anforderungen der althergebrachten Zeremonie unterworfen und sich für die Kosten der Taufe auch noch mit Trinkgeldern abgefunden. Der Äquator lag aber um dreiundzwanzig Grade südlicher, und man hatte keine Veranlassung, die Überschreitung des dreiundzwanzigsten Breitengrades besonders zu feiern.

Selbstverständlich hätte Patterson, wenn er wohlauf war, die Begrüßung des Tropengottes und seines närrischen Gefolges mit größtem Danke entgegengenommen, er hätte das ohne Zweifel mit all der Herablassung und Würde getan, die sich für den Verwalter der Antilian School gehörten.

Kam es also auch zu keiner Feier, so bewilligte Harry Markel doch auf die Bitte der jungen Leute der Mannschaft eine doppelte Tagesration.

Nach dem Ergebnis des Besteckes befand sich der »Alert« an demselben Tage noch zweihundertfünfzig Seemeilen nordöstlich von der nächsten der Antillen entfernt.

Der Dreimaster traf, wie erwartet, um einige Tage verspätet vor dem Kanale von Bahama und damit auf dem Golfstrom ein, der wärmeren Strömung, die bis zu den nördlichen Teilen Europas hinaufdringt und deren Wasser sich nicht mit dem des Atlantischen Ozeans vermischt. Von hier aus kam dem »Alert« aber der in dieser Gegend stetig wehende Passatwind zu statten, und jedenfalls dauerte es nun kaum noch drei Tage, bis die Wachen die Höhen von Sankt-Thomas meldeten, wo der erste Aufenthalt genommen werden sollte.

Mit der Annäherung an die Antillen und bei dem Gedanken, im Laufe mehrerer Wochen so viele Inseln des Archipels anzulaufen, beunruhigte sich die Mannschaft mehr und mehr wegen der damit offenbar verbundenen Gefahr.

John Carpenter und Corty erörterten untereinander wiederholt dieses Thema. Unzweifelhaft trieben sie ein gewagtes Spiel, wenn das Glück ihnen nicht besonders hold war. Freilich, die Aussicht für jeden, siebenhundert Pfund einzuheimsen, verlohnte es schon, es auf eine Gefahr ankommen zu lassen. Wenn sie aber nun, um alles zu gewinnen, vielleicht alles, sogar das Leben dabei verlieren sollten?... Wenn das Raubgesindel vom »Halifax«, die Flüchtlinge von Queenstown, erkannt würden und den Behörden wieder in die Hände fielen... was dann?... Da sagten sich die Beiden wohl, jetzt sei es ja noch Zeit, jeder Gefahr aus dem Wege zu gehen; man brauchte ja nur in der nächsten Nacht die [156] ahnungs- und verteidigungslosen Passagiere zu überrumpeln und ins Meer zu werfen, worauf der »Alert« einfach Kehrt machte.

Harry Markel trat jedoch allen von seinen Spießgesellen hervorgehobenen Gründen und angedeuteten Gefahren mit den Worten entgegen:

»Verlaßt euch nur auf mich!«

Ein solches, auf unerschütterlichen Mut begründetes Selbstvertrauen überwand schließlich alle Einwürfe der Leute, die dann in ihrem Seemannsjargon sagten:

»Na gut!... Laßt den Kasten laufen!«

Am 25. Juli lagen die Antillen nur noch sechzig Seemeilen in westsüdwestlicher Richtung von dem Schiffe. Bei der herrschenden frischen Brise mußte der »Alert« jedenfalls noch vor Sonnenuntergang die Höhen von Sankt-Thomas in Sicht bekommen.

Tony Renault und Magnus Anders saßen diesen Nachmittag auch schon auf den Stengen des Groß-und Fockmastes, beide gespannt, wer von ihnen zuerst »Land!... Land!« rufen würde.

13. Kapitel
Dreizehntes Kapitel.
Der Aviso »Essex«.

Gegen vier Uhr des Nachmittags ertönte ein Ruf aus Tony Renaults Munde.

Er lautete aber nicht »Land!«, sondern »Schiff in Sicht!«

Vor Backbord und in der Entfernung von fünf bis sechs Seemeilen stieg im Westen eine Rauchsäule über den Horizont heraus.

Ein offenbar mit großer Geschwindigkeit fahrender Dampfer kam dem »Alert« entgegen. Eine halbe Stunde später war schon sein Rumpf sichtbar und nach einer weiteren halben Stunde lag er nur noch eine Viertelseemeile vom »Alert« entfernt.

[157] Auf dem Vorderkastell stehend, tauschten die Passagiere ihre Bemerkungen über das Vorkommnis aus.

»Das ist ein Schiff von der Flotte, sagte der eine.

– Gewiß, bestätigte ein anderer, vom Top des Großmastes weht ja ein Wimpel.

– Noch mehr; es ist ein Engländer, setzte der erste hinzu.

– Mit dem Namen ›Essex‹«, vervollständigte der zweite dessen Worte.

Mit Hilfe eines Fernglases konnte man wirklich am Heck des Schiffes dessen Namen erkennen, als der Dampfer gerade eine Wendung machte.

»Seht da, rief Tony Renault, ich wette darauf, der will zu uns herankommen.«

Das schien wirklich so, denn der »Essex«, ein Aviso von fünf- bis sechshundert Tonnen, zeigte jetzt auch seine Flagge.

Die Angst, die sich der Schurken dabei bemächtigte, kann man sich wohl ausmalen. Weder Harry Markel noch die Mannschaften konnten die Absicht des Avisos verkennen. Der »Essex« wollte offenbar mit dem »Alert«, dem er sich langsam näherte, in Verbindung treten. Nun war es ja recht leicht möglich, daß schon vor einiger Zeit auf den englischen Antillen eine Depesche eingetroffen, auf die eine oder andere Weise bekannt geworden wäre, was sich in Queenstown vor der Abfahrt des »Alert« zugetragen hatte: dessen Überrumplung durch die Bande Markels sowie die Ermordung des Kapitäns Paxton und seiner Leute. Dann ließ sich aber auch vermuten, daß der »Essex« ausgesendet worden wäre, die Verbrecher wieder einzufangen.

Doch nein, es mußte sich wohl anders verhalten. Wie hätte Harry Markel, der die Passagiere gewiß ebensowenig geschont hätte wie die Leute des Kapitäns Paxton, es wagen können, dennoch nach den Antillen zu segeln? Wie hätte er die Tollkühnheit so weit treiben können, den »Alert« nach seinem Bestimmungsort zu führen, statt zu entfliehen? Einer solchen Unklugheit konnte sich doch niemand versehen.

Harry Markel wartete der Dinge, die da kommen sollten, mit mehr kaltem Blute als John Carpenter und Corty. Wenn der Kommandant des »Essex« mit ihm sprechen wollte, werde er ja sehen, was da herauskam. Der Aviso hatte jetzt übrigens, nur einige Kabellängen seitwärts, gestoppt und dem »Alert« durch ein Signal befohlen, zu brassen. Die Raaen wurden also so eingestellt, daß sich die Wirkung des Windes auf die Segel aufhob und der Dreimaster fast bewegungslos [158] liegen blieb. Auf jeden Fall mußte der »Alert«, da der »Essex« seine Flagge gehißt hatte, auch die seinige zeigen.

Hätte Harry Markel nämlich den Weisungen eines zur Flotte gehörigen Schiffes nicht nachkommen wollen, so wäre er unnachsichtlich dazu gezwungen worden. Der Verfolgung des Avisos, der den Vorteil größerer Schnelligkeit und reichlicherer Machtmittel hatte, hätte der Dreimaster doch nicht entgehen können... einige Geschützkugeln würden ihn schnell zur Ohnmacht verdammt haben.

Harry Markel dachte auch gar nicht an ein Entweichen. Ließ der Kommandant des Avisos ihn auf sein Schiff einladen, so würde er sich dahin begeben.

Patterson, Louis Clodion, Roger Hinsdale und die übrigen interessierte das Erscheinen des »Essex« und dessen Verlangen, sich mit dem Dreimaster in Verbindung zu setzen, natürlich im höchsten Grade.

»Sollte das Kriegsschiff dem ›Alert‹ etwa entgegengeschickt sein, um uns an Bord zu nehmen und noch früher nach einer der Antillen zu befördern?«

Ein solcher Gedanke konnte nur in einem so abenteuerlichen Kopfe wie in dem Roger Hinsdales aufkommen, er wurde auch von keinem anderen geteilt.

Inzwischen war eines der Boote des »Essex« zu Wasser gelassen worden und zwei Offiziere nahmen darin Platz.

Nach wenigen Ruderschlägen lag das Boot an der Seite des Dreimasters.

Die Offiziere bestiegen die Falltreppe am Steuerbord, und der eine fragte:

»Der Kommandant?...

– Hier ist er, antwortete Harry Markel.

– Sie sind der Kapitän Paxton?

– Wie Sie sagen.

– Und das Schiff ist der ›Alert‹, der Queenstown am vergangenen dreißigsten Juni verlassen hat?

– Jawohl, an diesem Tage.

– Sie haben als Passagiere die Preisträger der Antilian School an Bord?

– Da sind sie,« antwortete Harry Markel, nach dem Vorderkastell auf Patterson und dessen Begleiter weisend, denen von dem Gespräch kein Wort entgangen war.

Die Offiziere traten auf die Gruppe zu, wobei ihnen Harry Markel folgte und der, der zuerst das Wort geführt hatte, ein Leutnant der britischen [159] Flotte, sagte nach einer kurzen Begrüßung in dem knappen und kalten, den englischen Offizier kennzeichnenden Tone:


Die Leute stellten sich am Großmast auf. (S. 163.)

»Kapitän Paxton, der Kommandant des ›Essex‹ ist erfreut, den ›Alert‹ getroffen zu haben, und wir sind es ebenso, bei Ihnen alles wohlauf zu finden.«

Harry Markel verbeugte sich in der Erwartung, daß der Leutnant ihn nun über den Zweck seines Besuches aufklären werde.

»Haben Sie eine gute Überfahrt gehabt, fragte der Offizier, und ist das Wetter günstig gewesen?


Zuckerfabrik und -Plantage in Manati (Injenio).

[160] [163]– Sehr günstig, erwiderte Harry Markel, mit Ausnahme weniger stürmischer Tage, die uns bei den Bermudas außer Kurs brachten.

– Das verursachte Ihnen eine Verzögerung?

– Ja, wir mußten achtundvierzig Stunden lang beilegen.«

Der Leutnant kehrte sich jetzt mehr der Gruppe der Passagiere zu und sprach den Mentor an.

»Herr Patterson... von der Antilian School... nicht wahr? begann er.

– In eigener Person, Herr Leutnant,« bestätigte der Verwalter, indem er sich mit aller Grandezza der ihm eigenen Höflichkeit verbeugte.

Dann fuhr er fort:

»Ich habe die Ehre. Ihnen hier meine jungen Reisebegleiter vorzustellen und bitte Sie, die Versicherung meiner unbegrenzten Hochachtung entgegenzunehmen.

– Unterzeichnet: Horatio Patterson!« murmelte Tony Renault.


Zentral-Zuckerrohrspeicher.

Darauf wurden freundliche shake hands mit der anglosächsischen Händen eigenen, automatischen Sicherheit gewechselt.

Der Leutnant wendete sich nun wieder Harry Markel zu und verlangte, die Mannschaft zu sehen, was John Carpenter recht verdächtig und beunruhigend vorkam. Warum wollte der Offizier sie denn Revue passieren lassen?...

Auf den Befehl Harry Markels hin ließ er die Leute jedoch nach dem Deck kommen, und diese stellten sich am Großmast auf. So viel Mühe sich die Banditen aber auch gaben, als ehrsame Leute zu erscheinen, mochten die Offiziere doch denken, daß sie kein recht vertrauenswürdiges Aussehen zeigten.

»Sie haben nur neun Matrosen? fragte da der Leutnant.

– Neun Mann, erklärte Harry Markel.

– Uns ist aber mitgeteilt worden, daß die Mannschaft des ›Alert‹ aus zehn Mann bestände, natürlich ohne Sie, Kapitän Paxton.«

Das war eine recht verfängliche Sache, auf die Harry Markel zuerst nicht einging, indem er selbst nun fragte:

»Wollen Sie mir sagen, Herr Leutnant, aus welchem Grunde Sie mich mit Ihrem Besuch hier an Bord beehrt haben?«

Eine Frage hiernach erschien ja ganz natürlich, und der Offizier beantwortete sie also ohne Zögern.

»O, dieser Grund liegt einfach in der Beunruhigung, die auf Barbados wegen des Ausbleibens des ›Alert‹ erweckt wurde. Auf den Antillen wie in [163] Europa sind die betreffenden Familien wegen dieser Verzögerung schon in arger Sorge gewesen. Mrs. Kathlen Seymour hatte sich deshalb an den Gouverneur gewendet, worauf Seine Exzellenz den ›Essex‹ dem ›Alert‹ entgegenschickte. Das ist der einzige Grund unserer Gegenwart hier draußen, und ich wiederhole Ihnen, wir fühlen uns sehr glücklich, daß alle Besorgnisse grundlos gewesen sind.«

Gegenüber diesem Beweise von Interesse und Teilnahme konnte Horatio Patterson unmöglich stumm bleiben. Im Namen der jungen Passagiere und im seinigen sprach er mit großer Würde aller Beteiligten wärmsten Dank aus, ebenso dem Kommandanten des »Essex« und dessen Offizieren, wie der vortrefflichen Mrs. Kathlen Seymour und Seiner Exzellenz dem Generalgouverneur der englischen Antillen.

Harry Markel glaubte jedoch bemerken zu sollen, daß eine Verspätung um achtundvierzig Stunden solche Besorgnisse doch keineswegs zu erwecken brauchte, daß man sogar einen Aviso zur Aufklärung aussendete.

»Die Besorgnisse waren gerechtfertigt infolge eines anderen Umstandes, über den ich Sie noch aufklären werde,« antwortete der Leutnant.

John Carpenter und Corty sahen einander etwas verdutzt an; sie bedauerten wahrscheinlich, daß Harry Markel mehr als nötig gefragt hatte.

»Es war also am Abend des dreißigsten Juni, wo der ›Alert‹ unter Segel gegangen ist?

– Ganz richtig, versicherte Harry Markel, der seine volle Kaltblütigkeit bewahrte. Gegen halb acht Uhr haben wir den Anker aufgewunden. Als wir draußen waren, schlief der Wind gänzlich ein und der ›Alert‹ mußte noch den ganzen nächsten Tag unter dem Lande, dicht bei Roberts-Cove, still liegen bleiben.

– Nun, Kapitän Paxton, nahm der Leutnant wieder das Wort, am nächsten Tage hat man ebenda einen Leichnam gefunden, der von der Strömung an die Küste getragen worden war. Aus den Knöpfen seiner Jacke erkannte man, daß er zu den Matrosen des ›Alert‹ gehört hatte.«

John Carpenter und die anderen durchrieselte bei dieser Mitteilung ein kalter Schauer. Der Tote konnte kein anderer sein, als einer der Unglücklichen, die am Abende vorher hingeschlachtet worden waren, und wahrscheinlich handelte es sich daher um den, den auch die Passagiere nahe dem Ankerplatze bei Roberts-Cove gesehen hatten.

[164] Der Offizier vom »Essex« erklärte weiter, daß die Behörden auf Barbados von diesem Vorfalle telegraphisch in Kenntnis gesetzt worden seien, und daß man sich deshalb auch wegen des längeren Ausbleibens des »Alert« beunruhigt habe. Dann setzte er noch hinzu:

»Sie haben also einen von Ihren Leuten verloren, Herr Kapitän?

– Ja, Herr Leutnant, den Matrosen Bob. Der Mann stürzte schon ins Meer, als wir noch bei der Farmarbucht festlagen, und trotz aller Bemühungen war er nicht mehr zu erspähen und konnte also auch nicht gerettet werden.«

Diese Erklärung erregte keinerlei Verdacht, vorzüglich weil sich daraus gleichzeitig ergab, warum an der Mannschaft des »Alert« ein Matrose fehlte.

Den Passagieren mußte es natürlich seltsam erscheinen, daß sie von dem Unglückssalle gar nichts erfahren hatten: einer der Leute war nach ihrem Eintreffen an Bord ertrunken, und sie, sie wußten gar nichts davon?...

Auf eine Frage, die Horatio Patterson deshalb an Harry Markel richtete, antwortete dieser aber, er habe das Unglück den jungen Preisträgern nur verschwiegen, damit diese ihre Seereise nicht gleich mit einem traurigen Eindruck belastet antreten sollten.

Diese recht annehmbare Antwort schnitt auch jeden weiteren Einwand ab.

Es erregte deshalb nur einige Überraschung, der sich freilich eine gewisse Erregung beimischte, als der Leutnant weiter hinzusetzte:

»Die von Queenstown in Barbados eingetroffene Depesche erwähnte auch, daß der an der Küste gefundene Leichnam – also wahrscheinlich der des Matrosen Bob – eine Wunde mitten in der Brust gehabt habe.

– Eine Wunde?« fuhr Louis Clodion auf, während Patterson dastand wie einer, der von der ganzen Sache nichts begriffe.

Harry Markel wollte und konnte eine Antwort nicht schuldig bleiben.

»Ja, erwiderte er ruhig, Bob war von der Mars des Fockmastes auf das Gangspill gestürzt, woran er sich schwer verletzt haben wird, dann erst prallte er von da ab und hinaus ins Meer. Über Wasser hat er sich deshalb natürlich nicht halten können, und das machte wohl unsere Ausschau nach ihm nutzlos.«

Diese Worte hätten den Unfall ebenso glaubhaft erklärt wie die früheren Antworten, wenn der Leutnant seine Mitteilung nicht noch weiter vervollständigt hätte.

[165] »Die an dem Kadaver klaffende Wunde, sagte er nämlich, rührte aber unmöglich von einem Falle her, sondern von einem Dolchmesser, das ins Herz gedrungen war.«

John Carpenter und seine Kameraden ängstigten sich jetzt natürlich aufs neue, wußten sie doch nicht, wie die Sache noch ausgehen würde. Hatte der Kommandant des »Essex« vielleicht Befehl, den »Alert« aufzubringen und ihn nach Barbados zu führen, wo dann eine weitere Untersuchung stattfand, die für sie doch traurig auslaufen mußte?... Jedenfalls würden sie dabei ja identifiziert und darauf nach England zurückgeschafft werden, wo sie der Bestrafung für ihre Schandtaten gewiß nicht noch einmal entgehen konnten. Jedenfalls war es ihnen aber unmöglich, das Verbrechen zu begehen, das sie für die Zeit geplant hatten, wo der »Alert« die Gewässer Westindiens wieder verlassen haben würde.

Da kam ihnen, als auch Harry Markel für jenen Dolchstich keine Erklärung abgeben konnte, unerwartet der Zufall zu Hilfe.

»Herr mein Gott, hatte Horatio Patterson mit zum Himmel erhobenen Händen gerufen, der Unglückliche wäre einem mörderischen Stahle durch die Hand eines Verbrechers zum Opfer gefallen?

– Die Depesche sagte weiter, fuhr der Leutnant ruhigen Tones fort, daß der Matrose die Küste wohl noch lebend erreicht haben werde. Dort trieb sich aber eine Bande aus dem Gefängnisse in Queenstown entwichener Verbrecher umher, in deren Hände er gefallen und von denen er ermordet worden sein werde.

– Da kann es sich, fiel jetzt Roger Hinsdale ein, doch nur um die Seeräuberrotte von der ›Halifax‹ handeln, von der wir bei unserer Ankunft in Queenstown hörten, daß sie aus dem Kerker ausgebrochen wäre.

– Diese elenden Schurken! rief Tony Renault. Und man hat sie noch nicht eingefangen, Herr Leutnant?

– Nach den letzten Mitteilungen, antwortete der Offizier, hat man ihre Fährte noch immer nicht entdeckt. Jedenfalls erscheint es unmöglich, daß sie Irland verlassen haben könnten, und früher oder später wird man sie schon verhaften.

– Das wäre sehr wünschenswert, Herr Leutnant,« sagte Harry Markel noch mit demselben ruhigen Tone, den er von Anfang an beibehalten hatte.

»Ein Hauptkerl, unser Kapitän, flüsterte John Carpenter dem Corty zu, als er mit diesem bald darauf auf dem Vorderdeck zusammentraf.

[166] – Ja... mit dem gehen wir bis ans Ende der Welt!« versicherte Corty.

Die Offiziere richteten nun an Patterson und die Preisträger die Grüße aus, die Mrs. Kathlen Seymour ihnen für die Gesellschaft aufgetragen hatte. Die Dame freue sich ungemein darauf, die Reisenden zu empfangen, und es sei ihr lebhafter Wunsch, sie recht lange auf Barbados bei sich zu sehen, wenn sie nicht länger als unbedingt nötig auf den anderen Antillen verweilten, wo die jungen Leute ja auch sehnsüchtig erwartet würden.

Im Namen seiner Kameraden antwortete Roger Hinsdale dem Offizier, den er gleichzeitig bat, der Mrs. Kathlen Seymour ihren innigsten Dank für das zu übermitteln, was sie für die Antilian School getan hätte. Nachher beendigte Horatio Patterson das Gespräch durch einen der wortreichsten und salbungsvollen Speechs, die seine Eigentümlichkeit waren, und schloß diesen mit einem, für einen Mann seines Schlages recht ungewöhnlichen Schnitzer indem er einen Vers des Horaz mit einem solchen Virgils verwechselte.

Die Offiziere wurden endlich, nach kurzer Verabschiedung vom Kapitän und den Passagieren, nach der Falltreppe geleitet und bestiegen sofort ihr Boot. Doch ehe dieses abstieß, rief der Leutnant noch herauf:

»Ich nehme an, Kapitän Paxton, daß der ›Alert‹ morgen vor Sankt-Thomas eintreffen wird, denn bis dahin sind's nur noch fünfzig Meilen.

– Ich hoffe das ebenfalls, antwortete Harry Markel.

– Dann werden wir Sie, nach unserer Ankunft in Barbädos, sofort mittels Depesche anmelden.

– O, ich danke bestens, Herr Leutnant, und ersuche Sie, dem Kommandanten des ›Essex‹ meine Empfehlung zu überbringen.«

Das Boot stieß von der Bordwand ab, und in weniger als einer Minute hatte es die kleine Strecke bis zum Aviso zurückgelegt.

Harry Markel und die Passagiere salutierten noch den Kommandanten, der auf der Brücke seines Schiffes stand, und der Gruß wurde angemessen erwidert.

Inzwischen war das Boot aufgehißt worden, die Dampfpfeife ertönte schrill und der »Essex« setzte sich mit Volldampf in Gang. Er steuerte dabei nach Südwesten und eine Stunde später sah man von ihm nichts mehr als eine lange Rauchsäule, die sich am Horizonte hinzog.

Der »Alert« schlug aber mit so gebraßten Raaen, daß er backstags segeln konnte, und mit Steuerbordhalfen die Richtung nach Sankt-Thomas ein.


Charlotte-Amalia, die Hauptstadt der Insel Sankt-Thomas.

Harry Markel und seine Spießgesellen konnten also, soweit der Besuch des »Essex« in Frage kam, vollkommen beruhigt sein. Weder in England noch auf den Antillen hegte jemand den Verdacht, daß sie hätten auf einem Schiffe entfliehen können, und obendrein, daß dieses Schiff gerade der »Alert« wäre. Es schien also, als sollte ihnen das Glück bis zum Ende hold bleiben. Sie konnten kühn den Archipel anlaufen, würden überall mit Ehren empfangen werden, dann von Insel zu Insel segeln, ohne Angst erkannt zu [167] werden, und endlich würden sie die Fahrt mit einem Aufenthalt auf Barbados abschließen; dann aber... ja, dann aber nicht wieder nach Europa zurückkehren. Am Tage nach der Abfahrt sollte der »Alert« schon nicht mehr der »Alert«, Harry Markel nicht länger der Kapitän Paxton sein, und weder der steife Herr Patterson noch seine jungen Reisegenossen würden sich noch an Bord befinden. Das tollkühne Wagnis wäre dann geglückt, und in Irland würde die Polizei vergeblich nach den Seeräubern von der »Halifax« sachen.

Der letzte Teil der Fahrt verlief unter den günstigsten Umständen. Das prächtige Wetter bei beständig wehendem Passat gestattete dem »Alert«, alle seine Segel, sogar die Leesegel zu tragen.


Einfahrt in den Hafen von Sankt-Thomas.

[168]

Horatio Patterson war allgemach seefester geworden. Kaum verursachte ihm bisweilen ein stärkeres Stampfen oder Schlingern des Schiffes ein merkbares Unbehagen. Er hatte sogar seinen Platz an der Tafel wieder einnehmen und den Kirschkern entfernen können, den er bisher immer im Munde herumzuwälzen pflegte.

»Sie haben recht, Herr Patterson, äußerte ihm gegenüber Corty wiederholt, bis jetzt gibt es noch kein anderes Mittel gegen die Seekrankheit.

– Das glaub' ich auch, guter Freund, antwortete Patterson, und glücklicherweise bin ich damit durch die Vorsorge meiner Gattin reichlich versehen.«

So ging der Tag zu Ende. Peinigte die jungen Preisträger früher die Ungeduld abzureisen, so fieberte in ihnen jetzt das Verlangen, endlich anzukommen. Schon zu lange hatte es gedauert, bis sie auf die erste Insel der Antillen den Fuß setzen konnten.

Mit der Annäherung an den Archipel wurde das Meer durch zahlreiche Fahrzeuge immer belebter, durch Segel- und Dampfschiffe, die entweder durch die Straße von Florida dem mexikanischen Meerbusen zustrebten, oder durch die, die daraus hervorkamen und nach den Häfen der Alten Welt steuerten.

[169] Welcher Jubel für die jungen Leute, hier die amerikanische, die englische, französische und spanische Flagge – die auf diesem Seewege am häufigsten auftauchen – herzlich zu begrüßen!

Bei Sonnenuntergang lief der »Alert« auf dem siebzehnten Breitengrade, in der Höhe von Sankt-Thomas, wovon er nur noch zwanzig Seemeilen entfernt war. Das war die Sache weniger Stunden.

Nicht ohne Grund wollte sich Harry Markel in der Nacht aber nicht in das Gewirr von Eilanden und Klippen hineinwagen, das sich um die Grenzen des Archipels hinzieht, und John Carpenter mußte auf seinen Befehl die Segelfläche verkleinern. Der Bootsmann ließ also Oberbram- und Bramsegel, auch die Topp- und das Briggsegel einbinden, und der »Alert« behielt nur seine beiden Marssegel, nebst dem Fock-und den Klüversegeln.

Die Nacht verlief übrigens ungestört. Der Wind hatte sich fast ganz gelegt, und am Morgen stieg die Sonne an einem klaren Horizonte heraus.

Gegen neun Uhr ertönte ein Ruf von der Mars des Großmastes.

Tony Renault jubelte mit lauter Stimme:

»Land... Steuerbord voraus... Land!«

14. Kapitel
Vierzehntes Kapitel.
Sankt-Thomas und Sainte-Croix.

Wir hatten schon früher erwähnt, daß Westindien nicht weniger als dreihundert Inseln und Eilande umfaßt. Der Name Inseln kommt davon freilich, entweder infolge ihrer Ausdehnung oder ihrer sonstigen Wichtigkeit, nur zweiundvierzig Landerhebungen zu, und von diesen zweiundvierzig sollten die Preisträger der Antilian School wieder nur neun besuchen.

Diese gehörten alle zu der Gruppe der Kleinen Antillen und besonders zu denen Vor dem Winde. Die Engländer unterscheiden sie in zwei Teile; die, die im Norden von den Jungferninseln bis nach Dominique reichen, nennen sie die [170] Leeward Islands, und die, die zwischen Martinique und Trinidad liegen, die Windward Islands.

Es liegt jedoch kein Grund vor, diese Bezeichnung allgemein anzunehmen. Die ganze Inselwelt, die das amerikanische Mittelmeer im Westen begrenzt, verdient tatsächlich den Namen der »Inseln Vor dem Winde«; sie berührt zuerst der Passat, der hier in ostwestlicher Richtung webt.

In dem Netze dieser Inseln vermengen sich die Fluten des Atlantischen Ozeans mit denen aus dem Antillenmeere. Elisé Reclus hat sie deshalb auch mit den Pfeilern einer Riesenbrücke verglichen, zwischen denen die Strömungen hin- und herschwanken, die den Golf von Mexiko furchen.

Man darf diesen Golf jedoch nicht mit dem eigentlichen Antillenmeer verwechseln: Beide sind wohl unterschiedene Wasserbecken, die ihre besondere Gestalt und eine verschiedene Ausdehnung haben; das erste mißt nur fünfzehnhundert-, das zweite dagegen neunzehnhunderttausend Quadratkilometer.

Bekanntlich entdeckte Christoph Columbus 1492 Cuba, die größte der Antillen, nachdem er vorher die Inseln Conception, Fernandina und Isabella angelaufen hatte, wo der Genueser Seeheld die spanische Flagge aufpflanzte. Er glaubte damals freilich, seine Karavellen hätten die äußersten Landmarken Asiens, die Gewürzländer, erreicht, und er ist auch gestorben ohne Kenntnis davon, daß er den Fuß auf einen neuen Erdteil gesetzt hatte.

Seit jener Zeit haben sich verschiedene europäische Mächte in blutigen Kriegen mit entsetzlichen Metzeleien und unter immer neu auflodernden Streitigkeiten um das Gebiet der Antillen beworben, und es ist selbst heute noch nicht sicher, ob die Verhältnisse dort eine endgültige Regelung erfahren haben. 1

Gegenwärtig entspricht folgende Aufzählung der dortigen Sachlage:

Eine unabhängige Insel: Haïti-Sankt-Domingo.

England gehörig: siebzehn Inseln.

Frankreich gehörig: fünf Inseln und die Hälfte von Saint-Martin.

Unter holländischer Oberhoheit: fünf und die andere Hälfte von Saint-Martin.

Spanische Inseln: zwei.

Dänische Besitzungen: drei.

Zu Venezuela gehörig: sechs Inseln.

[171] Zu Schweden endlich: eine Insel. (Inzwischen von Schweden abgetreten.)

Was den Namen »Westindien« für die Antillen betrifft, so erklärt sich dieser aus dem Irrtum des Christoph Columbus bezüglich der geographischen Zugehörigkeit seiner Entdeckungen.

Die ganze Gruppe, vom Eilande Sombrero im Norden bis Barbados im Süden, d. i. die der Kleinen Antillen, erstreckt sich über eine Fläche von sechstausendvierhundertacht Quadratkilometern. England besitzt davon dreitausendfünfhundertfünfzig. Frankreich zweitausendsiebenhundertsiebenundsiebzig und Holland einundachtzig Quadratkilometer.

Alle Inseln zusammen zählen siebenhundertzweiundneunzigtausend Einwohner, wovon vierhundertachtundvierzigtausend auf England, dreihundertsechsunddreißigtausend auf Frankreich und achttausendzweihundert auf Holland kommen.

Die dänischen Besitzungen gehören mehr zur Gruppe der Jungferninseln, von denen dreihundertneunundfünfzig Quadratkilometer mit vierunddreißigtausend Bewohnern unter dänischer, und hundertfünfundsechzig Quadratkilometer mit fünftausendzweihundert Bewohnern unter britischer Oberhoheit stehen.

Die Jungferninseln können füglich als ein Teil Kleinantiliens betrachtet werden. Von den Dänen im Jahre 1671 in Besitz genommen, bilden sie hauptsächlich deren westindisches Kolonialgebiet und sind unter den Namen Sankt-Thomas, Sankt-Johann und Sainte-Croix (Santa-Cruz) bekannt. Auf der ersten hat einer der jungen Stipendiaten das Licht der Welt erblickt, Niels Harboe, der sechste Preisträger im Wettbewerbe der Antilian School.

An dieser Insel sollte Harry Markel also nach einer glücklichen, fünfundzwanzigtägigen Überfahrt am Morgen des 26. Juli vor Anker gehen. Von hier aus brauchte der »Alert« nur noch nach Süden zu steuern, um die übrigen in Aussicht genommenen Inseln anzulaufen.

Ist Sankt-Thomas auch nur klein, so hat es doch einen sicheren und gut befestigten Hafen. Fünfzig Fahrzeuge von großem Tonnengehalt können bequem darin Platz finden. Die englischen und französischen Flibustier ließen sich ihn auch nicht streitig machen, als die europäischen Flotten in jenen Gewässern mit einander kämpften und die Inseln Antiliens einmal einnahmen, dann sich wieder entrissen sahen... wie wilde Raubtiere, die sich um eine ihre Begierde reizende Beute balgen. Christian Harboe wohnte in Sankt-Thomas, und die beiden Brüder hatten seit mehreren Jahren keine Gelegenheit zu einem Wiedersehen [172] gehabt. Natürlich erwarteten beide das Eintreffen des »Alert« mit größter Ungeduld.

Christian Harboe war neun Jahre älter als Niels und dessen einziger Verwandter auf der Insel. Zu den reichsten hiesigen Kaufleuten gehörend, war er von höchst sympathischer Natur mit liebenswürdiger Zurückhaltung, dieser besonderen Eigenschaft der Kinder des Nordens. Nach seiner Niederlassung in der dänischen Kolonie hatte er das große Geschäft seines Onkels, eines Bruders seiner Mutter, übernommen, in dem allerlei Gebrauchsgegenstände, Lebensmittel, Stoffe und ähnliches vertrieben wurden.

Die Zeit lag noch nicht weit zurück, wo fast der ganze Handel von Sankt-Thomas in den Händen von Israeliten war. Er wurde, als damals in dieser Gegend kriegerische Verwicklungen an der Tagesordnung waren, sehr im großen betrieben, vorzüglich als ein Vertrag den Negerhandel verboten hatte. Der Hafen der Insel, Charlotte-Amalia, wurde dann sehr bald zum Freihafen erklärt, was sein Aufblühen noch mehr beförderte. Er bot auch den Schiffen von jeder Nationalität nicht zu unterschätzende Vorteile. Diese fanden hier Schutz gegen die Passate und gegen die Stürme des Meerbusens, dank den Anhöhen der Insel, einer Landzunge, woran sich die Wogen brachen, und einem Holme, der mit Kaianlagen eingefaßt ist und auf dem sich Kohlenlager befinden.

Als der durch die Semaphore signalisierte »Alert« die Cowell- und die Molhentersspitze gepeilt, die Landzunge und den Holm umschifft, sowie das Signal zur Linken gelassen hatte, fuhr er in ein nach Norden offenes, kreisförmiges Wasserbecken ein, in dessen Hintergrunde die ersten Häuser der Stadt aufragen. Nach Ablauf von sechs bis sieben Faden Ankerkette lag dann der Dreimaster bei fünf bis sechs Metern Wassertiefe fest.

Reclus hat ausgesprochen, daß die Lage von Sankt-Thomas eine besonders vorteilhafte sei, da die Insel eine sehr günstige Stelle an der Bogenlinie der Antillen einnimmt, eine Stelle, von der aus »die Warenverteilung nach allen Teilen des Archipels am bequemsten erfolgen kann«.

Aus dieser Lage des Hafens erklärte es sich auch, daß er von Anfang an die Aufmerksamkeit der Flibustier erregte. Diese benützten ihn als Hauptniederlage der Schmuggelwaren für den Handel mit den spanischen Kolonien, und bald entwickelte er sich zum Hauptmarkte für »Ebenholz«, d. h. für die an den Küsten Afrikas gekauften Neger, die nach Westindien eingeführt wurden. Deshalb kam er schnell unter dänische Herrschaft, unter der er auch dauernd blieb,[173] und zwar nach seiner Abtretung durch eine Finanzgesellschaft, die ihn vom Kurfürsten von Brandenburg erworben hatte, dessen rechtmäßiger Erbe der König von Dänemark war.

Sobald der »Alert« festgemacht hatte, ließ sich Christian Harboe an Bord bringen, wo sich beide Brüder jubelnd in die Arme fielen. Darauf wechselte der Kaufmann noch einen herzhaften Händedruck mit Horatio Patterson nebst dessen Reisegenossen.

»Liebe Freunde, begann er dann, ich hoffe, daß Sie während Ihres Aufenthaltes auf Sankt-Thomas alle meine Gäste sein werden. Wie lange wird der › Alert‹ hier liegen bleiben?

– Drei Tage, antwortete Niels Harboe.

– Nur so kurze Zeit?

– Nicht länger, Christian. Ich bedaure es gewiß herzlich, da wir so lange nicht beisammen gewesen sind.

– Herr Harboe, nahm jetzt der Mentor das Wort, wir nehmen mit Vergnügen Ihre freundliche Einladung an und werden also Ihre Gäste sein, so lange wir auf Sankt-Thomas verweilen dürfen...

– So ist Ihnen also wohl eine Art Reiseprogramm vorgeschrieben, Herr Patterson?

– Ja, von der Mistreß Kathlen Seymour.

– Kennen Sie vielleicht diese Dame, Herr Harboe? fragte Louis Clodion.

– Nein, erwiderte der Kaufmann, doch hab' ich öfters von ihr reden hören, und auf den Antillen rühmt man ihre unerschöpfliche Wohltätigkeit.«

Dann wandte er sich an Harry Markel.

»Sie, Herr Kapitän Paxton, werden mir erlauben, Ihnen im Namen aller Angehörigen Ihrer jungen Passagiere den aufrichtigsten Dank abzustatten für die Fürsorge und das Wohlwollen...

– Einen Dank, den der Kapitän Paxton redlich verdient hat, fiel Patterson ein. Obwohl das Meer uns arg mitgespielt hat, mir mehr als allen anderen – horresco referens! – muß man doch anerkennen, daß unser wackerer Kapitän alles, was in seinen Kräften stand, getan hat, uns die Überfahrt so bequem und angenehm wie möglich zu machen.«

Harry Markels Art war es einmal nicht, sich in Komplimenten und Höflichkeiten zu ergehen. Vielleicht genierte ihn ein wenig auch Christian [174] Harboe, der den Blick auf ihn gerichtet hielt. So begnügte er sich denn mit einer leichten Neigung des Kopfes und sagte:

»Ich, mein Herr, finde nichts dagegen einzuwenden, daß die Passagiere des ›Alert‹ von der ihnen angebotenen Gastfreundschaft Gebrauch machen, freilich unter der Bedingung, daß diese unseren Aufenthalt hier deshalb nicht über den festgesetzten Zeitpunkt hinaus verlängert.

– Natürlich, Herr Kapitän, versicherte Christian Harboe. Wollen Sie dann von heute an mit meinen anderen Gästen wenigstens bei mir zu Mittag speisen?

– Ich danke bestens, verehrter Herr, erwiderte Harry Markel, doch ich habe hier einige Ausbesserungen ausführen zu lassen, die mich jede Stunde in Anspruch nehmen. Überhaupt ziehe ich es vor, mein Schiff so wenig wie möglich zu verlassen.«

Christian Harboe schien von dem kühlen Ton dieser Ablehnung etwas überrascht zu sein. Freilich findet man unter den Seeleuten, und besonders häufig unter den Kapitänen der britischen Handelsflotte, manche ungeschliffene Gesellen, schlecht erzogene Leute, deren Manieren sich bei der Ausübung ihres Berufes, bei der Berührung mit rohen Matrosen, natürlich auch nicht verfeinert haben. Jedenfalls war der Eindruck, den Harry Markel und seine Mannschaft bei dem ersten Zusammentreffen auf ihn machte, nichts weniger als günstig. Immerhin war das Schiff während der Reise gut geführt worden und die Überfahrt glücklich verlaufen, das war ja am Ende die Hauptsache.

Eine halbe Stunde später landeten die Passagiere am Kai von Charlotte-Amalia und begaben sich nach dem Hause Christian Harboes.

Kaum waren sie außer Sicht, als John Carpenter bemerkte:

»Na, Harry, es scheint sich ja alles zum besten zu gestalten.

– Ja, wenigstens bis jetzt, gab Harry Markel zu. Wir werden aber, wo wir später nach Halt machen, eher die doppelte Vorsicht nötig haben.

– Die wird nicht vernachlässigt werden, Harry; es hat doch keiner von uns Lust, den Erfolg dieses Unternehmens aufs Spiel zu setzen. Es hat gut angefangen... es wird auch gut enden.

– Gewiß, John, wenn nämlich niemand auf Sankt-Thomas den Kapitän Paxton persönlich gekannt hat. Du wirst übrigens darauf achten, daß keiner unserer Leute ans Land geht!«

Harry Markel hatte ganz recht damit, seine Mannschaft am Verlassen des Schiffes zu hindern. Gestattete man den Matrosen, alle Schenken und Spelunken[175] abzulaufen und übermäßig zu trinken – was ja niemals ausblieb, wenn sie sich allein überlassen waren – so konnte ihnen gar zu leicht ein verdächtiges Wort entschlüpfen, und deshalb erschien es ratsam, sie auf dem »Alert« strengstens zurückzuhalten.

»Ganz richtig, Harry, fuhr John Carpenter fort, und wenn sie gar zu großes Verlangen zu trinken haben, mögen sie die doppelte oder dreifache Ration bekommen. Jetzt sind die Passagiere für drei Tage auf dem Lande, und wenn unsere Leute da hier einmal einen Schluck zuviel nehmen, hat's ja nicht viel zu bedeuten.«


Mulatten von den Antillen.

Übrigens begriffen die Mannschaften des »Alert«, wenn sie sonst auch zu Exzessen geneigt waren und sich für die Enthaltsamkeit an Bord in den Häfen gründlich zu entschädigen liebten, daß ihre Lage keine ungefährliche war, und schon deshalb hüteten sie sich gewiß, sie irgendwie zu kompromittieren. Dazu war es aber nötig, jede Berührung mit der Bevölkerung der Insel und mit den Teerjacken jeder Nationalität zu vermeiden und sich nicht der Gefahr auszusetzen, daß einer der Piraten vom »Halifax« von dem oder jenem der Abenteurer erkannt werden könnte, die sich meist schon auf allen Meeren umhergetrieben [176] [179]hatten. Von Harry Markel erging also der gemessene Befehl, daß einerseits keiner der Leute das Land beträte, und anderseits, daß man auch keinem Fremden an Bord zu kommen erlaubte.


Sainte-Croix - Frederikstadt

Das Geschäftshaus Christian Harboes lag unmittelbar am Kai. Hier werden sehr umfangreiche Geschäfte abgeschlossen, denn die jährliche Einfuhr allein hat einen Wert von fünf Millionen sechsmalhunderttausend Francs, und das bei einer Bevölkerung von knapp zwölftausend Seelen.

Mit der Sprache konnten die jungen Passagiere nicht in Verlegenheit kommen, denn hier schwirrten die spanische, die dänische, die holländische, die englische und die französische Zunge bunt durcheinander, so daß sie sich fast hätten in eine der Klassen der von Ardagh geleiteten Antilian School versetzt glauben können.

Die Privatwohnung Christian Harboes befand sich etwa eine englische Meile entfernt von der Stadt an der Abdachung eines Berges, der den Hafen amphitheatralisch umrahmte.

Hier liegen in herrlicher Umgebung, inmitten üppiger tropischer Bäume, die Villen der reichen Kolonisten der Insel, und das Heim Christian Harboes war eines der größten und elegantesten Landhäuser.

Vor sieben Jahren hatte sich Christian Harboe mit einer aus vornehmer Familie stammenden jungen Dänin vermählt, und dieser Ehe waren zwei liebliche Töchterchen entsprossen. Wie herzlich kam die junge Frau ihrem Schwager entgegen, den sie bisher noch nicht kannte, und auch dessen Kameraden, die ihr vorgestellt wurden. Was aber Niels anging, so hatte wohl kaum jemals ein Onkel seine Nichten so innig in die Arme geschlossen und geliebkost, wie er.

»Nein, sind sie hübsch... sind die Kleinen hübsch! rief er wiederholt.

– Und warum sollten sie nicht hübsch sein? ließ sich Horatio Patterson vernehmen. Talis pater... talis mater... quales filiae!«

Diesem Citate stimmten auch alle unumwunden bei.

Die jungen Passagiere und ihr Mentor erhielten also Unterkunft in der Villa, die geräumig genug war, allen schön ausgestattete Zimmer zu bieten. Hier konnten sie sich bei reichlichem Mahle von der ziemlich einförmigen Schiffsnahrung erholen, die ja auch Ranyah Coghs Talent nicht besser zu gestalten vermochte. Und welche angenehme Siesta gab es hier in den heißen Tagesstunden in dem schattigen Parkgarten, der die Wohnung Christian Harboes umschloß. Bei diesen täglichen Plauderstündchen kam das Gespräch oft auf die in Europa [179] zurückgelassenen Familien, oder es betraf Niels Harboe, der, da er elternlos war, nach Vollendung seiner Ausbildung zu seinem Bruder zurückkehren sollte. Hier sollte er in dessen Handelshause tätig sein, und Christian Harboe gedachte auch noch auf der Sankt-Thomas benachbarten Insel Sankt-Johann ein Zweiggeschäft zu begründen.

Sankt-Johann war übrigens in den letzten Jahren für fünf Millionen Piaster den Vereinigten Staaten zum Kauf angeboten worden; die Republik hatte das aber abgelehnt. 2

Auf Sankt-Johann hatten sich die ersten Kolonisten angesiedelt, weil sie meinten, Sankt-Thomas würde sich für eine umfängliche Entwicklung des Handels nicht eignen. Da Sankt-Johann aber nur drei Lieues lang und zwei breit ist, wurde es bald als zu klein erkannt, und die Kolonisten wanderten dann nach Sain te-Croix aus.

Wiederholt erwähnte Christian Harboe auch den Kapitän des »Alert« und dessen Mannschaft, wobei er durchblicken ließ, daß die von Patterson beiden gespendeten Lobeserhebungen ihm doch nicht recht begründet erschienen.

Selbstverständlich wurden auch einige Ausflüge auf Sankt-Thomas unternommen, das des Besuches der Touristen entschieden wert ist. Die aus Porphyr bestehende Insel hat im nördlichen Teile ziemlich welliges Terrain, das noch durch prächtige Hügel verschönert wird, deren höchster bis vierzehnhundert Fuß über das Meer aufragt.

Die jungen Ausflügler bestanden darauf, dessen Gipfel zu ersteigen, und wenn das auch nicht ohne Anstrengung ablief, so wurden sie doch reichlich durch die Schönheit des Bildes belohnt, das sich dem Auge von der Höhe aus darbot. Die Aussicht von hier reichte bis Sankt-Johann, das, einem ungeheuern Fische ähnlich aus dem Antillenmeere herausragend, von einer Menge Eilanden, wie Hans-Lellik, Loango, Buek, Saba, Savana u. a. und darüber hinaus von der im Sonnenglanze schimmernden Wasserwüste umgeben war.

Sankt-Thomas hat übrigens nur eine Oberfläche von sechsundachtzig Quadratkilometern, d. h., wie Louis Clodion bemerkte, kaum hundertzweiundsiebzigmal die des Pariser Marsfeldes.

[180] Nach Ablauf der drei programmäßigen Tage begaben sich die Passagiere wieder an Bord des »Alert«, wo alles zur Abfahrt bereit war. Herr und Frau Harboe begleiteten die Gesellschaft dahin. Patterson sprach ihm noch in aller Namen den wärmsten Dank für ihre Gastfreundlichkeit aus, und die beiden Brüder umarmten sich zum letzten Male.

Am Abend des 28. Juli lichtete der Dreimaster die Anker, hißte seine Segel und glitt bei günstiger nordöstlicher Brise mit südwestlichem Kurse hinaus auf die Insel Sainte-Croix zu, wo zunächst Aufenthalt genommen werden sollte.

Die Strecke von sechzig Seemeilen zwischen den beiden Inseln wurde binnen sechsunddreißig Stunden zurückgelegt.

Als die Kolonisten, deren es für Sankt-Thomas und Sankt-Johann zu viele waren, wie erwähnt, nach der zweihundertachtzehn Quadratkilometer großen Insel Sainte-Croix übersiedeln wollten, fanden sie diese in den Händen englischer Flibustier, die sich hier seit der Mitte des 17. Jahrhunderts eingenistet hatten. Das führte natürlich zu Mißhelligkeiten und zu wiederholten, zuweilen recht blutigen Kämpfen, die zunächst zu Gunsten der britischen Abenteurer ausgingen. Diese Burschen, die von Anfang an mehr Seeräuber als Kolonisten waren und das Meer in weitem Umkreise un sicher machten, hatten sich um den Anbau der Insel fast gar nicht gekümmert.

Im Jahre 1750 gelang es dann den Spaniern, sich der Insel zu bemächtigen und die Engländer zu verjagen.

Freilich sollten sie sich des Besitzes nicht lange erfreuen, denn nur wenige Monate später mußte die schwache, zur Verteidigung der Insel zurückgelassene Besatzung vor einer französischen Truppenabteilung die Waffen strecken.

Erst jetzt begann die Kultivierung von Sainte-Croix; ehe aber an einen Anbau zu denken war, mußten die Urwälder des Innern niedergebrannt werden, eine Maßregel, die den Erdboden nicht nur freilegte, sondern auch anreicherte.

Dank den dann anderthalb Jahrhunderte fortgesetzten Arbeiten traf der »Alert« jetzt hier auf eine sorgfältig kultivierte und sehr fruchtbare Insel.

Natürlich gab es darauf keine Karaïben mehr, die sie vor ihrer Entdeckung durch Europäer bevölkerten, ebenso keine Engländer, ihre nächstspäteren Bewohner, noch Spanier, die diesen folgten, und auch keine Franzosen mehr, denen die ersten wirklichen Kolonisationsversuche zu verdanken waren. In der Mitte des 17. Jahrhunderts hätte man hier überhaupt keine lebende Seele vorgefunden. [181] Nach Vernichtung ihres Handels und Unterdrückung des einträglichen Schmuggels hatten die Kolonisten die Insel wieder verlassen.

Siebenunddreißig Jahre, bis 1733, blieb Sainte-Croix gänzlich unbewohnt. Frankreich verkaufte es für siebenhundertfünfzigtausend Livres an Dänemark, und seit diesem Zeitpunkt ist es eine dänische Kolonie.

Als der »Alert« in Sicht der Insel kam, steuerte Harry Markel auf den Hafen von Barnes, ihrer Hauptstadt, zu, die dänisch Christianstad heißt und an der Nordküste im Hintergrunde einer kleinen Bucht liegt. Die zweite Stadt von Sainte-Croix, Frederikstad, einst während eines Negeraufstandes völlig eingeäschert, erhebt sich an der westlichen Küste.

In Frederikstad war Axel Wickborn, der zweite Preisträger des Wettbewerbes, geboren. Gegenwärtig hatte er hier keine Angehörigen mehr. Seit einem Dutzend von Jahren wohnte seine Familie nach dem Verkauf ihres hiesigen Besitztums schon in Kopenhagen.

Waren die Passagiere bei ihrem Aufenthalt nun auch niemandes eigentliche Gäste, so wurden sie doch von alten Freunden der Familie Wickborn recht herzlich aufgenommen. Den größten Teil der Zeit verbrachten sie auf dem Lande, kehrten zum Schlafen aber jeden Abend an Bord zurück.

Die Insel, die sie meist zu Wagen besuchten, ist an sich höchst interessant. So lange die Sklaverei noch bestand, kamen die Pflanzer hier zu großem Vermögen und Sainte-Croix konnte wohl die reichste Insel der Antillen genannt werden. Unter fortschreitender Bewirtschaftung wurde ihr Boden bis zum Gipfel der Hügel ausgenutzt. Sie enthielt dreihundertfünfzig Farmen, jede von hundertfünfzig Morgen, und wurde von einem tüchtigen Beamtenstabe mit musterhafter Ordnung verwaltet. Zwei Drittel des Bodens dienen dem Anbau von Zuckerrohr, und in mittelguten Jahren gewinnt man davon – abgesehen von der Melasse – vom Morgen je sechzig Tonnen Zucker.

Neben diesem werden jährlich noch achthundert Ballen Baumwolle nach Europa ausgeführt.

Die Touristen fuhren durch die schönen, mit Palmen besetzten Landstraßen, die jedes Dorf mit der Hauptstadt verbanden. Der in nördlicher Richtung sanft abfallende Boden stieg allmählich nach der Nordwestküste zu an, wo ihn der vierhundert Meter hohe Mount Eagle abschloß.

Beim Anblick der schönen und überaus fruchtbaren Insel konnten Louis Clodion und Tony Renault ihr Bedauern nicht unterdrücken, daß Frankreich [182] dieses reiche Gebiet in den Antillen nicht für sich behalten hätte. Anderseits fanden Niels Harboe und Axel Wickborn, daß Dänemark damit eine sehr vorteilhafte Erwerbung gelungen sei, und sie sprachen nur den einen Wunsch aus, daß Sainte-Croix, nachdem es vor her im Besitz der Engländer, der Franzosen und der Spanier gewesen sei, ihrem Vaterlande für immer erhalten bleiben möchte.

Dank seiner Lage in Europa hatte Dänemark – abgesehen von der Blockade des Festlandes, wobei Kopenhagen von einer englischen Flotte bombardiert wurde – das Glück, nicht in die langen und blutigen Kämpfe zwischen Frankreich und England im Anfange des 19. Jahrhunderts mit verwickelt zu werden. Eine Macht zweiten Ranges, war sein Gebiet für die Entwicklung großer europäischer Heeresmassen zu klein. Diesem Umstande verdankten es auch die dänischen Kolonien in Antilien, daß sie ganz unberührt blieben von den Rückwirkungen jener furchtbaren Kriege, die sich sonst bis über den Atlantischen Ozean fühlbar machten. Sie konnten in vollem Frieden an ihrer glücklichen Entwicklung weiter arbeiten.

Die im Jahre 1862 proklamierte Negeremanzipation rief dagegen anfangs einige Unruhen hervor, die die Kolonialbehörden mit Strenge unterdrücken mußten. Die Freigelassenen beschwerten sich nicht ganz mit Unrecht darüber, daß die ihnen gemachten Versprechungen nicht eingehalten worden seien, vorzüglich die Überweisung einer gewissen Fläche von Grund und Boden zu freiem Eigentum. Das verursachte Reklamationen, die ohne Erfolg blieben, und schließlich einen Aufstand der Neger, der zu Brandstiftungen an verschiedenen Stellen der Insel führte.

Als der »Alert« im Hafen von Christianstad lag, waren die Beziehungen zwischen Kolonisten und Freigelassenen noch immer nicht endgültig geregelt. Immerhin erfreute sich die Insel einer vollkommenen Ruhe, und die Touristen wurden bei ihren Ausflügen auch nirgends belästigt. Ein Jahr später wären sie freilich in einen offenen Aufruhr hineingeraten, der so ernst war, daß dabei Axel Wickborns Vaterstadt von den Negern niedergebrannt wurde.

Hier möge auch erwähnt werden, daß sich die Bevölkerung von Sainte-Croix schon seit sechs bis sieben Jahren ansehnlich vermindert hat infolge einer anhaltenden Auswanderung, die sie um den fünften Teil ihres früheren Bestandes schwächte.

Während des Aufenthaltes des »Alert« befand sich der dänische Gouverneur, der sonst abwechselnd je sechs Monate auf Sankt-Thomas und auf [183] Sankt-Johann seinen Sitz hat, hier auf Sainte-Croix, wo man neue Störungen befürchtete. Er konnte den jungen Antilianern also nicht den Empfang zu teil werden lassen, der diese auf den anderen Antillen erwartete. Dennoch hatte er Vorsorge getroffen, ihnen alle Erleichterungen zur Besichtigung der Insel zu gewähren, was denn auch im weitesten Umfange geschah.

Vor der Weiterreise übermittelte deshalb noch ein von Horatio Patterson aufgesetzter Brief in zierlicher Schrift, den die neun Preisträger unterzeichneten, Seiner Exzellenz den Ausdruck des lebhaftesten Dankes.


Und welche angenehme Siesta gab es in dem schattigen Parkgarten. (S. 179.)

[184] [187]Am 1. August verließ der »Alert« wieder den Hafen von Christianstad, und nachdem er aus dessen Zufahrtsstraße heraus war, schlug er bei mäßiger Brise, gegen diese scharf ansegelnd, den Kurs nach Sankt-Martin ein.


Die jungen Ausflügler bestanden darauf, den Gipfel zu ersteigen (S. 180.)
Fußnoten

1 Beweis dafür das Schicksal Cubas und Portoricos nach dem 1898er spanisch-amerikanischen Kriege.

2 Später beschäftigte man sich noch mit der Abtretung aller drei dänischen Inseln, die Reichstagsverhandlungen in Kopenhagen führten jedoch bis heute zu keinem endgültigen Ergebnisse.

15. Kapitel
Fünfzehntes Kapitel.
Sankt-Martin und Sankt-Barthelemy.

Nach Osten steuernd, wandte sich der »Alert« dem hohen Meere zu. Sankt-Martin und die Inseln Sombrero, Anguilla, Barbuda und Antigoa sind nämlich die äußersten Vorposten der Antillenkette im Nordosten der Inseln Vor dem Winde.

Als der Dreimaster die Landmasse von Sainte-Croix außer Sicht verloren hatte, traf er auf den Passatwind, der jetzt ziemlich kräftig wehte. Das Schiff mußte deshalb bei grobem Meere aufkreuzen, konnte dabei aber noch seine unteren Segel nebst den Mars-und den Bramsegeln beibehalten. Freilich mußte es häufig den Kurs ändern. Tony Renault und Magnus Anders war erlaubt worden, das Steuer zu halten, worauf die beiden nicht wenig stolz waren.

Die Entfernung zwischen Sainte-Croix und Sankt-Martin übersteigt kaum zweihundert Seemeilen. Unter sehr günstigen Ümständen kann sie ein guter Segler binnen vierundzwanzig Stunden zurücklegen. Bei dem jetzt herrschenden widrigen Winde und der Notwendigkeit, die auf den Meerbusen von Mexiko gerichtete Strömung zu überwinden, dauerte die Überfahrt freilich dreimal so lange.

Der »Alert« hatte dabei übrigens fast stets zahlreiche Dampf- oder Segelschiffe in Sicht. Diese Meeresgegend ist sehr stark befahren, und die Schiffahrt zwischen allen Inseln von Sankt-Thomas bis Trinidad besonders lebhaft.

Harry Markel vernachlässigte deshalb niemals die gewohnte Vorsicht: er hütete sich sorgsam, diesen Fahrzeugen auf Seh- oder Hörweite nahe zu kommen, hielt sich von ihnen vielmehr immer unter dem Winde, um nicht veranlaßt zu werden, mit einem davon in Verkehr zu treten. Seiner Mannschaft gewährte [187] das natürlich eine große Befriedigung; jetzt, wo der Aufenthalt an Sankt-Thomas und an Sainte-Croix ohne Zwischenfall verlaufen war, konnten die Burschen ja hoffen, daß es auch bei den anderen Inseln ebenso glücklich ablaufen werde. John Carpenter, Corty und die übrigen hatten sich schon ihrer früheren heimlichen Befürchtungen entschlagen und das Vertrauen zu ihrem Führer hatte sich von neuem gestärkt. Immerhin wünschten sie, diese Besuche so vieler Antilleninseln möglichst bald abgeschlossen zu sehen.

Jetzt, bei der Fahrt gegen Wind und Wellen, fühlte sich der brave Patterson zwar wieder etwas unwohl, dank dem hilfreichen Kirschkern in seiner Hand hatte er sich aber nicht allzu sehr zu beklagen.

Im Juli und August kommt übrigens wirklich schweres Wetter hier kaum jemals vor; es treten – eine Folge der starken Wärme der Tropenzone – eigentlich nur schnell vorübergehende Gewitterstürme auf. Das Klima Antiliens erfreut sich einer auffallenden Regelmäßigkeit und niemals übersteigen die Schwankungen der Thermometersäule mehr als zwanzig Grade. Größere Unterschiede als bezüglich der Temperatur beobachtete man hier bezüglich der Niederschläge, und der Regen, den ein Hagelschlag nur sehr selten begleitet, stürzt oft in unerhörter Menge hernieder.

Die dem ersten Anprall der Seewinde ausgesetzten Inseln der Gruppe haben von den atmosphärischen Störungen am meisten zu leiden; die anderen, wie Sainte-Croix, Sankt-Eustach, Sankt-Christoph und die Grenadinen, die tiefer drin im karaïbischen Meere liegen, werden von Stürmen weit seltener heimgesucht. Die meisten Häfen der Inseln Vor dem Winde liegen jedoch nach Westen und Südwesten und bieten deshalb also auch recht sicheren Schutz gegen den Wogenschwall von der offenen See her.

Es war schon etwas spät am Abend des 3. August, als der durch die Passatwinde zurückgehaltene »Alert« in Sicht von Sankt-Martin eintraf.

Schon vier bis fünf Meilen vor dem späteren Ankerplatze hatten die jungen Preisträger aber noch den höchsten Bergstock der Insel sehen können der – er steigt bis fünfhundertfünfundachtzig Meter auf – jetzt noch unter den letzten Strahlen der Sonne erglühte.

Sankt-Martin gehört bekanntlich Holland und auch Frankreich. Die Franzosen und die Holländer vom »Alert« fanden hier also jeder ein Stück ihres westindischen Vaterlandes. Wenn hier Albertus Leuwen aber den Fuß auf das Land seiner Geburt setzte, so war das nicht der Fall bei Louis Clodion und [188] Tony Renault, die der eine aus Guadeloupe, der andere aus Martinique gebürtig waren. Der junge Holländer dagegen hatte das Licht der Welt in Philsburg, der Hauptstadt der Insel, erblickt, in deren Hafen der Dreimaster vor Anker gehen sollte.

Sankt-Martin, das jetzt französisch-holländisch ist, hat einen nach Nordwesten vorgeschobenen Vorposten in der kleinen Insel Anguilla, eigentlich nur einem Eilande, das mit Sankt-Christoph und Nevis zu derselben Präsidentschaft gehört. Anguilla ist von der Hauptinsel nur durch einen schmalen Wasserarm getrennt, dessen Tiefe kaum fünfundzwanzig bis dreißig Meter übersteigt. Es ist jedoch nicht unmöglich, daß sich dessen korallenbedeckter Grund weiter und durch die nie rastende Tätigkeit der Infusorien bis zur Meeresfläche heben könnte, wenn das nicht etwa einmal infolge einer plutonischen Störung eintritt; dann würden Sankt-Martin und Anguilla nur noch eine einzige Insel bilden.

Was möchte wohl dann aus der franko-anglohol ländischen Antille werden? Würden die drei Nationen in gutem Einvernehmen darauf wohnen? Verdiente sie dann nicht weit mehr als die letzte Insel der Antillenkette den Namen »Trinidad« und würde ein ungestörter Friede unter dem Schatten der drei Flaggen herrschen? –

Am nächsten Morgen kam ein Lotse an Bord des Dreimasters und führte diesen durch gewundene Wasserstraßen in den Hafen von Philsburg.

Die Stadt bedeckt ein schmales Strandgelände, das die halbkreisförmige Bucht von einem weit ausgedehnten Salzwerke, dem Sitze einer sehr bedeutenden Salzgewinnung, trennt. Daneben sind noch Salzsümpfe, die Hauptschätze der Insel, so ergiebig, daß man ihre jährliche Ausbeute auf nicht weniger als 3,600.000 Hektoliter schätzt.

Eine Anzahl dieser Salzsümpfe erfordert freilich unablässig eine gewisse Nachhilfe. Die Verdunstung ist hier so stark, daß sie ohne solche bald ganz trocken liegen würden. Deshalb macht es sich auch für die Saline von Philsburg von Zeit zu Zeit nötig, die sie vom Ufer trennende Landzunge zu durchstechen und das Wasser des Meeres dahin eintreten zu lassen.

Albertus Leuwen hatte auf Sankt-Martin kein Mitglied seiner Familie mehr. Alle wohnten etwa seit fünfzehn Jahren in Rotterdam (in Holland). Er selbst hatte, als er nach Europa ging, Philsburg so jung verlassen, daß er an die Insel keine Erinnerung mehr bewahrte. Überhaupt war es von allen preisgekrönten Antilianern nur Hubert Perkins, dessen Eltern sich auch heute [189] noch in der englischen Kolonie Antigoa aufhielten. Für Albertus Leuwen bot sich hier also nur die Gelegenheit, noch ein- und voraussichtlich das letztemal den Fuß auf die heimatliche Erde zu setzen.

Ist Sankt-Martin im geteilten Besitz Hollands und Frankreichs, so darf man doch nicht glauben, daß die britische Nation hier nicht vertreten wäre. Von der Bevölkerung von siebentausend Seelen sind dreitausendfünfhundert Franzosen und dreitausendvierhundert, also auch fast die Hälfte der Gesamtzahl, Engländer. Was nun noch für die Holländer übrig bleibt, ist ja leicht zu erkennen.

Dem Handelsverkehr auf Sankt-Martin sind keinerlei Schranken gezogen und ebenso erfreut sich die Verwaltung der größten Selbständigkeit. Ein glückliches Gedeihen ist hiervon die sichtbare Folge gewesen. Daß die Salinen der Insel sich im Besitz einer französisch-holländischen Gesellschaft befinden, hat wenig zu besagen. Die Engländer sind dafür in anderen Zweigen des Handels tätig, vor allen in denen, die allerlei Bedarfsgegenstände betreffen, und ihre stets wohl versorgten Lagerhäuser und Läden haben eine zahlreiche Kundschaft.

Der Aufenthalt des »Alert« an Sankt-Martin, wenigstens die Zeit, wo er hier vor Anker lag, dauerte nicht länger als vierundzwanzig Stunden.

Weder Harry Markel, noch einer seiner Leute brauchte hier zu befürchten, erkannt zu werden. Alles in allem lag eine solche Gefahr am nächsten in den englischen Antillen Santa-Lucia, Antigoa und Dominique, wohin das Schiff noch gehen sollte, ganz besonders vielleicht in Barbados, dem Wohnsitz der Mrs. Kathlen Seymour, wo sich der Aufenthalt der Preisträger von der Antilian School voraussichtlich mehr als anderswo verlängerte.

Patterson und seine jungen Begleiter hatten hier eigentlich nur über die lange Straße zu lustwandeln, aus der Philsburg besteht, und deren Häuser den flachen Strand im Westen bis dicht ans Meer bedecken.

Danach hätte der »Alert« gleich wieder unter Segel gehen können, nachdem Albertus Leuwen seiner Heimat diesen kurzen Besuch abgestattet hatte, Louis Clodion und Tony Renault bekundeten jedoch als geborene Franzosen das lebhafte Verlangen, vorher auch den französischen Teil der Insel betreten zu haben, der weiter im Norden liegt und fast zwei Drittel der Gesamtoberfläche einnimmt.

Der Hauptort dieses Teiles heißt Marigot, ein Name, der, wie man sieht, nichts holländisches an sich hat. Es erscheint also begreiflich, daß Louis Clodion und Tony Renault gern wenigstens einen Tag in Marigot zuzubringen wünschten.

[190] Sie setzten sich deshalb mit dem Mentor ins Einvernehmen; eine Änderung des Reiseplanes hatte der Ausflug ja nicht zur Folge.

Der wackere Mann wußte denn auch das so natürliche Verlangen der Beiden zu würdigen.

»Wenn Albertus hier den Boden seines Holland betreten hat, warum sollten dann Louis und Tony, Arcades ambo, nicht den Boden Frankreichs betreten?«

Horatio Patterson sachte also Harry Markel auf und unterbreitete ihm den Vorschlag, den er mit seiner hohen Autorität unterstützte.

»Und wie lautet darauf Ihre Antwort, Kapitän Paxton?« fragte er.

Harry Markel hätte es erklärlicherweise vorgezogen, keine weiteren Orte als die früher bestimmten anzulaufen. Jetzt fehlte es ihm aber doch an einem annehmbaren Grunde, die Überführung seiner jungen Passagiere nach einem anderen Punkte der Inseln zu verweigern. Ging der »Alert« am Abend ab, so konnte er am nächsten Tage vor Marigot sein und nach achtundvierzig Stunden schon nach Barthelemy weiter segeln.

So geschah es denn auch. Am Abend des 5. gegen neun Uhr lief der Dreimaster unter der Führung eines Lotsen von Philsburg wieder aus. Die Nacht war klar, der Mond fast voll und das Meer ruhig unter dem Schutze der Anhöhen der Insel, längs deren Ufer man in der Entfernung von einer Viertelmeile hinfahren konnte. Der günstige Wind gestattete überdies dem Schiffe, alle Segel mit Steuerbordhalfen zu tragen.

Während der herrlichen nächtlichen Fahrt blieben alle Passagiere bis Mitternacht auf dem Deck, dann schlüpften sie in ihre Kabinen und erwachten nicht eher, als bis der »Alert« seine Anker rasselnd fallen ließ.

Marigot ist eine noch mehr handelstätige Stadt als Philsburg. Sie liegt am Rande eines Wasserarmes, der die Verbindung zwischen der Bai und dem Simpsonteiche vermittelt und dadurch einen sehr sicheren, gegen die Wellen des Meeres geschützten Hafen bildet. Hier laufen in großer Zahl Schiffe der langen Fahrt und Küstenfahrer ein, wozu die Abgabenfreiheit am Orte nicht wenig beitragen mag. Marigot ist übrigens die bedeutendste Stadt von Sankt-Martin.

Die Passagiere sollten den kurzen Abstecher auch in keiner Weise zu bereuen haben. Alle hatten ihren Anteil an dem herzlichen Empfange, den die französischen Kolonisten zweien ihrer Landsleute bereiteten. Die Ansiedler [191] machten keinen besonderen Unterschied zwischen den Nationalitäten ihrer unerwarteten Gäste, und bei dem diesen von den Behörden der Stadt gebotenen Bankett sah man eben nur Antilianer, die bunt durcheinander an der Tafel saßen.

Einer der bedeutendsten Kaufleute der Stadt, Anselme Guillon mit Namen, war es gewesen, der die kleine Festlichkeit zu stande gebracht hatte. Gegen vierzig Personen nahmen daran teil, und natürlich hielt es der Veranstalter für geboten, daß auch der Kapitän des »Alert« dazu eingeladen würde.

Guillon begab sich deshalb an Bord und ersuchte Harry Markel, bei dem Bankett zu erscheinen, das am nämlichen Abend im Saale des Stadthauses stattfinden sollte.

So kühn er auch sonst war, wollte Harry Markel diese Einladung doch nicht annehmen. Vergeblich trat auch Patterson dem Ersuchen Guillons bei. Beide scheiterten an der unerschütterlichen Weigerung, bei der der Kapitän des »Alert« verharrte. Ebensowenig wie in Sankt-Thomas und Sainte-Croix wollte er in Sankt-Martin sein Schiff verlassen und gab auch keinem seiner Leute Urlaub, ans Land zu gehen.

»Wir werden Ihre Abwesenheit bedauern, Kapitän Paxton, erklärte Guillon. Das Gute, was uns die jungen Leute alles über Sie erzählt, die Vorsorge, die Sie auf der Fahrt des »Alert« getroffen haben, und deren Wunsch, Ihnen einmal öffentlich ihren Dank bezeugen zu können, alles das hat mich ermutigt, bei Ihnen auf dieser Einladung zu bestehen, und ich beklage aufrichtig, damit keinen Erfolg gehabt zu haben.«

Harry Markel machte noch eine kalte Verbeugung und der Kaufmann ließ sich wieder nach dem Kai übersetzen.

Hierzu sei jedoch bemerkt, daß ihm der Kapitän des »Alert« ebensowenig wie früher Herrn Christian Harboe einen sympathischen Eindruck gemacht hatte. Das harte und rauhe Gesicht, dem sich von so vielen Schandtaten und Verbrechen ein unverkennbarer Stempel eingeprägt hatte, mußte in dem Beobachter einen gewissen Widerwillen, ja geradezu ein wirkliches Mißtrauen erwecken. Nach den Reden der Passagiere und den Lobsprüchen, die Horatio Patterson dem Kapitän Paxton zollte, konnte man auf jenen minder günstigen Eindruck freilich kein Gewicht legen. Übrigens war der Mann ja von Mrs. Kathlen Seymour eigens gewählt worden, und diese Dame hatte ihre Entscheidung gewiß nur auf Grund sorgsamer Erkundigung und guter Empfehlungen getroffen.

[192] [195]Wenig hätte hier jedoch gefehlt, daß die Lage Harry Markels und seiner Leute stark kompromittiert worden, vielleicht gar verloren gewesen wäre. Auf der anderen Seite mußte derselbe Umstand freilich das Vertrauen Guillons und der hervorragenden Männer Marigots zu dem Kapitän und seiner Mannschaft nur noch kräftigen.

Am Tage vor der Ankunft des »Alert« lag nämlich noch die englische Brigg »Fire-Fly« vor Marigot. Ihr Kapitän kannte Paxton persönlich sehr genau und schätzte seine Eigenschaften als Mensch ebenso hoch wie als Seemann. Hätte er gewußt, daß der »Alert« hier eintreffen sollte, so würde er diesen jedenfalls abgewartet haben, und mit welcher Freude hätte er seinem alten Freunde wieder einmal die Hand gedrückt! Die »Fire-Fly« war aber schon segelklar gewesen, und im Dunkel der Nacht mochte sie sich im Westen der Insel wohl mit dem »Alert« gekreuzt haben.


Sankt Barthelemy. - Der Hintergrund des Hafens.

In seinem Gespräch mit Harry Markel hatte Guillon auch den Kapitän von der »Fire-Fly« erwähnt, natürlich zum großen Schreck des Elenden, der sich die Gefahr ausmalte, die ihm bei der Anwesenheit eines Freundes des Kapitäns Paxton gedroht hätte.

Jetzt schwamm die Brigg schon weit draußen auf der Fahrt nach Bristol, und es war nicht die geringste Aussicht, mit ihr bei der weiteren Rundreise durch die Antillen noch einmal zusammenzutreffen.

Als Harry Markel den Obersteuermann und Corty von der Sache unterrichtet hatte, konnten diese ihre Besorgnis wegen eines ähnlichen Zwischenfalles nicht verhehlen.

»Da sind wir aber mit einem blauen Auge davongekommen, sagte John Carpenter.

– Sprecht nur den anderen nicht davon, warnte Harry Markel. Es ist ja nutzlos, sie zu erschrecken, mögen sie nur noch mehr vorsichtig sein als bisher.

– Sapperment, ich möchte aber, daß diese verteufelte Geschichte mit den Antillen zu Ende wäre! rief Corty. Hier kommts mir immer vor, als ob an jedem Baumaste schon ein Strick hinge!«

Corty hatte ja ganz recht. Hätte die Brigg »Fire, Fly« noch an dem Tage, wo der »Alert« ankam, im Hafen von Marigot gelegen, so wäre es um Harry Markel und seine Spießgesellen geschehen gewesen.

Das Bankett, das ebenso trefflich veranstaltet war, wie die Einladung dazu mit Freuden angenommen worden war, fand also am Abend statt. Dabei wurden[195] auch Trinksprüche zu Ehren des Kapitäns Paxton ausgebracht, und man unterhielt sich von dem ersten Teile der Reise, der unter so günstigen Verhältnissen verlaufen war. Die jungen Antilianer brachten, nachdem sie ein wenig Luft der Heimat geatmet hatten, gewiß die unvergeßlichsten Eindrücke von ihrem Besuche Westindiens mit nach Europa zurück.

Beim Nachtisch erhob sich Louis Clodion und widmete in gewandter Rede Anselme Guillon und den Vertretern der Kolonie warme Worte dankbarer Anerkennung für die so freundliche Aufnahme, wobei er noch Frankreichs, Englands, Dänemarks, Hollands und Schwedens, die ja alle an der Tafel vertreten waren, in brüderlicher Eintracht gedachte.

Hierauf kam die Reihe an Horatio Patterson, der sichs doch nie hätte nehmen lassen, auf die mehr als zu vielen Toaste zu antworten, die man hier nach jedem Gerichte zu hören bekam. Der Mentor erhob sich also mit dem Glas in der Hand und ergriff nun das Wort.

Was sich nur an lateinischen Citaten seinen wohlgesetzten Worten einverleiben ließ, das strömte aus dem Munde des Redners. Er sprach von den Erinnerungen, die dieses lukullische Fest dauernder als Erz – aere perennius, wie Horaz sagte – in ihm hinterlassen würde, von dem Glücke, das dem Kühnen hold sei – audentes Fortuna juvat, um mit Virgil zu reden. Er fühle sich beglückt, seinen Dank öffentlich – coram publico – aussprechen zu können. Immerhin müsse er daneben auch seines Vaterlandes, von dem ihn jetzt ein weites Weltmeer trenne, eingedenk sein, er werde aber trotzdem niemals die Befriedigung seiner Eigenliebe vergessen, die er hier auf den Antillen gefunden habe, und noch in seinem letzten Stündlein werde er begeistert rufen: Et in Arcadia ego!... denn die Antillen wären ein Stück jenes Arkadiens, wo Unschuld und Glück ihre Heimat hatten. Endlich habe er von jeher den Wunsch gehegt, diesen herrlichen Archipel zu besuchen – hoc erat in votis, mit dem schon citierten Horaz zu reden – auf den er,si parva licet componere magnis – wie Virgil sagt – er, der Verwalter der Antilian School, erst vierhundert Jahre nach Christoph Columbus seinen Fuß gesetzt habe.

Ungeheurer Erfolg! Laut ertönten noch die Bravos der Tafelrunde, als Horatio Patterson sich schon wieder gesetzt hatte. Dann füllten noch einmal alle ihre Gläser zu Ehren der Mistreß Kathlen Seymour, man drückte einander zur Guten Nacht warm die Hände und die Stipendiaten machten sich wieder auf den Weg nach dem Hafen.

[196] Als sie am Abend gegen zehn Uhr an Bord zurückgekehrt waren, schien es Patterson, obgleich das Meer so ruhig wie ein Binnensee dalag, doch so, als ob der »Alert« von einer Dünung geschaukelt würde. Überzeugt, daß er das in wagrechter Lage weniger spüren werde, verschwand er sofort in seiner Kabine, entkleidete sich hier mit Hilfe des gefälligen Wagah und fiel bald in tiefen Schlummer. Der ganze nächste Tag wurde dann Spaziergängen durch die Stadt und deren Umgebung gewidmet.

Zwei Wagen erwarteten die Touristen, zu deren Führung sich Anselme Guillon eingefunden hatte. Vor allem wünschten die jungen Reisenden die Stelle zu besuchen, wo 1648 die Teilung der Insel zwischen Frankreich und Holland vollzogen worden war.

Dazu mußten sie einen östlich von Marigot gelegenen Hügel ersteigen, der den bezeichnenden Namen »Berg der Verträge« hat.

An dessen Fuße angelangt, verließen die Ausflügler die Wagen und klommen ohne große Anstrengung die Anhöhe hinaus. Auf dieser brachte man dann einige in den Wagenkasten mitgeführte Flaschen Champagner hervor und die Gesellschaft leerte sie zur Erinnerung an den Teilungsvertrag von 1648.

Wie immer herrschte das vollkommenste Einvernehmen zwischen den jungen Antilianern. Vielleicht hegte Roger Hinsdale den Gedanken, daß Sankt-Martin und die übrigen Inseln eigentlich ein Besitztum Großbritanniens sein sollten oder das eines Tages doch noch werden würden. Albertus Leuwen, Louis Clodion und Tony Renault wechselten dagegen einen brüderlichen Händedruck mit dem Wunsche für dauernden Frieden zwischen beiden Nationen.

Nachdem dann die beiden Franzosen auf die Gesundheit Seiner Majestät Wilhelm des Dritten, des Königs von Holland, getrunken hatten, erhob der Holländer sein Glas zu Ehren des Präsidenten der französischen Republik, und die beiden Toaste wurden von den Vivats und Hurras aller übrigen begleitet.

Horatio Patterson ergriff bei diesem Austausch von guten Wünschen und herzlichen Lobsprüchen nicht das Wort. Am Tage vorher mochte er wohl die Schätze seines natürlichen Vorrats an Redewendungen zu sehr geplündert haben oder er mußte sich mindestens einige Erholung gönnen. Dennoch beteiligte er sich, wenn auch nicht mit den Lippen, so doch mit aufrichtigem Herzen an dieser internationalen Kundgebung.

Nach einem Besuche der schönsten Stellen dieser Inselgegend, nach einem Frühstück auf dem Strande und einem Mittagsmahle in einem prächtigen Walde [197] – wozu für den Ausflug alles vorsorglich mitgenommen war – kehrten die Touristen nach Marigot zurück. Hier verabschiedeten sie sich unter den lebhaftesten Dankesbezeugungen von Herrn Anselme Guillon und begaben sich dann sogleich an Bord.

Alle, auch Patterson inbegriffen, fanden noch Zeit genug, an ihre Angehörigen zu schreiben. Diese waren übrigens schon am 26. Juli von dem Eintreffen des »Alert« vor Sankt-Thomas unterrichtet worden. Das war durch Telegramme geschehen, und damit mußte ja jede Beunruhigung wegen der um einige Tage verzögerten Ankunft zerstreut sein. Die jungen Leute und der Mentor glaubten aber doch, ihre Familien auf dem Laufenden erhalten zu müssen, und die am heutigen Abend geschriebenen und am nächsten Morgen zur Post gegebenen Briefe gingen dann nach vierundzwanzig Stunden mit dem Postschiffe nach Europa ab.

Die Nacht verlief ohne Zwischenfall. Nichts störte nach dem etwas anstrengenden Tag den Schlaf der jungen Leute. John Carpenter und Corty erwogen dagegen die Möglichkeit, daß die »Fire-Fly« wegen erlittener Havarien vielleicht doch noch in den Hafen zurückkehren könnte... wozu es zu ihrem Heile freilich nicht kam.

Am nächsten Morgen gegen acht Uhr verließ das Schiff, unter Benutzung der Ebbeströmung, den Hafen von Marigot und steuerte nun auf Sankt-Barthelemy zu.

War das Meer auch etwas unruhig, so wurde der »Alert«, so lange er sich unter dem Schutze der Insel hielt, doch nicht besonders hin und her geworfen. Nachdem er aber an Philsburg vorübergekommen war, fehlte dem Dreimaster freilich die frühere Deckung durch die hohe Küste Sankt-Martins gegen den Wogengang von der offenen See. Zwischen den beiden Inseln erhielt er nun auch die Wellen von der Seite und mußte sogar seine Segelfläche verkleinern, um nicht zu weit übergebeugt zu werden.

Wurde die Überfahrt damit auch etwas verzögert, so konnte sich das doch nur um wenige Stunden handeln, und am folgenden Tage mußte der »Alert« etwa mit Sonnenaufgang in Sicht der Insel Sankt-Barthelemy sein.

Ihrer Gewohnheit nach griffen die Passagiere mit zu, wenn vielleicht Schoten nachschießen gelassen oder angezogen werden sollten. Übrigens wurde es nicht nötig zu lavieren oder scharf gegen den Wind zu segeln. Tony Renault und Magnus Anders bedienten abwechselnd das Steuer als zwei richtige, [198] wohlgeübte Steuermänner, die, den Blick unverwandt auf die Richtungslinie des Kompasses geheftet, es zu verhindern wußten, daß das Schiff etwa im Zickzack dahinfuhr.

Gegen fünf Uhr des Nachmittags wurde ein Dampfer in Südwest gemeldet, der, die gleiche Richtung wie der »Alert« einhaltend, den Dreimaster überholen mußte.

Jetzt trat Corty sofort an die Ruderpinne, da Harry Markel womöglich nicht in die Nähe des Dampfers kommen wollte.

Der »Alert« lief deshalb um ein Quart an, um in seinem Kurse nicht gekreuzt werden zu können.

Dieser Dampfer – übrigens ein französischer, was man an dem an seinem Großmaste flatternden Wimpel erkannte – war ein Kriegsschiff und gehörte zu dem Typus der Kleinen Kreuzer. Tony Renault und Louis Clodion hätten ihn beim Vorüberfahren gern begrüßt, um auch von ihm einen Flaggengruß zu erhalten. Da die kürzeste Entfernung, die zwischen den beiden Fahrzeugen liegen blieb, infolge der Kursänderung Harry Markels aber immer noch eine gute Meile betrug erübrigte es sich, die Flagge zu hissen.

Was den Kreuzer betraf, der mit großer Schnelligkeit nordwestwärts dahindampfte, schien er nach einer der Antillen bestimmt zu sein, doch war es auch möglich daß er einem der südlichen Häfen der Vereinigten Staaten zusteuerte, z. B. Key West an der unteren Spitze von Florida, wo sich Schiffe aller Nationalitäten häufig aufzuhalten und frisch zu verproviantieren pflegen.

Der Kreuzer hatte den »Alert« übrigens bald hinter sich gelassen und vor Sonnenuntergang war seine Rauchsäule schon unter dem Horizont verschwunden.

»Glückliche Reise, rief John Carpenter, und auf das Vergnügen, dich nie wieder zu sehen!... Ich liebe es nun einmal nicht, in Begleitung von Kriegsschiffen zu segeln!

– Ebensowenig, wie ich mich gern inmitten einer Rotte von Konstablern befinde, setzte Corty hinzu. Die haben die alberne Gewohnheit, unsereinen zu fragen woher man kommt und wohin man geht. Man hat aber doch keine Lust, das jedem auf die Nase zu binden.«

Die Insel Sankt-Barthelemy, das einzige Besitztum Schwedens in Westindien liegt ganz draußen an der Bank, die von der englischen Insel Anguilla [199] und der französisch-holländischen Insel Sankt-Martin gebildet wird. Wie schon erwähnt, würde eine Bodenerhebung von neunzig Fuß genügen, diese drei Inseln zu einer einzigen zu verschmelzen, die dann eine Länge von fünfundsiebzig Kilometern hätte. Bei der plutonischen Natur des betreffenden Meeresbodens wäre es auch gar nicht zu verwundern, wenn diese Vereinigung in der Zukunft einmal stattfände.

Roger Hinsdale bemerkte noch, als von einer solchen Veränderung die Rede war, daß dieser Bodenaufstieg die ganzen Antillen, die Im Winde wie die Unter dem Winde, verbinden könnte. Denkt man sich, freilich in sehr fernliegender Zeit, diese Inseln alle miteinander vereinigt, vielleicht zu einem großen Festlande, das am Eingange des Meerbusens von Mexiko läge oder vielleicht gar mit dem Gebiete Nordamerikas verschmolzen wäre... wer weiß, wozu das führen könnte, wenn England, Frankreich, Holland und Dänemark ihren Besitz weiter behaupten wollten?

Wahrscheinlich zwänge dann die Monroë-Doktrin die Mächte unter einen Hut, da nach dieser jene Frage zu Gunsten der Vereinigten Staaten entschieden werden müßte. Amerika den Amerikanern, nur den Amerikanern! Diese fügten dann ihrer Flagge einen neuen Stern den fünfzigen hinzu, die zur Zeit unserer Erzählung darin glänzten.

Was die Insel Sankt-Barthelemy angeht, so kommt ihr eigentlich nur die Bezeichnung eines Eilandes zu, denn ihre Länge überschreitet bei einer Oberfläche von einundzwanzig Quadratkilometern noch nicht einmal dritthalb Lieues.

Sankt-Barthelemy wird durch das Fort Gustav verteidigt. Gustavia, seine Hauptstadt, und jetzt kaum von Bedeutung, könnte wohl an solcher gewinnen, denn es liegt bequem an der Fahrstraße der zwischen den Antillen dieser Gegend verkehrenden Küstenschiffe.

Vor neunzehn Jahren war hier Magnus Anders geboren worden, dessen Eltern sich schon seit den letzten fünfzehn Jahren in Gothenburg in Schweden angesiedelt hatten.

Die Insel hat nach und nach verschiedene Besitzer gehabt. Von 1648 bis 1784 war sie französisch. Danach trat sie Frankreich an Schweden ab gegen Überlassung einer Handelsniederlassung im Kattegat, und zwar in Gothenburg, sowie gegen einige andere politische Zugeständnisse. Doch obwohl sie infolge dieses Vertrages skandinavisch geworden war, blieb sie bei ihrer schon lange [200] ansässigen normännischen Bevölkerung nach Anschauung, Sitte und Geschmack im Grunde doch französisch und wird es wahrscheinlich für immer sein.


Pflücken von Kokosnüssen.

Als die Sonne hinter dem Horizonte verschwunden war, war Sankt-Barthelemy noch nicht in Sicht. Doch da es höchstens noch einige zwanzig Meilen entfernt lag, mußte der »Alert« bei Tagesanbruch daselbst vor Anker gehen können, obgleich sich der Wind mehr und mehr gelegt hatte und man in der Nacht nur auf wenig Fahrt rechnen konnte.

Trotzdem verließ der junge Schwede schon früh vier Uhr seine Kabine, erkletterte die Wanten des Großmastes und setzte sich auf der Raa des großen Bramsegels fest.

[201] Magnus Anders wollte der erste sein, der das Auftauchen seiner Insel verkündete, und wirklich erkannte er kurz vor sechs Uhr den ziemlich großen Kalkberg, der bei einer Höhe von dreihundertzwei Metern ihr Inneres beherrscht. Da jubelte er »Land! Land!« mit so durchdringender Stimme, daß seine Kameraden eiligst auf dem Deck erschienen.

Der »Alert« drehte nun sofort auf die Westküste von Sankt-Barthelemy zu, um Carénage, dessen bedeutendsten oder richtiger einzigen Hafen, anzulaufen.

Obwohl es nur mäßig stark wehte und man dicht am Winde segeln mußte, kam der Dreimaster doch recht schnell vorwärts und fand je näher der Küste desto ruhigeres Wasser.

Kurz nach sieben Uhr bemerkte man auf dem Gipfel des erwähnten Berges eine Anzahl Personen an der Stelle, wo die Kolonisten von jeher die schwedische Flagge aufzuziehen pflegten.

»Das ist eine jeden Morgen wiederkehrende kleine Feierlichkeit, sagte Tony Renault, und die schwedische Flagge wird jedenfalls mit einem Kanonenschuß begrüßt werden.

– Mich wundert nur, bemerkte Magnus Anders, daß das heute noch nicht schon geschehen sein sollte. Gewöhnlich wählt man dazu die Stunde des Sonnenaufganges, und jetzt steht doch die Sonne schon gegen drei Stunden am Himmel.«

Diese Bemerkung war ganz richtig, und das legte die Frage nahe, ob es sich bei dem, was man sah, wohl um die gewohnte Feierlichkeit handelte oder nicht.

Der Hafen von Gustavia bietet Schiffen von nicht mehr als zwei bis drei Meter Tiefgang vortreffliche Ankerplätze, die im Schutze von Sandbänken liegen, woran sich die Meereswellen brechen.

Was die Aufmerksamkeit der jungen Reisenden zuerst erregte, war die Anwesenheit des Kreuzers, den sie am Tage vorher gesehen hatten. Mitten im Hafen lag er vor Anker mit gelöschten Feuern und eingebundenen Segeln, wie ein Schiff, das einen längeren Aufenthalt nehmen soll. Das machte Louis Clodion und Tony Renault besonderes Vergnügen, denn sie rechneten darauf, dem Kreuzer, einer freundlichen Aufnahme sicher, einen Besuch abzustatten. Desto unangenehmer und sogar recht beunruhigend war das Erblicken des Kriegsschiffes Harry Markel und seiner Mannschaft.

[202] Der »Alert« befand sich nicht mehr weiter als eine Viertelmeile vom Hafen und Harry Markel konnte es, selbst wenn er's gewollt hätte, nicht umgehen, dahin einzulaufen, da ja Sankt-Barthelemy als Station in den Reiseplan aufgenommen war. Wohl oder übel schickte er sich, übrigens weniger ängstlich als John Carpenter und die anderen, eben an, den Eingang zu passieren, als ein Kanonenschuß über das Wasser dröhnte.

Gleichzeitig stieg auf dem Gipfel des Berges eine Flagge in die Höhe.

Wie verwunderten sich aber alle – eine Verwunderung, die sich bei Magnus Anders zum sprachlosen Erstaunen steigerte – als man vom Schiffe aus erkannte, daß die Flagge nicht die schwedischen, sondern die französischen Farben zeigte.

Harry Markel und seinen Spießgesellen war es trotz ihrer Verwunderung doch herzlich gleichgültig, ob hier die Flagge dieses oder jenes Landes wehte; sie kannten ja nur eine: die schwarze Seeräuberflagge, unter der auch der »Alert« fahren sollte, wenn vor seinem Bug erst das Wasser des Großen Ozeans aufschäumte.

»Die Flagge Frankreichs! hatte Tony Renault gerufen.

– Die Trikolore des Vaterlandes? fiel Louis Clodion ein.

– Sollte der Kapitän Paxton sich getäuscht haben, fragte Roger Hinsdale, und hätte er fälschlicherweise den Kurs nach Guadeloupe oder Martinique eingeschlagen?«

Harry Markel hatte jedoch keinen solchen Irrtum begangen. Der »Alert« war tatsächlich vor Sankt-Barthelemy eingetroffen, und drei Viertelstunden später ging er im Hafen von Gustavia vor Anker.

Magnus Anders fühlte sich natürlich recht bekümmert. Bisher hatten Dänen und Franzosen in Sankt-Thomas, Sainte-Croix und Sankt-Martin die Flaggen ihres Vaterlandes flattern sehen, an dem Tage aber, wo der junge Schwede die einzige Kolonie seines Heimatlandes betreten wollte, an diesem Tage entrollte sich keine blaugelbe Flagge.

Eine Erklärung dafür blieb nicht lange aus: die Insel Sankt-Barthelemy war für die Summe von 277.500 Francs an Frankreich abgetreten worden. Der Vertrag hatte auch den Beifall der Kolonisten gefunden, die ja zum allergrößten Teile normännischer Abstammung waren, denn von dreihunderteinundfünfzig Stimmberechtigten hatten sich dreihundertfünfzig für die Annahme der französischen Oberhoheit entschieden.

[203] Der arme Magnus Anders konnte dagegen natürlich keinen Einspruch erheben, und Schweden hatte ja auch recht triftige Gründe, sich seines einzigen Besitzes im westindischen Archipel zu entäußern. Der junge Mann mußte also gute Miene zum bösen Spiele machen.

»Alles in allem, erklärte er denn auch, indem er sich dem Ohre seines Kameraden Louis Clodion zuneigte, wenn es denn einmal so sein sollte, daß die Insel unter eine andere Flagge kam, so ist es für sie am besten, daß das die Trikolore Frankreichs war!«


Ende des ersten Teiles.

2. Teil

1. Kapitel
Erstes Kapitel.
Antigoa.

Eine Besitzveränderung wie die bezüglich Sankt-Barthelemys zu Gunsten Frankreichs, mit der Schweden seine einzige Kolonie im Antillenmeere aufgab, [205] ist bezüglich Antigoas zum Nachteil des Vereinigten Königreichs gewiß niemals zu befürchten. Hatte Magnus Anders seine Heimat nicht mehr unter skandinavischer Oberhoheit wiedergefunden, so fand Hubert Perkins die seinige jedenfalls unverändert als Kolonialbesitz Großbritanniens wieder.

England entäußert sich nicht gerne dessen, was es einmal sein nannte: Es hat lange Zähne und zeigt, ebenso aus Instinkt wie aus sehr greifbarem Interesse, weit eher Neigung. sich anzueignen, was andere Mächte sich an Inseln oder Festlandsgebieten erworben haben. England besaß auch und besitzt noch heute den größten Teil der westindischen Inselwelt, und wer weiß, ob in Zukunft nicht noch über mehr dieser Inseln als heute der Unionsjack flattern wird.

Antigoa gehörte übrigens nicht immer dem habgierigen Albion. In früherer Zeit und bis zum Anfange des 17. Jahrhunderts von Karaïben bewohnt, fiel es später in die Hände der Franzosen.

Dieselbe Ursache aber, die jene Eingebornen schließlich zum Weggange von der Insel bestimmt hatte, veranlaßte nur wenige Monate später auch die Franzosen, nach der Insel Sankt-Christoph, woher sie gekommen waren, zurückzukehren. Auf Antigoa fehlt es nämlich gänzlich an Flüssen; kaum trifft man auf einige Rios, die immer nur für kurze Zeit von Regenniederschlägen gespeist werden. Zur Deckung des Bedarfs der Kolonie wäre es also notwendig gewesen, große Becken zur Ansammlung des Wassers zu erbauen.

Das begriffen auch die Engländer und führten es, kurz entschlossen, aus, als sie sich 1632 auf Antigoa eingerichtet hatten. Die Sammelbecken wurden dabei in zweckmäßigster Weise angelegt, um das Land umher reichlich bewässern zu können. Da sich der Erdboden im übrigen vortrefflich zum Anbau von Tabak eignete, widmeten sich die Pflanzer mit Vorliebe dieser Kultur, die jener Zeit wesentlich zum Aufblühen der Kolonie beitrug.

Im Jahre 1668 kam es dann zum Kriege zwischen Frankreich und England. Eine in Martinique ausgerüstete Expedition segelte nach Antigoa. Die mitgeführten Truppen zerstörten die Anpflanzungen und entführten die Negerarbeiter... Darauf lag die Insel ein ganzes Jahr so verödet, als ob sie noch niemals auch nur einen Bewohner gehabt hätte.

Ein reicher Grundbesitzer von Barbados, der Colonel Codington, konnte sich aber nicht dabei beruhigen, daß die auf Antigoa ausgeführten Arbeiten gänzlich verloren sein sollten. Er siedelte mit einer großen Arbeiterschar dahin über, zog auch bald noch andere Kolonisten heran, und dadurch, daß er mit [206] dem Anbau des Tabaks noch den des Zuckerrohrs verband, hob er die Insel bald wieder zu ihrem früheren Wohlstand.

Der Colonel Codington wurde später zum Generalgouverneur aller der England untertänigen Inseln Unter dem Winde ernannt. Ein energischer Verwalter, wußte er den Anbau des Bodens außerordentlich zu heben und daneben den Handel so tüchtig zu fördern, daß dieser auch später seine Lebhaftigkeit nicht wieder einbüßte.

Als Hubert Perkins an Bord des »Alert« hier eintraf, sollte er also Antigoa ebenso blühend wiederfinden, wie er es, um seine weitere Ausbildung in Europa zu erhalten, fünf Jahre vorher verlassen hatte.

Die Entfernung zwischen Sankt-Barthelemy und Antigoa beträgt nicht mehr als siebzig bis achtzig Seemeilen. Auf offener See geriet der »Alert« aber zuerst in eine völlige Windstille, und dieser folgte dann eine ganz schwache Brise, so daß er nur sehr langsam vorwärts kam. Dabei passierte er Sankt-Christoph, jene von den Engländern, Franzosen und Spaniern umstrittene Insel, die 1713 durch den Frieden von Utrecht in den dauernden Besitz Englands überging. Den Namen Christoph führt sie übrigens nach Columbus, der diese Insel nach Desirade, Dominique, Guadeloupe und Antigoa entdeckte. Sie bildet also gewissermaßen die Signatur des großen genuesischen Seefahrers auf dem prächtigen Blatte Westindiens.

Sankt-Christoph, seiner Gestaltung nach etwa einer Gitarre ähnelnd und von den Ureinwohnern die »fruchtbare Insel« genannt, galt den Franzosen und den Engländern als »die Mutter der Antillen«. Die jungen Passagiere bewunderten auch aufrichtig deren natürliche Reize, als sie, kaum eine Viertelmeile von ihrem Ufer entfernt, daran vorübersegelten. Sankt-Kitts, ihre Hauptstadt, liegt am Fuße des Affenbergs und eingebettet zwischen Gärten und Palmenhamen, an einer Bucht der westlichen Küste. Ein Vulkan, dessen Name »Misery« (Elend) nach der Emanzipation der Neger gegen »Liberty« (Freiheit) vertauscht wurde, steigt bis fünfzehnhundert Meter empor und aus seinen Abhängen dampfen unausgesetzt Fumarolen von schweseligen Gasen. Im Grunde zweier erloschener Krater sammelt sich das Regenwasser, das der Insel ihre Fruchtbarkeit sichert. Sankt-Christoph hat, bei einer Bodenfläche von hundertsechsundsiebzig Quadratkilometern, eine Bevölkerung etwa von dreißigtausend Seelen, und man betreibt hier hauptsächlich den Anbau von Zuckerrohr, das einen ganz vorzüglichen Zucker liefert.

[207] Gewiß wäre es recht erwünscht gewesen, auf Sankt-Christoph vielleicht vierundzwanzig Stunden zu verweilen und hier die Weideplätze und die Zuckerrohrkulturen zu besuchen. Doch abgesehen davon, daß das Harry Markel gar nicht paßte, durfte man auch nicht von dem Reiseplane abweichen, und außerdem stammte ja auch keiner der Pensionäre der Antilian School von dieser Insel her.

Am Morgen des 12. August wurde der »Alert« von den Semaphoren Antigoas gemeldet, das Christoph Columbus nach einer der Kirchen von Valladolid auf diesen Namen getauft hatte. Aus größerer Entfernung war die Insel nicht zu sehen gewesen, denn sie ist ziemlich niedrig und reicht nirgends über zweihundertsiebzig Meter hinaus. Dagegen ist der Umfang Antigoas, verglichen mit dem der andern Antillen, ziemlich beträchtlich: er beläuft sich nämlich auf zweihundertneunundsiebzig Quadrat- (See-)Meilen.

Als die britische Flagge am Hafeneingang sichtbar wurde, begrüßte sie Hubert Perkins mit einem herzhaften Hurra, in das auch seine Kameraden mit einstimmten.

Der »Alert« lief von Norden her, wo der Hafen und die Stadt liegen, nach Antigoa ein.

Harry Markel war mit dem hiesigen Fahrwasser hinreichend bekannt, so daß er sich keines Lotsen zu bedienen brauchte. Trotz aller Schwierigkeiten der Zugänge zur Bucht steuerte er ohne Zögern hinein, ließ dabei das Fort James zur Linken, die Loblotyspitze zur Rechten und ging an einer Stelle vor Anker, wo alle nicht über vier bis fünf Meter eintauchenden Schiffe einen vorzüglichen Lageplatz finden.

Im Hintergrunde dieser Bucht erhebt sich die Hauptstadt Sankt-John, die gegen sechzehntausend Einwohner zählt. Die mit ihren sich rechtwinklig schneidenden Straßen an ein Schachbrett erinnernde Stadt bietet einen hübschen Anblick im Schmucke des üppigen Grüns, das sich zwischen ihr in voller Tropenpracht entfaltet.

Kaum war der »Alert« in der Einfahrt zur Bucht erschienen, als schon ein von vier Rudern getriebenes Boot vom Kai des Hafens abstieß und auf den Dreimaster zusteuerte.

Natürlich erregte das bei Harry Markel und seinen Gefährten eine erneute und im Grunde nicht ungerechtfertigte Beunruhigung. Lag doch die Möglichkeit vor, daß die englische Polizei Kenntnis bekommen hätte von dem Drama, dessen Schauplatz der »Alert« in der Farmarbucht gewesen war; es konnten ja noch[208] [211] andere Leichen, vielleicht sogar die des Kapitäns Paxton, gefunden worden sein. Wer war dann der Mann, der dessen Stellung jetzt an Bord des »Alert« einnahm?

Bald sollte jedoch alle Unruhe schwinden: Das Boot brachte nämlich die Familie des jungen Passagiers. Sein Vater, seine Mutter und seine beiden kleinen Schwestern hatten nicht Geduld genug gehabt, ihn an der Landungsbrücke zu erwarten. Seit mehreren Stunden harrten sie schon der Ankunft des Schiffes, stiegen dann an Bord, ehe der »Alert« noch festgelegt war, und Hubert Perkins fiel seinen Eltern jubelnd in die Arme.

Die Insel Antigoa ist in administrativer Hinsicht der Hauptplatz einer sogenannten »Residenz«, zu der die Nachbarinseln Barbuda und Redonda gehören. Gleichzeitig trägt sie die Hauptstadt jener Gruppe der englischen Antillen, die man unter dem Namen Leeward-Islands, d. h. die Inseln Unter dem Winde – die von den Jungferninseln bis Dominique – zusammenfaßt.


Antigoa. - Sankt-John, King's Street.

Auf Antigoa haben ihren Sitz der Gouverneur und die Präsidenten der Exekutivbehörden und der gesetzgebenden Versammlung, deren Mitglieder zur Hälfte von der Krone ernannt und zur Hälfte von den Steuerpflichtigen erwählt werden. Hierzu verdient wohl bemerkt zu werden, daß es auf der Insel mehr Beamte als freie Wahlberechtigte gibt, ein Verhältnis, das also nicht bloß eine Eigentümlichkeit der französischen Kolonien ist.

Herr Perkins, ein Mitglied der Exekutivbehörde, stammte von den alten Kolonisten ab, die einst mit dem Colonel Codington hierher gekommen waren, und seine Familie hatte die Insel niemals verlassen. Nachdem er seinen Sohn nach Europa begleitet hatte, war er nach seinem Besitztum auf Antigoa zurückgekehrt.

Als Hubert Perkins seinen Vater, seine Mutter und seine kleinen Schwestern umarmt hatte, folgten die üblichen Vorstellungen. Zuerst von allen empfing Horatio Patterson einen warmen Händedruck von Herrn Perkins, und dann kamen auch die jungen Reisegenossen an die Reihe. Das größte Lob erntete der Mentor aber von Frau Perkins wegen des blühenden Gesundheitszustandes aller Passagiere des »Alert«... ein Lob, von dem Patterson einen großen Teil dem Kapitän Paxton zusprechen zu müssen glaubte.

Harry Markel nahm dieses übrigens mit der gewohnten Kälte entgegen, und nach einem flüchtigen Gruße begab er sich nach dem Vorderteil, um die Festlegung des Schiffes zu überwachen.

[211] Perkins fragte zunächst Patterson, wie lange der Aufenthalt in Antigoa dauern werde.

»Vier Tage, Herr Perkins, lautete die Antwort. Unsere Tage sind gezählt, wie man's vom menschlichen Leben zu sagen pflegt, und wir sind an ein Programm gebunden, von dem wir nicht abweichen dürfen.

– Das ist freilich eine recht kurze Zeit, bemerkte Frau Perkins.

– Ja... leider, meine Liebe, antwortete ihr Gatte, doch die Reisedauer ist von vornherein festgestellt, und in dieser sollen noch mehrere Antillen besucht werden.

Ars longa, vita brevis, citierte Patterson, der hier ein lateinisches Sprichwort für angebracht hielt.

– Wie dem auch sei, sagte Herr Perkins, Herr Patterson und die Kameraden meines Sohnes werden, solange sie hier weilen, unsere Gäste sein.

– Herr Perkins, ließ sich da Roger Hinsdale vernehmen, wir sind unser zehn an Bord...

– Ja, ja, antwortete Perkins, meine Wohnung wäre freilich nicht geräumig genug, euch, liebe junge Freunde, alle zu beherbergen. Wir werden schon noch einige Hotelzimmer in Anspruch nehmen müssen, zu Tische aber sollen alle bei uns sein.

– In diesem Falle, geehrter Herr Perkins, meinte Louis Clodion, wäre es doch vielleicht richtiger, wir blieben – natürlich außer Hubert – alle auf dem ›Alert‹ Tagsüber gehörten wir dagegen Ihnen vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne.«

Dieser entschieden richtige Vorschlag fand auch die Zustimmung des Herrn Perkins, während Harry Markel es lieber gesehen hätte, wenn seine Passagiere sich auf dem Lande einquartiert hätten. Das Schiff blieb in diesem Falle gewiß mehr von Besuchern verschont, deren Anwesenheit er nun einmal fürchtete.

Der Kapitän wurde noch obendrein ebenfalls zur Familientafel im Perkinsschen Hause eingeladen, er schlug das jedoch wie immer ab, und Hubert verständigte seinen Vater dahin, daß er auf seinem Wunsche nicht weiter bestehen sollte.

Nach der Abfahrt des Bootes mit Hubert beschäftigten sich dessen Kameraden mit der Ordnung ihrer Angelegenheiten und damit, einige Briefe zu schreiben, die noch denselben Abend mit dem Postdampfer nach Europa abgehen [212] sollten. Besondere Erwähnung verdient darunter die enthusiastische Schilderung Horatio Pattersons, die der Frau Patterson voraussichtlich nach zwanzig Tagen in die Hände kam. Ein ganz ähnlicher Bericht war an den Direktor der Antilian School, 314. Oxfordstreet. London (Großbritannien), gerichtet, ein Bericht, aus dem Herr Julian Ardagh ebenso zuverlässige wie lehrreiche Mitteilungen über die Preisträger der Mistreß Kathlen Seymour entnehmen konnte.

Inzwischen beendigte Harry Markel seine Manöver, wie immer mit der Vorsorge, das Schiff möglichst in der Mitte des Hafens zu verankern. Die Mannschaften, die die Passagiere ans Land zu setzen hatten, durften dieses auf keinen Fall selbst betreten. Auch der Kapitän gedachte sich niemals dahin zu begeben, außer am Ankunfts- und am Abfahrtstage, wo er das zur Erfüllung gewisser Formalitäten im Seeamte nicht umgehen konnte.

Gegen elf Uhr wurde das große Boot klar gemacht. Zwei Matrosen an den Riemen und Corty am Steuer beförderten die Gäste des Herrn und der Frau Perkins nach dem Kai.

Eine Viertelstunde später waren die jungen Leute in einer schönen Wohnung der obern Stadt eingetroffen und nahmen an einer reichbesetzten Tafel Platz, wo sehr bald ein lebhaftes Gespräch über die Vorfälle während der Fahrt in Gang kam.

Der fünfundvierzigjährige Herr Perkins, dessen Haar und Bart schon mit etwas Grau vermischt waren, hatte eine würdige Haltung, ein einnehmendes Auftreten und recht freundlich blickende Augen... lauter Eigenschaften, die sich später bei seinem Sohne voraussichtlich wiederfanden. In der Kolonie stand er im höchsten Ansehen, schon um der Dienste willen, die er dieser als Mitglied der Exekutivbehörde leistete. Gleichzeitig ein Mann von gutem Geschmack und wohlunterrichtet in allem, was die Geschichte Westindiens betraf, konnte er Horatio Patterson mancherlei recht wertvolle und zuverlässige Auskünfte liefern. Selbstverständlich verfehlte der Mentor nicht, sich das zunutze zu machen und dadurch sein Reisetagebuch zu bereichern, das er mit derselben peinlichen Ordnung wie daheim seine Kassenbücher führte.

Frau Perkins, von Geburt eine Kreolin, war nahezu vierzig Jahre alt. Die liebenswürdige, aufmerksame und mildtätige Dame widmete sich vollständig der Erziehung ihrer beiden kleinen Töchter Berta und Mary, die jetzt zehn und zwölf Jahre zählten. Leicht kann man sich wohl auch die Freude der vortrefflichen[213] Mutter vorstellen, ihren Sohn wiederzusehen und ihn nach vierjähriger Abwesenheit einmal wieder ans Herz zu drücken.

Beim Frühstück wurde auch erwähnt, daß sich nun der Zeitpunkt näherte, wo Hubert endgültig nach Antigoa zurückkehren würde, das seine Angehörigen niemals zu verlassen gedachten. Schon nach einem Jahre sollte sein Aufenthalt in der Antilian School zu Ende sein.

»Wir werden ihn schmerzlich vermissen, erklärte John Howard, der noch zwei Jahre in der Anstalt der Oxfordstreet zuzubringen hatte, denn Hubert war immer ein so guter Kamerad...

– An den wir uns stets mit Freuden erinnern werden, fiel Clodion ein.

– Nun, wer weiß denn, ob Sie nicht später Gelegenheit haben werden, einander wieder zu begegnen? bemerkte Herr Perkins. Vielleicht kehren doch von Ihnen, meine jungen Freunde, noch einige nach den Antillen zurück. Wenn dann Hubert in das Handelshaus von Antigoa eingetreten ist, soll er sich eine Frau wählen...

– Und zwar so bald wie möglich, setzte Frau Perkins hinzu.

– He... Hubert verheiratet! rief Tony Renault. O, das möcht' ich gern sehen!

– Und warum solltest du bei mir nicht Trauungszeuge sein? antwortete Hubert lachend.

– Scherzen wir nicht darüber, ihr jungen Leute, ließ sich Patterson salbungsvoll vernehmen. Als Grundlage der menschlichen Gesellschaft ist die Ehe die wichtigste und achtungswerteste Einrichtung auf Erden!«

Wurde dieser Gesprächsgegenstand hiermit auch verlassen, so veranlaßte er doch Frau Perkins, sich nach Frau Patterson zu erkundigen, von der sie etwas näheres zu hören wünschte. Der Mentor ließ sich darum nicht lange bitten. Er gestand, daß er sich danach sehnte, einen Brief von seiner Gattin zu erhalten, und daß er hoffte, einen solchen in Barbados noch vor Antritt der Rückreise vorzufinden. Dann zog er aus der Tasche eine Photographie, die er stets bei sich trug, und zeigte sie nicht ohne einigen Stolz der Dame des Hauses.

»O, das ist das Bild einer guten, liebenswürdigen Frau, meinte Frau Perkins.

– Der würdigen Gattin des Herrn Horatio Patterson, setzte Herr Perkins hinzu.

[214] – Ja, sie ist meine Lebensgefährtin, antwortete Patterson mit leichter Rührung, und das einzige, was ich vom Himmel erflehe, ist, sie bei meiner Heimkehr ebenso wiederzufinden, so wie sie war hinc et nunc!«

Was Patterson unter den letzten Warten verstand, hätte freilich niemand sagen können. Er hatte sie mit gedämpfter Stimme gesprochen, und so blieben sie ziemlich unbeachtet.

Nach dem Frühstück kam noch die Rede auf einen Besuch von Sankt-John und auf einen Spaziergang in dessen Umgebung. Zunächst gewährte man sich jedoch ein Stündchen zum Ausruhen in dem schönen Garten unter den großen Bäumen der Villa. Herr Perkins gab Patterson manche interessante Auskunft über die Aufhebung der Sklaverei in Antigoa. Im Jahre 1824 war es gewesen, wo England die Emanzipationsakte verkündete, und zwar, abweichend von dem Verfahren in anderen Kolonien, ohne Übergangsbestimmungen, ohne daß sich die Neger also langsam an die neue Lebensführung hätten gewöhnen können. Die Akte enthielt eigentlich gewisse einschränkende Bestimmungen, die einen Rückschlag verhindern sollten. Hier fanden diese auf die Neger aber keine Anwendung und diesen wurden unvermittelt alle Vorteile und alle Nachteile einer unbeschränkten Freiheit zu teil.

Erleichtert wurde der schroffe Wechsel hier allerdings durch das gewohnte Verhältnis zwischen den Herren und den Sklaven, die förmliche Familien bildeten. Und obwohl die Abolitionsakte plötzlich vierunddreißigtausend Neger befreite, während die Kolonie nur zweitausend Weiße zählte, kam es doch zu keinem Exzeß und war keine rohe Gewalttat zu beklagen. Beide Parteien kamen bald zu einem vollständigen Einvernehmen, und die Befreiten verlangten nichts anderes, als auf den Pflanzungen als Diener oder als Lohnarbeiter zu bleiben.

Die Kolonisten hatten übrigens von jeher für das Wohlergehen ihrer alten Sklaven gewissenhaft gesorgt. Sie sicherten deren Lebensunterhalt durch regelmäßige und lohnende Arbeit und bauten für sie bessere Wohnstätten als die früheren Hütten. Die auch besser gekleideten Schwarzen, die sich früher fast ausschließlich von Knollenfrüchten und eingesalzenen Fischen genährt hatten, gewöhnten sich allmählich an frisches Fleisch, und überhaupt erfuhr ihre Ernährung eine wesentliche Besserung.

Waren das glückliche Folgen für die Farbigen, so waren sie auch nicht minder von Vorteil für die Kolonie, die dabei in erwünschtester Weise aufblühte. [215] Die öffentlichen Einnahmen wuchsen dabei ununterbrochen und die Verwaltungskosten verminderten sich nach allen Seiten.

Bei ihren Ausflügen durch die Insel sahen Patterson und seine jungen Begleiter mit Erstaunen die sorgsam angebauten Felder, die trotz des kalkhaltigen Untergrundes eine reiche Fruchtbarkeit zeigten. Überall traf man auf gut unterhaltene Farmen, und überall hatte man sich die neuesten Fortschritte der Landwirtschaft zu eigen gemacht.


Zuckerrohrernte.

Wie schon erwähnt, war die natürliche Bewässerung Antigoas unzureichend gewesen, und man hatte große Bassins zur Ansammlung des Regenwassers herstellen müssen. Hierbei bemerkte Herr Perkins, daß der Name Yacama, d. h. die Sprudelnde oder etwa Bachreiche, den die Eingebornen der Insel gegeben hatten, natürlich nur ironisch zu nehmen sei. Die sehr zweckmäßig durchgeführte Verteilung des Wassers genügte jetzt allen Ansprüchen. Abgesehen von der Erhöhung des Gesundheitszustandes Antigoas sichert die Bewässerungsanlage die Insel auch gegen Wassernotjahre, wie solche zweimal, 1779 und 1784, hier recht schweres Unglück angerichtet hatten. Die Kolonisten waren damals in der Lage von Passagieren, die alle Qualen des Durstes erlitten, und damals gingen Tausende von Tieren und auch nicht wenige Menschen aus Mangel an Wasser elend zu Grunde.


An dem Schiffe legte ein Boot an. (S. 218.)

Das berichtete Herr Perkins, während er seinen Gästen, nicht ohne gerechtfertigte Befriedigung, die zweiundeinhalb Millionen Kubikmeter fassenden Zisternen zeigte, die Sankt-John eine durchschnittlich [216] größere Wassermenge zuführen, als sie die größeren europäischen Städte erhalten.

Die unter Führung des Herrn Perkins unternommenen Ausflüge beschränkten sich nicht auf die nächste Umgebung der Hauptstadt, sie wurden aber immer so eingerichtet, daß die Passagiere sich jeden Abend auf den »Alert« begeben konnten.

[217] Dabei besuchten die Touristen unter anderem den andern Hafen Antigoas, Englisch-Harbour, der an der Südküste der Insel liegt. Dieser besser als der von Sankt-John geschützte Hafen war schon früher mit Militäretablissements, mit Kasernen und Arsenalen zur Verteidigung Antigoas ausgerüstet worden. Eigentlich besteht er aus einer Gruppe von Kratern, die sich allmählich soweit gesenkt haben, daß das Wasser des Meeres in sie eingedrungen ist.

Mit den Ausflügen, wie bei den Mahlzeiten und Ruhestunden in der Villa Perkins, gingen die für den hiesigen Aufenthalt bestimmten vier Tage schnell dahin. Am folgenden Morgen sollte die Reise weiter gehen, und obgleich die Hitze in der jetzigen Jahreszeit recht stark war, hatten die jungen Leute doch nicht zu arg davon zu leiden. Während Hubert Perkins bei seiner Familie blieb, erholten sich dann seine Kameraden von den gehabten Anstrengungen in ihren Kabinen. Tony Renault behauptete da gelegentlich, wenn Hubert nicht so wie sie zurückkehrte, müsse »etwas vorliegen«, z. B. seine spätere Vermählung mit einer jungen Kreolin auf Barbados, so daß wenigstens seine Verlobung noch vor der Rückkehr nach Europa gefeiert werden würde.

Alle lachten über diese Phantasien, doch sorgte der wackere Patterson dafür, daß sie nicht zu ernst genommen würden.

Am Tage vor der Abfahrt, am 15. August, sollte Harry Markel noch einmal eine unerwartete Beunruhigung erfahren.

Am Nachmittage legte an dem Schiffe ein Boot an, das von einer englischen Brigg, der von Liverpool eingetroffenen »Flag«, abgestoßen war. Einer der Matrosen der Brigg bestieg das Deck und verlangte den Kapitän zu sprechen.

Es wäre doch kaum angegangen, ihm zu antworten, daß der Kapitän augenblicklich nicht an Bord sei, da Harry Markel, seitdem der »Alert« vor Anker lag, ja niemals ans Land gegangen war.

Harry Markel sah sich den Mann erst durch das Fenster seiner Kabine näher an. Er hörte auch dessen Worte, hütete sich aber, von jenem gesehen zu werden. Übrigens kannte er den Matrosen nicht und wahrscheinlich war er selbst diesem ebenso unbekannt. Immerhin war es möglich, daß der Mann früher mit dem Kapitän Paxton, dem Befehlshaber des »Alert«, gefahren war und diesem nun einen Besuch abstatten wollte.

Darin lag die Gefahr – hier wie bei jedem Hafenaufenthalte – eine Gefahr, die nur ein Ende an dem Tage nahm, wo der »Alert« nach der Abfahrt von Barbados keine weitern Antillen mehr anzulaufen hatte.

[218] Corty empfing den Matrosen, sobald dieser das Deck betreten hatte.

– »Ihr wollt den Kapitän Paxton sprechen? fragte er.

– Ja, Kamerad, antwortete der Matrose, wenn es der ist, der den »Alert« von Liverpool befehligt.

– Kennt ihr ihn denn?

– Nein, doch ich habe einen Freund, der zu seiner Mannschaft gehören muß.

– Ah so... und der heißt?...

– Forster... John Forster.«

Ebenso beruhigt wie Corty selbst, trat Harry Markel nach diesen Worten heraus.

– »Ich bin der Kapitän Paxton, begann er.

– Herr Kapitän... sagte der Matrose, indem er höflich die Hand an die Wollmütze legte.

– Nun, was wünscht ihr?

– Einem Kameraden die Hand zu drücken.

– Und dessen Name?...

– John Forster.«

Harry Markel wollte anfänglich antworten, daß John Forster in der Bai von Cork ertrunken wäre; er erinnerte sich aber noch, daß er den Unglücklichen, dessen Leiche an die Küste getrieben worden war, schon Bob genannt hatte. Daß vor der Abfahrt gar zwei Matrosen in derselben Weise umgekommen wären, hätte bei den Passagieren des »Alert« doch recht schlimmen Verdacht erwecken müssen.

Harry Markel begnügte sich deshalb zu sagen:

»John Forster befindet sich nicht an Bord.

– Nicht hier? rief der Matrose verwundert. Ich glaubte bestimmt, ihn auf dem ›Alert‹ zu finden.

– Er ist aber nicht hier, sag' ich euch, oder vielmehr nicht mehr hier.

– Ist ihm etwa ein Unfall zugestoßen?

– Er war erkrankt, als wir auslaufen wollten, und hat sich deshalb ausschiffen müssen.«

Corty bewunderte nicht wenig die Geistesgegenwart seines Chefs. Hätte der Matrose von der »Flag« aber den Kapitän Paxton persönlich gekannt, so wäre der Zwischenfall für Harry Markel und seine Spießgesellen gewiß [219] schlimmer abgelaufen. Jetzt sagte der fremde Matrose dagegen weiter nichts als: »Ich danke bestens, Herr Kapitän!« und damit begab er sich, offenbar betrübt, seinen Kameraden nicht getroffen zu haben, in das unten wartende Boot zurück.

Als der Mann weit genug weg war, rief Corty:

»Sapperment, wir treiben aber doch ein allzu gewagtes Spiel!

– Ja... vielleicht... es ist aber jedenfalls der Mühe wert!

– Gleichviel!... Doch, alle Teufel, Harry, mich verlangt es dringend, bald draußen auf dem Ozean zu sein, da ist man wenigstens keinen neugierigen Fragern ausgesetzt.

– Das wird alles kommen, Corty. Morgen sticht der ›Alert‹ wieder in See.

– Nach?...

– Nach Guadeloupe, und alles in allem ist eine französische Kolonie für uns weniger gefährlich als eine englische!«

2. Kapitel
Zweites Kapitel.
Guadeloupe.

Die Meeresstrecke, die Antigoa von Guadeloupe oder richtiger: von der unter diesem Namen zusammengefaßten Inselgruppe trennt, beträgt nicht mehr als hundert bis hundertzwanzig Seemeilen.

Unter gewöhnlichen Verhältnissen konnte der »Alert« – der am Morgen des 16. August beim Auslaufen aus dem Hafen von Sankt-John vom Passatwinde getrieben wurde – binnen vierundzwanzig Stunden recht gut an seinem Bestimmungsorte eintreffen.

Louis Clodion hoffte auch, daß sich morgen bei Tagesanbruch die ersten Höhen der französischen Antille am Horizonte zeigen würden.

Es sollte aber anders kommen. Eine Windstille oder richtiger die große Schwäche der Brise verlangsamte den Lauf des Schiffes, obwohl dieses sein [220] gesamtes Segelwerk trug. Außerdem rollten ihm trotz des kaum zu spürenden Windes kurze, ziemlich hohe Wellen entgegen. Das kam daher, daß dieser Teil des Meeres, ungedeckt von Inseln, nach der Seeseite weit offen lag. Verschiedene Gegenströmungen erzeugen hier eine Art Brandung, ehe die Dünung sich an den Rissen von Montserrat bricht. Selbst wenn der »Alert« vor einer frischen Brise gelaufen wäre, würde er auf dieser Wegstrecke tüchtig geschüttelt worden sein. Horatio Patterson sprach auch bald einigen Zweifel an der Wirksamkeit der Kirschkerne als Schutzmittel gegen die Seekrankheit aus.

Harry Markel hätte ja nötigenfalls hinter Montserrat hinwegsegeln können, wo der Seegang weniger stark war. Damit hätte er sich aber der Gefahr ausgesetzt, zu vielen Schiffen zu begegnen, und das wollte er doch möglichst vermeiden. Dieser Weg wäre überdies etwa um dreißig Meilen länger gewesen. Er mußte dann bis zur äußersten Südspitze von Guadeloupe hinunter gehen und nach deren Umschiffung vielleicht bei Gegenwind erst wieder nordorstwärts nach Pointe-à-Pitre steuern.

Guadeloupe besteht aus zwei großen Inseln.

Die westliche Insel ist das eigentlich sogenannte Guadeloupe, das die Karaïben einst Curucuera nannten. Offiziell mit dem Namen Basse-Terre (Niederland) bezeichnet, obwohl es von den beiden Inseln am höchsten aufsteigt, erhielt es diesen Namen wegen seiner Lage in Bezug auf die Passate.

Die auf den Karten mehr östlich verzeichnete Insel heißt dagegen Grande-Terre (Groß- oder Oberland), obgleich ihre Bodenfläche kleiner ist als die der andern. Der Gesamtumfang beider Inseln beträgt sechzehnhundertdrei Quadratkilometer und ihre Bevölkerung beläuft sich auf hundertsechsunddreißigtausend Seelen.

Basse-Terre und Grande-Terre sind durch einen Salzwasser führenden Fluß getrennt, dessen Breite zwischen fünfundzwanzig und dreißig Metern schwankt und den Fahrzeuge bis mit sieben Fuß Tiefgang benützen können. Der »Alert« hätte in diese Wasserstraße, die den kürzesten Weg für ihn gebildet hätte, gar nicht oder doch nur zur Zeit der höchsten Flut einfahren können, und auch dann hätte jeder vorsichtige Kapitän lieber davon abgesehen. Auch Harry Markel hielt sich auf dem offenen Meere im Osten der Gruppe. Die Fahrt beanspruchte damit vierzig Stunden, statt vierundzwanzig, und erst am Morgen des 18. August erschien der Dreimaster am Eingange der Bucht, in die der erwähnte Fluß ausmündet und in deren Hintergrunde Pointe-à-Pitre liegt.

[221] Zuerst war hier noch ein Kranz von Holmen zu passieren, die, das Wasserbecken umschließend, den eigentlichen Hafen bilden, nach dem nur schmale und ziemlich gewundene Kanäle führen.

Fünf Jahre waren verflossen, seitdem die Familie Louis Clodions die Antillen verlassen hatte, während nur ein Bruder seiner Mutter in Pointe-à-Pitre zurückgeblieben war. Seine Eltern waren mit den andern Kindern nach Frankreich, nach Nantes, übergesiedelt, wo Herr Clodion ein großes Schiffsequipierungsgeschäft leitete. Louis Clodion hatte sich übrigens eine recht treue Erinnerung an die Insel seiner Geburt bewahrt, von der er ja erst im Alter von fünfzehn Jahren weggekommen war, und er hoffte, seinen Kameraden hier alles zeigen und erklären zu können.

Von Osten her heransegelnd, bekam der »Alert« zuerst den Landvorsprung der Grande-Vigie auf Grande-Terre, der nördlichen Gruppe, dann die Spitze der Groß-Caps, hierauf die der Anse aux Loups und die Bucht Saint-Marguerite, und endlich, am Südwestausläufer von Grande-Terre, das Vorgebirge des Châteaux in Sicht.

Louis Clodion konnte an der Ostküste zunächst auf die Stadt du Moule hinweisen, die mit ihren zehntausend Einwohnern die drittwichtigste der Kolonie ist. Hier liegen die mit Zucker beladenen Schiffe und warten einen zum Auslaufen günstigen Wind ab, geschützt gegen stürmtische Witterung und gegen die oft gewaltigen Gezeitenströmungen, die in dieser Gegend häufig schweres Unglück anrichten.

Vor der Umschiffung der Südostspitze von Grande-Terre sahen die Passagiere noch la Désirade, eine andere französische Antille, die den von Europa eintreffenden Schiffen zuerst in Sicht kommt, und von der ein zweihundertachtundsiebzig Meter hoher Berg schon aus großer Entfernung wahrnehmbar ist.

La Désirade an Backbord liegen lassend, steuerte der »Alert« am Vorgebirge des Châteaux vorüber, und von hier aus konnte man im Süden kurze Zeit Petite-Terre, eine weitere Insel, erblicken, die ebenfalls zu der Gruppe von Guadeloupe gehört.

Um einen Überblick über die ganze Inselgruppe zu bieten, hätte das Schiff noch weiter südlich gehen müssen, und zwar bis Marie-Galante, das bei einer Bevölkerung von vierzehntausend Seelen einen Umfang von hundertdreiundsechzig Quadratkilometern hat, und hier wären die bedeutendsten Städte der Insel, Gros-Bourg, Saint-Louis und Vieux-Fort, zu besuchen gewesen.

[222] Mit einem Kurse nach Westen und ziemlich in derselben geographischen Breite, wäre man dagegen auf den kleinen Archipel der Saintes gestoßen, der gegen zweitausend Einwohner und eine Bodenfläche von vierzehn Quadratkilometern hat. Aus sieben Inseln oder Eilanden bestehend und von dem dreihundertsechzehn Meter hohen Chameau überragt, gilt die Gruppe für das beste Sanatorium der Antillen.

Administrativ ist Guadeloupe in drei Arrondissements verteilt. Dazu gehören der Teil von Sankt-Martin, der nicht im Besitz Hollands ist, die Insel Sankt-Barthelemy, die Schweden an Frankreich abgetreten hatte, und die Saintes, die zusammen das Arrondissement Basse-Terre bilden, ferner la Désirade mit der gleichnamigen Hauptstadt, zum Arrondissement Poin te-à-Pitre gehörig, und endlich Marie-Galante, der Hauptort des dritten Arrondissements.

Dieses Kolonialgebiet wird in seinem Generalrat durch sechsunddreißig Räte und im Parlament durch einen Senator und zwei Abgeordnete vertreten. Sein Handelsumsatz erreicht in der Ausfuhr fünfzig, in der Einfuhr siebenunddreißig Millionen Francs, zum größten Teile im Verkehr mit Frankreich.

Die örtlichen Bedürfnisse im Betrage von fünf Millionen Francs werden durch einen Ausfuhrzoll auf Kolonialwaren und einen Einfuhrzoll auf Spirituosen u. dgl. gedeckt.

Der Onkel Louis Clodions, der Bruder seiner Mutter, ein Herr Henry Barrand, war einer der vermögendsten und einflußreichsten Pflanzer von Guadeloupe. Er wohnte in Pointe-à-Pitre und hatte ausgedehnte Besitzungen in der Umgebung der Stadt. Sein Vermögen, seine Lebenserfahrung, neben einem offenherzigen Charakter, einnehmenden Wesen und einem nie versiegenden Humor gewannen ihm alle zu Freunden, mit denen er in Berührung kam. Sechsundvierzig Jahre alt, ein eifriger Jäger und warmer Freund jedes Sports, ritt er lustig durch seine weiten Pflanzungen, liebte gutes Essen und Trinken wie ein echter Landedelmann, wenn man einen Kolonisten der Antillen so nennen darf, und, obendrein unverheiratet, war er ein richtiger amerikanischer Erbonkel, auf den seine Nichten und Neffen zählen konnten.

Man kann sich wohl leicht vorstellen, mit welch freudiger Rührung er Louis Clodion bei der Ankunft des »Alert« in die Arme schloß.

»Willkommen... willkommen, mein liebster Louis! rief er. Welches Glück, dich nach fünfjähriger Trennung wiederzusehen! Wenn ich mich nicht ebensoviel [223] wie du verändert habe, bin ich noch nicht zum alten Manne geworden, während du zum jungen Manne herangewachsen bist!

– Mein lieber Onkel, antwortete Clodion, du bist ja noch immer derselbe!

– Nun, desto besser! erwiderte Herr Barrand, der sich nun an die auf dem Deck versammelten Passagiere wendete. Seien auch Sie mir willkommen, Sie jungen Genossen meines Neffen, und halten Sie sich überzeugt, daß die Kolonie die Pensionäre der Antilian School mit freudiger Befriedigung empfängt!«

Dann drückte der prächtige Mann alle ihm entgegengestreckten Hände und wendete sich hierauf wieder an Louis.

»Und wie befinden sich Vater, Mutter, Kinder... kurz, alle da unten... in Nantes?

– Gott sei Dank, alle befinden sich recht wohl, lieber Onkel. Über sie kann ich ja aber wohl etwas mehr durch dich erfahren...

– Gewiß, ich habe erst vorgestern einen Brief von meiner Schwester erhalten. Die ganze Familie ist wohlauf. Die zärtliche Schwester legt mir ans Herz, dich gut aufzunehmen... als ob das nötig gewesen wäre! Na, nächsten Winter werd' ich sie einmal besuchen, sie und die ganze Verwandtschaft...

– Ach, das ist ja herrlich, Onkel, denn zu der Zeit werde ich die Schule absolviert haben und jedenfalls auch in Nantes sein.

– Wenn du nicht hier bist, lieber Neffe. Ich habe darüber so meine eigenen Gedanken... doch das wird sich später finden.«

Eben näherte sich Patterson mit einer gemessenen Verbeugung vor Herrn Barrand und sagte:

»Sie erlauben mir wohl, geehrter Herr, Ihnen meine lieben Pensionäre vorzustellen.

– Ah, rief der Pflanzer, das ist doch... das muß ja Herr Patterson sein. Na, wie gehts Ihnen denn, Herr Patterson?

– O, so gut, wie es nach einer Seereise mit tüchtigem Stampfen und Schlingern möglich ist...

– Ja ja, ich kenne Sie schon, unterbrach ihn Barrand, ebenso wie alle Zöglinge der Antilian School, deren Großalmosenier und Geistlicher Sie sind...

– Entschuldigen Sie, Herr Barrand... Verwalter...

[224] [227]– Verwalter oder Almosenier, das kommt zuletzt auf eins hinaus, erwiderte der Pflanzer herzhaft auflachend, der eine hat es mit den irdischen, der andere mehr mit den himmlischen Rechnungen zu tun. Wenn zuletzt nur der Abschluß stimmt, dann ist es ja gut.«


Lustig ritt er durch seine weiten Pflanzungen. (S. 223.)

Während er so sprach, ging Herr Barrand schon von dem einen Preisträger zum andern, und zuletzt drückte er Horatio Patterson die Hände so kräftig, daß dieser, wenn er Almosenier gewesen wäre, den Pensionären der Antilian School unmöglich hätte seinen Segen erteilen können.

»Machen Sie sich bereit, ans Land zu gehen, meine Freunde, fuhr der aufgeräumte Pflanzer fort. Sie wohnen natürlich alle bei mir! Mein Haus ist groß genug, und wenn sie hundertmal so viele wären, Sie äßen doch nicht auf, was meine Felder liefern! Sie, Herr Patterson, begleiten selbstverständlich die jungen Leute, und Sie, Kapitän Paxton, wenn es Ihnen genehm ist, ebenfalls.«

Diese Einladung wurde natürlich wie immer abgelehnt, und Herr Barrand, der keine langen Worte zu machen liebte, bestand auch darauf nicht weiter.

»Aber, verehrter Herr Barrand, bemerkte da der Mentor, wenn ich Ihnen herzlich danke für die Gastfreundschaft, die Sie uns anbieten... anbieten mit soviel... wie soll ich sagen...

– Sagen Sie lieber nichts, Herr Patterson, das ist jedenfalls besser.

– Doch wenn wir Sie irgendwie belästigen... nur im geringsten genieren...

– Mich genieren... mich?... Seh' ich denn aus wie Einer, den man genieren kann oder der sich selbst geniert?... Nichts da, ich will es nun einmal!«

Einem so bestimmten Verlangen gegenüber mußte man wohl oder übel gehorchen.

Als Patterson dann seine Passagiere noch förmlich vorstellen wollte, rief der Pflanzer freundlich abwehrend:

»Ach was, ich kenne ja die jungen Leuten, alle ihre Namen haben in den Zeitungen gestanden, und ich wette, daß ich weiß, wer die einzelnen sind. Hier zum Beispiele die Engländer: Roger Hinsdale, John Howard und Hubert Perkins... ich bin ja schon mit deren Familien in Sankta-Lucia, auf Dominique und auf Antigoa zusammengetroffen.«

Die drei Engländer fühlten sich durch diese Erklärung nicht wenig geschmeichelt.

[227] »Dann, der große Blondin hier... das ist natürlich Albertus Leuwen aus Sankt-Martin.

– Wie Sie sagen, Herr Barrand, erwiderte der junge Holländer grüßend.

– Und die beiden hübschen Leutchen, die sich so bescheiden im Hintergrunde halten, das sind der eine Niels Harboe aus Sankt-Thomas, und der andre Axel Wickborn aus Sainte-Croix. Sie sehen, ich täusche mich bei keinem einzigen. Und du da drüben, der Kleine mit den lebhaften Augen, der nicht einen Moment stille stehen kann, der Kuckuck soll mich holen, wenn du nicht französisches Blut in den Adern hast.

– Bis zum letzten Tropfen, bestätigte Tony Renault, doch ich bin auf Martinique geboren.

– Na, das ist aber unrecht!

– Wieso... unrecht?

– Jawohl; wenn man als Franzose auf den Antillen geboren wird, so darf das nur auf Guadeloupe, doch nirgends anderswo sein, denn Guadeloupe... nun ja, das ist und bleibt einmal Guadeloupe.

– Man kommt eben zur Welt, wo einem das möglich ist, rief Tony Renault laut auflachend.

– Hast recht, mein Sohn, erwiderte Herr Barrand, ich werde dir wegen jenes Fehltritts auch nicht weiter böse sein.

– Unserm Tony kann überhaupt niemand böse sein, mischte sich Louis Clodion ein, das ist einfach unmöglich.

– O, es soll niemand argwöhnen, setzte der Pflanzer hinzu, daß ich etwa Martinique, Désirade oder andere französische Inseln geringer schätzte! Doch ich stamme nun einmal von Guadeloupe, das sagt alles. Der lange Secco dort... der mit dem hellblonden Haar... das muß Magnus Anders sein...

– Ganz recht, lieber Onkel, antwortete Louis Clodion, er ist es, der in Sankt-Barthelemy seine Heimatinsel nicht wiedergefunden hat, weil sie aufgehört hat, schwedischer Besitz zu sein.

– Ja, richtig, meinte Herr Barrand, das haben wir durch die Zeitungen erfahren. Schweden hat seine Kolonie an uns abgetreten. Nun nun, Anders, deshalb brauchen Sie nicht so bekümmert zu sein!... Wir neh men Sie als Bruder auf, und Sie werden bald erkennen, daß Schweden keinen bessern Freund als Frankreich hat.«

[228] Das war also Herr Henry Barrand, der Onkel Louis Clodions. Gleich nach der ersten Begegnung kannten sie ihn, als ob sie seit ihrer Geburt auf seinen Pflanzungen gelebt hätten.

Ehe er fortging, sagte Herr Barrand noch:

»Um elf Uhr steht das Frühstück bereit... ein ordentliches Frühstück für alle. Verstanden, Herr Patterson? Ich dulde keine zehn Minuten Verspätung.

– Rechnen Sie auf meine chronometrische Pünktlichkeit!« versicherte Patterson.

Herr Barrand nahm seinen Neffen gleich in dem Boote mit, das ihn beim Einlaufen des »Alert« nach diesem gebracht hatte.

Basse-Terre macht vielleicht einen hübschern Eindruck als Pointe-à-Pitre. Durch seine Lage an der Mündung des Flusses Aux-Herbes und nahe der äußersten Spitze der Insel, erregt es mehr die Aufmerksamkeit der Besucher ebenso durch seine amphitheatralisch einander überragenden Häuser, wie durch die schönen Hügel, die die Stadt einrahmen. Henry Barrand hätte dem vielleicht nicht völlig zugestimmt, denn so wie er Guadeloupe für die erste der französischen Antillen hielt, so erklärte er auch Pointe-à-Pitre für die erste Stadt Guadeloupes. Er erinnerte sich nur nicht gern daran, daß Guadeloupe 1759 vor den Engländern kapitulierte, daß es 1794 und noch einmal 1810 unter englische Oberhoheit kam und Frankreich endgültig erst durch den Friedensvertrag vom 30. Mai 1814 zurückgegeben wurde.

Pointe-à-Pitre verdiente jedoch ebenfalls den Besuch der jungen Reisenden, und Herr Barrand würde es gewiß nicht an Eifer fehlen lassen, dessen Schönheiten in eindringlichster Weise hervorzuheben. Das blieb einem spätern Spaziergange vorbehalten. Jetzt fuhren die Gäste des Kolonisten nur in mehreren, ihnen zur Verfügung gestellten Wagen quer durch die Stadt, und in einer Viertelstunde hatten sie den Landsitz Rose-Croix erreicht, wo Louis Clodion und sein Onkel sie erwarteten.

In dem großen Speisezimmer der prächtigen Villa stand für sie ein vortreffliches, mehr nahrhaftes als gewähltes Frühstück bereit. Die hungrigen jungen Leute taten ihm natürlich alle Ehre an und verzehrten mit Vergnügen das saftige frische Fleisch neben Fischen, Wildbret, Gemüsen aus der Pflanzung, Früchten aus den Baumgärten, ferner den Kaffee erster Güte, der, da man sich auf Guadeloupe befand, sogar für noch besser erklärt wurde als der von Martinique, vorzüglich weil er noch obendrein aus den Kaffeeplantagen von Rose-Croix herstammte. [229] Dabei regnete es Lobsprüche auf Guadeloupe, vor allem auf Pointe- à-Pitre, und eine Menge Toaste, die der darin unerschöpfliche Amphitryo ausbrachte.

Jedenfalls hat die Natur übrigens für Basse-Terre mehr getan als für Grande-Terre. Hier zeigt sich eine bergerfüllte Gegend, der plutonische Kräfte ein malerisches Relief verliehen haben; hier steigt die Grosse-Montagne siebenhundert Meter hoch hinauf und erheben sich die drei Manilles, die ihn noch um fünfzig Meter überragen, ebenso wie der fast gleich hohe Caraibe; ferner, mehr in der Mitte der Insel, die berühmte Soufrière, deren höchster Gipfel fast fünfzehnhundert Meter über dem Meere liegen soll.

Wie könnte sich wohl, außer in der lebhaften Phantasie des Herrn Barrand, Grande-Terre mit dieser an Schönheiten so reichen Gegend, dieser kleinen antillanischen Schweiz vergleichen wollen! Grande-Terre ist fast ein Flachland mit niedrigen, mehr ebenen Erhöhungen, die sich bis über Sehweite hinaus hinziehen. An Ergiebigkeit des Landbaues steht es seiner Nachbarinsel dagegen nicht nach.

Horatio Patterson machte auch die recht treffende Bemerkung:

»Was ich nicht begreife, Herr Barrand, ist, daß der furchtbare Schmied Vulkan gerade nur Basse-Terre auf seinem mythologischen Amboß mit solcher Vorliebe bearbeitet hat... wenn diese Metapher zulässig ist.

– Bei einem Glase Wein ist alles zulässig, Herr Patterson! antwortete der Pflanzer, sein Glas erhebend.

– Mich verwundert es, fuhr der Mentor fort, daß dabei jenes Basse-Terre von Erschütterungen durch Erdbeben verschont geblieben ist, während Grande-Terre, das einst doch mehr aus den freundlichen Händen des Gottes Neptun hervorging, solchen Naturerscheinungen besonders ausgesetzt ist.

– Eine richtige Bemerkung, Herr Verwalter, erklärte Herr Barrand. Basse-Terre müßte eigentlich von solchen Zuckungen der Mutter Erde weit mehr heimgesucht werden als Grande-Terre, denn das erste sitzt wie ein Kochtopf über dem Feuerherde. Dennoch hat von den beiden Inseln die unsrige stets am meisten zu leiden gehabt. Ja... was meinen Sie?... die Natur begeht auch zuweilen Fehlgriffe, und da der Mensch dagegen ohnmächtig ist, muß man sich mit diesen wohl oder übel abfinden. Ich wiederhole also... und bitte Sie, in einen letzten Toast einzustimmen: Auf das Wohlergehen von Grande-Terre, auf das fröhliche Gedeihen unserer Stadt Pointe-à-Pitre!

[230] – Und ein Hoch zu Ehren unseres gastfreien Wirtes!« fügte Patterson hinzu.

Die guten Wünsche waren übrigens schon erfüllt. Pointe-à-Pitre ist seit seiner Gründung stets ein blühender Ort gewesen, trotz der Angriffe und Überfälle, wodurch die Insel wiederholt arg verwüstet wurde, trotz der Feuersbrünste, die sie mehrfach heimsuchten, und trotz des schrecklichen Erdbebens von 1843, das binnen siebzig Sekunden fünftausend Opfer forderte. Damals blieb von der Stadt nichts übrig als einige Mauerreste und die Vorderwand einer Kirche, deren Uhr bei zehn Uhr fünfunddreißig Minuten Vormittag stehen geblieben war. Die Katastrophe erstreckte sich noch bis zur Stadt Moule und nach den Ortschaften Saint-François, Sainte-Anne, Port-Louis, Sainte-Rose, sowie über die Bertrandbucht und nach Joinville, sie erschütterte sogar noch Basse-Terre, wo sie jedoch nicht mehr so heftig auftrat wie in Pointe-à-Pitre. Sehr bald nachher waren die Häuser, doch alle nur niedrig und voneinander getrennt, wieder aufgebaut. Jetzt verlaufen von der Hauptstadt aus mehrere Schienenstränge, die die Zuckermühlen und andere industrielle Anlagen in der Umgebung verbinden. An allen Seiten sind außerdem Eukalyptuswälder aufgewachsen, die durch das Aufsaugen der Bodenfeuchtigkeit den Gesundheitszustand sehr günstig beeinflussen. Durch den Besuch seiner vortrefflich gepflegten Besitzungen machten die Gäste ihrem Wirte eine besondere Freude. Dank einer höchst zweckmäßigen Bewässerungsanlage versprachen die ausgedehnten Zuckerrohrfelder eine überreiche Ernte. Die Kaffeeplantagen, die auf den zwischen zwei- und sechshundert Meter hohen Hügeln der Insel ausgezeichnet gediehen, lieferten – nach Herrn Barrands Versicherung – einen weit besseren Kaffee als Martinique. Weiter durchstreifte die Gesellschaft die Felder in der nächsten Umgebung der Wohnstätte, die Weideplätze, die infolge guter Bewässerung im frischesten Grün prangten; man bewunderte die üppigen Karata-Aloes, die Baumwollpflanzungen, die zwar noch wenig ausgedehnt waren, doch einen guten Ertrag versprachen, ferner die Kulturen von Tabak, der nur für den eigenen Verbrauch angebaut wurde, aber nach dem Urteil des tätigen Pflanzers sich mit jedem anderen von den Antillen messen konnte, und endlich die Felder mit Maniok, Ignamen, Bataten und die Baumgärten mit hochedlen Obstsorten.

Selbstverständlich beschäftigte Herr Barrand ein zahlreiches, freies, ihm treu ergebenes Personal, das eher alle Vergünstigungen der Emanzipation geopfert, als es die Besitzung Rose-Croix verlassen hätte.

[231] So selbstwillig der Onkel Louis Clodions aber auch war, wollte er die Passagiere des »Alert« doch nicht des Vergnügens berauben, einige besonders interessante Punkte des westlich gelegenen, eigentlichen Guadeloupe kennen zu lernen. Am zweiten Tage nach deren Ankunft, am 20. August, brachte sie ein eigens gemietetes kleines Dampfboot, das ihrer im Hafen von Pointe-à-Pitre wartete, nach der Südküste von Basse-Terre.

Die Stadt Basse-Terre, obwohl politisch der Hauptort der Gruppe, nimmt unter den Städten der Kolonie doch nur die dritte Stelle ein. Trotzdem kann sich, wenn Barrand das auch nicht zugeben wollte, keine andere mit ihr vergleichen. Erbaut an der Mündung des Aux-Herbesflusses, liegen ihre zwischen prächtigen Bäumen hervorschimmernden Häuser amphitheatralisch über einen Hügel zerstreut, und außen herum noch zahlreiche hübsche Villen, die sich unausgesetzt der heilsamen, erquickenden Seewinde erfreuen. Hatte ihr Wirt die jungen Leute bei diesem Ausfluge nicht begleitet, so trat für ihn doch Louis Clodion, der Basse-Terre gründlich kannte, als trefflicher Cicerone ein. So wurde denn auch weder der auf allen Antillen berühmte Botanische Garten, noch das, ebenso wie das von des Saintes, besonders heilsame Sanatorium Jacob übergangen.

In dieser Weise verliefen die vier Aufenthaltstage mit Spaziergängen und belehrenden Ausflügen, bei denen keine Stunde unausgefüllt blieb. Die mehr als reichlichen Mahlzeiten eröffneten Horatio Patterson freilich die Aussicht auf viele Magenkatarrhe oder Magenerweiterungen, wenn der Aufenthalt hier noch einige Tage länger gedauert hätte!... Die Zeit der Abfahrt war jedoch herangekommen.

Die so umfassende, so herzliche, kurz echt französische Gastfreundlichkeit sollten die Passagiere des »Alert« zwar in Martinique jedenfalls wiederfinden, das war aber kein Grund, nicht eine überaus angenehme Erinnerung an Guadeloupe und eine aufrichtige Dankbarkeit für die Aufnahme seitens des Herrn Barrand zu bewahren.

Nur dessen starke Eifersucht durfte man nicht dadurch reizen, daß man vor ihm von Martinique sprach, und noch am Abend vor der Abreise sagte er zu Patterson:

»Es bringt mich ordentlich in die Wolle, zu sehen, daß die französische Regierung für unsere Rivalin immer eine gewisse Vorliebe zeigt.

– Und worin äußert sich denn diese Bevorzugung? fragte Patterson.


Basse-Terre.

[232] [235]– Nun, erklärte Barrand, ohne seinen Mißmut zu bemänteln, hat sie nicht Fort-de-France zum Anlaufhafen ihrer transatlantischen Paketboote gewählt? Erscheint denn Pointe-à-Pitre dazu nicht weit geeigneter?

– Gewiß, gab Patterson zu; ich meine, die Bewohner von Guadeloupe sollten gegen jene Anordnung doch Einspruch erheben können.

– Einspruch erheben... rief der Pflanzer, wer sollte denn das in die Hand nehmen und wer sich dessen annehmen?

– Haben Sie denn keine Vertreter im französischen Parlamente?

– O doch, einen Senator und zwei Abgeordnete, antwortete Barrand, sie tun auch, was in ihren Kräften steht, die Interessen der Kolonie zu wahren.

– Das ist ja ihre Pflicht,« meinte der Mentor.

Am Abend des 21. August begleitete Herr Barrand seine Gäste an Bord des »Alert«, und nachdem er seinen Neffen zum letztenmal umarmt hatte, drückte er allen seinen Kameraden die Hand.

»Würdet ihr, statt nach Martinique zu gehen, sagte er, nicht wirklich besser tun, noch acht Tage länger auf Guadeloupe zu bleiben?

– So?... Und was würde es dann mit meiner Insel? rief Tony Renault.

– Deine Insel, mein Sohn, o, die schwömme auch nicht davon; du würdest sie bei einer spätern Reise schon noch wiederfinden.

– Ihr Anerbieten, Herr Barrand, warf da Patterson ein, berührt uns aufs angenehmste und wir sind Ihnen dafür herzlich dankbar. Wir müssen uns aber an das Reiseprogramm der Mistreß Kathlen Seymour halten...

– Ja freilich; so geht denn nach Martinique, meine jungen Freunde, lenkte Herr Barrand ein, doch nehmt euch dort vor den Schlangen in acht, die die Engländer vor der Überlassung der Insel an Frankreich heimlich dahingebracht haben sollen.

– Wäre das möglich? antwortete der Mentor. Nein, ich werde meinen Landsleuten eine solche heimtückische Bosheit niemals zutrauen.

– Es ist aber geschichtlich, Herr Patterson, erwiderte der Pflanzer, geschichtlich nachgewiesen. Und wenn Sie sich da unten beißen lassen, wird das wenigstens von einer britischen Schlange gewesen sein.

– Britisch oder nicht, lieber Onkel, fiel Louis Clodion ein, wir werden uns schon davor zu hüten wissen.

– Was ich noch fragen wollte, sagte Barrand, schon im Begriff, das Schiff zu verlassen, habt ihr denn einen guten Kapitän?

[235] – So gut es einen solchen geben kann, versicherte Patterson, wir haben alle Ursache, mit ihm vollkommen zufrieden zu sein. Mistreß Kathlen Seymour hätte keine bessere Wahl treffen können.

– Desto schlimmer, antwortete Barrand ernsthaft und mit den Achseln zuckend.

– Desto schlimmer?... Ich bitte Sie, inwiefern denn?

– Weil der ›Alert‹, wenn ihn ein schlechterer Kapitän befehligte, beim Verlassen des Hafens vielleicht an der Küste aufgelaufen wäre, und ich hätte damit die schönste Aussicht gehabt, euch alle noch ein paar Wochen in Rose-Croix zu behalten!«

3. Kapitel
Drittes Kapitel.
Dominica.

Als der Dreimaster über die Bai von Pointe-à-Pitre hinausgekommen war, erhob sich eine östliche Brise, die seiner Fahrt nach der hundert Seemeilen südlicher gelegenen Insel Dominica (Dominique) trefflich zu statten kam. Mit allen Segeln schwebte der »Alert« einer Möve gleich über die glitzernde Meeresfläche dahin. Hielt der Wind gut aus, so konnte das Schiff jene Strecke in vierundzwanzig Stunden zurücklegen. Der Barometer stieg aber schon langsam, was auf zu erwartende Windstille und also auf eine Verlängerung der Überfahrt hindeutete.

Der »Alert« war ja ein vorzügliches Schiff, obendrein, wie hier wiederholt sei, geführt von einem Kapitän, der seine Sache gründlich verstand und der über eine Mannschaft verfügte, die nicht erst noch Proben ihrer Tüchtigkeit abzulegen brauchte. Für die Erfüllung der Wünsche des Herrn Henry Barrand war also keine Aussicht vorhanden. Selbst beim schlechtesten Wetter wäre Harry Markel ausgelaufen, ohne zu fürchten, daß er an die Klippen der Bucht geworfen werden könnte. Die Passagiere mußten infolgedessen auf das gastfreundliche Anerbieten des Pflanzers von Rose-Croix von vornherein verzichten.

[236] Sollte die Fahrt bei den eben herrschenden atmosphärischen Verhältnissen auch etwas länger dauern, so begann sie wenigstens unter den glücklichsten Umständen.

Von Pointe-à-Pitre glitt das nach Süden steuernde Schiff an der Gruppe des Saintes vorüber, die von einem dreihundert Meter hohen Hügel überragt wird. Deutlich erkannte man die dessen Gipfel krönende Befestigung, über der die französische Flagge wehte.

Les Saintes sind dauernd in Verteidigungszustand; sie bilden gleichsam eine vorgeschobene Zitadelle, die auf dieser Seite die Zufahrtsstraßen nach Guadeloupe beschützt.

Tony Renault und Magnus Anders beteiligten sich nach wie vor eifrig an allen Schiffsmanövern. Sie bezogen sogar wie alte Matrosen die Wachen, selbst die Nachtwache, was auch der wegen der Tollkühnheit der jungen Leute beunruhigte Mentor dagegen einwenden mochte.

»Ich empfehle sie Ihrer besondern Obhut, Kapitän Paxton, sagte er wiederholt zu Harry Markel. Bedenken Sie nur, wenn ihnen ein Unfall zustieße. Wenn ich sie so auf die Masten klettern sehe, fürchte ich immer, sie könnten jeden Augenblick...

– Aus den Raaen geworfen...

– Ja ja, beim Stampfen oder Schlingern des Schiffes herunter geworfen und ins Meer geschleudert wer den. Bedenken Sie meine Verantwortlichkeit, Herr Kapitän!«

Und wenn Harry Markel dann versicherte, er werde die jungen Leute keine Unbesonnenheit begehen lassen, seine Verantwortlichkeit als Kapitän sei ja mindestens ebenso groß wie die des Herrn Patterson, dann dankte ihm dieser in den wärmsten Ausdrücken, die freilich das Eis des falschen Kapitäns Paxton auch nicht zum Auftauen brachten.

Daneben richtete der ängstliche Verwalter die ernstesten Ermahnungen an den jungen Schweden und den jungen Franzosen.

»O, keine Sorge, Herr Patterson! erwiderten diese. Wir halten uns schon ordentlich fest.

– Wenn euch die Hände aber einmal erlahmten, wenn ihr herunterstürztet...

De brancha in brancham fällt er hinab atque facit Puff! wie Virgil sagt, deklamierte Tony Renault.

[237] – Herr des Himmels, rief Patterson, die Arme erhebend, einen solchen Hexameter – wenn es einer sein soll – hat der Schwan von Mantua denn doch nicht verbrochen!

– Das hätte er aber tun sollen, antwortete der zungenfertige Tony Renault, denn die Endversfüße atque facit Puff! sind doch vortrefflich!«

Die beiden Kameraden lachten dazu aus vollem Herzen.

Jedenfalls konnte der würdige Mentor sich beruhigen: waren Tony Renault und Magnus Anders auch kühn wie Schiffsjungen, so waren sie doch auch gewandt wie Affen. Übrigens behielt sie John Carpenter fleißig im Auge, schon aus Sorge, mit ihrem Verschwinden auch den ihnen winkenden Preis verloren gehen zu sehen. Außerdem kam es doch darauf an, daß der »Alert« nicht im Fall eines Unglücks an einer der Antillen ungebührlich lange aufgehalten würde; erlitt aber einer oder der andere der beiden jungen Leute einen Knochenbruch, so mußte ja die weitere Reise dadurch verzögert werden.

Anderseits kam die Mannschaft mit den Passagieren nur sehr wenig in Berührung. Diese mußten wohl bemerken, daß die Leute sich meist bei Seite hielten und keinen nähern Verkehr suchten, was alle Matrosen sonst doch so gern tun. Nur Wagah und Corty standen gelegentlich Rede und Antwort, die andern beobachteten streng die ihnen von Harry Markel empfohlene Zurückhaltung. Wunderten sich Roger Hinsdale und Louis Clodion zuweilen über diese Haltung, und bemerkten sie auch wiederholt, daß die Leute vom Schiffe bei ihrer Annäherung stets plötzlich verstummten, so genügte das doch noch nicht, einen besondern Verdacht zu erwecken.

Patterson selbst wäre es nie in den Sinn gekommen, darüber eine Bemerkung zu äußern. Er fand nur, daß die Reise unter den angenehmsten Umständen verlief – was ja auch Tatsache war – und er schätzte sich glücklich, über das Deck jetzt, ohne sich überall anzuklammern – pede maritimo – dahinstolzieren zu können.

Da das stille Wetter angehalten hatte, kam der von einer leichten Nordwestbrise getriebene »Alert« erst am Morgen des 24. August in Sicht der Insel Dominica.

Die Hauptstadt der Kolonie, Ville-des-Roseaux (Rohr-, d. h. Schilfrohrstadt), zählt ungefähr fünftausend Einwohner. Sie liegt an der Ostseite der Insel, deren Anhöhen sie gegen den hier oft recht stürmischen Passatwind schützen. Der Hafen ist gegen den Wogengang von außen her leider nicht genügend [238] gesichert, und die Fahrzeuge treiben darin, vorzüglich zur Zeit der Springflut, häufig vor Anker, so daß die Schiffsbesatzungen stets bereit sein müssen, beim ersten Anzeichen schlechten Wetters ihre Stellung zu wechseln.

Obwohl der »Alert« mehrere Tage bei Dominica liegen bleiben sollte, zog es Harry Markel doch, und zwar mit Recht, vor, nicht an der Ville-des-Roseaux vor Anker zu gehen. Nach der gleichen Himmelsrichtung liegend, gibt es nahe dem Nordende der Insel eine vortreffliche Reede, die Reede von Portsmouth, wo die Schiffe nichts von den Orkanen und Zyklonen zu fürchten haben, die diese Gegenden so häufig verwüsten.

In letztgenannter Stadt war John Howard, der vierte Preisträger im Wettbewerbe, vor achtzehn Jahren geboren, heute fand er hier ein aufblühendes Gemeinwesen, das sich in Zukunft noch zu einem wichtigen Handelszentrum ausgestalten wird.

Die Passagiere betraten den Boden von Dominica an einem Sonntage; wäre das am 3. November geschehen, so wäre es am Jahrestag seiner Entdeckung durch Christoph Columbus im Jahre 1493 gewesen.

Der berühmte Seefahrer hatte die Insel zu Ehren des an Bord seiner Karavellen gefeierten Sonntags (des Dies dominicus) mit diesem Namen bezeichnet.

Dominica bildet eine wichtige englische Kolonie, die eine Bodenfläche von siebenhundertvierundfünfzig Quadratkilometern hat. Gegenwärtig ist sie von dreißigtausend Menschen bevölkert, welche die zur Zeit der Besitznahme karaïbische Bevölkerung verdrängt haben. Anfänglich wollten sich die Spanier hier gar nicht festsetzen, trotz der Fruchtbarkeit der Täler, der schönen Wasserläufe und trotz der an Nutzholz reichen Waldungen.

Wie seine westindischen Schwestern ist Dominica nach und nach in den Besitz verschiedener europäischer Mächte gekommen. Zu Anfang des 17. Jahrhunderts war es französisch. Die ersten Kolonisten führten hier den Anbau von Kaffee und Baumwolle ein, und 1622 betrug ihre Anzahl dreihundertneunundvierzig, wozu noch dreihundertachtundvierzig Sklaven aus Afrika kamen.


Tony Renault und Magnus Anders waren gewandt wie die Affen. (S. 838.)

Anfänglich lebten die Franzosen in gutem Einvernehmen mit den Karaïben, deren Zahl sich etwa auf tausend Seelen belief. Diese Eingebornen stammten von einer kräftigen, arbeitsamen Rasse ab, nicht von der der Rothäute, sondern eher von den Indianern, die Guyana und die nördlichen Gebiete Südamerikas bevölkerten.

[239] Im gesamten antilianischen Archipel ist merkwürdigerweise die Sprache der Frauen eine etwas andre als die der Männer. Hier herrschen zweierlei Idiome, das eine, das der Frauen, ein aronakischer, das andre, das der Männer, ein galibischer Dialekt. Die grausamen und ungastlichen Eingebornen standen, obwohl ihnen religiöse Begriffe nicht fremd waren, mit Recht im Rufe der Menschenfresserei, und allem Anscheine nach ist der Name Karaïbe ein Synonym für diese empörende Sitte. Das würde aber immer noch nicht die Grausamkeiten entschuldigen, die die spanischen Eroberer seinerzeit gegen die Eingebornen verübten.

[240] Da die Karaïben aber unausgesetzt feindliche Einfälle in alle Inseln des Archipels unternahmen, wobei sie sich großer, mit der Axt aus Baumstämmen zugehauener Piroguen bedienten, und da sie die indianischen Urbewohner erbarmungslos abschlachteten, mußten diese blutdürstigen Wilden ausgerottet werden. Seit der Entdeckung der Antillen sind sie dann auch nach und nach verschwunden, und von der, den mehr nördlich siedelnden Eingebornen überlegenen Rasse gibt es nur noch wenige Vertreter auf Martinique und auf Sankt-Vincent. Auf Dominica, wo sie nicht so schonungslos verfolgt wurden, leben heute etwa noch dreißig karaïbische Familien.


Der Kratersee auf dem Mont Pelée.

Hatten sich die Europäer aber auch verschworen, die Karaïben zu vernichten, so verschmähten sie es doch nicht, sich ihrer in ihren gegenseitigen Streitigkeiten zu bedienen. Wiederholt benutzten die Engländer und die Franzosen sie als furchtbare Hilfstruppen, wozu ihre Kampflust sie besonders geeignet machte, obwohl die Europäer entschlossen waren, die Rasse später zu vertilgen.

Seit den ersten Zeiten der Besitznahme hatte Dominica aber genügende koloniale Wichtigkeit, die Eifersucht der Mächte zu erregen und auch Flibustier anzulocken.

[241] Nach den Franzosen, die hier die ersten Ansiedlungen gegründet hatten, kam die Insel erst in die Gewalt der Engländer und dann in die der Holländer. Es war also recht wohl möglich, daß Roger Hinsdale, John Howard, Hubert Perkins, Louis Clodion, Tony Renault und Albertus Leuwen alle hier Vorfahren gehabt hätten, die vor zwei oder drei Jahrhunderten vielleicht... einander getötet hatten.

Infolge des 1745 zwischen England und Frankreich ausgebrochenen Krieges ging Dominica in die Hände Englands über. Vergeblich protestierte die französische Regierung dagegen mit aller Energie und verlangte die Rückgabe dieser Kolonie, für die schon so viele Menschenleben und Kosten geopfert worden waren. Die Regierung erlangte das auch nicht bei dem Friedensschlusse in Paris im Jahre 1763... Dominica blieb zunächst unter der britischen Flagge.

Frankreich konnte das aber nicht hinnehmen, ohne eine Revanche wenigstens zu versuchen. Im Jahre 1778 zog der Marquis de Bouillé, der Statthalter von Martinique, mit einem Geschwader kleinerer Schiffe zur Wiedereroberung der Kolonie aus. Er bemächtigte sich bald der Ville-des-Roseaux und behielt diese auch bis 1783 in seiner Gewalt. Dann erschienen aber die Engländer mit großer Übermacht auf dem Plane, und Dominica kam aufs neue und endgültig unter die Oberhoheit Britanniens.

Natürlich dachten die jungen englischen, holländischen und französischen Preisträger vom »Alert« nicht im entferntesten daran, die alten Streitigkeiten zu erneuern und jeder für sein Vaterland den Sitz der Insel zu beanspruchen. Horatio Patterson, ein Mann mit hoher Achtung für erworbene Rechte, brauchte also nicht als Vermittler in einer Frage dieser Art aufzutreten, einer Frage, die ja sogar das europäische Gleichgewicht zu erschüttern gedroht hätte.

Schon seit sechs Jahren wohnte jetzt die Familie John Howards nach ihrem Wegzuge aus Portsmouth (auf Dominica) in Manchester, in der Grafschaft Lancaster.

Der junge Mann erinnerte sich seiner Heimatinsel aber noch ziemlich deutlich; war er doch schon zwölf Jahre alt gewesen, als seine Eltern aus der Kolonie auswanderten, ohne ein einziges Familienmitglied da zurückzulassen. John Howard fand hier also weder einen Bruder wieder, wie Niels Harboe auf Sankt-Thomas, noch einen Onkel, wie Louis Clodion auf Guadeloupe. Vielleicht begegnete er aber doch einem Freunde seiner Familie, der sich ein Vergnügen daraus machte, den Zöglingen der Antilian School einen freundlichen Empfang zu bereiten.

[242] Fand John Howard jedoch einen solchen nicht und auch keine Personen, die mit seinem Vater in Geschäftsverbindung gestanden hatten, so hatte er sich beim Eintreffen in Portsmouth doch vorgenommen, wenigstens einen Besuch abzustatten, der ihm sehr am Herzen lag, wenn es sich dabei auch nicht um eine so herzliche Aufnahme, wie die bei Christian Harboe auf Sankt-Thomas oder um eine so schrankenlose Gastfreundlichkeit handeln kannte, wie die, die die jungen Reisenden bei Harry Barrand auf Guadeloupe gefunden hatten. John Howard und seine Kameraden würden voraussichtlich aber doch von so manchen braven Leuten gut aufgenommen werden.

Mit ihrem Ehemann lebte hier in Portsmouth nämlich noch eine alte Negerin die früher im Dienste der Familie Howard gestanden hatte und deren bescheidene Existenz durch die Freigebigkeit ihrer einstigen Herrschaft gesichert war.

Wie erfreut, ja mehr als erfreut, wie tief gerührt würde diese sein, wenn sie jetzt den schmucken Jüngling wieder sah den sie vor langen Jahren als Kind auf den Armen getragen hatte! Ja, das war bei Kate Grindah vorauszusehen. Weder sie noch ihr Mann erwarteten einen solchen Besuch. Beide wußten ja nichts davon, daß der »Alert« bei Dominica ankern werde, und noch viel weniger, daß sich »der kleine John« an Bord dieses Schiffes befände und sich beeilen werde, das bejahrte Ehepaar aufzusuchen.

Gleich nachdem der »Alert« festgelegt war, begaben sich die jungen Passagiere ans Land. Während des achtundvierzigstündigen Aufenthaltes auf Dominica sollten sie jeden Abend an Bord zurückkehren und sich also auf Ausflüge in der nächsten Umgebung der Stadt beschränken. Am Abend erwartete sie dann ein Boot, um sie wieder nach dem Schiffe zu bringen.

Harry Markel hatte es so gewünscht, da es ihm ja darauf ankam, jeden Verkehr mit den Bewohnern von Portsmouth möglichst zu vermeiden. Die gewöhnlichen Formalitäten beim Ein- und Auslaufen der Schiffe hatte er natürlich zu erfüllen. In jedem englischen Hafen war für ihn aber mehr als in anderen Häfen die Begegnung von Personen zu fürchten, die den Kapitän Paxton oder doch den und jenen von der Mannschaft gekannt hatten. Er ließ den »Alert« deshalb in einiger Entfernung vom Kai vor Anker legen und untersagte den Mannschaften, ans Land zu gehen. Einer umfänglicheren Erneuerung des Proviants bedurfte es hier nicht, nur Mehl und frisches Fleisch war einzukaufen, und er sorgte dafür, daß das mit kluger Vorsicht geschah.

[243] John Howard, der sich an Portsmouth besonders gut erinnerte, konnte seinen Kameraden als Führer dienen. Diese kannten übrigens seine Absicht, zuerst nach dem Häuschen Grindahs zu gehen und die alte Wärterin zu begrüßen. Von der Ausschiffungsstelle aus durchwanderten also alle die Stadt und begaben sich nach der Vorstadt, wo die letzten Häuser schon halb auf dem Lande verstreut lagen.

Der Weg war nicht lang. Nach kaum einer Viertelstunde standen die Leute vor einer bescheidenen, recht sauberen Hütte, die von einem Garten mit Obstbäumen umgeben war, neben dem noch ein Wirtschaftshof mit vielem Geflügel lag.

Der Alte arbeitete eben im Garten, seine Frau befand sich im Hause, trat aber gerade in dem Augenblicke heraus, wo John Howard die Tür der Umzäumung öffnete.

Da entfuhr Kate ein lauter Freudenschrei, als sie »das Kind« erkannte, das sie seit sechs Jahren nicht gesehen hatte. Und wären es ihrer zwanzig gewesen, sie hätte ihn auf den ersten Blick herausgefunden, den ältesten Sprößling der Familie. Das ist nicht eine Sache der Augen, sondern vor allem eine des Herzens.

»Du... du... John! rief sie wiederholt und preßte den jungen Mann in die Arme.

– Ja... ich... meine gute Kate... ich bin's!«

Da mischte sich der Alte ein.

»Er... John?... du irrst dich... das ist er nicht, Kate!

– Doch... das ist John!

– Ja, ja... ich bin's!«

Ein weiteres Wort konnte er nicht hervorbringen. Inzwischen hatten seine Kameraden die beiden wackeren Alten umringt und schlossen diese nun einer nach dem andern in die Arme.

»Ja... rief Tony Renault, ja freilich... wir sind es! Erkennt ihr uns denn nicht?«...

Zunächst mußte nun alles erklärt und gesagt werden, warum der »Alert« nach Dominica gekommen wäre... natürlich nur um der alten Negerin und ihres Gatten willen. Beweis dafür, daß gleich der erste Besuch dem braven Ehepaare gegolten habe. Auch Horatio Patterson konnte seine Rührung nicht verbergen und drückte den beiden bejahrten Leuten herzlichst die Hände.


Durch einen Orkan zerstörte Zuckerfabrik.

Dann fing Kate mit der lauten Bewunderung »ihres Kindes« aufs neue an. Wie er gewachsen war!... Wie er sich vorteilhaft verändert hatte!... Welch ein hübscher Bursche!... O, sie hatte ihn ja sofort erkannt... und der Alte konnte darüber noch im Zweifel sein!... Immer wieder zog sie ihn in ihre Arme und weinte vor [244] Freude.

Hierauf ging es ans Erzählen von der Familie Howard. Dem Vater, der Mutter, den Brüdern, den Schwestern... allen ging's wohl. Sie sprachen häufig von der Kate und ihrem Manne... man hatte ja keines von beiden vergessen. John Howard übergab ihnen auch ein schönes Geschenk, das er eigens für sie mitgebracht hatte. So lange der »Alert« hier liegen blieb, wollte er keinen Abend und keinen Morgen vergehen lassen, ohne die herzensguten Leute aufzusuchen. Schließlich wurde ein Gläschen Tafia (Rum von Jamaika) verzehrt und dann zog sich die Reisegesellschaft zurück.

Bei den Ausflügen, die John Howard und seine Kameraden in der Umgebung der Stadt unternahmen, kamen sie unter anderem nach dem Fuße des Mont Diablotin, den sie alsbald erstiegen. Vom Gipfel aus bot sich eine Aussicht über die ganze Insel. Fast außer Atem, als er die mäßige Höhe erstiegen [245] hatte, glaubte der Mentor aus Virgils Lehrgedicht Georgica ein Citat anbringen zu müssen.

»Velut stabuli custos (deklamierte er) in montibus olim considit scopulo...«

Nun ja, meinte der Schalk Tony Renault, wenn man davon absähe, daß sich Herr Patterson auf keinem wirklichen Berge befände, und daß er kein Schäfersmann, kein custos stabuli sei, dann passe ja das Citat vortrefflich.

Von der Höhe des Diablotin aus schweifte der Blick über gut angebautes Land, das viel Obst für die Ausfuhr erzeugte, zu der noch der Schwefel kommt, wovon die Insel große Mengen liefert. Daneben bildet die Kultur des Kaffeebaumes, die gegenwärtig in erfreulicher Zunahme ist, den Hauptreichtum Domimeas.

Am nächsten Tage besuchten die jungen Reisenden die fünftausend Einwohner zählende Ville-des-Roseaux, die einen reizenden Anblick bietet, doch wenig Handelsverkehr zeigt, da die englische Regierung sie, wie man dort zu sagen pflegt, »mit einer Halblähmung geschlagen hat«.

Die Abfahrt des »Alert« war, wie wir wissen, auf den Morgen des 26. August festgesetzt. Während die jungen Touristen dann am 25. gegen fünf Uhr nachmittags noch einen letzten Spaziergang am Ufer im Norden der Stadt machten, begab sich John Howard noch einmal über diese hinaus, um sich von der alten Kate zu verabschieden.

Als er da in eine der auf den Kai mündenden Straßen einbog, trat an ihn ein etwa fünfzigjähriger Mann heran, dem Ansehen nach ein Seemann, der sich zur Ruhe gesetzt hatte, der auf den in der Mitte des Hafens liegenden »Alert« hinwies.

»Ein schönes Schiff, junger Herr, begann er, und für einen Matrosen ein besonderes Vergnügen, es zu betrachten.

– Gewiß, antwortete John Howard, ein ebenso gutes wie schönes Schiff, das eben eine Fahrt von Europa nach den Antillen gemacht hat.

– Ja ja, ich weiß... ich weiß es, erwiderte der Seemann, ebenso wie mir bekannt ist, daß Sie der Sohn des Herrn Howard sind, bei dem die alte Kate und ihr Mann im Dienste standen.

– Sie kennen die wackeren Leute?...

– Wir sind Nachbarn, Herr John.

– Und ich wollte jenen eben Lebewohl sagen, da wir morgen abreisen.

[246] – Schon morgen?

– Ja. Wir haben noch Martinique, Sancta-Lucia und Barbados zu besuchen.

– Ja ja, das weiß ich. Doch sagen Sie mir, Herr John, wer befehligt den ›Alert‹?

– Der Kapitän Paxton.

– Der Kapitän Paxton? wiederholte der Matrose. O, den kenne ich... kenne ich sehr gut.

– Sie kennen ihn persönlich?

– Und ob Ned Butlar ihn kennt! Das wollt' ich meinen! Wir sind auf dem ›Northumberland‹ in den südlichen Meeren zusammen gefahren. Das mag so seine fünfzehn Jahre her sein, wo er erst Obersteuermann war. Er ist etwa ein Mann von einigen vierzig Jahren, nicht wahr?

– Ja, ungefähr so alt mag er sein.

– Etwas untersetzt von Gestalt...

– O nein, er ist ziemlich groß und stark.

– Hat rötliche Haare?

– Nein, ganz schwarze.

– Das ist merkwürdig! meinte der Matrose. Ich erinnere mich seiner doch so genau, als wenn er hier vor mir stände...

– Da Sie den Kapitän Paxton kennen, sagte John Howard, so sachen Sie ihn doch einmal auf. Er wird sich freuen, mit einem alten Reisegenossen einen Händedruck wechseln zu können.

– Ja ja, das soll geschehen,

– Doch noch heute, am besten sofort. Der ›Alert‹ geht morgen schon ganz früh in See.

– Ich danke Ihnen, Herr John; und ich werde den ›Alert‹ nicht auslaufen lassen, ohne dem Kapitän Paxton meinen Besuch gemacht zu haben.«

Damit trennten sich beide und John Howard ging nach der höher gelegenen Vorstadt weiter.

Jetzt drohte nun Harry Markel und seiner Mannschaft eine ernste Gefahr. Dieser Ned Butlar kannte den Kapitän Paxton, da beide zwei Jahre lang miteinander gefahren waren, und was mußte der Mann sagen, was darüber denken, wenn er erst vor Harry Markel stand, der ja mit dem frühern Obersteuermann des »Northumberland« nicht die geringste Ähnlichkeit hatte.


Da entfuhr Kate ein lauter Freudenschrei. (S. 244.)

Als der Matrose an der Steuerbordstiege des »Alert« angekommen war, rief ihn der auf dem Deck umherspazierende Corty an.

»He, Kamerad, fragte er, was wünscht ihr denn hier?

[247]

– Ich möchte den Kapitän Paxton sprechen.

– Kennt ihr ihn denn? erkundigte sich Corty mit gewohnter Vorsicht.

– Ob ich ihn kenne! Wir sind ja zusammen auf den südlichen Meeren gefahren.

– Ah... wirklich?... Und was wollt ihr denn bei dem Kapitän Paxton?

[248] [251]– O, nur ein paar Minuten mit ihm plaudern, ehe er weiterfährt. Es ist doch immer ein Vergnügen, einander nach langem Getrenntsein einmal wiederzusehen, nicht wahr, Kamerad?


Ville-des-Noiseaux. - Das Zollamt und der Hasen.

– Ganz gewiß.

– So werd' ich also hinaufkommen.

– Der Kapitän Paxton ist aber augenblicklich nicht an Bord.

– Dann werd' ich ihn erwarten...

– Das wäre vergeblich; er wird erst sehr spät am Abend wiederkommen.

– Da wäre also keine Aussicht, ihn noch heute zu sprechen?

– Nein... leider gar keine.

– Doch morgen... bevor der ›Alert‹ ausläuft...

– Vielleicht... wenn ihr zeitig genug kommt.

– Natürlich; mir liegt ja ebensoviel daran, den Kapitän Paxton zu sprechen, wie gewiß umgekehrt auch ihm, wenn er erfährt, wer ich bin.

– Ja ja, daran zweifle ich gar nicht, antwortete Corty ironisch.

– So meldet ihm Ned Butlar, Kamerad; Ned Butlar vom ›Northumberland‹ sei dagewesen, ihn zu begrüßen.

– Das soll geschehen.

– Also... auf morgen?...

– Ja, auf morgen!«

Ned Butlar stieß sein Boot von der Schiffswand ab und ließ sich wieder nach dem Kai hinüberrudern

Sobald er eine Strecke entfernt war, begab sich Corty nach der Kabine Harry Markels und setzte diesen von dem Zwischenfall in Kenntnis.

»Es ist gar nicht zu bezweifeln, daß dieser Seemann den Kapitän Paxton persönlich kennt, murmelte Markel.

– Und daß er morgen früh wiederkommt, fügte Corty hinzu.

– Das steht ihm frei... wir werden aber nicht mehr hier sein.

– Der ›Alert‹ soll doch erst um neun Uhr abfahren, Harry...

– Der ›Alert‹ fährt ab, wann es ihm beliebt, erwiderte Harry Markel. Aber kein Wort von dieser Geschichte gegenüber den Passagieren!

– Natürlich nicht, Harry! Ich muß jedoch gestehen, ich gäbe gern meinen Anteil an der zu erwartenden Beute hin, wenn wir aus dieser Gegend weg wären, wo es für uns niemals geheuer ist.

[251] – Noch vierzehn Tage Geduld und Vorsicht, Corty, mehr braucht es ja nicht!«

Als Horatio Patterson mit seinen Begleitern an Bord zurückkehrte, war es schon zehn Uhr abends. John Howard hatte von der alten Kate und deren Mann Abschied genommen, und es versteht sich, daß es dabei zu den zärtlichsten Umarmungen kam und die herzlichsten Wünsche für das Wohlergehen der Familie Howard ausgesprochen wurden.

Nach dem sehr anstrengenden Tage fühlten alle ein recht dringendes Bedürfnis, sich auf ihrem Lager auszustrecken, und sie waren schon dabei, ihre Kabinen aufzusuchen, als John Howard noch fragte, ob nicht ein Matrose namens Ned Butlar aufs Schiff gekommen sei, der seine alte Bekanntschaft mit dem Kapitän Paxton zu erneuern gewünscht hätte.

»Jawohl, bestätigte Corty, der Kapitän war aber gerade auf der Insel im Hafenamte.

– Dann wird jener Butlar gewiß morgen, vor der Abfahrt des ›Alert‹ wiederkommen.

– Das hab' ich mit ihm verabredet,« antwortete Corty.

Eine Viertelstunde später ertönte in der Hauptkabine schon das lauteste Schnarchen, das eine Gesellschaft übermüdeter Schläfer je hatte hören lassen und das hier noch von dem Bariton Horatio Pattersons übertönt wurde.

Die Passagiere vernahmen also nichts von dem Geräusch, das früh drei Uhr begann, als der »Alert« sich anschickte, den Hafen von Portsmouth zu verlassen.

Erst sechs Stunden später erschienen, als das Schiff schon fünf bis sechs Meilen von Dominica entfernt war, Magnus Anders und Tony Renault als die ersten auf dem Verdeck.

»Wie... schon abgefahren? riefen sie.

– Abgefahren, ohne daß wir dabei geholfen haben? setzte Tony Renault hinzu.

– Ja, ich befürchtete einen Umschlag des Wetters, erklärte Harry Markel, und da wollte ich den Landwind noch benutzen...

– Nun ja, sagte John Howard, doch der wackere Butlar, dem offenbar so viel daran gelegen war, Sie zu sehen, Herr Kapitän!

– Ach ja... Butlar... ich erinnere mich seiner, wir sind eine Zeitlang miteinander gefahren, antwortete Harry Markel, doch ich konnte nicht länger warten.

[252] – Der arme Mann, sagte John Howard, das wird ihm recht schmerzlich sein! Ich weiß übrigens nicht, ob er Sie wiedererkannt hätte. Er beschrieb Sie als dick und kurz, mit rötlichem Barte...

– Den Alten wird sein Gedächtnis im Stiche gelassen haben, begnügte sich Harry Markel zu bemerken.

– Ein wahres Glück, daß wir davongegangen sind, raunte Corty dem Bootsmanne ins Ohr.

– Das will ich meinen. antwortete John Carpenter, hier war uns ein kitzliches Strickende näher als je bisher!«

4. Kapitel
Viertes Kapitel.
Martinique.

Dieser Gefahr war Harry Markel also glücklich entronnen. Noch dreimal, auf Martinique, Sankta-Lucia und auf Barbados, war er vielleicht von einer ähnlichen bedroht. Würden auch diese so wie hier an ihm vorübergehen? Während des ersten Abschnittes seines Piratenlebens hatte ihn ein außerordentlich glücklicher Zufall begünstigt bis zu dem Tage, wo er und seine Spießgesellen an Bord des »Halifax« verhaftet wurden. Dann lächelte ihnen aber das Glück gleich wieder bei ihrem Ausbruche aus dem Gefängnisse von Queenstown und bei der Überrumpelung des »Alert«. Seitdem war es ihnen treu geblieben, auch bei dem bedrohlichen Zwischenfalle, wo Harry Markel eine Begegnung mit Ned Butlar noch in letzter Stunde vermeiden konnte. Dem Umstande, daß der Matrose von dem Kapitän Paxton ein dem seinigen so unähnliches Bild entworfen hatte, maß er keine besondere Bedeutung bei. Die Passagiere dachten wohl auch gar nicht mehr daran. Er vertraute unerschüttert seinem Sterne... er wollte sein abenteuerliches und verbrecherisches Leben bis zum äußersten ausführen.

Am Vormittage der Abreise lag Dominica, von dem nur noch einige Höhen zu sehen waren, wie er wähnt, schon fünf bis sechs Meilen im Norden und wäre, [253] hätte ein etwas frischerer Wind geherrscht, wohl gar nicht mehr zu erblicken gewesen.

Die Entfernung zwischen dieser Insel und Martinique ist annähernd die gleiche, wie die zwischen Guadeloupe und Dominica. Martinique hat aber ziemlich hohe Berge, die schon bei einigen sechzig Seemeilen am Horizonte auftauchen, so daß es nicht ausgeschlossen war, sie noch heute vor Sonnenuntergang zu erblicken. In diesem Falle würde der »Alert« schon am nächsten Tage bei Fort-de-France, der Hauptstadt der Insel, auf die er zusteuerte, eintreffen können.

In neun Kantons und neunundzwanzig Gemeinden geteilt, umfaßt die Insel die zwei Arrondissements Saint-Pierre und Fort-de-France.

Der Himmel war blau und klar und das Meer glitzerte von den goldenen Sonnenstrahlen. Keine Wolke segelte in der Luft dahin. Kaum spürte man etwas von der langen, gleichmäßigen Dünung, die vom hohen Meere herkam. Der Barometer hielt sich hoch und versprach freundliche Witterung.

Unter solchen Verhältnissen konnte der »Alert« voraussichtlich freilich nicht mehr als fünf bis sechs Seemeilen in der Stunde zurücklegen. Harry Markel ließ deshalb die Leesegel des Groß- und des Fockmastes beisetzen und auch noch alle Stagsegel, mit einem Worte, alle Leinwand, die der Dreimaster tragen konnte.

Tony Renault und Magnus Anders waren nicht die letzten, die Wanten zu erklettern, um nach den Marsen zu gelangen, wobei sie sogar an dem nach außen gerichteten Teile der Strickleitern, also ohne das sogenannte Soldatenloch zu benutzen, emporklommen. Dann ließen sie die Tauenden der Leesegel schießen, während ihre Kameraden diese anholten und die Schoten straff anzogen. Nach Beendigung dieses Manövers zeigten die kühnen Burschen kaum Lust, nach dem Deck herunter zu kommen; sie wären offenbar lieber im Mastwerk sitzen geblieben.

Neben der Deckhütte auf bequemem, mit einem Kissen belegtem Stuhle saß der Mentor, der sich auf die Gewandtheit seiner Zöglinge zu verlassen schien. Immerhin beunruhigte es ihn ein wenig, diese an den Raaen hinspazieren und an den Weweleinen hinaufklettern zu sehen, so daß er ihnen wiederholt zurief, sich ja gut festzuhalten. Im Grunde gewährte ihm das Verhalten der jungen Leute aber ein geheimes Vergnügen. O, wenn der Direktor Herr Julian Ardagh jetzt neben ihm gesessen hätte, so daß er mit ihm ein paar Worte wechseln könnte, welch rühmliche Lobsprüche hätten die Pensionäre der Antilian School da[254] geerntet! Und was würde Patterson alles zu erzählen haben, wenn er nach der Rückkehr seine Tagebücher vorlegte worin alle Reiseerlebnisse verzeichnet waren!

Da ist es wohl kaum zu verwundern, daß ihm, als Tony Renault und Magnus Anders die Mastspitzen erreichten, in Gegenwart John Carpenters das Citat entschlüpfte: Sic itur ad astra...

»Was heißt das, Herr Patterson? fragte der Bootsmann.

– Das heißt, sie erheben sich zum Himmel.

– Und von wem rühren denn diese Worte her?

– Von dem göttlichen Virgil.

– Ich habe einen Mann dieses Namens gekannt, einen Neger, der an Bord eines transatlantischen Dampfers diente...

– Von dem sind jene Worte nicht, guter Freund.

– Desto besser für Ihren Virgil, denn der meinige ist schließlich aufgeknüpft worden.«

Im Laufe des Tages kreuzte der »Alert« mehrere der Fahrzeuge, die zwischen den Antillen die Küstenfahrt betreiben, er kam aber keinem davon zu nahe. Am meisten fürchtete Harry Markel übrigens eine mehrtägige Windstille, die seine Ankunft vor Martinique um ebensoviel verzögert hätte.

Zeigte die Brise aber auch Neigung zum Abflauen, so legte sie sich, selbst am Abend, doch nicht gänzlich. So schwach sie wurde, schien sie doch die Nacht über andauern zu sollen. Da sie von Nordosten kam, war sie dem »Alert« günstig, so daß auf diesem nicht einmal die oberen Segel eingezogen wurden, obgleich das sonst zwischen Untergang und Aufgang der Sonne stets zu geschehen pflegte.

Vergeblich bemühten sich die Passagiere, vor dem Eintritte völliger Dunkelheit noch den Gipfel des Mont Pelé zu erspähen, der dreihundertsechsundfünfzig Meter über das Meer emporragt. Gegen neun Uhr verschwanden sie dann in ihren Kabinen, deren Türen der Wärme wegen offen stehen blieben.

Noch nie war ihnen eine Nacht so still wie diese erschienen, und schon um fünf Uhr morgens betraten sie wieder das Verdeck.

Da zeigte Tony Renault sofort nach einer Anhöhe und rief:

»Der Mont Pelé... da liegt er!... Er ist's... ich erkenne ihn wieder.

– Du erkennst ihn wieder? ließ sich Roger Hinsdale mit kaum verhüllter Ungläubigkeit im Tone vernehmen.

[255] – Gewiß!... Warum sollte er sich denn seit fünf Jahren verändert haben?... Da, seht: die drei Spitzen des Carbet.

– Nun wahrlich, Tony, du mußt sehr gute Augen haben!

– Ganz ausgezeichnete!... Glaubt mir nur, daß das der Mont Pelé ist, der aber keineswegs kahl (franz.pelé) ist. Er ist grün und bewaldet, wie alle Berge meiner Insel. Und dort auf meiner Insel werdet ihr noch manche andere zu sehen bekommen, wenn wir erst die Höhe des Vauclin besteigen. Ob ihr's nun wollt oder nicht, ihr werdet meine Insel, die schönste der Antillen, schon bewundern lernen!«

Da ließ man ihn seine Loblieder singen, den kecken Burschen, der doch jeden Einspruch widerlegt hätte.

Von jeder Übertreibung abgesehen, hatte Tony Renault mit seinem Preise Martiniques doch ganz recht. Die Insel nimmt ihrer Ausdehnung nach die zweite Stelle in der Gruppe der Antillen ein; sie umfaßt nämlich neunhundertsiebenundachtzig Quadratkilometer und hat nicht weniger als hundertsiebenundsiebzigtausend Einwohner, darunter zehntausend Weiße, fünfzehntausend Asiaten und hundertfünfzigtausend Neger und Farbige, die meist hier geboren waren. Durchweg ist sie erfüllt von Bergen, die bis zu den höchsten Gipfeln von prächtigen Wäldern bedeckt sind. Ihr hydrographisches Netz, das für die Fruchtbarkeit des Bodens ja von so hoher Bedeutung ist, genügt zur Ausgleichung der tropischen Hitze. Die meisten ihrer Flüsse sind sogar schiffbar und ihre Häfen für die größten Schiffe zugänglich.

Den ganzen Tag wehte die Brise nur sehr schwach Nur am Nachmittage frischte sie zeitweilig ein wenig auf, und bald meldeten die Wachen die Landspitze Macouba am nördlichen Ausläufer von Martinique.

Erst in der Nacht gewann der Wind an Stärke und der sein gesamtes Segelwerk tragende »Alert« kam nun in schnellerer Fahrt um die Westküste der Insel herum.

Bei Tagesanbruch zeigte sich schon der niedrige Jakobsberg, der weniger entfernt von der Mitte des Landes liegt als der Mont Pelé, dessen Gipfel über die Morgennebel hervorragte.

Gegen sieben Uhr wurde dann an der Küste, nahe dem nordwestlichen Ende der Insel, eine Stadt sichtbar.

»Saint-Pierre Martinique!« erscholl es da freudig aus Tony Renaults Munde.


Saint-Pierre auf der Insel Martinique.

[256] [259]Und mit lauter Stimme sang er den Refrain des alten französischen Liedes:


Das ist das Land, das mir das Leben gab!


Tony Renault hatte wirklich in Saint-Pierre das Licht der Welt erblickt. Als seine Familie aber Martinique verließ, um nach Frankreich überzusiedeln, hatte sie hier keinen Angehörigen mehr zurückgelassen.

Das an demselben Ufer mehr südlich und am Eingange der gleichnamigen Bucht gelegene Fort-de-France, das ursprünglich Fort, Roque hieß, ist die Hauptstadt von Martinique. Der Handel hat sich hier aber niemals so umfänglich entwickelt wie in Saint-Pierre, das mit einer Bevölkerung von sechsundzwanzigtausend Köpfen die von Fort-de-France um zwei Fünftel übertrifft. Die andern nennenswerteren Städte Martiniques sind: an der Westküste Laurentin, weiter im Süden Saint-Esprit, Diamant und (der Marktflecken) Menu, und am unteren Ende der Insel endlich Trinité.

In Saint-Pierre, dem Verwaltungsmittelpunkte der Kolonie, ist der Verkehr nicht so sehr durch militärische Rücksichten und Maßregeln beengt wie in Fort-de-France, das mit seinen stark armierten Forts Tribut und Mouillage die Verteidigung der Insel sichert. 1

Es war vormittags neun Uhr, als der »Alert« in der runden, den Hafen bildenden Bucht seinen Anker fallen ließ. Die in deren Hintergrunde gelegene und durch einen seichten Wasserlauf in zwei Hälften geteilte Stadt wird durch einen hohen Berg gegen die Winde aus Osten geschützt.

Elisée Reclus wiederholt zustimmend, was der Geschichtsschreiber Dutertre von Saint-Pierre gesagt hat, es sei: »eine der Städte, die auch der Fremde niemals vergißt. Die Lebensweise ist hier so angenehm, die Temperatur so erträglich und man genießt im allgemeinen eine so wohltuende Freiheit, daß ich niemals einen Mann oder ein Weib gesehen habe, die, wenn sie etwa daraus weg waren, sich nicht leidenschaftlich gesehnt hätten, dahin zurückzukehren«[259] Wahrscheinlich empfand Tony Renault auch etwas von diesem leidenschaftlichen Drange, denn er zeigte sich jetzt erregter und mitteilsamer als je. Seine Kameraden konnten darauf rechnen, daß er ihnen alle Herrlichkeiten seiner Heimatinsel zeigen werde. Daß der Aufenthalt hier nur vier Tage währen sollte, kam dabei nicht viel in Betracht. Bei der Lebhaftigkeit der jungen Leute, bei ihrem Wunsche, alles zu sehen, und mit ihren tüchtigen Beinen würde unter einem Führer wie Tony Renault ja ein Ausflug dem andern folgen und ein solcher auch bis zur Hauptstadt von Martinique ausgedehnt werden. Das nicht zu tun, wäre dasselbe, wie Frankreich bereist zu haben, ohne Paris zu besuchen, oder, wie Tony Renault sagte, »nach Dieppe gegangen zu sein, ohne das Meer gesehen zu haben«.

Diese Pläne erforderten freilich eine unbeschränkte Bewegungsfreiheit und man mußte davon absehen, jede Nacht in seiner Kabine schlafen zu wollen, im Gegenteil: die Nacht würde verbracht werden, wo sich die Gesellschaft gerade befand. Das verursachte zwar einige außergewöhnliche Ausgaben, der Verwalter der Antilian School überwachte diese aber jedenfalls mit der gleichen peinlichen Sorgfalt, wie er sie in sein Kassabuch einschrieb. Warum hätten sich die jungen Leute auch unnötig einschränken sollen, wo jeder auf Barbados noch eine recht anständige Prämie erhalten sollte?

Der erste Tag wurde nun Saint-Pierre selbst gewidmet. Zuerst bewunderten die Reisenden von der Seeseite her das amphitheatralische Panorama der Stadt, ihre herrliche Lage inmitten stolzer Palmengruppen und anderer tropischen Baumarten auf dem Abhange des Berges, der ihr als Hintergrund dient, und dann besuchten sie das Innere der Stadt, das seinem Außenbilde würdig war. Vielleicht machten die niedrigen, gelb getünchten Häuser keinen besonderen Eindruck, man hatte aber darauf achten müssen, sie fest und haltbar herzustellen zum Schutz gegen die auf den Antillen so häufigen Erdbeben und gegen die oft furchtbaren Stürme, wie z B. der vom Jahre 1776, der so heilloses Verderben anrichtete und seine Verwüstungen über die ganze Insel ausdehnte.

Tony Renault unterließ es auch nicht, seine Kameraden in dem Hause zu begrüßen, wo er vor siebzehn Jahren geboren war und das man jetzt mehr zu einer Niederlage von Erzeugnissen der Kolonie umgestaltet hatte.

Bis 1635 waren die Karaïben die einzigen Bewohner von Martinique. Dann zwang der Franzose d'Esnambue, der Gouverneur von Sankt-Christoph, der sich hier etwa mit hundert Mann festzusetzen suchte, die Eingebornen, sich [260] nach den Bergen und in die Urwälder des Innern zurückzuziehen. Die Karaïben wollten sich aber nicht ohne Widerstand verdrängen lassen; sie riefen die Indianer der benachbarten Inseln zu Hilfe, und anfangs gelang es ihnen auch, die Fremden noch einmal zu vertreiben. Diese zogen jedoch Verstärkungen heran und nahmen den Kampf von neuem auf, bei dem die Eingebornen in dem letzten Gefechte sieben- bis achthundert der ihrigen verloren.

Die Karaïben unternahmen indes noch einen letzten Versuch, sich der Insel wieder zu bemächtigen... ein Kampf, bei dem sie meist überraschend aus einem Hinterhalte hervorbrachen, während auch viele einzelne Mordtaten vorkamen. Da entschloß man sich dazu, der grausamen Rasse ein Ende zu machen, und fortan blieben die Franzosen dann fast unangefochten die Herren von Martinique.

Von diesem Zeitpunkte an wurde nun die Kultur des Landes eifrig und planmäßig begonnen. Baumwolle, Orleans, Tabak, Indigo und Zuckerrohr, ferner gegen Ende des 17. Jahrhunderts Kakaobäume, lieferten bald reiche Erträge.

Wir fügen hier noch eine von Tony Renault erzählte Geschichte ein, die Patterson in sein Tagebuch eintrug:

Im Jahre 1718 zerstörte ein ungewöhnlich heftiger Orkan alle Kakaobäume. Der Botanische Garten in Paris besaß aber einige solche Bäume, die er aus Holland erhalten hatte. Der Naturforscher Desclieux wurde nun sofort beauftragt, zwei Schößlinge von Kakaobäumen nach Martinique zu bringen. Während seiner Überfahrt dorthin ging das Trinkwasser auf dem Schiffe fast gänzlich aus. Trotzdem verwendete Desclieux einen Teil seiner knappen Ration für die Schößlinge, die denn auch glücklich ankamen und zur Wiederanpflanzung von Kakaobäumen den Grund legten.

»Hat nicht Jussieu dasselbe für die Zeder getan, die man im Pariser Jardin des Plantes noch heute bewundert?

– Ja, das war schön, war rühmenswert von ihm, erklärte Patterson, und Frankreich ist doch die Heimat einer großen Nation!«

Martinique fiel jedoch 1794 in die Gewalt der Engländer und wurde von diesen erst nach dein Vertrage von 1816 zurückgegeben.

Die Kolonie befand sich damals in einer Lage, die das zahlenmäßige Übergewicht der Sklaven gegenüber deren Herren zu einer recht schwierigen machte. Es kam sogar zu einer, vorzüglich von entlaufenen Sklaven geschürten Empörung. [261] Man mußte sich deshalb zu einer Freilassung entschließen, die gegen dreitausend Sklaven betraf. Die Farbigen machten dann von ihren civilen und politischen Rechten ausgedehnten Gebrauch. 1828 gab es auf Martinique schon neunzehntausend freie Neger, von denen viele für eigene Rechnung arbeiteten und sogar einen Teil des Grund und Bodens in ihren Besitz brachten.

Am folgenden Tage bestiegen die Touristen den Mont Pelé auf Wegen durch die dichten Waldmassen, die seine Abhänge bedecken. Ging dieser mühsame Aufstieg auch nicht ohne einige Erschöpfung ab, so wurden Tony Renault und seine Kameraden dafür doch reichlich belohnt. Die Aussicht von oben umfaßte die ganze Insel, die wie ein abgefallenes Blatt auf den blauen Fluten des Antillenmeeres schwamm. Nach Südosten zu verbindet ein schmaler, kaum zwei Kilometer langer Isthmus, der durch die Ufersümpfe verläuft, die beiden Teile von Martinique. Der eine schiebt zwischen dem Hafen der Trinité und der Gabionbucht die Halbinsel der Caravellen in den Atlantischen Ozean hinaus, der andere mit sehr unebenem Boden erhebt sich mit dem Vauclin bis fünfhundert Meter über das Meer. Die anderen, mehr hügelartigen Erhebungen, wie die Höhen Robert, die der Franzosen, ferner die Constants und die der Ebene geben der Insel ein recht malerisches Aussehen. In südwestlicher Richtung nach der Küste zu breitet sich die Bucht des Diamanten aus und nach Südosten hin hebt sich die Landspitze der Salinen ab, die gleichsam den Stiel des schwimmenden Blattes bildet.

Der herrliche Anblick riß die jungen Reisenden anfangs zu stummer Bewunderung hin. Selbst Horatio Patterson erinnerte sich hier keines einzigen lateinischen Verses, den er als den Ausdruck seiner Empfindungen hätte citieren können.

»Nun... was hatte ich euch gesagt?... So antwortet doch; was hatte ich gesagt?« fragte Tony Renault in sichtbarer Selbstbefriedigung.

Vom Kraterrande des Mont Pelé aus erkannte man leicht die Fruchtbarkeit der Insel, die mit hundertachtundsiebzig Bewohnern auf den Quadratkilometer gleichzeitig eines der dichtest bevölkerten Länder der Erde ist.

Während sich die Zucht der Kakaobäume und der Farbstoffpflanzen auf gleicher Höhe gehalten hat, ist der Anbau des Kaffees stark zurückgegangen und scheint gänzlich aufgegeben werden zu sollen. Die Zuckerrohrfelder umfassen nicht weniger als vierzig tausend Hektar und liefern jährlich für achtzehn bis zwanzig Millionen Francs Zucker, Rum und Tafia.

[262] Die Einfuhr der Insel beläuft sich dem Werte nach auf zweiundzwanzig, die Ausfuhr auf einundzwanzig Millionen Francs, und der Handelsverkehr Martiniques beschäftigt fast neunzehnhundert Schiffe.

Daneben durchziehen die Insel mehrere Bahnlinien, teils für die Fabriken und teils für die Feldwirtschaftsbetriebe des Innern, die diesen eine bequeme Verbindung mit den Häfen bieten. Außerdem gibt es noch ein recht gut entwickeltes Netz von Fahrstraßen, dessen Länge etwas über neunhundert Kilometer beträgt.

Am nächsten Tage, am 30. August, brachen die Touristen längs einer vortrefflich erhaltenen Straße nach Fort-de-France auf. Ein Break beförderte die ganze Gesellschaft der lebensfrohen jungen Leute, deren Teint von der Last des Atlantischen Ozeans gebräunt war und deren Lustigkeit zuweilen überschäumte.

Nach einem kräftigen Frühstück in einem guten Hotel schlenderten sie durch die (politische) Hauptstadt der Insel, die im Hintergrund der gleichnamigen großen Bai liegt und von der gewaltigen Masse des Fort-Royal beherrscht wird. Hier wurden das Arsenal und der Kriegshafen besucht, die dieser Stadt den industriellen und kommerziellen Charakter vollständig rauben. Hier, wie in Amerika und auch in Europa, zeigt es sich schwierig, die militärischen Anforderungen mit den civilen auf gleicher Entwicklungsstufe zu halten, daher auch der auffallende Unterschied zwischen Saint-Pierre und Fort-de-France.

Diese Stadt ist auch nicht den gewöhnlichen Geißeln entgangen die in Westindien nicht selten furchtbare Verheerungen anrichten. Im Jahre 1839 von einem heftigen Erdbeben heimgesucht, das zahlreiche Opfer forderte 2, hat sie sich schöner als vorher wieder erhoben, und heute ziehen sich von ihr aus herrliche Promenaden bis zu den Hügeln der Umgebung hin. Da hätte man sie sehen sollen, die lärmende Schar, als sie die prächtige Allee de la Savane dahintrottete, die beim Fort Saint-Louis ausmündet, und als sie dann den ebenen, mit Palmen bepflanzten Platz umkreiste, in dessen Mitte sich das weiße Marmorstandbild der Kaiserin Josefine erhebt, der gekrönten Kreolin, deren Andenken man auf Martinique noch heute so treu bewahrt.

Nach der Stadt kamen deren Umgebungen an die Reihe, wobei Tony Renault seinen Kameraden kaum Zeit ließ, einmal gründlich Atem zu schöpfen.

[263] Diese mußten ihm folgen, so gut es ging, zunächst nach einer Anhöhe des nahen Balata-Feldes und dann nach einem Sanatorium für die Truppen, die sich, von Europa eintreffend, hier allmählich an das Klima der Insel gewöhnen sollen. Endlich erstreckte sich der Ausflug noch bis zu den warmen Quellen der Nachbarschaft. Dabei sei auch erwähnt, daß der Mentor und seine Begleiter trotz der auf Martinique häufig vorkommenden Schlangen bisher noch auf keines dieser giftigen Reptile gestoßen waren.

Der junge Cicerone veranlaßte seine Kameraden endlich noch zu einem Ausfluge nach dem Flecken Lamentin, wobei der Weg durch einen der dichten Wälder führte, die die Insel weithin bedecken. Bei dieser Gelegenheit ereignete sich ein Zwischenfall, der es verdient, mit allen Einzelheiten geschildert zu werden, denn von allem, was Horatio Patterson angeht, dürfen wir doch nichts verschweigen.

Am 31. August, an dem der Abreise vorhergehenden Tage, begaben sich die Ausflügler, nach ruhig verbrachter Nacht, nach der Landenge, die beide Teile der Insel verbindet. Lustig wie immer verlief auch dieser Weg. Einige Wagen hatten Nahrungsmittel mitgenommen und jeder Teilnehmer trug seine wohlgefüllte Feldflasche, da im Walde gefrühstückt werden sollte.

Nach mehrstündiger Fahrt verließen Tony Renault und die übrigen ihren Wagen, drangen in den dämmerigen Wald ein und erreichten einen halben Kilometer weiter den Rand einer Blöße, die zum Ausruhen wie geschaffen schien und von der aus der Marsch in den Wald weiter fortgesetzt werden sollte.

Der nicht so schnellfüßige Patterson war dabei um einige hundert Schritte zurückgeblieben. Darum kümmerte sich zunächst niemand, da er doch jedenfalls nachkommen würde.

Da der Mentor aber auch nach zehn Minuten noch nicht erschienen war, erhob sich Louis Clodion und rief mit lauter Stimme:

»Herr Patterson!... Hierher, Herr Patterson!«

Keine Antwort; von dem Fehlenden war auch zwischen den Bäumen nichts zu sehen.

»Sollte er sich verirrt haben? fragte Roger Hinsdale, der jetzt ebenfalls aufstand.

– Weit kann er doch unmöglich sein«, meinte Axel Wickborn.

Und nun riefen alle zusammen:

»Herr Patterson!... Herr Patterson!«

[264] [267]Von innerer Unruhe ergriffen, beschlossen die jungen Leute, nach dem Mentor zu sachen. Der Wald war so dicht, daß ja die Möglichkeit vorlag, sich darin zu verirren, und das war auch nicht ganz ohne Gefahr. Zwar ist keine Begegnung mit Raubtieren zu fürchten, weil es solche auf den Antillen nicht gibt, dagegen ist man dem ausgesetzt, sich unversehens gegenüber einem jener furchtbaren Ophidier zu befinden, jener Trigonocephalen, deren Biß allemal tödlich ist.

Die jungen Leute ergriff aber eine wirkliche Angst, als ihre Nachsuchung auch nach einer halben Stunde noch erfolglos geblieben war. Vergeblich war der Name Patterson hundertmal und nach allen Richtungen hinausgerufen worden... von Patterson fand sich keine Spur.


Der botanische Garten von Saint-Pierre. Der Teich und die Ravenalas.

Alle waren schon tief in den Wald hinein vorgedrungen, als sie eine Hütte, eine Art Jagdhäuschen entdeckten, das umgeben von einem unentwirrbaren Lianennetze unter den Bäumen versteckt lag.

Sollte Patterson aus dem oder jenem Grunde darin Zuflucht gesucht haben? Jedenfalls war die Hütte geschlossen und ihre Tür äußerlich durch eine vorgelegte Holzstange zugehalten.

»Darin kann er nicht sein, sagte Niels Harboe.

– Nachsehen wollen wir aber doch,« erklärte Magnus Anders.

Die Stange wurde entfernt und die Tür geöffnet.

Die Hütte erwies sich leer. Sie enthielt nur einige Bündel dürres Laub, ein Weidmesser mit Scheide, das an der einen Wand hing, ferner eine Jagdtasche und die Felle und Bälge mehrerer Vierfüßler und Vögel, die in einer Ecke aufgehängt waren.

Louis Clodion und Roger Hinsdale, die die Hütte betreten hatten, kamen bald wieder heraus, als ihre Kameraden jubelnd riefen:

»Da... da ist er!«

In der Tat lag Patterson zwanzig Schritte weiter rückwärts am Fuße eines Baumes. Den Hut an der Erde, das Gesicht verzerrt und die Arme verschränkt, bot er vollständig das Bild eines Mannes, der den letzten Atem ausgehaucht hat.

Louis Clodion, John Howard und Albertus Leuwen stürmten auf Patterson zu. Sein Herz schlug noch... er war nicht tot.

»Was mag ihm zugestoßen sein?? rief Tony Renault. Sollte ihn eine Schlange gebissen haben?«

[267] Ja, vielleicht war Patterson auf eine jener Trigonocephalen, auf eine sogenannte »Speernase« gestoßen, die auf Martinique und zwei anderen kleinen Antillen so gewöhnlich sind. Diese gefährlichen, zuweilen sechs Fuß langen Reptile haben eine Hautfärbung, die sich nicht allemal leicht von den Baumwurzeln unterscheiden läßt, hinter denen sie lauern. Man kann also nur schwierig ihrem rasend schnellen und überraschenden Anfalle entgehen.

Da Patterson aber noch atmete, mußte doch alles versucht werden, ihn wieder zum Bewußtsein zu bringen. Louis Clodion lüftete die Kleider des Mentors und überzeugte sich dabei, daß an seinem Körper keine Bißwunde zu entdecken war. Wie sollte man sich dann aber erklären, daß er sich in diesem Zustande, mit allen Zeichen des Entsetzens in den Zügen, befand?

Man erhob nun seinen Kopf, lehnte ihn mit dem Rücken vorsichtig an den nahen Baumstamm und rieb ihm die Schläfengegend mit kühlem Wasser aus einem Rio ein, der sich nach einem Sumpfe zu hinschlängelte. Gleichzeitig benetzte einer der erschrockenen jungen Leute seine Lippen mit einigen Tropfen Rum.

Da öffneten sich endlich langsam Pattersons Augenlider und fast unartikulierten Tones entfuhren ihm die Worte:

»Die Schlange... die Schlange!

– Herr Patterson... Herr Patterson, redete Louis Clodion, seine Hände fassend, auf den Daliegenden ein.

– Die Schlange... ist sie weg von hier?

– Welche Schlange?

– Die, die ich zwischen den Zweigen dieses Baumes gesehen habe.

– Zwischen den Zweigen?... Welchen Baumes?

– Da seht doch... dort... dort... seid um des Himmels willen vorsichtig!«

Obgleich Patterson nur halbverständliche Worte hervorbrachte, begriff man daraus doch, daß er sich gegenüber einem mächtigen Reptil befunden haben müsse, das sich in die Gabelung eines Baumes schlang, dessen Blick ihn halbgelähmt hatte, wie einen scheuen Vogel. Er suchte sich wohl zurückzuhalten, doch die Schlange hatte ihn behext, er mußte sich ihr nähern, und als er ihr nahe genug war, schlug er, vom Instinkt der Selbsterhaltung getrieben, mit seinem Stocke nach dem schrecklichen Tiere, als dieses sich eben auf ihn stürzen wollte. Was war nun aus der Schlange geworden?... Hatte er sie getötet?... Schleicht sie nicht noch unter dem Grase umher... latet anguis in herba?

[268] Die jungen Leute beruhigten Patterson. Nein, hier war keine Spur von einer Schlange zu entdecken.

»Und doch... doch!« rief er kläglich.

Der Mentor hatte sich langsam erhoben und streckte die eine Hand aus.

»Dort... dort!« rief er entsetzten Tones.

Aller Blicke richteten sich nach der Seite, auf die Patterson hinwies.

»Ich sehe sie... ich sehe sie noch!« jammerte der Unglückliche.

Wirklich hing da an den unteren Zweigen eines Baumes eine Trigonocephale von außergewöhnlicher Größe, mit noch funkelnden Augen und die gespaltene Zunge hervorragend, aber schlaff, bewegungslos, nur durch ihren Schwanz zurückgehalten und ohne jedes Zeichen von Leben.

Offenbar hatte der Stockhieb Pattersons sie gut getroffen; dieser mußte mit sehr großer Kraft geführt worden sein, ein Reptil von dieser Größe zu töten. Nach dem heftigen Schlage wußte Patterson freilich nicht mehr, was geschehen war – bewußtlos war er am Fuße des Baumes zusammengebrochen.

Der Sieger im Kampfe wurde nichtsdestoweniger herzlich beglückwünscht, und es ist wohl nicht zu verwundern, daß ihn danach verlangte, den Gegenstand seines Triumphes an Bord des »Alert« mitzunehmen, um ihn bei dem nächsten Aufenthalt des Schiffes ausstopfen zu lassen.

Sofort lösten John Howard, Magnus Anders und Niels Harboe die Schlange aus den Baumzweigen und trugen sie mit mach der Waldblöße. Hier stärkten sich die Touristen durch ein kräftiges Mahl, tranken jubelnd auf die Gesundheit des Herrn Patterson und gingen endlich zur Besichtigung der Landenge weiter. Drei Stunden später bestiegen sie ihren Wagen, worin auch die Schlange untergebracht wurde, und kehrten um acht Uhr abends nach Saint-Pierre zurück.

Als die Passagiere dann an Bord waren, ließen John Carpenter und Corty den prächtigen Ophidier herauswinden und in der Hauptkajüte niederlegen, wo ihn Patterson mit ebenso erschrecktem wie befriedigtem Blicke betrachtete. Das mußte nach der Rückkehr einen packenden Bericht über das Abenteuer Pattersons abgeben, und im Bibliotheksaale der Antilian School würde diesem merkwürdigen und schrecklichen Vertreter der Trigonocephalen Martiniques gewiß ein Ehrenplatz eingeräumt werden. In seinem nächsten Briefe an Herrn Julian Ardagh wollte der Mentor dem auch, neben der Schilderung seines Erlebnisses. Ausdruck geben.

[269] Nach einem so erfolgreich verbrachten Tage – dies notanda lapillo, wie Horaz sagt und Horatio wiederholte – galt es nun, sich durch ein gutes Abendbrot und einen stärkenden Schlaf zu erholen, um für die morgen stattfindende Abfahrt gerüstet zu sein.

Das geschah denn auch. Ehe Tony Renault sich aber in seine Kabine zurückzog, nahm er seine Kameraden bei Seite und sagte, vorsichtig, um nicht von Patterson gehört zu werden:

»Nein... das ist doch gar zu drollig!

– Drollig?... Was denn? fragte Hubert Perkins.

– Die Entdeckung, die ich eben gemacht habe.

– Und was hast du entdeckt?

– Daß es nicht nötig sein wird, Herrn Pattersons Schlange ausstopfen zu lassen.

– Ja... warum denn nicht?

– Weil sie schon ausgestopft ist!«

Daß das der Fall, hatte Tony Renault erkannt, als er sich noch einmal mit der Beute des Mentors zu schaffen machte. Die Schlange war nichts anderes als eine Jagdtrophäe, die irgend jemand an den Zweigen des Baumes in der Nähe der Hütte aufgehängt hatte. Der unerschrockene Patterson hatte eine – tote Schlange erschlagen!

Man kam jedoch dahin überein, sie in Sankta-Lucia von einem Präparator angeblich ausstopfen zu lassen, um dem braven Manne keinen Kummer zu bereiten und ihm das Wohlgefühl seines Sieges zu lassen.

In den ersten Stunden des nächsten Tages lichtete der »Alert« die Anker und noch im Laufe des Vormittages hatten die Passagiere die Höhen von Martinique aus dem Gesicht verloren.

Man kann mit Recht sagen, Martinique ist »das Land der Wiederkommenden«, weil jedermann das Verlangen empfindet, dahin zurückzukehren, und der und jener von den Zöglingen der Antilian School dachte wohl auch daran, ohne das Schicksal zu ahnen, das ihnen von der Verbrechermannschaft des »Alert« zugedacht war.

[270]
Fußnoten

1 »Hier sei beiläufig an das entsetzliche Unglück erinnert, wovon Martinique wenige Jahre später heimgesucht wurde. Am frühen Morgen des 8. Mai 1902 wurde ein Teil der Insel durch Erdbeben und einen furchtbaren Vulkanausbruch verwüstet. Saint-Pierre, das von Fort-de-France zweiundzwanzig Kilometer weit entfernt liegt, wurde von den giftigen Dunstmassen, die aus dem Krater des Mont Pelé hervorquollen, eingehüllt und von dem Aschenregen begraben, der seine Umgebung weit und breit bedeckte. Viele Tausende der Bewohner erstickten dabei infolge der Einatmung der glühend heißen Luft. Die Katastrophe zerstörte jedoch nur den nach dem karaïbischen Meere zu gelegenen Teil der Insel, der durchgängig vulkanischer Natur ist. Sogar auf dem Meere verunglückten bei dieser Gelegenheit noch eine Anzahl Schiffe oder hatten wenigstens Tote zu beklagen.

2 1890 zerstörte wieder eine Feuersbrunst den größten Teil von Fort-de-France.

5. Kapitel
Fünftes Kapitel
Sankta-Lucia.

Die Überfahrt zwischen Martinique und Sankta-Lucia verlief ebenso ungestört wie ziemlich schnell. Der Wind wehte als frische Brise von Nordosten, und mit allen Segeln legte der »Alert«, ohne die Halsen je wechseln zu müssen, im Laufe des Tages die neunzig Seemeilen zurück, die Saint-Pierre von Castries, dem Hauptorte der englischen Insel, trennen.

Immerhin traf Harry Markel in Sicht von Sankta-Lucia erst mit Eintritt des Abends ein und hielt es deshalb für angezeigt, zunächst aufzubrassen, um erst mit Tagesanbruch in den zum Hafen führenden Kanal einzulaufen.

In den ersten Morgenstunden waren die höchsten Gipfel von Martinique noch sichtbar gewesen. Der Mont Pelé, dem Tony Renault bei der Ankunft zuerst zugejauchzt hatte, erhielt von diesem auch den letzten Scheidegruß.

Der Hafen von Castries bietet mit seinen mächtigen Uferhöhen einen herrlichen Anblick. Er bildet einen weiten Kreis, in den das Meer hineinbricht. Selbst Schiffe mit großem Tonnengehalte finden darin sicheren Ankerplatz. Die Häuser der amphitheatralisch angelegten Stadt ragen übereinander bis zu den Kammhöhen der Umgebung hervor. Die Stadt liegt, wie die meisten in Antilien, mit der Hauptfront nach Westen und ist dadurch gegen die Seewinde und die oft so starken atmosphärischen Störungen recht gut geschützt.

Es wird niemand wundernehmen, daß Roger Hinsdale »seiner« Insel den Vorrang vor allen anderen der Gruppe zusprach. Weder Martinique noch Guadeloupe konnte in seinen Augen einen Vergleich mit dieser aushalten. Der junge, von britischem Hochmut erfüllte Engländer mit seiner stets überlegenen Miene pochte bei jeder Gelegenheit auf seine Nationalität, entlockte seinen Kameraden damit jedoch nur ein halb spöttisches Lächeln. An Bord fand er freilich in John Howard und Hubert Perkins einigen Rückhalt, obwohl diese beiden weniger »verengländert« waren als er. Wo jedoch angelsächsisches Blut in den Adern fließt, weiß man ja längst, daß dieses seine eigenen Wirkungen äußert, es ist darüber also kein weiteres Wort zu verlieren.

[271] Nach dem Beispiele Louis Clodions und Tony Renaults, und wohl auch infolge einer natürlichen Anregung, gedachte er auf Sankta-Lucia »die Honneurs zu machen«, hier, wo seine Eltern unter der vornehmen Gesellschaft der Insel eine so hervorragende Stellung eingenommen hatten.

Die Familie Hinsdale hatte hier übrigens noch ausgedehnte Besitztümer: Plantagen, Zuckermühlen und blühende Landgüter, die von einem Agenten, einem Herrn Edward Falkes, für ihre Rechnung verwaltet wurden. Falkes, der von der bevorstehenden Ankunft des jungen Erben der Hinsdales Nachricht erhalten hatte, sollte sich diesem auch für die ganze Zeit des Aufenthaltes zur Verfügung stellen.

Wir erwähnten schon, daß Harry Markel in der Dunkelheit nicht in den Hafen einlaufen wollte, und als eben das Wasser still stand und bevor die Ebbe sich bemerkbar machte, ging er in einer kleinen Bucht vor Anker, um nicht wieder weiter aufs Meer hinausgetragen zu werden.

Bei Tagesanbruch sah Harry Markel, daß er immer noch einige Stunden an derselben Stelle liegen bleiben müßte. Seit Mitternacht war die Luft nämlich ganz still geworden, und erst wenn die Sonne einige Grade über dem Horizonte stand, sprang voraussichtlich der Wind, dann aber aus Westen, wieder auf.

Sobald es einigermaßen heller war, erschienen aber alle, als erster Roger Hinsdale, als letzter Herr Patterson, auf dem Verdeck, um etwas frischere Luft als die in den Kabinen zu atmen. Es drängte sie auch, die Küstenlandschaft zu betrachten, die sie gestern im Abenddunkel nur unklar gesehen hatten.

War ihnen die Geschichte Sankta-Lucias noch nicht ordentlich bekannt, so lag das daran, daß sie nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit wie ihr Mentor auf Roger Hinsdale gehört hatten.

Übrigens unterschied sich die Geschichte von Sankta-Lucia nicht wesentlich von der der anderen Inseln Westindiens.

Schon früher von Karaïben bevölkert, die auf Sankta-Lucia sogar einigen Landbau trieben, wurde es von Christoph Columbus an einem Datum entdeckt, das ebensowenig genau bekannt ist wie das, an dem die ersten Kolonisten dort ankamen. Jedenfalls weiß man aber, daß die Spanier daselbst vor dem Jahre 1639 noch keine Niederlassung begründet hatten. Die Engländer waren nur achtzehn Monate – gegen Mitte des 17. Jahrhunderts – im Besitze der schönen Insel gewesen.

[272] [275]Als die Karaïben von ihnen aber, wie erwähnt, nach Dominique übergeführt worden waren, empörten sich die Nachbarinseln. 1640 überfielen die wütenden Eingebornen die junge Kolonie. Die meisten Ansiedler wurden schonungslos ermordet, und dem Gemetzel entgingen nur die wenigen, denen es noch gelungen war, auf Schiffen zu entfliehen.

Zehn Jahre später ließen sich, unter Führung eines gewissen Rousselan, eines sehr entschlossenen Mannes, vierzig Franzosen auf Sankta-Lucia nieder. Rousselan heiratete sogar eine Indianerin; er verstand es, durch seine Intelligenz und Geschicklichkeit die Ein gebornen an sich zu fesseln und sicherte bis zu seinem nach vierzig Jahren erfolgten Ableben die Ruhe und Sicherheit des Landes.


Der botanische Garten von Saint-Pierre. - Palmenallee.

Die ihm folgenden Kolonisten zeigten sich weniger geschickt. Durch unnütze Quälereien und manche Ungerechtigkeiten reizten sie die Karaïben zur Wiedervergeltung, und diese rächten sich durch Mordtaten und Plünderungen. Jetzt hielten die Engländer die Stunde für eine Einmischung für gekommen. Flibustier und Abenteurer aller Art überschwemmten Sankta-Lucia, das erst durch den Vertrag von Utrecht, durch den die Insel als neutral erklärt wurde, wieder Ruhe finden sollte.

»Ist denn seit dieser Zeit, fragte Niels Harboe, Sankta-Lucia immer im Besitz der Engländer gewesen?

– Ja und nein, antwortete Roger Hinsdale.

– Ich sage nein, erklärte Louis Clodion, der alles gelesen hatte, was die Antilleninsel betraf, die der »Alert« jetzt anlaufen sollte. Nein, denn nach dem Vertrage von Utrecht wurde sie dem Marschall d'Estrées überlassen, der 1718 Truppen dahin sandte, um die französische Kolonie zu schützen.

– Ganz recht, erwiderte Roger Hinsdale, doch auf den Einspruch Englands wurde diese Konzession zu Gunsten des Herzogs de Montagne zurückgezogen.

– Jawohl, entgegnete Louis Clodion, doch auf den weitern Einspruch Frankreichs wurde auch diese Konzession bald widerrufen...

– Aber ohne Wirkung, da die englischen Kolonisten doch am Platze blieben.

– Und wenn sie da blieben, ist es doch nicht minder wahr, daß die unbeschränkte Oberherrschaft über die Kolonie durch den Pariser Vertrag von 1763 nun Frankreich zugesprochen wurde.«

[275] So war es in der Tat, und Roger Hinsdale mußte das, trotz des Eifers bei Verfechtung seiner Sache, auch unumwunden zugeben. In der nun folgenden Zeit sah Sankta-Lucia seine Entwicklung mit der Zahl der durch die benachbarten Kolonisten von Grenada, Sankt-Vincent und Martinique begründeten Ansiedlungen im gleichen Verhältnis zunehmen. Im Jahre 1709 hatte die Insel mit Einschluß der Sklaven dreizehnhundert Einwohner gehabt, 1772 zählte sie deren aber fünfzehntausend.

Leider blieb Sankta-Lucia aber immer noch ein Gegenstand des Streites zwischen den Mächten, die es zu besitzen trachteten, und Roger Hinsdale konnte hinzufügen:

»Im Jahre 1779 wurde die Insel dann von dem General Abercrombie eingenommen und fiel damit in den Besitz Englands zurück.

– Das weiß ich, antwortete Louis Clodion, der nun auch etwas wärmer wurde, der Vertrag von 1783 überließ sie aber Frankreich von neuem.

– Um 1794 wieder englisch zu werden, erklärte Roger Hinsdale, der auf jedes Datum schnell eine Antwort zur Hand hatte.

– Nicht dich werfen lassen, Louis, fiel jetzt Tony Renault ein, sag' uns, daß Sankta-Lucia die französische Flagge nochmals über sich wehen gesehen hat...

– Gewiß, Tony, da es 1802 wiederum französische Kolonie wurde.

– Doch nicht für lange Zeit, erklärte Roger Hinsdale. Beim Bruche des Friedens von Amiens im Jahre 1803 wurde es an England zurückgegeben, und diesmal endgültig, das dürft ihr glauben...

– Oho... endgültig! rief Tony Renault mit etwas höhnischer Gebärde.

– Jawohl... endgültig, Tony, antwortete Roger Hinsdale, bemüht, alle mögliche Ironie in seine Worte zu legen, oder hättest du vielleicht die Kühnheit, sie für dich allein zu beanspruchen?

– Warum denn nicht?« erwiderte Tony Renault, wobei er sich mit angenommenem Siegerstolz emporrichtete.

Niels Harboe, Axel Wickborn und Albertus Leuwen hatten natürlich gar kein besonderes Interesse an diesem Wortgeplänkel zwischen Engländern und Franzosen. Weder Dänemark noch Holland hatte je einen Teil der vielumstrittenen Insel beansprucht. Vielleicht hätte Magnus Anders diese aber vereinigt gefunden, wenn er sie für Schweden in Anspruch nahm, das nicht einmal das kleinste Eiland im ganzen Archipel besaß.

[276] [279]Da die Auseinandersetzung jedoch ernster zu werden drohte, mischte sich Patterson mit einem ganz angebrachten Quos ego! ein und fuhr dann milderen Tones fort:


Patterson war bewußtlos am Fuße des Baumes zusammengebrochen. (S. 269.)

»Nur gemach, meine jungen Freunde! Wollt ihr denn miteinander Krieg führen?... Einen Krieg diese Geißel des Menschengeschlechts... einen Krieg...Bella matribus detestata, was übersetzt bedeutet...

– In gutem Französisch, rief Tony Renault, ›abscheuliche Schwiegermütter‹! 1

Die ganze junge Gesellschaft brach in lautes Lachen aus, während der Mentor das Gesicht mit den Händen bedeckte.

Der kleine Zwist schloß mit einem Händedrucke, von seiten Roger Hinsdales zwar etwas widerwillig von Louis Clodion dagegen freimütig erwidert. Dann wurde zwischen den beiden Nationen noch ausgemacht, daß Tony Renault jeden Versuch unterlassen werde, Sankta-Lucia der britischen Oberhoheit zu entreißen. Louis Clodion durfte aber noch bei seiner Behauptung bleiben, und die Passagiere des »Alert« sollten bald de visu und de auditu bestätigt finden – daß Sankta-Lucia, wenn jetzt auch die britische Flagge darüber weht, doch in unzerstörbarer Weise in Sitten, Traditionen und in seiner ganzen Lebensführung französisch geblieben ist. Nach der Ausschiffung an Sankta-Lucia konnten Louis Clodion und Tony Renault mit vollem Rechte glauben, sie befänden sich noch auf la Désirade, auf Guadeloupe oder auf Martinique.

Etwas vor neun Uhr erhob sich der Wind, und kam, wie Harry Markel vermutet hatte, von der offenen See her. Obwohl es sich in diesem Falle um die Westseite handelte, trifft diese Bezeichnung doch zu, da Sankta-Lucia weder nach Morgen noch nach Abend hin ge deckt liegt. Zwischen dem Antillenmeere und dem Atlantischen Ozean völlig vereinzelt aufragend, ist es von beiden Seiten der Gewalt des Windes und des Seeganges gleichmäßig ausgesetzt.

Auf dem »Alert« wurden nun sofort alle Vorbereitungen zur Abfahrt getroffen. Als der Anker auf seinem Kranbalken lag, machte der »Alert« mit dem großen Mars-, dem Fock- und dem Leesegel wieder Fahrt, verließ seinen Ankerplatz und schwenkte bald um eine der Landspitzen, die den Hafen von Castries abschließen.

[279] Dieser Hafen führt auch den Namen Carénage (Platz zum Kielholen) und ist einer der besten in der antillanischen Inselgruppe. Das erklärt auch den zähen Wettbewerb Frankreichs und Englands, sich dessen Besitz zu sichern. Jener Zeit war man damit beschäftigt, die Kaimauern zu vollenden und Rampen und Brücken auszubauen, um allen Bedürfnissen des Schiffsverkehres zu genügen. Unzweifelhaft steht Carénage auch noch eine große Zukunft bevor. Hier versorgen sich die Dampfer mit der nötigen, aus England stammenden Steinkohle aus geräumigen Niederlagen, die von Schiffen des Vereinigten Königreichs stets gefüllt erhalten werden.

Erreicht die Ausdehnung Sankta-Lucias auch nicht die der größten von den Inseln Vor dem Winde, so umfaßt es doch nicht weniger als sechshundertvierzehn Quadratkilometer und hat eine Bevölkerung von fünfundvierzigtausend Köpfen, wovon fünftausend auf seine Hauptstadt Castries kommen.

Roger Hinsdale hätte es natürlich sehr gern gesehen, wenn hier ein längerer Aufenthalt als auf den schon besuchten Antillen möglich gewesen wäre, da er seinen Kameraden gern alle Einzelheiten der Insel gezeigt hätte. Der Reiseplan gestand ihm jedoch nur drei Tage zu, und darein mußte er sich wohl oder übel fügen.

Hier befand sich ja auch kein Mitglied der Familie Hinsdale mehr, welche schon längere Zeit in London wohnte. Immerhin waren ihre Besitzungen hier von recht ansehnlicher Größe, und Roger erschien jetzt etwa wie ein junger Landlord, der einmal seine Güter besucht.

Als der »Alert« gegen zehn Uhr im Carénage Anker geworfen hatte, ließen sich Roger Hinsdale und seine Kameraden, begleitet von Herrn Patterson, ans Land setzen.

Die Stadt mit ihren geräumigen freien Plätzen, ihren breiten Straßen und dem in dem glühenden Klima der Antillen so erwünschten Reichtum an schattenspendenden Bäumen, machte auf alle einen recht günstigen Eindruck, jedenfalls aber auch den schon früher erwähnten, daß sie mehr in einem französischen als in einem englischen Gemeinwesen zu sein glaubten.

»Ganz entschieden: hier sind wir in Frankreich!« rief Tony Renault erfreut, eine Bemerkung, die Roger Hinsdale freilich mit einer gewissen Mißachtung hinnahm.

Die Passagiere waren an der Landungsstelle von dem Agenten empfangen worden, der sie bei ihren Ausflügen führen sollte. Edward Falkes unterließ es[280] [283] gewiß nicht, ihnen die prächtigen Besitzungen der Familie im besten Lichte zu zeigen, vorzüglich die weitberühmten Zuckerrohrfelder von Sankta-Lucia, deren Erzeugnis sich recht gut mit dem von Saint-Christophe messen kann, wo der beste Zucker von ganz Antillen gewonnen wird.


Sankta-Lucia. - Die zwei Bergspitzen der Soufrière.

In der Kolonie sind die Weißen nur schwach, kaum durch tausend Köpfe vertreten. Die Farbigen und die Neger bilden die große Mehrheit, und ihre Zahl ist nach der Auflassung des Panamakanals, wodurch sie arbeitslos wurden, ganz besonders angeschwollen.

Die frühere Wohnstätte der Hinsdaleschen Familie, die auch Herr Falkes jetzt inne hatte, war groß und bequem eingerichtet. Am Ende der Stadt gelegen, konnte sie die Passagiere des »Alert« recht gut aufnehmen. Roger, der darauf bestand, hier den Wirt zu spielen, lud diese denn auch ein, sich für die Dauer des Aufenthalts daselbst einzuquartieren. Jeder würde dort sein eigenes, Herr Patterson natürlich das beste Zimmer erhalten. Selbstverständlich sollten die Mahlzeiten gemeinschaftlich im großen Speisesaale eingenommen werden und die Equipagen des Hauses den Touristen zur Verfügung stehen.

Roger Hinsdales Anerbieten wurde freudigst angenommen, denn trotz seines originellen Hochmutes war der junge Engländer freundlich und dienstwillig, wenn er auch seinen Kameraden gegenüber immer mit einer gewissen Prahlerei austrat.

Eine Empfindung von Eifersucht erfüllte ihn eigentlich nur gegen Louis Clodion. Auch in der Antilian School suchten sich die beiden die ersten Plätze streitig zu machen. Bekanntlich nahmen sie ja auch bei dem Wettbewerb um die Reisestipendien die Spitze ein in einem »toten Rennen«, wie man auf den Rennplätzen sagt, ex äquo – sagte Tony Renault – was er mit den Worten »dasselbe Pferd« übersetzte, indem er ein gewagtes Wortspiel mit equus undæquus zum Entsetzen des empfindsamen Mentors bildete.

Gleich am ersten Tage begannen schon die Ausflüge quer durch die Pflanzungen. Die prächtigen Wälder der Insel – einer der gesündesten der Antillen – bedecken nicht weniger als vier Fünftel ihrer Oberfläche. Zunächst wurde der zweihundertvierunddreißig Meter hohe Berg Fortuné bestiegen, auf dessen Gipfel man Kasernen erbaut hat, dann die Hügel Asabot und Chazeau – offenbar französische Namen – worauf das Sanatorium sich erhebt. Weiter im Landesinnern besuchten die Touristen die Aiguilles de Sainte-Alousie, die Krater erloschener Vulkane, die aber doch noch wieder tätig werden könnten denn das Wasser mehrerer nahe gelegener Teiche bleibt immer siedend heiß.

[283] Am Abend nach der Rückkehr in die Wohnung wandte sich Roger Hinsdale an Herrn Patterson.

»Auf Sankta-Lucia, sagte er, muß man sich ebenso wie auf Martinique vor den Trigonocephalen hüten. Unsere Insel beherbergt auch Schlangen, und darunter recht gefährliche....

– O, ich fürchte mich vor keiner mehr, erklärte Patterson, sich stolz aufrichtend, und ich werde die meinige während unseres hiesigen Aufenthaltes noch ausstopfen lassen.

– Ganz recht... tun Sie das!« antwortete Louis Clodion, der nur mit Mühe den nötigen Ernst bewahren konnte.

Am nächsten Tage ließ er Falkes auch das schreckliche Reptil zu einem Naturalienhändler schaffen, dem Tony Renault lachend auseinandersetzte, um was es sich bei der Sache handle. Die Schlange wäre ja bereits, wahrscheinlich schon seit Jahren, ausgestopft gewesen, man habe das Herrn Patterson nur nicht verraten wollen. Am Tage vor der Abfahrt sollte der Händler die Schlange nur im gleichen Zustande wieder an Bord des »Alert« abliefern.

Ehe sich Patterson an demselben Abend niederlegte, schrieb er noch einen Brief an seine Gattin. Daß ihm dabei sehr zahlreiche Citate von Horaz, Virgil oder Ovid aus der Feder flossen, wird wohl niemand wundernehmen; die vortreffliche Frau war ja an dergleichen schon gewöhnt.

Der Brief, der am nächsten Tage mit dem Postdampfer nach Europa abgehen sollte, enthielt eine peinlich genaue Schilderung aller Einzelheiten dieser wunderbaren Reise. Patterson berichtete darin, eingehender als in seinem frühern Schreiben, über die geringfügigsten Vorfälle, die er mit seinen eigenen Gedanken darüber schmückte. Er erzählte breit, wie glücklich die Überfahrt vom Vereinigten Königreich nach Westindien verlaufen und wie gut es ihm gelungen sei, die Seekrankheit mit Hilfe der Kirschkerne zu überwinden, die sie ihm vorsorglich in so großer Menge mitgegeben habe. Er sprach davon, wie ehrenvoll und freundlich die Reisegesellschaft in Sankt-Thomas, Sainte-Croix, Sankt-Martin, in Antigoa, Guadeloupe, Dominica, Martinique und Sankta-Lucia aufgenommen worden sei, und daß sie ohne Zweifel von der freigebigen, großherzigen Mistreß Kathlen Seymour auf Barbados dasselbe zu erwarten hätten. Er vermute auch mit Zuversicht, daß die Heimreise unter denselben günstigen Umständen verlaufen werde. Kollisionen... ein Schiffbruch... nein, dergleichen wäre nicht zu befürchten. Der Atlantische Ozean werde gegen die Passagiere des »Alert« freundlich[284] sein, und aus den Schläuchen des Äolus würden keine Stürme hervorbrechen, sie zu überfallen. Frau Patterson brauche also das Testament nicht zu öffnen, das ihr Gatte vor der Abreise habe geglaubt aufsetzen zu sollen, noch von den übrigen vorsorglichen Bestimmungen Gebrauch zu machen, die für den Fall einer ewigen Trennung zwischen ihnen vereinbart worden wären. Welche das waren, wußte freilich nur das originelle Ehepaar allein.

Weiter erzählte Patterson von dem großen Ausfluge nach der Landenge von Martinique, von dem Auftauchen der Trigonocephale zwischen den Zweigen eines Baumes, von dem kräftigen Schlage, den er gegen das Ungeheuer geführt habe, gegen das monstrum horrendum, informe, ingens, cui er zwar nicht das Lebenslicht, aber das Leben ausgeblasen habe. Jetzt sei es ausgestopft, trotz seiner glühenden Augen, dem offenen Maule und der herausragenden zweispitzigen Schlangenzunge freilich nicht mehr gefährlich. Wie großartig würde sich das prächtige Reptil erst ausnehmen, wenn es in der Bibliothek der Antilian School an einem geeigneten Platze untergebracht wäre!

Hierzu sei in Parenthese bemerkt, daß das Geheimnis dieser Schlangengeschichte niemals gelüstet werden sollte. Selbst Tony Renault hatte sich dazu verpflichtet, obwohl ihn das Verlangen, alles auszuplaudern, mehr als einmal anwandelte. Doch nein: der Ruhm des furchtlosen Mentors, den er sich bei jenem denkwürdigen Vorfalle erworben hatte... dieser Ruhm sollte ungeschmälert bleiben. Patterson beschloß seinen langen Brief mit einem wohlberechtigten und tiefempfundenen Lobspruche auf den Kapitän und die Mannschaft des »Alert«. Des vortrefflichen Steward, der den Dienst in der Kajüte verrichte, könne er nur rühmend gedenken und er beabsichtige, den Mann für seine Aufmerksamkeit später noch reichlich zu belohnen. Den Kapitän Paxton betreffend, habe wohl noch kein Schiffsführer, weder in der Handels- noch in der Kriegsflotte, so wie er verdient, Dominus secundum Déum – der Zweite nach Gott – genannt zu werden. Schließlich unterzeichnete Patterson, nach der warmen Versicherung unentwegter Gattenliebe, den Brief mit seinem Namen und höchst kunstvollen Schnörkeln, die das hervorragende kalligraphische Talent des würdigen Mannes erkennen ließen.

Erst am folgenden Tage sollten die Touristen früh acht Uhr an Bord zurückkehren. Sie verbrachten also auch die letzte Nacht in der schönen Wohnung, wo Roger Hinsdale bis zum letzten Augenblick sich bemühte, ihnen den Aufenthalt möglichst angenehm zu machen.

[285] Einige Freunde des Herrn Edward Falkes waren mit zum Abendessen geladen worden, wo jeder gewohnheitsmäßig, nach einem Toaste auf jeden Anwesenden, sein Glas noch auf das Wohlergehen der Mistreß Kathlen Seymour leerte. Nach wenigen Tagen sollten die Stipendiaten nun die Bekanntschaft dieser großen Dame gemacht haben. Barbados lag ja nicht mehr fern... Barbados, der letzte Ruhepunkt in den Antillen, dessen sich die Preisträger gewiß ihr Leben lang erinnern würden.

Am Nachmittage dieses letzten Tages ereignete sich aber ein so ernster Zwischenfall, daß die Mannschaft des Dreimasters befürchten mußte, ihr verbrecherisches Vorhaben kurz vor dessen Ausführung scheitern zu sehen.

Harry Markel ließ von seinen Leuten bekanntlich niemand ans Land gehen, außer wenn es sich um die Deckung der nötigsten Bedürfnisse handelte. Schon die einfachste Klugheit zwang ihn ja zu dieser Maßregel.

Gegen drei Uhr an diesem Tage mußte nun eine Lieferung frischen Fleisches und verschiedener Gemüse abgenommen werden, die Ranyah Cogh auf dem Markte in Castries gekauft hatte.

Harry Markel ließ also ein Boot klar machen, das den Koch nebst einem Matrosen namens Morden an den Kai bringen sollte.

Das Boot stieß ab, und wenige Minuten darauf legte es wieder am Hinterteil des »Alert« an.

Um vier Uhr, als der Bootsmann es wieder an den Kai geschickt hatte, waren schon vierzig Minuten vergangen.

Das beunruhigte John Carpenter und Corty nicht weniger als Harry Markel selbst. Was mochte geschehen sein?... Warum diese Verzögerung?... Sollten Mitteilungen aus Europa eingetroffen sein, die vielleicht einen Verdacht gegen den Kapitän und die Mannschaft des »Alert« erweckten?

Endlich, kurz vor fünf Uhr, sah man das Boot wieder auf das Schiff zusteuern. Doch bevor es noch angelegt hatte, rief Corty:

»Ranyah kommt allein zurück!... Morden ist nicht bei ihm!

– Wo könnte der stecken? fragte John Carpenter.

– Nun, doch in einer Schenke, wo er schwer betrunken liegen wird, meinte Corty.

– Ranyah hätte ihn aber auf jeden Fall mitbringen müssen, sagte Harry Markel. Dieser verwünschte Morden ist imstande, in seinem Brandy- oder Ginrausche mehr auszuplaudern, als für uns gut ist!«

[286] Das mochte wohl der Grund des Ausbleibens sein, und der wurde auch durch Ranyahs Aussage vollkommen bestätigt. Während dieser mit seinen Einkäufen auf dem Markte der Stadt beschäftigt war, hatte sich Morden ohne ein Wort zu sagen entfernt. Dabei war er, seiner Trunksucht, die er an Bord nicht befriedigen konnte, folgend, natürlich in der ersten besten Schenke gestrandet. Der Koch hatte sich dann bemüht, seinen Begleiter zu finden, doch vergeblich die Schankstätten des Hafenviertels abgesucht. Es war ihm eben unmöglich gewesen, des verwünschten Morden habhaft zu werden, den er andernfalls am Boden des Canots festgebunden hätte.

»Wir müssen ihn aber um jeden Preis wiederfinden, rief John Carpenter. – In Sankta-Lucia darf er unbedingt nicht zurückbleiben! Er würde schwätzen! In der Trunkenheit weiß er nicht mehr, was er sagt, und dann hätten wir gewiß bald einen Aviso hinter uns her!«

Diese Befürchtungen waren nur allzu gut begründet, und noch niemals war Harry Markel von so großer Gefahr bedroht gewesen.

Das erklärte also die Notwendigkeit, Morden wieder herbeizuschaffen. Der Kapitän hatte nicht nur das Recht, sondern sogar auch die Pflicht, ihn wieder aufs Schiff zu bringen. Er konnte doch keinen Mann von seinen Leuten an der Küste lassen, und auch die Polizei mußte ihn nach Feststellung seiner Persönlichkeit ausliefern... wenigstens wenn er nicht allzu verdächtiges Zeug geschwatzt hatte.

Harry Markel wollte sich schon ans Land begeben, um bei der Hafenpolizei nach dem entwichenen Matrosen zu forschen, als ein Boot auf den »Alert« zukam.

Im Carénage gab es zur Zeit ein Stationsschiff, dem die Handhabung der Hafenpolizei oblag.

Eines von dessen Booten war es, das sich, besetzt mit einem halben Dutzend Ruderern und einem Offizier, jetzt rasch näherte. Als es nur noch eine halbe Kabellänge entfernt war, rief Corty schon:

»Morden ist mit darin!«

Der Mann hatte recht gesehen. Nachdem er vom Koch fortgelaufen war, hatte er sich in einer Schenke letzter Klasse festgesetzt. Dort schwer betrunken aufgefunden, hatte man ihn mitgenommen, und ein Boot des Stationsschiffes brachte ihn nun nach dem »Alert«, auf dessen Deck man ihn mit einer Talje hissen mußte.


»O, ich fürchte mich vor keiner mehr.« (S. 284.)
Der Offizier begab sich sofort auf das Schiff.
»Herr Kapitän Paxton? fragte er.
– Der bin ich, mein Herr, antwortete Harry Markel.
– Ist dieser Betrunkene einer von Ihren Matrosen?
– Ja freilich; ich wollte ihn schon reklamieren, da wir morgen weitersegeln.
[287]
– Nun, Sie sehen, ich habe ihn Ihnen zurückgebracht... doch in welchem Zustande...

Port Castries auf der Insel Sankta-Lucia.

– Er wird seine Strafe erhalten, versicherte Harry Markel.

– Ja ja, schon gut. Doch eine Frage, Kapitän Paxton, fuhr der Offizier fort. In seiner Trunkenheit sind dem Manne verschiedene unzusammenhängende Worte entschlüpft. Er sprach von Fahrten auf dem Großen Ozean, von dem ›Halifax‹, dem Räuberschiffe, von dem in den letzten Monaten so viel die Rede war, ebenso wie von jenem Harry Markel, der es befehligte und von dessen Flucht aus dem Gefängnisse in Queenstown wir gehört haben.«

Man kann sich wohl vorstellen, welche Anstrengung es bei diesen Worten Harry Markel kostete, sich dem Offizier gegenüber auch nicht durch das Zucken [288] einer Muskelfaser zu verraten. John Carpenter und Corty, die sich weniger beherrschen konnten hatten gleich das Gesicht abgewendet und sich langsam entfernt. Glücklicherweise bemerkte der Offizier ihre Unruhe nicht, sondern begnügte sich zu fragen:

»Nun, sagen Sie mir, Kapitän Paxton, was hat das zu bedeuten?

– Ja, mir fehlt dafür jede Erklärung, Herr Leutnant, antwortete Harry Markel. Der Morden ist ein Trunkenbold, und wenn er des Guten etwas zu viel getan hat, weiß kein Mensch, was ihm durch den Kopf gehen mag.

[289] – Er ist also gar nicht an Bord des ›Halifax‹ gefahren?

– Nein, wenigstens ist er schon seit zehn Jahren bei mir gewesen und hat alle Meere mit mir befahren.

– Warum mag er dann aber von jenem Harry Markel gesprochen haben? fragte der Offizier weiter.

– O, die Geschichte mit dem ›Halifax‹ machte doch großes Aufsehen, Herr Leutnant. Man sprach auch gerade von dem Entweichen der Verbrecher, als wir Queenstown verließen. An Bord war häufig davon die Rede... das wird ihm im Gedächtnis haften geblieben sein, anders kann ich mir das törichte Geschwätz des Trunkenbolds wenigstens nicht erklären.«

Alles in allem konnte in dem Offizier nichts den Verdacht erwecken, daß er hier jenem Harry Markel gegenüberstände, ebensowenig, daß die Mannschaft nicht die des Kapitäns Paxton wäre. Er schloß das Gespräch also mit der Frage:

»Was werden Sie mit diesem Matrosen beginnen?

– Ich werde ihn acht Tage lang in den Frachtraum sperren, das wird ihn schon nüchtern machen. Und wenn ich nicht gerade etwas Mangel an Leuten hätte – einen Mann hab' ich in der Bai von Cork durch Ertrinken verloren – so würde ich Morden in Sankta-Lucia fortgejagt haben. Leider wär' es mir nur unmöglich gewesen, ihn zu ersetzen.

– Wann erwarten Sie denn Ihre Passagiere, Kapitän Paxton?

– Morgen früh, denn wir wollen mit der Flut in See gehen.

– Dann: Glückliche Reise!

– Ich danke Ihnen, Herr Leutnant.«

Der Offizier hatte im Boote wieder Platz genommen, und dieses entfernte sich in der Richtung nach dem Stationsschiffe.

Morden, der nichts hörte oder in seinem trunkenen Zustande doch nichts verstand, wurde mit rohen Fußtritten in den Frachtraum hinuntergestoßen; hatte er doch beinahe alles verraten, als er vom »Halifax« und von Harry Markel gefaselt hatte.

»Mir läuft noch der kalte Schweiß herunter, sagte Corty, indem er sich die Stirne abwischte.

– Harry, ließ John Carpenter sich vernehmen, wir sollten lieber noch heute Nacht abfahren, ohne die Passagiere zu erwarten. Hier in den vermaledeiten Antillen ist der Boden für uns zu heiß!

[290] – Und wenn wir uns wegstehlen, wendete Harry Markel dagegen ein, da wird man ja verstehen lernen, was Morden geschwatzt hat. Dann wäre alles verloren, und das Stationsschiff würde sich sofort zu unserer Verfolgung aufmachen. Wenn's euch Spaß macht, gehängt zu werden... meinetwegen... mir nicht... ich bleibe hier!«

Am nächsten Morgen hatten sich die Passagiere um acht Uhr an Bord eingefunden. Es schien nutzlos, sie mit dem gestrigen Vorfall bekannt zu machen. Daß sich einer der Matrosen betrunken hatte, war ja ohne Bedeutung.

Bald lag der Anker an Deck, die Segel waren gehißt und der »Alert« glitt aus dem Hafen von Castries hinaus und schlug seinen Kurs nach Süden ein.

Fußnoten

1 Ein nicht zu verdeutschendes Wortspiel nach dem ähnlichen Wortklange Bella matribus, da die Schwiegermutter französisch La belle-mère heißt.

6. Kapitel
Sechstes Kapitel.
Barbados.

Ist auch der Zeitpunkt nicht genau bekannt, an dem die Portugiesen Barbados und dessen Nachbarinseln entdeckt hatten, so weiß man doch bestimmt, daß im Jahre 1605 ein Schiff unter englischer Flagge hier vor Anker gegangen war, das im Namen Jakobs I. von der Insel Besitz ergriff.

Der Vorgang hatte freilich nur eine nominelle Bedeutung, denn zu jener Zeit wurde auf Barbados keine Ansiedlung gegründet und kein Kolonist ließ sich daselbst, nicht einmal zeitweilig, nieder.

Gleich Sankta-Lucia liegt die Insel ziemlich isoliert in der Kette der Kleinen Antillen. Sie gehört eigentlich gar nicht dazu, denn sie ist von der ganzen Gruppe durch tiefe Abgründe getrennt und besteht nur aus dem oberen Teile eines Berges, der vierzig Lieues von Sankta-Lucia entfernt emporragt. Zwischen diesen beiden Inseln zeigt das Meer Tiefen von zweitausendachthundert Metern.

Barbados verdankt seinen Ursprung nur Korallen: Infusorien haben es langsam aufgebaut und über die Wasserfläche des Ozeans gehoben. Seine Ausdehnung beträgt sechzehn Lieues in der Länge und fünf in der Breite. Auf [291] unerschütterlicher Grundlage ruhend, wird es auf zwei Dritteilen seines Umfanges auch noch von einem mächtigen Klippengürtel beschützt.

Zu Anfang des 17. Jahrhunderts wurde der Besitz von Barbados, wohl seiner einsamen Lage wegen, weniger umstritten als der der übrigen westindischen Inseln. Nur ein ganz zufälliger Umstand lenkte ihm später die Aufmerksamkeit der europäischen Mächte zu.

Ein englisches, von Brasilien kommendes, auf dem Meere in der Nähe von Barbados vom Sturme gefährdetes Schiff mußte an der Mündung eines Flusses der westlichen Inselküste Zuflucht suchen. Hier mehrere Tage zurückgehalten, hatten der Befehlshaber und die Besatzung des Fahrzeuges Muße, die bis dahin so gut wie unbekannte Insel zu besuchen, ihre Fruchtbarkeit zu erkennen, die Wälder, die sie fast überall bedeckten, zu durchstreifen und sich zu überzeugen, daß der abgeholzte Boden sich zum Anbau von Baumwolle und Zuckerrohr vortrefflich eignen müsse.

Nach der Ankunft des erwähnten Schiffes in London wurde dem Grafen von Marlborough eine Konzession über Barbados erteilt, und nachdem dieser sich mit einem reichen Großhändler der Hauptstadt ins Einvernehmen gesetzt hatte, ließen sich schon 1624 mehrere Ansiedler auf der Insel nieder. Diese waren es, die hier die erste Stadt erbauten, welche sie zu Ehren ihres Königs James-Town nannten.

Vor jenem Zeitpunkte hatte freilich schon der Graf Carlisle eine Konzession über alle karaïbischen Inseln erhalten, und er hielt sich deshalb für berechtigt, Barbados für sich zu beanspruchen.

Das veranlaßte einen Streit zwischen den beiden Lords, der sich – zuweilen mit großer Lebhaftigkeit – lange hinzog und damit endete, daß die Rechte des Grafen Carlisle von Karl I. von England 1629 anerkannt wurden.

In der Zeit der englischen Religionswirren sahen sich sehr viele veranlaßt, aus dem Lande zu flüchten. Diese Auswanderung kam zu großem Teile Barbados zugute, und die Bedeutung und das Gedeihen der Kolonie wurde dadurch wesentlich gehoben.

Als durch die Restauration nach der Diktatur Cromwells dem Könige Karl II. der Thron seiner Väter wiedergegeben wurde, ersuchten die Kolonisten den König, die Souveränität über die Insel zu übernehmen, und versprachen gleichzeitig, von allen Erzeugnissen der Insel eine Steuer von vierundeinhalb Prozent zu entrichten. Dieses Angebot war zu vorteilhaft, um abgelehnt [292] zu werden. Am 12. Dezember 1667 wurde dann auch der Vertrag über die Einverleibung von Barbados in das britische Kolonialreich unterzeichnet.

Von dieser Zeit an entwickelte sich die Insel ununterbrochen weiter. Im Jahre 1674 erreichte ihre Bevölkerung bereits hundertzwanzigtausend Seelen, nahm nachher aber ein wenig ab. Die Weißen bildeten nur den fünften Teil gegenüber den Freigelassenen und Sklaven, was man der Habgier des Gouverneurs zuschrieb. Infolge seiner Lage blieb Barbados von den langwierigen Kämpfen zwischen England und Frankreich verschont, was es wohl auch der natürlichen Schutzwehr durch seinen Klippengürtel zu verdanken hatte.

Während die anderen Antillen nach und nach unter wechselnde Oberhoheit kamen, ist deshalb Barbados, das vom Tage seiner Entdeckung an englisch gewesen war, der Sprache und der Lebensgewohnheit nach auch immer englisch geblieben.

Wenn es übrigens unmittelbar unter der Krone steht, darf man doch nicht glauben, daß es sich nicht einer gewissen Unabhängigkeit erfreue. Seine Landesversammlung zählt vierundzwanzig Abgeordnete, die von fünftausend steuerzahlenden Einwohnern gewählt werden. Unterliegt es der Autorität eines Gouverneurs und eines gesetzgebenden Rates, dessen neun Mitglieder vom Könige gewählt werden, so wird es anderseits von einer Exekutivbehörde verwaltet, der außer den höchsten Beamten ein Mitglied seiner ersten und vier Mitglieder seiner zweiten Kammer angehören. In elf Kirchspiele geteilt, hat die Insel ein Budget von nicht weniger als sechzehntausend Pfund Sterling (etwa 32 2/3 Millionen Mark).

Alle Seestreitkräfte der englischen Kleinen Antillen stehen unter dem Befehl der Regierung von Barbados. Obgleich die Insel mit ihren vierhundertdreißig Quadratkilometern Oberfläche unter diesen Kolonien nur den fünften Rang einnimmt, behauptet sie nach ihrer Volksmenge doch den zweiten und nach dem Werte ihres Handelsverkehrs darunter wenigstens den dritten Rang. Sie zählt gegenwärtig hundertdreiundachtzigtausend Einwohner, wovon ein Drittel auf Bridgetown und dessen Vororte kommt.

Die Fahrt zwischen dem Hafen von Castries auf Sankta-Lucia und Bridgetown auf Barbados erforderte fast achtundvierzig Stunden. Bei stetigem Winde und nicht zu unruhigem Meere hätte der »Alert« diese Strecke in weniger als der Hälfte der Zeit zurücklegen können; jetzt legte sich der Wind aber zeitweilig gänzlich oder wechselte seine Richtung, so daß der richtige, gerade Kurs nicht [293] eingehalten werden konnte; er drohte sogar wiederholt nach Nordwest umzuschlagen, was Harry Markel nötigte, sich von den Gewässern Antiliens etwas mehr fern zu halten.

Am ersten Tage lag außerdem die Befürchtung nahe, daß man auf den westlichen Gegenpassat treffen könnte. In diesem Falle wäre der »Alert« weit aufs offene Meer hinausgetrieben worden. Hätte Harry Markel dann lange Tage hindurch immer aufkreuzen müssen, um nach der Küste von Barbados zu gelangen, so würde er vielleicht, trotz der verlockenden Aussicht, die ihm und seinen Gefährten hier winkte, darauf verzichtet haben, diese letzte Station des Reiseprogramms anzulaufen. Wahrscheinlich wäre er dann lieber aus dieser gefährlichen Gegend entflohen und hätte vor allem, ohne die Passagiere, sein Schiff auf dem Großen Ozean vorläufig in Sicherheit zu bringen gesucht.

Doch nein, bei dem bekannten tollkühnen Wagemut Harry Markels hätte dieser gewiß, unter Hervorhebung des Umstandes, daß Barbados ja der letzte Aufenthaltsort sei, allem Drängen seiner Spießgesellen widerstanden, hätte ihnen vor Augen gehalten, daß diese Reise nun nach wenigen Tagen abgeschlossen und daß auf dieser Insel für sie auch nicht mehr Gefahr sei, als auf Sankta-Lucia oder auf Dominique, die ja ebenfalls beide englisch waren.

»Auf der Rückfahrt – hätte er zweifellos hinzugefügt – wird der ›Alert‹ siebentausend Pfund mehr wert sein, denn ich denke diese siebentausend Pfund doch nicht ebenso über Bord zu werfen wie die, die sie auf Barbados erst noch zu erheben haben!«

Zu dem anfänglich drohenden Umschlag des Windes kam es jedoch nicht. Am Nachmittage entlud sich nur ein heftiges Gewitter mit furchtbarem Donnerrollen und schweren Regengüssen, wie solche in der Gegend der Antillen nicht selten sind und gar zu häufig arge Verwüstungen anrichten. Für ein paar Stunden mußte der »Alert« etwas weiter aufs offene Meer flüchten. Das Meteor tobte sich aber vor Sonnenuntergang aus und die Nacht versprach ruhig zu werden.

An diesem ersten Tage hatte der »Alert« nur ein Viertel der Entfernung zurückgelegt, die die beiden Inseln trennt. Das Gewitter hatte Harry Markel gezwungen, vor dem Winde zu laufen und damit aus dem Kurse zu weichen, er hoffte jedoch, in der Nacht wieder einzubringen, was er am Tage verloren hatte.

Das sollte freilich nur teilweise eintreffen. Nachdem der Wind sich zunächst gelegt hatte, erhob sich, freilich schwach und aussetzend, wieder der Ostpassat.

[294] Der Seegang blieb recht stark, und das Schiff konnte bis Tagesanbruch nicht viel vorwärts kommen, so daß am nächsten Morgen erst der halbe Weg zwischen beiden Inseln zurückgelegt war.

Dann aber ging die Fahrt unter günstigen Verhältnissen etwas schneller vor sich. und am Abend lag der »Alert« mit Barbados in gleicher Breite.

Diese Insel ist nicht wie Martinique schon von weit her zu sehen. Sie bildet eine niedrige Landmasse ohne größere Einzelhöhen, und ist, wie erwähnt, nur sehr langsam über die Meeresfläche emporgestiegen. Ihr bedeutendster Hügel, der Hillaby, erhebt sich nicht über dreihundertfünfzig Meter. Rings um das Land dehnt sich, wie um Sankta-Lucia, ein Gürtel von Korallenlagern aus, der am Außenrande mehrere Kilometer Länge aufweist.

Harry Markel ließ also nach Westen steuern, und da die Insel jetzt nur noch fünfzehn Seemeilen entfernt war, mußte sie nach einigen Stunden erreicht werden. Da er sich aber nicht zu nahe an die hier sehr heftige Brandung heranwagen wollte, ließ er die meisten Segel bergen, um erst bei hellem Tageslicht in den Hafen von Bridgetown einzulaufen.

Am folgenden Morgen, am 7. September, lag nun der »Alert« ruhig vor Anker.

Der Eindruck, den die jungen Passagiere empfingen, als sie sich mitten in diesem Hafen sahen, deckt sich voll mit dem, den Elisée Reclus in seiner Geographie wiedergegeben hat. Die Preisträger glaubten einen der Häfen Englands, Belfast oder Liverpool, erreicht zu haben. Hier zeigte sich nichts von dem, was sie in Amalia-Charlotte auf Sankt-Thomas, in Pointe-à-Pitre auf Guadeloupe oder in Saint-Pierre auf Martinique gesehen hatten. Entsprechend der Bemerkung des berühmten französischen Geographen schien es, als ob die Palmen von dieser Insel verbannt wären.

Hat Barbados nur eine mittelgroße Ausdehnung, so hat es doch an seinen Küsten mehrere recht ansehnliche Städte, wie Sperghstown, Hoistingtown und Hobetown, abgesehen von dem Dorfe Hastings, einem vielbesuchten Badeorte. Alle sind so englisch wie ihr Name.

Man möchte glauben, das Vereinigte Königreich hätte diese Orte alle in Stücke zerlegt herübergeschickt, so daß sie nur wieder zusammengesetzt zu werden brauchten.

Sobald der »Alert« den Anker fallen gelassen hatte, erschien an Bord als erste Person ein Herr von ernster, fehlerloser Haltung in schwarzem Anzuge [295] und mit hohem Hute. Er überbrachte dem Kapitän Paxton und seinen Passagieren die ersten Grüße von der Mistreß Kathlen Seymour.


Küstenpartie auf Barbados.

Es war deren Oberaufseher, ein gewisser Well, der sich ehrerbietig verneigte und dessen Gruß Horatio Patterson mit gleicher Förmlichkeit erwiderte. Dann wurden einige Worte ausgetauscht, wobei die jungen Preisträger ihren drängenden Wunsch kund gaben, die Schloßherrin von Nording-House nun recht bald kennen zu lernen.

Herr Well antwortete darauf, daß die erwarteten Gäste der Mistreß Kathlen Seymour an der Landungsbrücke mehrere Wagen vorfinden würden, die sie sofort nach Nording-House bringen sollten, wo Mistreß Kathlen Seymour sie schon erwartete.

Dann zog sich Herr Well mit einer von Patterson voll erkannten Würde zurück, nachdem er erst noch erklärt hatte, daß in Nording-House für dessen Gäste Zimmer bereit wären und daß das Frühstück um elf Uhr aufgetragen sein werde.


Die Bathsebal auf Barbados.

[296]

Wahrscheinlich würde sich der Aufenthalt des »Alert« an Barbados übrigens etwas länger ausdehnen als an den andern Inseln. Es war ja ganz natürlich, daß Mistreß Kathlen Seymour die Preisgekrönten der Antilian School einige Zeit bei sich zu behalten wünschte, und diese konnten es doch unmöglich abschlagen, ihren Wunsch zu erfüllen. Und war es nicht ebenso natürlich, daß die vortreffliche Dame ihnen diese Insel, die sie jedenfalls für die schönste Westindiens hielt, gründlich zeigen lassen wollte?

Halb elf Uhr waren Patterson in tadellosem schwarzen Anzuge, und seine jungen Begleiter in ihrer besten Tracht zum Aufbruche bereit.

Das große Boot des »Alert« erwartete sie bereits. Nachdem eine Anzahl Reisesäcke hinunter befördert waren, nahmen sie selbst darin Platz, und das Boot kehrte an Bord zurück, sobald es die Reisenden am Kai abgesetzt hatte.

Hier standen, wie Herr Well gesagt hatte, zwei seine Wagen bereit mit dem Kutscher auf dem Bocke und je einem Diener am Wagenschlage.

Patterson und seine Begleiter stiegen sofort ein, die Wagen rollten in flottem Trabe davon und erreichten, nachdem sie mehrere Verkehrsstraßen in der Nähe des Hafens durchfahren hatten, die Vorstadt Fontabelle.

[297] Das ist das vornehme Viertel, der Wohnsitz der reichen Kaufherren von Bridgetown. Ihre prächtigen Häuser und reizenden Villen tauchen aus dichtem Baumbestande hervor, von allen die großartigste Wohnstätte war aber widerspruchslos die der Mistreß Kathlen Seymour.

Während des Aufenthaltes auf Barbados sollte, gemäß getroffener Abrede, niemand an Bord zurückkehren, so daß man Harry Markel erst am Tage der Abreise wieder zu Gesicht bekommen sollte.

Diesem war das in gewisser Hinsicht höchst willkommen. Hatten sich die Passagiere einmal in Nording-House eingerichtet, so erschien jedenfalls kein Besucher auf dem »Alert« und der falsche Kapitän Paxton lief weniger Gefahr, erkannt zu werden.

Anderseits beunruhigte ihn freilich der voraussichtlich verlängerte Aufenthalt hier. Teilte der von Mistreß Kathlen Seymour entworfene Reiseplan den anderen Antillen nur zwei bis drei, höchstens vier Tage zu, so wußte man über die Absichten der Dame bezüglich des Verweilens auf Barbados doch so gut wie gar nichts. Es konnte recht gut möglich sein, daß der »Alert« in Bridgetown eine, vielleicht gar zwei Wochen, also bis zum 20. September, liegen bleiben sollte. Selbst wenn er erst an diesem Tage abfuhr, wären die Pensionäre der Antilian School, bei einer mittleren Reisedauer von fünfundzwanzig Tagen zwischen Amerika und Europa, noch Mitte Oktober, fast genau zu Beginn des Schuljahres, wieder eingetroffen. Es war eben recht wohl möglich, daß der Aufenthalt hier sich bis zum 20. September ausdehnte, was dann den Gästen der Mistreß Kathlen Seymour gestattete, die Insel vollständig kennen zu lernen.

Harry Markel und seinen Spießgesellen ging das wiederholt ernstlich durch den Kopf. Sollte sich jetzt das Glück etwa von ihnen abwenden, nachdem es sie bisher so auffallend begünstigt hatte, nachdem sie den Besuch jenes Matrosen von der »Fire-fly«, der einen Kameraden zu sehen wünschte, und darauf auch den des alten Seemannes von Domingo abgewendet hatten, der dem Kapitän Paxton die Hand drücken wollte?

Jedenfalls nahm sich Harry Markel vor, hier noch mehr als vorher auf seiner Hut zu sein. Jede Einladung nach Nording-House wollte er natürlich rundweg abschlagen. Ans Land sollte unbedingt keiner seiner Leute gehen. Diesmal würde weder Morden noch ein anderer Gelegenheit finden, sich in den Schenken von Bridgetown toll und voll zu trinken.

[298] Nording-House war ein fürstliches Besitztum von beträchtlichem Umfange. Das Schloß erhob sich inmitten eines Parkes voll der schönsten Bäume der Tropenzone. In der Umgebung dehnten sich Zuckerrohrplantagen und Baumwollfelder aus, die im Nordosten ein dichter Wald einrahmte. Teiche und Rios enthalten erquickend frisches Wasser, obwohl sich die Regenmenge durch die Niederlegung großer Waldbestände vermindert hat. Einige Flüsse schlängeln sich daneben durch das Land, und an vielen Stellen findet man Brunnen, in denen das Wasser bis nahe an die Oberfläche heranreicht.

Der Intendant oder Oberaufseher ließ Patterson und die jungen Leute in die große Vorhalle des Schlosses eintreten, während schwarze Diener deren Gepäck in Empfang nahmen und es nach dem für jeden der Gäste bestimmten Zimmer trugen. Herr Well führte die Gesellschaft dann in den Salon, wo Mistreß Kathlen Seymour die Ankömmlinge erwartete.

Sie war eine Frau von zweiundsechzig Jahren mit weißen Haaren, blauen Augen und einnehmenden Zügen, ziemlich groß und in ihrem Austreten ebenso vornehm wie gütig, so daß Patterson nicht umhin konnte, für sich Virgils patuit incessu Dea auf sie anzuwenden. Die Dame bot allen ein herzliches Willkommen und verhehlte nicht die innige Freude, die es ihr gewährte, die Preisträger von der Antilian School in ihrem Hause aufzunehmen.

Mit einer kleinen, sorgsam vorbereiteten, gut memorierten und gut vorgetragenen Rede, über die sich Mistreß Kathlen Seymour offenbar herzlich freute, antwortete ihr Roger Hinsdale im Namen seiner Kameraden. Sie erwiderte darauf in recht gewählter Sprechweise und erklärte den Passagieren des »Alert«, daß sie diese für die Zeit des Verweilens auf Barbados als ihre persönlichen Gäste betrachte.

Nun antwortete wieder Herr Patterson, daß die Wünsche der Mistreß Kathlen Seymour ihnen natürlich Befehle waren, und als sie dem Mentor die Hand entgegenstreckte, drückte dieser einen höchst ehrerbietigen Kuß darauf.

Die auf Barbados geborene Mistreß Kathlen Seymour stammte aus einer reichen Familie, die hier schon seit der Gründung der Kolonie Landbesitz gehabt hatte. Zu ihren Vorfahren gehörte jener Graf von Carlisle, der Konzessionsinhaber der Insel. Jener Zeit mußte jeder Besitzer vom Grafen weiter abgetretenen Landes diesem jährlich den Wert von vierzig Pfund Baumwolle als Zins entrichten. Das ergab zusammen eine beträchtliche Einnahme und begründete unter anderem auch den Wohlstand von Nording-House.

[299] Wir brauchen wohl kaum hervorzuheben, daß das Klima von Barbados zu den gesündesten Antiliens gehört. Die große Hitze wird hier durch die täglich auftretenden Seewinde gemildert. Das in dem Archipel sonst sehr verderblich herrschende Gelbe Fieber ist hier niemals zur Seuche ausgeartet. Die Insel hat eigentlich sonst nichts zu fürchten als die in diesen Gegenden häufigen und oft entsetzlichen Orkane.

Bei dem Gouverneur der englischen Antillen, der seinen Sitz auf Barbados hat, stand Mistreß Kathlen Seymour in hohem Ansehen. Eine großherzige, edelmütige und wohltätige Dame, riefen alle Unglücklichen sie niemals vergeblich um ihre Hilfe an.

Das Frühstück wurde in einem geräumigen Zimmer des Erdgeschosses aufgetragen.

Die Tafel schmückten große Mengen von Erzeugnissen der Insel, wie Fische, Wild und Obstarten, deren Verschiedenheit mit ihrem Wohlgeschmack wetteiferte, und die Tischgäste ließen sich auch nicht nötigen, den reichen Gaben alle Ehre anzutun.

So wie sie von dem Empfange seitens ihrer Wirtin höchst befriedigt sein konnten, fühlte auch diese sich wirklich beglückt, die jungen Reisenden um sich vereinigt zu sehen, deren von Sonne und Luft gebräunten Gesichter Zufriedenheit und Wohlbefinden verrieten.

Beim Frühstück kam natürlich die Dauer des Aufenthaltes auf Barbados zur Sprache.

»Ich, meine lieben Kinder, sagte Mistreß Kathlen Seymour, nehme an, daß er sich wenigstens auf vierzehn Tage erstrecken wird. Heute haben wir den 7. September, und wenn die Abreise am 22. erfolgt, ist ja anzunehmen, daß Sie noch Mitte Oktober in England wieder eintreffen. Ich hoffe, Sie werden Ihren Aufenthalt in Barbados nicht zu bedauern haben. Wie denken Sie über die Sache, Herr Patterson?

– Madame, antwortete der Mentor, sich über seinen Teller neigend, unsere Tage gehören Ihnen, und Sie haben darüber nach eigenem Ermessen zu bestimmen.

– Ja, meine jungen Freunde, wenn ich nur auf mein Herz hörte, ließe ich Sie überhaupt nicht wieder nach Europa zurückkehren!... Doch was würden Ihre Angehörigen dazu sagen?... Was würde Ihre Gattin sagen, Herr Patterson, wenn Sie nicht wieder heim kämen?

[300] – Dieser Fall ist vorgesehen, antwortete der Verwalter. Angenommen, der ›Alert‹ wäre spurlos verschwunden, so daß man jahrelang nichts von ihm hörte...

– O, das wird nicht geschehen! unterbrach ihn Mistreß Kathlen Seymour. Ihre Fahrt hierher ist so glücklich verlaufen, mit der Rückfahrt wird ja dasselbe der Fall sein... Sie haben ein gutes Schiff... der Kapitän Paxton ist ein vortrefflicher Seemann...

– Gewiß, stimmte Patterson zu, wir haben sein Verhalten nur aufs höchste loben können.

– Ich werde seiner auch nicht vergessen, versicherte die Schloßherrin.

– Ebensowenig, hochgeehrte Frau, wie wir den Tag vergessen werden, wo es uns vergönnt gewesen ist, Ihnen unseren wärmsten Dank auszusprechen, diesedies albo notanda lapillo, und, wie Martial sagt:hanc lucem lactea gemma notet, oder, wie Horaz sich ausdrückt: cressa ne careat pulchra dies nota, oder endlich, wie bei Stace zu lesen ist: creta signare diem.«

Glücklicherweise versiegte Pattersons Redestrom mit diesem Citat, das die jungen Tischgenossen mit einem freudigen Hurra unterbrachen.

Daß Mistreß Kathlen Seymour diese lateinischen Aussprüche verstanden hätte. war ja schwerlich anzunehmen. über den Sinn, in dem der Redner sie vorgebracht hatte, konnte sie aber nicht im Unklaren sein. Vielleicht hatten sogar die Preisträger alle diese Citate aus Martial, Stace und Horaz nicht vollständig verstanden. Als sie später nur noch unter sich waren, fragte nämlich Roger Hinsdale:

»Bitte, Herr Patterson, wie würden Sie denn dascreta signare diem genau übersetzen?

– O, sehr einfach: einen Tag mit Kreide anschreiben, was auch dem Bezeichnen mit einem weißen Steine, lactea gemma, entspricht. Ich begreife nicht, Hinsdale, daß Sie das nicht sofort verstanden haben sollten, während doch Mistreß Kathlen Seymour...

– Oho, rief Tony Renault.

– Ja ja, versicherte der Mentor. Dieses wundervolle Latein versteht jedermann...

– Oho! wiederholte der Schalk Tony.

– Warum dieses Oho?

– Weil das Latein, so vortrefflich es sein mag, doch nicht für jedermann schon von allein verständlich ist, wie Sie sagen, werter Herr Patterson, [301] erklärte Tony Renault. Gestatten Sie mir einmal, eine ähnliche Phrase anzuführen und Sie um deren Übersetzung zu bitten.«

Offenbar wollte der unverbesserliche Witzbold wieder mit einem der Scherze aufwarten, die er immer in Vorrat hatte, und seine Kameraden täuschten sich hierin auch nicht.

»Na, wir werden's ja sehen... heraus mit dem Citat! antwortete Patterson, während er seine Brille zurechtschob.

– So hören Sie gefälligst: Rosam angelum letorum.

– Ah... was? stieß Patterson verwundert hervor. Von wem rührt denn dieser Satz her?

– Von einem unbekannten Autor. Doch darauf kommt ja wohl nichts an. Was mag er aber bedeuten?

– Ganz und gar nichts. Tony!... Das sind Wörter ohne Zusammenhang. Rosam, die Rose, im Akkusativ, angelum, den Engel, ebenso ein Akkusativ, undletorum, der Glücklichen, ein Genitiv der Mehrzahl...

– Bitte um Entschuldigung, erwiderte Tony Renault, dem die Schalkhaftigkeit aus den Augen leuchtete. Dieser Satz hat einen ganz bestimmten Sinn...

– Den Sie kennen?...

– Ja, den ich kenne.

– Gut, ich werde ihn zu finden suchen, schloß Patterson das Gespräch, ich werde ihn zu enträtseln suchen!«

In der Tat hatte er zu suchen und, wie sich's zeigen wird, sogar sehr lange.

Von dem ersten Tage ab verlief nun der Aufenthalt mit Ausflügen, an denen auch Mistreß Kathlen Seymour häufig teilnahm. Dabei wurden nicht nur die zu Nording-House gehörigen Ländereien, sondern auch andere Teile der Ostküste aufgesucht. Bridgetown genoß nicht allein den Vorzug, die Gäste der reichen Dame zu beherbergen. Diese dehnten ihre Wanderungen und Ausfahrten auch bis zu den Küstenstädten aus, und Mistreß Kathlen Seymour fühlte sich wirklich geschmeichelt über die Lobsprüche, die sie über ihre Insel zu hören bekam.

Während des hiesigen Aufenthaltes dachte unter solchen Umständen natürlich niemand an den »Alert«. Nicht ein einziges Mal hatten seine Passagiere Veranlassung, das Schiff zu betreten. Harry Markel und die übrigen waren stets sorgsam auf ihrer Hut, und wenn auch nichts vorkam, was sie hätte in [302] Verlegenheit setzen können, sehnten sie sich doch danach, Barbados zu verlassen. Auf dem hohen Meere wären sie dann ja gegen jede Ungelegenheit geschützt und könnten die endliche Lösung des Dramas unbehindert herbeiführen.

Man kann ohne Übertreibung sagen daß die Insel Barbados ein ungeheurer, an Blumen und Früchten reicher Garten ist. Aus diesem Garten, der auch mit vielen Nutzpflanzen angebaut ist, gewinnen die Bodenbesitzer neben großen Mengen von Reis vorzüglich auch die »barbadische«, auf den Märkten Europas so gesuchte Baumwolle. Daneben ist die Zuckererzeugung recht beträchtlich, und außerdem gibt es hier industrielle Anlagen, die sich einer zunehmenden Blüte erfreuen. Schon jetzt erheben sich auf Barbados fünfhundert Fabriken verschiedener Art.

Bei wiederholten Gelegenheiten, wenn die Touristen nämlich andere Städte besuchten, blieben sie so lange aus, daß an demselben Tage eine Rückkehr nach Nording-House unmöglich war. Immerhin gehörte das zu den Ausnahmen, und fast alle Abende waren sie in den Salons des Schlosses vereinigt. Mehreremale nahmen die hervorragendsten Personen Bridgetowns, Seine Exzellenz der Gouverneur, die Mitglieder des Ausführenden Rates und einige hohe Beamte an der Tafel der Mistreß Kathlen Seymour teil.

Am 17. war ein großes Fest veranstaltet worden, wozu sich nicht weniger als sechzig eingeladene Gäste eingefunden hatten, ein Fest, dessen Abschluß ein Feuerwerk bilden sollte. Die jungen Preisträger wurden, ohne Rücksicht auf ihre Nationalität, dabei besonders geehrt.

Mistreß Kathlen Seymour äußerte auch wiederholt.

»Ich will hier weder Engländer, Franzosen oder Holländer, weder Schweden noch Dänen sehen... nein, nur Antilianer, nur meine Landsleute!«

Nach einem vortrefflich ausgeführten Konzert wurden einige Whisttische aufgestellt, wo Horatio Patterson als Partner der Mistreß Kathlen Seymour einen außergewöhnlichen, großen Schlemm machte, über den er nicht nur selbst mit gewissem Rechte stolz war, sondern von dem man in Westindien auch noch heute gelegentlich spricht.

So verging die Zeit mit solcher Schnelligkeit, daß die Gäste des Nording-House fast die Tage für Stunden und die Stunden für Minuten halten konnten. Der 21. September war herangekommen, ohne daß sie es bemerkt hatten. Harry Markel hatte bis dahin noch keinen von seinen Passagieren wiedergesehen. Nun mußten diese sich aber einstellen, da die Abfahrt auf den 22. festgesetzt war.

[303] Am Tage vorher äußerte Mistreß Kathlen Seymour jedoch noch den Wunsch, den »Alert« zu besuchen... zur großen Genugtuung Louis Clodions und seiner Kameraden, die sich beglückt fühlten, ihr auf dem Schiffe einen ehrenden Empfang zu bereiten, wie die Dame ihn ihnen in ihrem Schlosse erwiesen hatte. Die vortreffliche Frau wollte den Kapitän Paxton noch persönlich kennen lernen und ihm ihren Dank darbringen, doch beabsichtigte sie auch noch, ihn um eine Gefälligkeit zu ersuchen.

Schon am Morgen rollten darum mehrere Equipagen von dem Schlosse weg und hielten bald am Kai von Bridgetown.


Plantagenbahn auf Barbados.

Das große Boot des Seeamtes, das sie an der Treppe der Landungsbrücke erwartete, brachte die Besucher an Bord.

Harry Markel war von dem Oberaufseher schon vorher davon verständigt worden, und wenn er und seine Leute diesen Besuch auch lieber nicht gesehen hätten, da sie immer fürchteten, er könnte schlimme Folgen nach sich ziehen, konnten sie ihn im vorliegenden Falle doch nicht abwenden.

[304] [307]»Zum Teufel mit all diesem Volk! hatte John Carpenter gewettert.

– Hast recht, doch jetzt suche dich zu bezwingen,« lautete darauf Harry Markels Antwort.


Mistreß Kathlen Seymour bot allen ein herzliches Willkommen. (S. 299.)

Mistreß Kathlen Seymour wurde mit all der Zuvorkommenheit und Ehrerbietung empfangen, die ihre hervorragende Stellung auf Barbados gebot. Zunächst drückte sie dem Kapitän ihre wärmste Dankbarkeit aus.

Harry Markel antwortete gezwungen so höflich wie möglich. Als ihm dann die Schloßherrin von Nording-House noch eine Belohnung von fünfhundert Pfund Sterling zubilligte, gab Corty das Signal zu einem betäubenden Hurra, das die Gefeierte herzlich erfreute.

Mistreß Kathlen Seymour besichtigte darauf die Hauptkajüte und die Kabinen.

Über alles, was ihr gezeigt wurde, sprach sie sich höchst anerkennend aus. Und welche Glückwünsche erntete erst Horatio Patterson, als dieser sie zu der furchtbaren Schlange führte, die in schreckenerregender Haltung um den Besanmast gewunden war.

»Wie, rief die Schloßherrin, Sie... Sie, Herr Patterson, haben dieses Umgeheuer getötet?

– Mit eigener Hand, antwortete Patterson, sich stolz aufrichtend, und wenn es jetzt, nach seinem Tode, noch einen so erschreckenden Anblick bietet, werden Sie begreifen, wie viel schlimmer dieser im Leben war, als die Schlange mir ihre Trigonocephalenzunge drohend entgegenstreckte!«

Wenn sich Tony Renault bei dieser Erklärung nicht um und um drehte, kam das nur daher, daß Louis Clodion ihn unbemerkt fast blutig kniff.

»Das Untier, fuhr Patterson fort, sieht übrigens jetzt noch ebenso lebend aus, wie damals, als ich es erschlug.

– Ganz ebenso!« bestätigte Tony Renault, der diesmal nicht mehr an sich halten konnte.

Nach dem Deckhause zurückgekehrt, wendete sich Mistreß Kathlen Seymour an Harry Markel.

»Morgen denken Sie also abzufahren, Kapitän Paxton? fragte sie.

– Jawohl, morgen, gnädige Frau, gleich mit Sonnenaufgang.

– Nun, ich hätte noch eine Bitte an Sie. Es betrifft einen jungen, fünfundzwanzigjährigen Seemann, den Sohn einer der Frauen in meinem Hause, einen tüchtigen jungen Mann, der nach England zurückkehren soll, um auf einem [307] Kauffahrer die Stellung als Obersteuermann anzutreten. Ich würde Ihnen sehr verbunden sein, wenn Sie ihn auf dem › Alert‹ mitnehmen wollten.«

Ob dieses Gesuch Harry Markel nun paßte oder nicht, abschlagen konnte er es auf keinen Fall, da das Schiff ja für Rechnung der Mistreß Kathlen Seymour fuhr. Er begnügte sich also zu antworten:

»Der junge Mann mag nur an Bord kommen, Madame, er wird gut aufgenommen werden.«

Die Schloßfrau wiederholte dem Kapitän ihren Dank und empfahl seiner Fürsorge für die Rückreise noch Herrn Patterson und die jungen Passagiere, für die sie gegenüber ihren Familien ja gewissermaßen verantwortlich war.

Endlich – für Harry Markel der wichtigste Punkt, um dessentwillen er und seine Gefährten sich so ernsten Gefahren ausgesetzt hatten – verkündigte Mistreß Kathlen Seymour, daß Herr Patterson und die Preisträger noch heute die ihnen versprochene Prämie von siebenhundert Pfund erhalten sollten.

Patterson wendete dagegen aufrichtig gemeint ein, das hieße die Hochherzigkeit der Herrin von Nording-House mißbrauchen, und Roger Hinsdale, Louis Clodion und die übrigen sprachen sich in demselben Sinne aus. Mistreß Kathlen Seymour erklärte jedoch, daß eine solche Weigerung sie tief verletzen würde, es war also – zur großen Befriedigung John Carpenters und der ganzen Mannschaft – nicht möglich, die Annahme des Geldes zu verweigern.

Nach freundlicher Verabschiedung von dem Kapitän des »Alert« und dem Wunsche für eine glückliche Reise nahmen die Besucherin und ihre Gäste wieder in dem Boote Platz, das sie nach dem Kai beförderte, von wo die Wagen alle nach dem Schlosse brachten, um hier den letzten Abend zu verleben.

»Endlich wird sich's machen! rief Corty, als alle das Schiff verlassen hatten.

– Tausend Teufel! setzte John Carpenter hinzu; ich sah es schon kommen, daß die Schwachköpfe ihren klingenden Preis nicht annehmen wollten! Das wäre dann der Mühe wert gewesen, den Kopf zu riskieren, um dann doch mit leeren Taschen umzukehren!«

Die Passagiere sollten also nicht wiederkommen, ohne die Summen mitzubringen, die den Ertrag des gewagten Bubenstückes verdoppelten.

»Ja, aber jener Seemann? sagte noch Corty.

– Was da? antwortete der Bootsmann, einer mehr... das wird uns, mein' ich, doch auch nicht in Verlegenheit setzen.

[308] – Nein, erwiderte Corty, den Burschen nehm' ich auf mich!«

An diesem Abend vereinigte in Nording-House noch einmal eine größere Tafel die Notabeln der Kolonie und die Gäste der Mistreß Kathlen Seymour. Nach Beendigung der Mahlzeit wurde dann wiederholt Abschied genommen, und die Passagiere des »Alert« begaben sich an Bord zurück Jeder trug in Guineen in einem seidenen Beutel die den Preisträgern im Wettbewerb der Antilian School zugesagte Prämie bei sich.

Eine Stunde vorher war der junge Seemann eingetroffen, für den Mistreß Kathlen Seymour um Aufnahme gebeten hatte, und man hatte ihn sofort nach der für ihn bestimmten Kabine geführt.

Für die Abreise war schon alles fertig, und morgen bei Sonnenaufgang sollte der »Alert« den Hafen von Bridgetown, seine letzte Haltestelle in Westindien, verlassen.

7. Kapitel
Siebentes Kapitel.
Der Anfang der Fahrt.

Gegen zehn Uhr Vormittag war der »Alert« schon außer Sicht der nächsten Küste von Barbados, das von allen Inseln der Kleinen Antillen am weitesten nach Osten liegt.

Der immerhin nur kurze Besuch der Preisträger in ihrer gemeinsamen Heimat war bisher also unter den günstigsten Umständen verlaufen; auch von den in dieser Erdgegend sonst so häufigen atmosphärischen Störungen hatten sie bei ihren Fahrten nur sehr wenig zu leiden gehabt. Jetzt begann die Rückreise, doch statt den Weg nach Europa einzuschlagen, sollte das Schiff, dessen Herren Harry Markel und seine Spießgesellen vom nächsten Tage an ausschließlich zu sein hofften, nach dem Gewässer des Großen Ozeans steuern.

Tatsächlich schien es ja so, als ob die Passagiere des »Alert« dem ihnen von der Schurkenbande zugedachten Schicksale unmöglich entgehen könnten. In der nächsten Nacht sollten sie in ihren Kabinen überfallen und, ehe sie sich [309] verteidigen könnten, ermordet werden. Wer hätte dann jemals die blutigen Vorgänge auf dem »Alert« entschleiern können? In den offiziellen Schiffsnachrichten würde der Dreimaster einfach unter den mit Mann und Maus verschollenen Fahrzeugen aufgeführt werden, von denen kein Mensch je wieder etwas erfährt. Auch jede Nachforschung mußte hier vergeblich bleiben, da der Kapitän Markel seine Raubzüge im Westen des Großen Ozeans mit dem Schiffe unter Änderung seines Namens und der bisher geführten Flagge, sowie nach einiger Veränderung der Takelage auszuführen gedachte.

Die Anwesenheit des neu eingetroffenen jungen Seemannes konnte die Durchführung des lange gehegten Planes wohl kaum hindern. Jetzt waren zwar elf Passagiere an Bord, während Harry Markel und seine Leute nur zehn Mann zählten, diese hatten aber den Vorteil des unvermuteten Angriffes für sich.

Und wie hätten die anderen auch diesen kräftigen, an Blutvergießen gewöhnten Burschen wirksam widerstehen können? Ferner sollte der Mordanschlag obendrein in der Nacht ausgeführt werden. Die Opfer wurden dann im tiefen Schlafe abgeschlachtet, und Erbarmen von dieser Verbrecherrotte zu erflehen, wäre sicherlich ganz nutzlos gewesen.

Also wäre dem frechen Räuber voraussichtlich alles geglückt und sein Plan bis zum Ende durchgeführt worden; er behielt Recht gegenüber den zaghaften Einwendungen John Carpenters und der übrigen. Bei dem wiederholten Anlaufen längs der Kleinen Antillen hatte nichts sie verraten, der letzte Aufenthalt an Barbados ihnen aber noch eine Summe von siebentausend Pfund sozusagen in den Schoß geworfen, abgesehen von der besonderen Belohnung, die Mistreß Kathlen Seymour dein Schiffsführer zugewendet hatte.

Der auf dem »Alert« jetzt mit eingeschiffte Seemann hieß Will Mitz. Er zählte nur fünfundzwanzig Jahre, war also kaum um fünf Jahre älter als Roger Hinsdale, Louis Clodion und Albertus Leuwen.

Der mittelgroße, kräftige, gut gewachsene Will Mitz, der so beweglich und gewandt war, wie sich's für einen Marsgast ziemt, machte den Eindruck eines ehrlichen und offenherzigen Mannes. Er zeigte sich außerdem sehr dienstwillig und war bei inniger Religiosität von tadellosem Auftreten. Niemals hatte er sich eine Strafe zugezogen, und keiner zeigte mehr Gehorsam oder entwickelte größeren Eifer im Dienste als er. Schon in seinem zwölften Jahre als Schiffsjunge eingetreten, wurde er nach und nach Leichtmatrose, Vollmatrose und [310] zuletzt Bootsmann. Er war der einzige Sohn einer seit mehreren Jahren verwitweten Frau Mitz, die eine Vertrauensstellung in Nording-House einnahm.

Nach einer letzten Reise in den südlichen Meeren blieb Will Mitz zwei Monate bei seiner Mutter, wobei Mistreß Kathlen Seymour die vortrefflichen Eigenschaften des jungen Mannes kennen und schätzen lernte. Dank ihren weitreichenden Verbindungen hatte er erst vor kurzem die Stelle des Obersteuermannes auf einem Schiffe erhalten, das nächstens mit Fracht von Liverpool nach Sydney in Australien abgehen sollte. Ohne Zweifel mußte Will Mitz bei seiner reichen Kenntnis der praktischen Navigation, seiner Intelligenz und seinem Eifer noch weiter vorwärts kommen und würde später in der Handelsflotte die Stellung eines höheren Offiziers erreichen. Überdies mutig und von schnellem Entschlusse, war ihm die unerschütterliche Kaltblütigkeit und der sichere Blick eigen, der für Seeleute ganz unentbehrlich ist und zu ihren wichtigsten Eigenschaften gehört.

Will Mitz wartete in Bridgetown schon auf eine Gelegenheit, sich nach Liverpool einzuschiffen, als der »Alert« im Hafen von Barbados vor Anker ging. Da kam Mistreß Kathlen Seymour der Gedanke, sich mit dem Kapitän Paxton dahin zu verständigen, daß er den jungen Seemann nach Europa mitnähme. Will Mitz sollte also unter sehr angenehmen Verhältnissen über den Atlantischen Ozean und nach Liverpool, d. h. nach dem Hafen kommen, wo er seine neue Stellung antreten und den auch der Dreimaster anlaufen sollte. Von da gedachten Horatio Patterson und seine jungen Begleiter sich auf der Eisenbahn nach London zu begeben und in die Antilian School zurückzukehren, wo sie gewiß nach Verdienst empfangen wurden.

Will Mitz wollte übrigens während der Fahrt nicht mäßig bleiben. Dem Kapitän Paxton mußte es ja sehr erwünscht kommen, ihn zu verwenden, um den Mann zu ersetzen, den er in der Bai von Cork durch einen Unfall verloren hatte.


»Ein tüchtiger Seemann, der mit dir, John, die Wache befehligen kann...« (S. 315.)

Am Abend des 21. September hatte Will Mitz, nach Verabschiedung von Mistreß Kathlen Seymour und nach zärtlicher Umarmung seiner guten Mutter, seinen Matrosensack an Bord des »Alert« gebracht. Die freundliche Schloßherrin hatte ihm auch noch eine kleine Geldsumme aufgenötigt, die es ihm erlauben mußte, in Liverpool die Abfahrt seines Schiffes abzuwarten.

Obwohl nun im Volkslogis nicht alle Plätze von seinen Leuten eingenommen waren, zog es Harry Markel doch vor, Will Mitz nicht bei diesen mit unterzubringen. [311] Das hätte zu einer Störung seiner Absichten führen können. Da noch eine Kabine frei war, wurde diese dem neuen Passagier sofort angewiesen.

»Herr Kapitän Paxton, sagte Will Mitz, gleich nachdem er eingetroffen war, ich wünsche dringend, mich an Bord nützlich zu machen. Ich stehe gänzlich zu Ihrer Verfügung, und wenn es Ihnen recht ist, werd' ich auch die Wachen mit beziehen.

– Meinetwegen,« antwortete Harry Markel kurz.

[312] [315]Will Mitz empfing von der Mannschaft des Fahrzeuges, als er sie näher zu sehen bekam, einen wenig günstigen Eindruck, und zwar nicht nur vom Kapitän des »Alert«, sondern auch von John Carpenter, Corty und den übrigen. Zeigte sich der Dreimaster auch im besten Zustande, so konnten die Gesichter der Leute, worin so viel zügellose Leidenschaft lag, konnten die gemeinen wilden Züge, deren Falschheit nur schlecht verhüllt erschien, ihm doch nicht das geringste Vertrauen einflößen. Er nahm sich deshalb auch vor, der Mannschaft gegenüber eine gewisse Zurückhaltung zu bewahren.


»Ich fahre schon seit zwölf Jahren..« (S. 317.)

Wenn Will Mitz den Kapitän Paxton nicht persönlich kannte, so hatte er doch von ihm als einem vorzüglichen Seemann reden hören, auch bevor er die Führung des »Alert« übernommen hatte, und die Wahl der Mistreß Kathlen Seymour war auf ihn erst gefallen, als man ihn ihr von zuverlässiger Seite warm empfohlen hatte.

Während ihres Aufenthaltes in Nording-House waren die jungen Passagiere außerdem seines Lobes voll gewesen und priesen vor allem seine Geschicklichkeit in der Schiffsführung, als sie nicht weit von Barbados der recht starke Sturm überrascht hatte.

Die Herfahrt war ja in befriedigendster Weise verlaufen, warum sollte das nicht auch für die Rückfahrt zutreffen? Will Mitz glaubte also, daß der erste üble Eindruck, den er nach seinem Eintreffen an Bord empfangen hatte, sich wohl allmählich verwischen werde.

Als Corty hörte, daß sich Will Mitz zu freiwilliger Dienstleistung angeboten hatte, sagte er zu Harry Markel und John Carpenter:

»Na, da haben wir ja einen recht guten Zuwachs, auf den wohl keiner gerechnet hatte!... Ein tüchtiger Seemann, der mit dir, John, die Wache befehligen kann...

– Und dem man auch ruhig das Steuer anvertrauen kann, setzte John Carpenter nicht weniger ironisch hinzu Mit einem solchen Steuermann ist kein Abweichen aus dem Kurse zu befürchten, und der ›Alert‹ würde auf kürzestem Wege nach Liverpool kommen...

– Wo uns, fiel Corty ein, die auf die eine oder andere Weise benachrichtigte Polizei gleich bei der Ankunft mit gebührender Ehre in Empfang nehmen würde...

– Genug des Scherzes, ließ sich nun Harry Markel vernehmen, und hüte jeder seine Zunge wenigstens noch vierundzwanzig Stunden...

[315] – Um so mehr, bemerkte John Carpenter, als jenes Meerschwein uns in ganz merkwürdiger Weise zu mustern schien...

– Jedenfalls, empfahl Harry Markel noch, antworte ihm jeder wenig oder gar nicht, wenn er ein Gespräch anbinden will. Vor allem darf Morden nicht wieder solches Zeug schwatzen, wie kürzlich auf Sankta-Lucia...

– Richtig, schloß Corty das Gespräch, doch wenn Morden nichts getrunken hat, ist er stumm wie ein Fisch, und am Trinken werden wir ihn schon so lange hindern, bis wir sorglos die Gesundheit des Kapitäns Markel ausbringen!«

Übrigens bemühte sich Will Mitz offenbar gar nicht um eine Plauderei mit den Leuten des Schiffes. Gleich nach dem Eintreffen hatte er sich in seine Kabine zurückgezogen, wo er seinen Reisesack niederlegte und ruhig die Ankunft der Passagiere abwartete. Am nächsten Tage aber beteiligte er sich tätig bei den letzten Arbeiten für die Abfahrt.

Im Laufe des ersten Reisetages fand Will Mitz auf dem Hinterdeck, was er auf dem Vorderdeck gewiß nicht gefunden hätte: eine Gesellschaft tüchtiger junger Leute, die sich gleich von Anfang an warm für ihn interessierten. Vor allem zeigten sich Tony Renault und Magnus Anders wahrhaft beglückt, »mit einem Seemann über Seereisen, Schiffe u. dgl. sprechen zu können«.

Nach dem Frühstück spazierte Will Mitz, seine kurze Pfeife rauchend, auf dem Verdeck umher.

Der »Alert« führte jetzt seine unteren Segel, nebst den Mars- und Bramsegeln. Er hätte jetzt eine größere Strecke weit nach Nordosten laufen sollen, um durch den Bahamakanal und nach der anderen Seite der Antillen zu kommen, und dann den nach Europa zu verlaufenden Golfstrom zu benutzen. Will Mitz fiel es nun zwar sofort auf, daß der Kapitän statt Steuerbordhalfen hatte Backbordhalfen setzen lassen, wodurch das Schiff mehr einen südöstlichen Kurs nahm; da aber Harry Markel dafür seine Gründe haben mußte, hielt sich Will Mitz nicht für berechtigt, ihn darüber zu befragen. Er sagte sich vielmehr, der »Alert« werde, wenn er fünfzig bis sechzig Seemeilen zurückgelegt hätte, schon nach Nordosten abfallen.

Harry Markel manövrierte freilich mit bewußter Absicht so, daß er auf die Südspitze Afrikas zu lief, und von Zeit zu Zeit überzeugte er sich, daß der Mann am Steuer den Dreimaster in dieser Richtung hielt.

Inzwischen plauderten Tony Renault, Magnus Anders und zwei oder drei ihrer Kameraden, auf dem Deck hier oder dort lustwandelnd, mit dem jungen[316] Seemanne. Sie stellten ihm Fragen bezüglich seines Berufes, was ihnen früher dem wenig mitteilsamen Kapitän gegenüber unmöglich gewesen war. Will Mitz antwortete wenigstens gern und hatte sein Vergnügen an ihrem Geplauder, da er erkannte, daß sie sich für alles, was die Seefahrerei betraf, interessierten.

Zuerst wollten sie wissen, welche Länder er bei seinen bisherigen Reisen besucht und ob er in der Kriegs- oder der Handelsflotte gedient habe.

»Ja, meine jungen Herren, erklärte Will Mitz, ich fahre schon seit zwölf Jahren, das heißt also eigentlich seit meiner Kindheit...

– Sie sind also wohl mehr als einmal über den Atlantischen und den Großen Ozean gekommen? erkundigte sich Tony Renault.

– Gewiß, mehrere Male, an Bord von Segelschiffen ebenso wie an Bord von Dampfern.

– Sind Sie auch auf Kriegsschiffen in Dienst gewesen? sagte Magnus Anders.

– Ja, antwortete Will Mitz, damals als England ein Geschwader nach dem Golf von Petschili schickte.

– Sie sind nach China gekommen! rief Tony Renault und verhehlte nicht seine Bewunderung für einen Mann, der die Küste des Himmlischen Reiches betreten hatte.

– Jawohl, mein bester Herr Renault, und ich versichere Ihnen, daß es gar nicht schwieriger ist, nach China zu gehen, als etwa nach den Antillen.

– Und auf welchem Schiffe? fragte John Howard.

– Auf dem Panzerkreuzer › Standard‹, Kontreadmiral Sir Harry Walker.

– Damals fuhren Sie wohl noch als Schiffsjunge?...

– Ja freilich... als einfacher Schiffsjunge.

– Führte denn der ›Standard‹ auch große Geschütze? fragte Tony Renault.

– O, sehr große... von zwanzig Tonnen.

– Von zwanzig Tonnen!« wiederholte Tony Renault ganz verzückt.

Man fühlte es bei diesem Ausrufe wirklich heraus, daß der junge Mann sich überglücklich geschätzt hätte, einmal ein solches Riesengeschütz abfeuern zu können.

»Sie sind aber nicht die meiste Zeit auf Kriegsschiffen gefahren? ließ sich Louis Clodion vernehmen.

– Nein, meine jungen Herren, antwortete Will Mitz. Der Kriegsflotte hab' ich nur drei Jahre angehört, dann habe ich mir in der Handelsflotte das Zeugnis als Marsgast erworben.

– Auf welchen Schiffen? fragte Magnus Anders.

[317] – Auf dem ›North's-Brothers‹ von Cardiff, mit dem ich nach Boston segelte, und auf dem ›Great Britain‹ von Newcastle.

– War das ein großes Schiff? fragte Tony Renault.

– Gewiß, ein Kohlenfrachtschiff von dreitausendfünfhundert Tonnen, das seine Ladung in Melbourne löschte.

– Und was haben Sie da als Rückfracht mitgenommen?

– Australisches Getreide, das nach Leith, dem Hafen von Edinburgh, bestimmt war.

– Haben Sie nicht das Fahren auf Segelschiffen dem auf Dampfern vorgezogen? sagte dazu Niels Harboe.

– Gewiß ziehe ich das vor, bestätigte Will Mitz. Eine Fahrt mit Segeln hat mehr Seemännisches an sich und geht im allgemeinen fast ebenso schnell vor sich wie eine mit Hilfe des Dampfes. Ferner wird man dabei nicht von dem Kohlenrauche belästigt, und es gibt doch keinen schöneren Anblick als solch ein Fahrzeug mit vollen Segeln, das gelegentlich seine fünfzehn bis sechzehn Knoten läuft.

– Ja, das glaub' ich... das glaub ich gern, rief Tony Renault, der in der Einbildung schon alle Meere der Erde durchmaß. Und wie heißt das Schiff, auf dem Sie jetzt anmustern wollen?

– Die ›Elisa Warden‹ von Liverpool, ein stolzer, stählerner Viermaster von dreitausendachthundert Tonnen, der mit einer Ladung Nickel von Thio in Neukaledonien gekommen ist.

– Welche Art Fracht wird er denn in England einnehmen? fragte John Howard.

– Soviel ich weiß: Steinkohle für San Francisco, antwortete der junge Seemann, jedenfalls ist das Schiff aber gechartert, auf der Rückreise Getreide von Oregon nach Dublin zu befördern.

– Wie lange dauert wohl eine solche Reise? nahm Magnus Anders wieder das Wort.

– O, so etwa elf bis zwölf Monate.

– Ah, rief Tony Renault, das ist doch eine Fahrt, die ich einmal mitmachen möchte. Ein ganzes Jahr zwischen Himmel und Wasser! Auf dem Atlantischen Ozean, auf der Südsee und auf dem Großen Ozean! Hei, da umsegelte man das Kap Horn und kehrte um das Kap der Guten Hoffnung zurück! Das wäre ja wirklich eine Reise um die Erde.

[318] – Nun, lieber junger Herr, antwortete Will Mitz lächelnd, Sie scheinen für lange Fahrten begeistert zu sein!

– Ganz gewiß... doch ich wäre lieber als Seemann, statt als Passagier daran beteiligt!

– Das nenn' ich brav gesprochen! erklärte Will Mitz. Ich sehe, daß Sie das Meer warm ins Herz geschlossen haben!

– Ja, versicherte Niels Harboe, wenn man Magnus Anders und Tony so hört, müßte ihnen eigentlich die Führung des Schiffes überlassen werden, wo einer nach dem andern an der Ruderpinne stehen könnte!

– Leider, bemerkte Louis Clodion dazu, sind Magnus und Tony schon zu alt, sich noch dem Seemannsberufe widmen zu können.

– Nun, wir haben doch noch keine sechzig Jahre auf dem Rücken! entgegnete Tony Renault eifrig.

– Nein, doch wir sind zwanzig Jahre alt, gestand der junge Schwede, und da ist es doch wohl zum Anfangen etwas zu spät...

– Ja... wer weiß? antwortete Will Mitz. Sie sind ja nicht furchtsam, sind gelenkig und von kräftiger Gesundheit, und mit solchen Eigenschaften lernt man die Sache bald. Besser freilich, man fängt damit jung an. Für die Handelsmarine ist übrigens keine Altersgrenze für den Eintritt festgesetzt.

– Nun, sagte Louis Clodion, Tony und Magnus werden sich das ja überlegen, wenn sie ihre Studien an der Antilian School beendigt haben...

– Und wenn einer von der Antilian School abgeht, ist er für jeden Beruf befähigt. Nicht wahr, Herr Patterson?«

Der Mentor, der eben in die Nähe kam, schien in tiefes Sinnen versunken. Vielleicht dachte er über den seltsamen lateinischen Satz nach, für den ihm noch kein Verständnis aufgegangen war. Jedenfalls erwähnte er dessen aber mit keiner Silbe, und Tony Renault, der ihn listig anblinzelte, wagte auch nicht mehr als eine ganz leichte Anspielung. Über den Gegenstand des Gesprächs aufgeklärt, gab er dem jungen Pensionär recht, der die Fahne der Antilianerschule so mutig verteidigte. Der vortreffliche Mann führte sich dafür selbst als Beispiel an. Ihm als Verwalter der Antilian School ging von vornherein ja jede Kenntnis des Seewesens ab. Er war nie auf den Ozeanen gefahren... nein... nicht einmal im Traume. Was die Schiffe anging, so hatte er kaum die gesehen, die stromauf-oder stromabwärts fahrend auf der Themse durch London kommen. Und obgleich er doch nur zum Verwaltungskörper der berühmten [319] Anstalt gehörte, hatte er doch bewiesen, daß er dem Zorne Neptuns trotzen könne. Freilich zu Anfang, einige Tage lang... die Stöße beim Rollieren...

»Beim Rollen, flüsterte ihm Tony Renault zu.

– Ja ja, beim Rollen... fuhr Herr Patterson fort, beim Rollen und beim Stam... ja, beim Stampfen, da wurde ich wohl ein bißchen arg mitgenommen, doch jetzt... bin ich nicht gewappnet gegen die widerliche Seekrankheit?... Habe ich nicht vollständig den Gang eines Seemannes?... Glaubt mir... experto crede Roberto...

– Horatio, soufflierte Tony Renault.

– Nun ja, also Horatio, da ich einmal denselben Namen erhalten habe wie der göttliche Flavus!... Und wenn ich mich auch nicht danach sehne, gegen die Stürme, die Tornados oder die Zyklone anzukämpfen, wenn ich nicht gern der Spielball der Orkane sein mag, so würde ich sie wenigstens festen Blickes und ohne zu erblassen mit ansehen.

– Alle Achtung, Herr Patterson! sagte Will Mitz zu diesem Selbstlob... Doch, unter uns: besser ist's, man versucht es erst gar nicht. Ich hab's ja mit durchgemacht, doch ich habe auch die mutigsten Leute erschrecken sehen, wenn sie sich ohnmächtig der Gewalt des Sturmes gegenübersahen.

– Oh, lenkte Patterson ein, was ich gesagt habe, soll ja nicht etwa die Wut der Elemente heraufbeschwören. Fern liegt mir ein solcher Gedanke, der einem verständigen Mann nicht ziemt, einem Mentor, gewissermaßen einem Seelsorger für junge Leute, der sich seiner Verantwortlichkeit tief im Innern bewußt ist. Ich hoffe übrigens, Will Mitz, daß uns etwas ähnliches nicht bevorsteht.

– Ich hoffe es wie Sie, Herr Patterson. Zur jetzigen Jahreszeit treten im Atlantischen Ozean wirkliche Stürme nur selten auf. Ein Gewitter freilich ist immer zu befürchten, und von einem Gewitter weiß man nie mals, wie schwer es werden und wie lange es anhalten wird. Ohne ein Gewitter kommen wir auf keinen Fall weg, denn solche kommen im September hier sehr häufig vor, und ich wünsche dabei nur, daß sie nicht zu einem Sturm umschlagen.

– Das wünschen wir alle, antwortete Niels Harboe. Im Falle schlechten Wetters können wir jedoch zu unserem Kapitän volles Vertrauen haben. Er ist ein geschickter und erfahrener Seemann...

– Ohne Zweifel, dafür soll er schon manche Beweise geliefert haben, und in England stellt man ihm das beste Zeugnis aus...

[320] – Und das mit Recht, erklärte Hubert Perkins.

– Haben Sie denn, fragte Will Mitz, seine Mannschaft in Tätigkeit beobachtet?

– Nun, John Carpenter scheint ja ein tüchtiger Bootsmann zu sein, meinte Niels Harboe, und seine Leute sind mit allen Segelmanövern, soweit ich's beurteilen kann, recht gut vertraut.

– Gesprächig sind sie aber offenbar nicht, sagte Will Mitz.

[321] – Nein, das nicht, an ihrem Verhalten ist aber nichts auszusetzen, antwortete Magnus Anders. Die Disziplin wird an Bord sehr streng gehandhabt; der Kapitän Paxton läßt zum Beispiel keinen seiner Matrosen ans Land gehen. Nein, nein, es ist den Leuten nichts vorzuwerfen.


Patterson hatte einen dieser Gymnoten kaum in die bloße Hand genommen... (S. 323.)

– Desto besser, sagte Will Mitz.

– Und wir wünschen ja nur das eine, setzte Louis Clodion hinzu, daß die ganze Fahrt in derselben Weise verläuft, wie bis heute!«

8. Kapitel
Achtes Kapitel.
Die Nacht naht heran.

So gestaltete sich also der erste Tag der Rückreise. Das Leben an Bord gewann wieder seine gewohnte Regelmäßigkeit, die durch nichts unterbrochen wurde, als etwa durch ein besonderes Vorkommnis auf dem Meere, was bei gutem Wetter und günstigem Winde immerhin etwas seltenes ist.

Wie gewöhnlich wurde das Frühstück in der gemeinsamen Kajüte aufgetragen, wo sich alle, bedient von dem Steward, unter dem »Vorsitze« Pattersons zusammenfanden.

Wie gewöhnlich, ließ sich Harry Markel sein Essen in seine Kabine bringen.

Das erschien Will Mitz wieder etwas auffallend, weil es auf Handelsschiffen üblich ist, daß auch der Kapitän an der Tafel in der Hauptkajüte mit Platz nimmt.

Vergeblich versuchte Will Mitz mit John Carpenter oder einem anderen von der Mannschaft ein Gespräch anzuknüpfen. Er fand hier nichts von dem kameradschaftlichen Geiste, der sonst unter Seeleuten so leicht zum Ausdruck kommt.

Im Hinblick auf die Stellung, die er an Bord der »Elisa Warden« einnehmen sollte, hätte der Bootsmann des »Alert« ihn mindestens als seinesgleichen behandeln können.

[322] Nach beendigter Mahlzeit ging Will Mitz mit den jungen Leuten, die ihm so freundlich entgegengekommen waren, wieder auf das Deck hinauf.

Am Nachmittage fehlte es nicht an Zerstreuung. Da das Schiff bei dem jetzt schwachen Winde nur langsam dahinglitt, wurden vom Verdeck aus Angeln ausgeworfen, und die Passagiere überließen sich dem Vergnügen des Fischens, das auch recht einträglich ausfiel.

Zu den Eifrigsten, Tony Renault, Magnus Anders, Niels Harboe und Axel Wickborn, gesellte sich Will Mitz, der ein erfahrener und sehr geschickter Angler war.

Ihm war vom Seemannsberufe nichts fremd, und er entwickelte eine Geschicklichkeit und Kenntnis, die weder Harry Markel noch dem Bootsmann entgehen konnten.

Das Angeln wurde mehrere Stunden fortgesetzt, und man fing dabei ausgezeichnete, wohlschmeckende Bonite und sogar einen recht großen Stör, dessen bis zweihundert Pfund schwere Weibchen – die übrigens im Atlantischen und im Mittelländischen Meere ziemlich häufig vorkommen – reichlich eine Million Eier in sich tragen.

Die Angeln brachten auch mehrere Schellfische herauf, die den Schiffen in großen Schwärmen zu folgen pflegen, ferner sogenannte Syphias und Schwertfische von der Art der Espadons, und endlich einige Gymnoten (Zitteraale) mit langem, schlangenähnlichem Leibe, die häufiger in den Gewässern bei Amerika vorkommen.

Ehe Will Mitz es hindern konnte, hatte Patterson einen dieser Gymnoten kaum in die bloße Hand genommen, als ihn ein heftiger elektrischer Schlag schon auf das Verdeck hinstreckte, wobei er bis zum Kompaßhäuschen kollerte.

Alle sprangen hinzu, halfen ihm, sich zu erheben, doch es dauerte einige Zeit, bis er sich von dem Schreck erholt hatte.

»Es ist nicht ohne Gefahr, diese Tiere anzurühren, rief Will Mitz ihm zu.

– Das hab' ich – nur zu spät – zu meinem Leidwesen erfahren, antwortete Patterson, während er seine von dem Schlage gelähmten Arme wieder gelenkig zu machen sachte.

– O, erklärte Tony Renault, diese Entladungsschläge sollen sich aber gegen Rheumatismus sehr heilsam erweisen...

– Das paßt ja herrlich! Während ich von jeher an rheumatischen Beschwerden litt, werd' ich nun bis ans Ende meiner Tage davon kuriert sein!«

[323] Ein Vorfall, der das lebhafteste Interesse der Passagiere erweckte, war das Auftauchen von drei oder vier Walfischen.

Die Cetaceen sind nicht gerade häufig in der Nachbarschaft der Antillen, und diese (die Antillen) betrachtet auch kein Fischer als Fangplätze.

»Draußen, weit im Großen Ozeane, machen die Schiffe besonders Jagd auf sie, berichtete Will Mitz, entweder im Norden, in den weiten Buchten des britischen Amerika, wo die Wale Junge werfen, oder im Süden, an den Küsten Neuseelands.

– Sind Sie auch mit auf dem Walfischfang gewesen? fragte Louis Clodion.

– Ja, während einer Saison, an Bord des ›Wrangel‹ von Belfast, in der Nachbarschaft der Kurilen-Inseln und im Ochotskischen Meere. Da gehören aber geeignete Boote, Fangleinen, Harpunen und Harpuniere dazu. Es bringt auch zuweilen ernste Gefahren mit sich, wenn man von einem Wale allzuweit hinausgeschleppt wird, und dieser Fang hat schon viele Opfer gefordert.

– Ist er denn einträglich? fragte Niels Harboe.

– Ja und nein, antwortete Will Mitz. Geschicklichkeit ist wohl ganz gut dabei, etwas Glück aber noch besser, und gar nicht so selten verläuft eine Kampagne, ohne daß es gelungen war, auch nur einen Walfisch zu erbeuten.«

Die, die sich hier zeigten, tummelten sich übrigens in einer Entfernung von gut drei Meilen vom »Alert«, und zum Leidwesen der Passagiere war es ganz unmöglich, sich ihnen mehr zu nähern. Selbst wenn alle Segel gehißt worden wären, hätte der Dreimaster nicht schneller vorwärts kommen können. Die Wale schwammen so schnell in östlicher Richtung hinaus, daß auch die beste Pirogue sie kaum hätte einholen können.

Je mehr die Sonne zum Horizonte hinabsank, desto mehr flaute der Wind ab.

Im Westen standen dicke, blaugraue Wolkenmassen unbeweglich still. Sprang von dieser Seite her Wind auf, so konnte es nur eine nicht anhaltende Gewitterbö werden. Auf der entgegengesetzten Seite türmten sich aber ebenfalls dichte Dunstgebilde auf, die die Nacht sehr dunkel machen mußten.

Überhaupt wurde der Ausbruch eines Meteors mit Blitzen und Donnerschlägen immer wahrscheinlicher. Die Hitze war sehr stark, schwül und drückend, und die Atmosphäre reichlich mit Elektrizität gesättigt.

Als die Schnuren und Leinen noch draußen lagen, hatte Harry Markel eines der Boote müssen aufs Wasser setzen lassen, da einige der gefangenen Fische so schwer waren, daß man sie nicht unmittelbar an Bord hissen konnte.

[324] Da das Meer noch ruhig blieb, wurde das Boot nicht wieder herausgezogen. Harry Markel hatte aber offenbar noch besondere Gründe, es draußen zu lassen.

Der »Alert« trug jetzt alle seine Segel, um noch den geringsten Lufthauch auszunützen. Will Mitz meinte auch, der Kapitän werde, sobald sich nun Wind erhöbe, den Kurs wechseln und nach Nordosten steuern lassen. Schon den ganzen Tag hatte er vergeblich auf diesen Befehl gewartet, und er konnte sich unmöglich erklären, was Harry Markel eigentlich beabsichtigte.

Die Sonne verschwand hinter einer mächtigen Wolkenbank, die dicht genug war, deren letzte Strahlen zu verschlucken. Schnell kam nun die Nacht heran, denn in den benachbarten Breiten des Äquators ist die Dämmerung immer nur sehr kurz.

Daß Harry Markel alle Segel bis zum Tagesanbruch beibehalten würde, konnte Will Mitz nicht denken. Jeden Augenblick drohte ja ein Gewitter auszubrechen, und es ist doch bekannt, wie heftig und schnell sich diese in der hiesigen Gegend entwickeln.

Ein von einem solchen plötzlich überfallenes Schiff hat dann keine Zeit mehr, die Schoten fieren zu lassen und die Segel zu bergen. In wenigen Augenblicken kann es auf die Seite gelegt sein und muß die Masten kappen, um sich wieder aufzurichten.

Ein vorsichtiger Seemann wird sich einer solchen Gefahr niemals aussetzen, und bei nicht unbedingt sicherer Witterung ist es allemal vorzuziehen, nur Mars- und Bramsegel, sowie Brigg- und Klüversegel beizubehalten.

Als Harry Markel gegen sechs Uhr auf das Hinterkastell kam, wo Patterson und seine jungen Begleiter beieinander standen, befahl er, das Sonnenzelt einzurollen, wie das jeden Abend zu geschehen pflegte. Dann kommandierte er, nach einem prüfenden Blick auf den Himmel:

»Die Bram- und Oberbramsegel bergen!«

Diesen Befehl gab John Carpenter weiter, und sofort begann die Mannschaft ihn auszuführen.

Selbstverständlich kletterten ihrer Gewohnheit gemäß Tony Renault und Magnus Anders die Wanten des Großmastes mit hinan, und das mit einer Leichtigkeit und Gewandtheit, die bei dem Mentor immer ebensoviel Bewunderung wie Beängstigung, doch auch das Bedauern hervorrief, es den jungen Leuten nicht gleich tun zu können.

[325] Diesmal folgte ihnen Will Mitz, der ja an dergleichen gewöhnt war. Fast gleichzeitig erreichten die Drei die Raaen und gingen nun sofort daran, das große Bramsegel einzuziehen.

»Halten Sie sich gut fest, junge Herren, rief der Seemann ihnen zu. Das ist unerläßlich nötig, selbst wenn das Schiff nicht im geringsten rollt...

– Also Achtung, antwortete Tony Renault. Es würde doch den armen Patterson gar zu sehr schmerzen, wenn wir ins Meer fielen!«

Die Drei genügten, die Segel an die Raa zu binden, die nun am Großmast festgelegt wurde, nachdem das schon mit der Oberbramraa geschehen war.

Gleichzeitig führten die Matrosen dasselbe Manöver am Fockmast aus. Dann wurde auch das große und das äußere Klüversegel, sowie das Gaffeltoppsegel am Besanmast geborgen.

Das Schiff trug nun bloß noch seine Marssegel, das Brigg- und das kleine Klüversegel, die sich bei dem schwachen Winde kaum aufblähten.

Nur leicht von der nach Osten gerichteten Strömung unterstützt, kam der Dreimaster bis Sonnenaufgang voraussichtlich nur wenig vorwärts.

Harry Markel würde jedenfalls nicht überrascht werden, wenn ihn nun das Gewitter plötzlich überfiel.

In wenigen Augenblicken konnten dann das Focksegel eingebunden und die beiden Marssegel gerefft werden.

Als Will Mitz mit Tony Renault und Magnus Anders wieder auf das Deck heruntergekommen war, warf er einen Blick auf die Boussolennadel, die von der Lampe im Kompaßhäuschen schon beleuchtet wurde.

Seit dem Morgen war der »Alert« nun schon gegen fünfzig Seemeilen nach Südosten zu gesegelt, und der junge Seemann glaubte bestimmt, daß der Kapitän für die Nacht wohl einen anderen Kurs, und zwar nach Nordosten, einschlagen werde.

Harry Markel bemerkte recht wohl, daß sein Passagier etwas erstaunt schien, ihn den bisherigen Kurs noch immer einhalten zu sehen. An strenge Disziplin gewöhnt, hätte dieser sich aber nicht erlaubt, darüber eine Bemerkung zu machen.

Nachdem er sich, während Corty am Steuer stand, den Kompaß noch einmal angesehen hatte, betrachtete er prüfend den Himmel und setzte sich dann am Fuße des Großmastes nieder.

[326] Da näherte sich Corty, überzeugt, daß ihn niemand hören könne, dem Kapitän Markel und sagte:

»Mir scheint, der Mitz merkt es, daß wir auf falschem Kurse sind. Na, gleichviel: diese Nacht werden wir ja ihn und die anderen auf den›richtigen Kurs‹ bringen, und dann hindert ihn nichts, Liverpool schwimmend zu erreichen, wenn er trotz der Haifische Arme und Beine am Leibe behält!«

Der Elende hielt diese Bemerkung jedenfalls für sehr scherzhaft, denn er brach danach in helles Lachen aus, das Harry Markel aber durch einen Blick unterdrückte.

Eben jetzt trat noch John Carpenter an beide heran.

»Schleppen wir das große Boot noch weiter nach, Harry? fragte er.

– Jawohl, John, es kann uns von Nutzen sein...

– Wenn wir gezwungen wären, die Arbeit draußen zu vollenden!«

An diesem Abend wurde das Essen erst halb sieben Uhr aufgetragen. Auf der Tafel prangten einige der am Tage gefangenen Fische, die Ranyah Cogh recht schmackhaft zubereitet hatte.

Patterson erklärte, daß er nie etwas Köstlicheres gegessen hätte... vor allem lobte er die Boniten und gab der Hoffnung Ausdruck, daß die jungen Fischer während der Reise Gelegenheit haben würden, noch mehr von derselben Art zu erbeuten.

Nach dem Essen begaben sich alle wieder auf das Deck, wo sie die volle Dunkelheit abwarten wollten, ehe sie ihre Kabinen aufsuchten.

Die hinter der Wolkenbank verborgene Sonne war noch nicht unter den Horizont versunken. und vor einer guten Stunde konnte es kaum völlig finster sein.

In diesem Augenblicke glaubte Tony Renault draußen im Osten ein Segel zu erkennen, und fast gleichzeitig rief auch schon Will Mitz:

»Schiff backbord vorauf!«

Alle Blicke wandten sich in der angegebenen Richtung hin.

Ein großes Fahrzeug, das seine Mars- und seine Großsegel trug, tauchte vier Seemeilen draußen auf. Offenbar hatte es dort mehr Wind und segelte backstags auf den »Alert« zu.

Louis Clodion und Roger Hinsdale holten sofort ihre Fernrohre und beobachteten das Schiff, das sich ihnen, einen nordwestlichen Kurs einhaltend, näherte.

[327] »Verdammter Kasten! murrte John Carpenter, binnen einer Stunde wird er uns dicht an der Seite liegen!«

Corty und die übrigen hatten diese Worte des Bootsmannes gehört. Legte sich der Wind vollständig, so würden die beiden Schiffe die Nacht über in der Entfernung einer halben, vielleicht nur einer viertel Seemeile nebeneinander still liegen bleiben. Und wenn sich Harry Markel damals, nahe der Küste von Irland, beglückwünschen konnte, sich seiner Passagiere nicht sofort entledigt zu haben, so waren die Verhältnisse heute doch nicht mehr dieselben.

Jetzt war ja das Geld der Mistreß Kathlen Seymour an Bord, mit einem anderen Schiffe in der Nähe konnten die verbrecherischen Pläne aber doch kaum ausgeführt werden.

»Verdammt! wiederholte John Carpenter. Soll es uns denn niemals gelingen, die ganze, lästige Pension loszuwerden? Müssen wir wirklich noch die nächste Nacht abwarten?«

Das Schiff kam, die letzte Brise ausnützend, immer weiter auf den »Alert« zu. Bald mußte aber auch ihm der Wind gänzlich fehlen.

Es war ein großer Dreimaster, der nach einer der Antillen oder nach einem Hafen Mexikos bestimmt sein mochte.

Seine Nationalität war unmöglich zu erkennen, da er keine Flagge an der Gaffel führte. Es schien aber, seiner Bauart und Takelage nach, ein amerikanisches Fahrzeug zu sein.

»Schwer ist es offenbar nicht beladen, bemerkte Magnus Anders.

– Nein, gewiß nicht, bestätigte Will Mitz. Ich glaube eher, daß es nur mit Ballast fährt.«

Drei Viertelstunden später befand sich das Schiff vom »Alert« nur noch zwei Seemeilen entfernt.

Da die Strömung eine ihm günstige Richtung hatte, hoffte Harry Markel, daß es noch am »Alert« vorbeikommen werde. Hatte es sich zwischen ein und vier Uhr morgens nur fünf bis sechs Meilen von ihm entfernt, so konnte, selbst wenn es an Bord zu einem Kampfe kam, in dieser Entfernung doch kein Schrei mehr gehört werden.

Als eine halbe Stunde später die Dämmerung zu Ende war, ließ sich nicht der geringste Wind mehr spüren. Die beiden Fahrzeuge lagen, eine halbe Meile voneinander entfernt, vollkommen still.

Gegen neun Uhr rief dann Patterson, schon mit recht schläfriger Stimme:

[328] »Nun aber auf, liebe Freunde; denkt denn niemand daran, die Kabine aufzusuchen?

– O, es ist noch nicht spät, Herr Patterson, antwortete Roger Hinsdale.


»Verdammter Kasten!« murrte John Carpenter. (S. 328.)

– Und von neun Uhr abends bis sieben Uhr morgens zu schlafen, das ist zu viel, Herr Patterson, setzte Axel Wickborn hinzu.

– Und sie kämen da dick wie ein Klosterbruder nach Europa zurück, lieber Herr Patterson, erklärte Tony Renault, indem er mit den Armen einen Bogen um seinen Leib bildete.

[329] – Darum braucht sich niemand zu sorgen, erwiderte der Mentor, ich werde mich stets innerhalb der gebotenen Grenzen zwischen Magerkeit und Fettleibigkeit zu halten wissen.

– Herr Patterson, Sie kennen doch die Vorschrift, die von den Weisen des Altertums stammt?« ließ sich Louis Clodion vernehmen.

Und er begann die ersten Verse des bekannten Distichons aus der Schule von Salerno vorzutragen.

»Sex horas dormire sat est...

– Juvenique senique, fiel Hubert Perkins ein.

– Septem pigro... fuhr John Howard fort.

Nulli concedimus octo!« schloß Roger Hinsdale.

Daß Herr Horatio Patterson sich geschmeichelt fühlte, dieses lateinische Citat nach und nach aus dem Munde der Preisträger hervorgehen zu sehen, bedarf wohl keiner besonderen Versicherung. Ihn wandelte aber doch der Schlaf schon zu sehr an und er antwortete:

»So bleibt noch hier, wenn's euch gefällt, die Abendluft einzuatmen. Ich aber... ich werde jenerpiger, ja sogar jener nullus sein und mich niederlegen.

– Gute Nacht, Herr Patterson!«

Der Mentor erhob sich und ging nach seiner Kabine hinunter. Nachdem er, um etwas frischere Luft einströmen zu lassen, das runde Fensterchen geöffnet und sich auf seinem Lager ausgestreckt hatte, fiel er bald in den Schlaf der Gerechten, doch kamen ihm vorher noch die Worte »Rosam... letorum... angelum« eigentlich unbewußt über die Lippen.

Louis Clodion und seine Kameraden verweilten noch eine Stunde in der freien Luft. Sie plauderten von der Fahrt nach den Antillen, von dem und jenem, das einen besonderen Eindruck auf sie gemacht hatte, und vergegenwärtigten sich, wenn sie erst zu ihren Familien zurückgekehrt wären, die Freude, alles zu erzählen, was sie getan, und alles, was sie seit ihrer Abreise gesehen hätten.

So wie Harry Markel ein weißes Licht am Stagfeile des Fockmastes hatte anbringen lassen, hatte auch der Kapitän des unbekannten Schiffes ein solches an dessen Vorderteile in die Höhe ziehen lassen.

Das ist, vorzüglich in dunkeln Nächten, sehr klug und weise, denn durch Strömungen und Gegenströmungen können sonst leicht Zusammenstöße hervorgerufen werden. Vom Vorderkastell aus sah man das blinkende Licht des anderen [330] Fahrzeuges, das, ohne seinen Platz zu ändern, auf der langen Dünung leicht hin und her schwankte.

Tony Renault nahm sich für heute fest vor, die von der Salerner Schule zugestandenen sex horas Schlaf nicht zu überschreiten. Vor fünf Uhr früh wollte er schon seine Kabine verlassen haben und auf das Deck gehen. Läge dann jenes Schiff noch seitwärts vom »Alert«, so sollte dieser seine Flagge hissen, um das andere Schiff zu veranlassen, ebenfalls seine Nationalität kund zu tun.

Gegen zehn Uhr waren dann alle Passagiere – Will Mitz ausgenommen, der noch auf dem Deck hin und her ging – friedlich eingeschlummert.

Allerlei Gedanken gingen dem jungen Seemanne durch den Kopf. Er dachte an Barbados, wohin er vor Ablauf von drei bis vier Jahren schwerlich wieder kommen würde, an seine Einschiffung auf der »Elisa Warden«, an die Stellung, die er darauf einnehmen sollte, und an die bevorstehende Reise mit diesem Schiffe, die ihn nach ihm noch unbekannten Meeren führen würde.

Dann dachte er an den »Alert«, auf dem er Passage genommen hatte, an die jungen Leute, die ihm so schnell ans Herz gewachsen waren und von denen ihn Tony Renault und Magnus Anders wegen ihrer Vorliebe für das Seewesen besonders interessierten.

Ferner trat ihm die Mannschaft des »Alert« und dieser Kapitän Paxton vor Augen, dessen Persönlichkeit auf ihn unwillkürlich abstoßend wirkte, sowie auch die Leute, die sich ihm gegenüber so zugeknöpft verhielten. Niemals hätte er sich von allen eine solche Vorstellung gemacht, und er fragte sich, ob der erste üble Eindruck auf ihn wohl noch einem besseren weichen werde.

Mit solchen Gedanken beschäftigt, ging Will Mitz vom Vorderkastell nach dem Deckhause hin und zurück. Längs der Schanzkleidung lagen mehrere Matrosen ausgestreckt, von denen die einen schliefen, die anderen sich noch mit gedämpfter Stimme unterhielten.

Harry Markel hatte sich, in der Überzeugung, daß diese Nacht nichts zu machen wäre, in seine Kabine zurückgezogen, nachdem er noch Auftrag gegeben hatte, ihn zu wecken, wenn sich etwa Wind erhöbe.

Auf dem Vorderkastell stehend, beobachteten John Carpenter und Wagah das Licht des Dreimasters, das langsam schwächer wurde, infolge eines leichten Nebels, der allmählich aufstieg.

Heute war Neumond; nach und nach erblaßten die Sterne in dem Nebel und rings umher herrschte die tiefste Finsternis.

[331] So kam es, daß das Schiff neben dem »Alert« bald überhaupt nicht mehr sichtbar war. Es lag aber noch an seiner Stelle. Entstand auf dem »Alert« Lärmen und Geschrei, so setzte es gewiß seine Boote aus und rettete vielleicht einige der dem Tode geweihten Opfer.

Das andere Schiff mochte wohl eine Besatzung von fünfundzwanzig bis dreißig Mann haben, so daß der Ausfall eines etwaigen Kampfes vorauszusehen war. Harry Markel tat also recht daran, zu warten. Er hatte ja gesagt: Was diese Nacht nicht geschieht, wird in einer andern geschehen. Je weiter sich der »Alert« von den Antillen nach Südosten zu entfernte, desto seltener mußte eine Begegnung mit Schiffen werden. Sprang freilich am nächsten Tage der Passatwind wieder auf, so mußte Harry Markel nach Nordosten steuern lassen, weil das Gegenteil Will Mitz sonst zu verdächtig erschienen wäre.

Während John Carpenter und Wagah auf dem Vorderkastell so miteinander sprachen, plauderten auch noch zwei der Leute an Backbord in ihrer Nähe.

Das waren Corty und Ranyah Cogh. Man sah diese überhaupt oft beisammen, denn Corty spazierte immer um die Kambüse herum, um ein gutes Stück zu erwischen, das der Koch für ihn zurückgelegt hatte.

Dabei sprachen beide jetzt in derselben Weise, wie zweifellos auch ihre Kameraden, die es nicht erwarten konnten, endlich die unbeschränkten Herren des »Alert« zu werden.

»Entschieden, Corty, sagte Cogh, Harry ist gar zu vorsichtig.

– Mag sein, Cogh, vielleicht hat er aber doch damit recht. Könnte man sicher sein, sie in ihren Kabinen schlafend zu überfallen, so würden sie abgetan werden, ehe sie einen Schrei ausstoßen könnten...

– Ach was: das Messer fest an die Kehle gesetzt, das hindert einen schon, noch um Hilfe zu rufen.

– Gewiß, Ranyah; doch es ist nicht ausgeschlossen, daß sie sich wehren, und kann sich das verwünschte Schiff da drüben uns im Nebel nicht noch mehr genähert haben? Gelänge es nur einem unserer Passagiere, ins Meer zu springen und das Schiff zu erreichen, so schickte dessen Kapitän gewiß sofort einige zwanzig Mann an Bord des »Alert«. Da wären wir nicht zahlreich genug, diesen zu widerstehen und wir würden, unten im Frachtraum eingesperrt, erst nach den Antillen und dann nach England gebracht werden. Diesmal hielte man uns dann gewiß im Gefängnis fest, und was uns dann bevorsteht, Ranyah, das weißt du ja allein!

[332] – Da fahre der Teufel drein, Corty! Erst so viel Glück gehabt, und nun das Pech, daß uns jenes Schiff in die Quere kommt! Dazu noch die vermaledeite Windstille! Und wenn ich bedenke, daß es nur einer Stunde frischer Brise bedürfte, uns fünf bis sechs Meilen hinauszutreiben!

– Das geschieht vielleicht noch vor Tagesanbruch, erwiderte Corty. Auf jeden Fall wollen wir Will Mitz im Auge behalten, der scheint mir nicht der Kerl dazu zu sein, sich überraschen zu lassen.

– Den überlaßt nur mir, erklärte Ranyah Cogh, ob in seiner Kabine oder auf dem Deck, gleichviel wo er sein mag... Ein herzhafter Stich, so zwischen die Schultern hinein, da wird er's wohl bleiben lassen, sich erst noch umzudrehen, und dann... rasch mit ihm über Bord!

– Ging er nicht eben noch auf dem Verdeck umher? fragte Corty.

– Ja... wahrhaftig... ich sehe ihn aber nicht mehr... er müßte denn auf dem Vorderkastell sein...

– Nein, Ranyah, da steht nur John Carpenter mit dem Steward, und auch die kommen jetzt herunter.

– Dann wird Will Mitz die Hauptkajüte aufgesucht haben, antwortete Ranyah Cogh. Wenn jenes verwünschte Fahrzeug nicht in der Nähe läge... jetzt wäre der richtige Augenblick... nach wenigen Minuten hätten wir keinen Passagier mehr an Bord.

– Da aber einmal nichts zu machen ist, schloß Corty, wollen wir auch schlafen gehen.«

Beide begaben sich nach dem Volkslogis, während zwei Mann am Bug auf Wache blieben.

Will Mitz, der sich unter dem Vorderkastell befand, wo ihn niemand bemerken konnte, hatte dieses Gespräch mit angehört. Jetzt wußte er alles... wußte, in welche Hände das Schiff gefallen war und daß dessen Führer der berüchtigte Harry Markel war. Er hatte gehört, daß die Schurken die Passagiere ins Meer werfen wollten, und daß diese Schandtat schon ausgeübt worden wäre, wenn nicht jener Dreimaster, von der Windstille zurückgehalten, zu nahe beim »Alert« gelegen hätte.

[333]
9. Kapitel
Neuntes Kapitel.
Will Mitz.

In der Nacht vom 22. zum 23. September glitt ein Boot etwas nach elf Uhr inmitten des Nebels auf dem Meere hin. Kaum schwankte es auf der schwachen Dünung, die von keinem Windhauch gestört wurde...

Geräuschlos trieben es zwei Ruder – wenigstens schätzungsweise – nach Nordosten hin, denn der von dem immer mehr verdichteten Nebel verhüllte Polarstern war nicht sichtbar.

Der Mann, der das Steuer führte, mochte es bedauern, daß das vorher drohende Gewitter nicht zum Ausbruch gekommen war. Hätte ihm zuweilen ein Blitz geleuchtet, so wäre es ihm möglich gewesen, geraden Wegs auf sein Ziel loszusteuern, während er jetzt aufs Geratewohl hinausfuhr. Ehe das Meer durch eine sogenannte Eilung (den kurzen Sturm vor einem Gewitter) aufgeregt worden wäre, hätte er bequem die kurze Strecke zurückgelegt, die ihn von seinem Ziele trennte, und das Heil aller wäre gesichert gewesen.

Das Boot trug elf Personen, zwei Männer und neun junge Leute, von denen die ältesten die Ruder handhabten. Einer der Männer erhob sich zuweilen, bemühte sich, durch einen gelegentlichen Spalt in dem wallenden Nebel etwas zu erkennen, und lauschte aufmerksam hinaus...

Es war das große Boot des »Alert«, das die Flüchtlinge davontrug, und worin Louis Clodion und Axel Wickborn ruderten, und Will Mitz war es, der am Steuer saß und in der Finsternis, die durch die Schwaden der warmen Nacht noch vermehrt wurde, seinen Weg zu finden suchte

Den »Alert« hatten sie schon seit einer Viertelstunde aus dem Gesicht verloren, das weiße Licht des Dreimasters sahen sie aber nicht, obgleich die Entfernung bis zu ihm eine halbe Seemeile nicht übersteigen konnte und er bei der anhaltenden Windstille unzweifelhaft noch an derselben Stelle lag wie in der Dämmerstunde.

Der Verlauf der Dinge war nun folgender gewesen:

Nach dem von ihm belauschten Gespräche zwischen Corty und Ranyah Cogh war Will Mitz unbemerkt unter dem Vorderkastell hervorgeschlüpft und[334] hatte sich in die gemeinschaftliche Kajüte begeben. Hier blieb er einige Minuten, um zu überlegen, was unter den gegebenen Verhältnissen am besten zu tun wäre.

Er hegte keinen Zweifel mehr: der Kapitän Paxton und seine Leute waren an Bord des »Alert« hingemordet worden, und als die Passagiere eintrafen, hatte sich das Schiff schon in den Händen Harry Markels und seiner Spießgesellen befunden.

Was die Verbrecher betraf, war Will Mitz von allem unterrichtet, was die Zeitungen auf den Antillen über die Räuberhorde des »Halifax« berichtet hatten, alles über ihre Verhaftung und ihre spätere Flucht aus dem Gefängnisse in Queenstown in Irland... eine Flucht, die mit dem Tage der Abfahrt des »Alert« zusammenfiel. Als sie sich dann des in der Farmarbucht verankerten Schiffes bemächtigt hatten, mußte der Mangel an Wind sie an der sofortigen Abfahrt gehindert haben. Am nächsten Tage erfolgte dann die Einschiffung des Herrn Patterson und der Pensionäre von der Antilian School. Den Grund, warum Harry Markel sich ihrer nicht ebenso entledigt hatte, wie es mit dem Kapitän Paxton und seiner Mannschaft geschehen war, und warum er seine Pläne auch auf der Fahrt von England nach den Antillen nicht ausgeführt hatte... diesen Grund konnte sich Will Mitz nicht enträtseln.

Jetzt war aber keine Zeit zu grübeln. Gelang es den Passagieren nicht, den »Alert« zu verlassen, so waren sie verloren. Sobald sich etwas Wind erhob, mußten sich die beiden Schiffe voneinander entfernen, und dann blieb das Gemetzel nicht aus. War das nicht diese Nacht, dann geschah es in der folgenden, ja vielleicht schon morgen am hellen Tage, wenn weit und breit kein Schiff zu sehen war. Obwohl jetzt über alles unterrichtet, konnte Will Mitz doch keine Erfolg versprechende Verteidigung ersinnen.

Da aber die Vorsehung selbst – man konnte wirklich so sagen – die Ausführung des grausigen Verbrechens verzögerte, galt es, aus diesem Umstande Nutzen zu ziehen und die Rettung da zu suchen, wo sie voraussichtlich zu finden war.

Jetzt hieß es also, von hier fortkommen, fortkommen, ohne überrascht zu werden. Harry Markel hatte sich in seine Kabine zurückgezogen und John Carpenter und Wagah hatten das Volkslogis aufgesucht, wo die andern schon schliefen. Vorn am Bug befand sich nur der wachthabende Matrose, dessen Aufmerksamkeit nach außen hin gerichtet war.

[335] Zu dem andern, still liegenden Schiffe zu gelangen, war nun zum Glück das große Boot vorhanden, das nach dem heutigen Fischfange auf Harry Markels Befehl an einer Schleppleine liegen geblieben war.

Ein Mann von Wagemut und Findigkeit, beschloß Will Mitz alles zu versuchen, seine Gefährten und damit auch sich selbst vor dem drohenden Verderben zu retten. Die Seeräuber vom »Halifax« an Bord des »Alert«!... Das erklärte ja den Widerwillen, den ihm der angebliche Kapitän Paxton von der ersten Stunde an einflößte, das peinliche Gefühl, das ihn beim Erblicken der Mannschaft erfüllte, und die verletzende Zurückhaltung, die diese mit Verbrechen belasteten Leute ihm gegenüber an den Tag legten.

Jetzt war nun kein Augenblick zu verlieren, die günstigen Verhältnisse auszunützen.

Die Schnelligkeit des Witterungswechsels in der Tropengegend ist ja allgemein bekannt, und jetzt genügte schon eine leichte Brise, den »Alert« weiter zu treiben, da weder die Mars- und das Briggsegel noch das eine Klüversegel eingebunden worden waren, sich also schon beim ersten Lufthauch aufblähen konnten. Gleichzeitig entfernte sich dann, doch in entgegengesetzter Richtung, auch das andere Schiff, und damit schwand jede Aussicht, es aufzufinden, was ja schon jetzt wegen der undurchsichtigen Luft mit großen Schwierigkeiten verknüpft war.

Zunächst galt es nun, die Passagiere einen nach dem andern zu wecken, sie mit wenigen Worten über die Sachlage aufzuklären und sie dann von der Rückseite der Hauptkajüte aus in das Boot zu bringen, ohne die Aufmerksamkeit des wachthabenden Matrosen zu erregen.

Vor allem wollte Will Mitz sich überzeugen, ob Harry Markel noch in seiner Kabine wäre, die gleich neben dem Aufgange zum Deckhause lag. Jedes Geräusch hätte ihn erwecken können, und war es dann nicht möglich, ihn am Rufen zu verhindern, so konnte die geplante Flucht kaum gelingen.

Will Mitz schlich sich nach der Tür der Kabine, legte das Ohr dicht daran und lauschte einige Augen blicke.

Harry Markel schlief offenbar fest, da er wußte, daß diese Nacht nichts zu tun war.

Will Mitz ging nach der Hauptkabine zurück und öffnete, ohne die über dem Tische hängende Lampe anzuzünden, eines der beiden am Heck angebrachten Fenster, die etwa sechs Fuß über der Schwimmlinie des Fahrzeuges lagen.

[336] [339]Ob dieses Fenster wohl groß genug war, daß die Passagiere hindurch und in das darunter liegende Boot gelangen könnten?

Junge Leute... ja... doch etwas starke Männer... nein.

Glücklicherweise war Patterson keineswegs korpulent. Die Strapazen der Seefahrt hatten ihn eher noch etwas abmagern lassen, trotz der Schmäuse, an denen er sich bei Gelegenheit der Empfänge zu Ehren der Pensionäre der Antilian School immer mit vortrefflichem Appetit beteiligte.

Der schlanke und geschmeidige Will Mitz selbst konnte voraussichtlich durch das nicht gar so große Fenster schlüpfen.

Da die Flucht also möglich war, ohne dazu das Deck zu betreten, was sie wahrscheinlich unausführbar gemacht hätte, ging Will Mitz daran, seine Gefährten zu wecken.

Die erste Kabine, die er öffnete, war die Louis Clodions und Tony Renaults.


Die andern mußten Patterson helfen, als er an dem Seile hinabglitt. (S. 343.)

Beide schliefen, und Louis Clodion erwachte erst, als er eine Hand sich auf seine Schulter legen fühlte.

»Kein Wort! raunte Will Mitz ihm zu. Ich bin's...

– Was wollen Sie hier?

– Kein Wort! sag' ich. Wir schweben in schlimmster Gefahr!«

Eine kurze Mitteilung genügte zur Erklärung der Sachlage. Louis Clodion, der deren Ernst begriff, gelang es jedoch, an sich zu halten.

»Wecken Sie Ihren Kameraden, sagte noch Will Mitz. Ich werde die anderen benachrichtigen.

»Wie sollen wir aber entfliehen?

– Mit dem Boote. Das liegt am Heck noch an seiner Leine; damit gelangen wir nach jenem Dreimaster, der nicht fern von uns liegen kann.«

Louis Clodion verlangte keine weitere Erklärung, und während Will Mitz die Kabine verließ, weckte er Tony Renault, der sofort aufsprang, als er gehört hatte, um was es sich handelte.

Binnen wenigen Minuten waren alle jungen Pensionäre auf den Füßen, nur Patterson fehlte noch, da dieser erst zuletzt von der Sachlage unterrichtet werden sollte. Ihn wollte man nötigenfalls mit Gewalt in das Boot hinunterbefördern, ehe er zu weiterer Überlegung Zeit fand.

Zur Ehre der Antilian School sei hier auch hervorgehoben, daß sich keiner der Pensionäre gegenüber der Gefahr mutlos zeigte. Kein Klagelaut, [339] kein Schreckensruf kam über ihre Lippen, der die unter so schwierigen Verhältnissen versuchte Flucht hätte gefährden können.

Nur Niels Harboe, in dem ein gerechter Zorn aufwallte, sagte noch:

»Ich gehe nicht davon, ohne diesen elenden Schurken umgebracht zu haben.«

Damit wandte er sich schon der Kabine Harry Markels zu.

Will Mitz hielt ihn jedoch zurück.

»Sie werden das nicht tun, Herr Harboe, warnte er den jungen Hitzkopf. Harry Markel könnte erwachen, sobald Sie seine Kabine betreten; dann würde er um Unterstützung rufen, sich auch selbst wehren, und wir wären gewiß bald überwältigt!.. Gehen wir lieber schnell und geräuschlos ins Boot. Einmal an Bord jenes Schiffes, zweifle ich nicht, daß sein Kapitän bereit sein wird, sich des ›Alert‹ und der Banditen, die jetzt dessen Herrn sind, zu bemächtigen.«

Das war wohl auch das klügste, was sich tun ließ.

»Und unser Herr Patterson? fragte Roger Hinsdale besorgt.

– Steigen Sie nur zuerst ins Boot hinunter, antwortete Will Mitz, und wenn Sie Platz genommen haben, werden wir ihn schon nachbringen!«

Louis Clodion und seine Kameraden rafften noch einige warme Kleidungsstücke zusammen. Lebensmittel brauchten nicht mitgenommen zu werden, da es sich bis zu dem rettenden Schiffe ja nur um eine Fahrt von einer halben Seemeile handelte. Sollte das Boot auch das Aufsteigen des Nebels oder sogar den Anbruch des Tages abwarten müssen, so würde man jenes doch wenigstens dann sehen, und bemerkte sie dann auch die Mannschaft des »Alert«, so würden sie aufgenommen und in Sicherheit sein, ehe Harry Markel sie verfolgen lassen könnte.

Am meisten war nur ein plötzliches Aufspringen des Windes zu fürchten. In diesem Falle wäre das Schiff nach Westen, der »Alert« dagegen nach Osten davongesegelt, und dann wäre das Boot auf dem weiten, verlassenen Meere ohne Wasser und ohne Lebensmittel freilich in großer Gefahr gewesen.

Jedenfalls empfahl Hubert Perkins aber allen, ihren seidenen Sack mit den Guineen mitzunehmen. War der »Alert« beim Anbruch des Tages verschwunden, so könnte diese der Räuberbande entgangene Summe von siebentausend Pfund noch zur Heimreise der Flüchtlinge dienen.

Jetzt war der Augenblick gekommen.

[340] Louis Clodion stellte sich an die Tür der Kapitänskabine und überzeugte sich, daß Harry Markel noch immer fest schlief. Durch die Treppenkappe behielt er gleichzeitig den wachthabenden Matrosen auf dem Vorderdeck im Auge.

Will Mitz beugte sich zum Heckfenster hinaus, ergriff die dort herabhängende Leine und zog das Boot damit ganz nahe heran.

Der Nebel schien sich eher noch verdichtet zu haben, denn das Boot war jetzt kaum wahrzunehmen. Man hörte nichts als ein schwaches Plätschern des Wassers gegen den Kupferbeschlag des »Alert«.

Einer nach dem andern, John Howard und Axel Wickborn als die ersten, Hubert Perkins und Niels Harboe als die zweiten, Magnus Anders und Tony Renault als die dritten und Albertus Leuwen und Roger Hinsdale als die vierten, glitten an der von Will Mitz straff gehaltenen Leine hinunter. Jetzt befanden sich nur noch Will Mitz und Louis Clodion in der Kajüte.

»Achtung, flüsterte dieser. Dort nähert sich der Wachposten!

– Wir wollen warten, sagte Will Mitz.

– Er hat eine Laterne in der Hand, fuhr Louis Clodion fort.

– Schließen Sie vorsichtig die Tür, dann kann er nicht sehen, was in der Kajüte vorgeht.«

Der Matrose befand sich schon zwischen dem Fock- und dem Großmaste. Bestieg er auch das Hinterkastell, so verbarg ihm doch der Nebel wahrscheinlich das schon besetzte Boot, das in der nächsten Minute zum Abstoßen fertig sein sollte.

An dem unregelmäßigen Hin- und Herschwanken der Laterne erkannte Will Mitz jedoch, daß der Träger sich kaum auf den Füßen halten konnte. Jedenfalls hatte sich der Mann eine Flasche Brandy oder Gin zu verschaffen gewußt und hatte dieser dann übermäßig zugesprochen. Er mochte wohl ein Geräusch am Heck gehört haben und war dann ohne weitere Überlegung darauf zugeschwankt. Da jetzt aber alles still war, nahm er voraussichtlich seinen Platz am Bug des Schiffes bald wieder ein.

Das geschah denn auch: und sobald der Betrunkene zurückgetaumelt war, gingen Louis Clodion und Will Mitz daran, Herrn Patterson zu holen.

Der Mentor lag in tiefem Schlummer und schnarchte mächtig. Vielleicht war es auch das gewesen, was die Aufmerksamkeit des Wachtpostens erweckt hatte.

Jetzt hieß es, sich beeilen. Die bereits eingeschifften Passagiere wurden von Unruhe und Ungeduld fast verzehrt. Jeden Augenblick glaubten sie einen Alarmruf [341] zu hören und die Matrosen auf dem Hinterkastell auftauchen zu sehen. Abfahren konnten sie doch nicht, so lange Patterson, Louis Clodion und Will Mitz noch nicht bei ihnen waren. Erwachte aber Harry Markel, rief er nach seinen Leuten und folgten nur John Carpenter und Corty diesem Rufe, so waren die Flüchtlinge verloren. Die Nähe des anderen Schiffes hätte jetzt das geplante Gemetzel doch nicht mehr verhindert.

Louis Clodion betrat die Kabine Pattersons und berührte leise dessen Schulter. Das Schnarchen hörte so fort auf und dem Munde des Schlafenden entschlüpften die Worte:

»Madame Patterson... Trigonocephale... angelum... bald heiraten...«

Wovon mochte der würdige Mann träumen? Von der Schlange... von dem lateinischen Citate... und auch von einer Heirat!... Doch von welcher Heirat?

Da er nicht erwachte, schüttelte ihn Louis Clodion etwas kräftiger an der Schulter, nachdem er ihm die Hand auf den Mund gelegt hatte, um ihn am Schreien zu verhindern, wenn er sich im Halbschlaf etwa noch von dem schrecklichen Reptil in den Wäldern Martiniques bedroht sähe.

Diesmal erhob sich Patterson jedoch und erkannte sofort die Stimme dessen, der zu ihm sprach.

»Louis... Louis Clodion?« wiederholte er, verstand aber zuerst kaum die Mitteilung bezüglich des Kapitäns Paxton, der gar nicht der Kapitän Paxton wäre, ebensowenig, daß der »Alert« in Harry Markels Hände gefallen, und daß es unbedingt nötig sei, sich schleunigst den Passagieren anzuschließen, die ihn unten im Boote erwarteten.

Eines begriff er aber doch: daß das Leben der jungen Leute und auch das seinige bedroht wäre, wenn sie an Bord des »Alert« blieben, daß alles zur sofortigen Flucht vorbereitet sei und daß man nur ihn noch erwarte, um sich dann auf dem anderen Schiffe in Sicherheit zu bringen.

Patterson kleidete sich deshalb ebenso schnell wie kaltblütig an. Er fuhr eiligst in die Beinkleider, die er jedoch unten noch sorgsam ausstreifelte, legte die Weste an, in deren Tasche er die Uhr gleiten ließ, und zog seinen langen Rock darüber. Nachdem er sich dann noch mit dem Hute bedeckt hatte, sagte er zu dem ihn drängenden Will Mitz:

»Jetzt bin ich für Sie fertig, lieber Freund.«

Als Patterson aber das Reptil sah, das er zurücklassen mußte, wurde es ihm doch etwas schwer ums Herz; er hoffte indes, es an derselben Stelle [342] noch wiederzufinden, wenn der Harry Markel wieder abgenommene »Alert« in den nächsten Hafen Antiliens gebracht würde.

Nun blieb noch das Kunststück übrig, sich durch das schmale Fenster zu zwängen, die Leine zu ergreifen und daran in das Boot hinunter zu gleiten, ohne eine falsche Bewegung zu machen oder Geräusch zu erregen.

Als er schon aus der Kabine heraustrat, fiel es ihm noch ein, das Säckchen mit den siebenhundert Pfund der Mistreß Kathlen Seymour mitzunehmen und auch das Taschenbuch, in dem er alle Reiseausgaben eingetragen hatte, zwei Gegenstände, die in den großen Taschen seines Rockes bequem Platz fanden.

»Wer hätte sich so etwas von dem Kapitän Paxton träumen lassen!« murmelte er für sich hin.

In seiner Vorstellung flossen der Kapitän Paxton und Harry Markel noch immer zusammen; es war ihm noch nicht gelungen, die beiden einander so unähnlichen Persönlichkeiten auseinander zu halten.

Auf Geschwindigkeit und Geschicklichkeit war bei dem Mentor nicht viel zu rechnen. Die anderen mußten ihm helfen, als er an dem Seile hinabglitt. Am meisten fürchtete Will Mitz, daß er geräuschvoll ins Boot fallen könnte, denn das hätte trotz seines Rausches die Aufmerksamkeit des wachthabenden Matrosen erregen können.

Endlich erreichte Patterson mit dem einen Fuße eine der Bänke, und Axel Wickborn hielt ihn am Arme und führte ihn nach einem unbesetzten Platze.

Nun kam die Reihe an Louis Clodion, doch überzeugte dieser sich erst noch zum letztenmale, daß Harry Markels Schlaf nicht unterbrochen worden und daß auf dem Schiffe alles still war.

Nach ihm wand sich Will Mitz durch das Fenster und kletterte in einem Augenblick hinunter. Um mit der Lösung des Knotens am Seile keine Zeit zu verlieren, zog er sein Messer hervor und schnitt dieses ab, wobei noch ein vier bis fünf Fuß langes Stück am Heck des Schiffes hängen blieb.

Jetzt stieß das Boot vom »Alert« ab.

Sollte es Will Mitz und seinen Gefährten gelingen, sich an Bord des anderen Fahrzeuges zu flüchten? Würden sie dieses in dem dunkeln Nebel auffinden, bevor die Sonne wieder am Horizont heraufstieg? Lag es auch noch an seiner Stelle und trieb es nicht sogleich weiter, wenn sich eine Brise erhob, die ihm Fahrt zu machen ermöglichte?

[343] Wenn die Passagiere aber dem Schicksal entgingen, das Harry Markel und seine Spießgesellen ihnen zugedacht hatten, so hatten sie das jedenfalls Will Mitz zu danken, und ein wenig auch der Mistreß Kathlen Seymour, durch deren Befürwortung dieser sich auf dem »Alert« einschiffen konnte.

10. Kapitel
Zehntes Kapitel.
Mitten im Nebel.

Inzwischen war es halb zwölf Uhr geworden.

Wäre es nicht gar so finster und der Nebel nicht so dicht gewesen, so hätte man das Licht am Stagseile des Fockmastes auf dem anderen Schiffe ein bis zwei Seemeilen weit recht gut sehen können.

Doch nichts war zu entdecken, weder der Rumpf eines Fahrzeuges noch der Schein einer Laterne. Will Mitz wußte nur, daß das Schiff, als es zum Stillliegen kam, sich nördlich von ihnen befand. Das Boot wandte sich also dieser Seite zu, womit es sich auf jeden Fall vom »Alert« entfernte.

Der Nebel machte in Verbindung mit der Nacht die Flucht sehr schwierig. Bei dem Fehlen des Windes und dem spiegelblanken Meere hätte das Schiff in einer halben Stunde erreicht sein können, wenn Will Mitz nicht gezwungen gewesen wäre, sozusagen aufs Geratewohl hinauszusteuern.

Jetzt konnten sich die Flüchtlinge auch vom Anfang an das Drama ins Gedächtnis zurückrufen, dessen schreckliche Lösung heute so nahe gewesen war.

»Die Seeräuber vom › Halifax‹ also waren es, sagte Hubert Perkins, die sich des › Alert‹ bemächtigt hatten.

– Und während man sie in der Umgebung des Hafens suchte, fuhr Niels Harboe fort, war es ihnen gelungen, nach der Farmarbucht zu entkommen.

– Sie wußten also wahrscheinlich, nahm Albertus Leuwen das Wort, daß der ›Alert‹ zum Abfahren bereit war und nur seinen Kapitän und dessen Mannschaft an Bord hatte.

– Ohne Zweifel, antwortete Roger Hinsdale. In den Tagesblättern stand seine Abfahrt für den dreißigsten Juni angekündigt, und gerade am

[344] Tage vorher waren sie aus dem Gefängnisse von Queenstown entflohen. Sie haben va banque gespielt, und das ist den Schurken leider gelungen!

– Und in der Nacht, die unserer Einschiffung vorherging, sagte Axel Wickborn, ist es gewesen, wo der unglückliche Kapitän Paxton und seine Mannschaft überfallen, ermordet und ins Meer geworfen wurden.

– Jawohl, bestätigte John Howard, und die Leiche eines von diesen war es, die von der Strömung ans Ufer getragen und da gefunden wurde, wie nach Barbados berichtet worden war.

[345] – Entsinnt ihr euch wohl der Frechheit dieses Markel? rief Tony Renault. Hatte er nicht dem Offizier von der ›Essex‹ gegenüber zugestanden, daß er einen seiner Leute in der Bai verloren habe, und nicht obendrein hinzugefügt, wenn man an dem armen Bob einen Dolchstich gefunden hätte, so werde ihm dieser wahrscheinlich von den Banditen des ›Halifax‹ beigebracht worden sein! Dieser Elende! Wenn er nur eingefangen, verurteilt und gehängt würde, und seine Leute mit ihm!«


Das Boot irrte im Nebel umher, ohne das Schiff zu finden. (S. 347.)

Die hier wiedergegebenen Worte zeigten – während das Boot weiter gegen Norden hinglitt – daß die Passagiere des »Alert« vollkommen die Umstände kannten, unter denen die Abschlachtung des Kapitäns Paxton und seiner Leute erfolgt war.

Als sie an Bord kamen, waren Harry Markel und seine Spießgesellen bereits die Herren des Schiffes.

Da warf Hubert Perkins noch eine Frage auf.

»Warum, sagte er, ist aber der ›Alert‹ nicht in See gegangen, ohne unser Eintreffen abzuwarten?

– Weil er keinen Wind hatte, antwortete Louis Clodion. Du erinnerst dich wohl, Hubert, daß die Luft damals schon zwei Tage ebenso ruhig war wie heute. Während unserer Überfahrt von Bristol nach Cork haben wir ja nicht das geringste von einer Brise verspürt. Nach dem Gelingen seines Anschlags wäre Harry Markel gewiß gern abgefahren, doch er konnte es einfach nicht.

– Und der Elende, bemerkte Roger Hinsdale, hatte sich dann schnell entschlossen, eine falsche Rolle zu spielen. Er verwandelte sich zum Kapitän Paxton und seine Mordgesellen zu Matrosen des ›Alert‹.

– Und wenn man bedenkt, rief Tony Renault, daß wir uns über zwei Monate in der Gesellschaft dieser Schandbuben befunden haben... dieser Räuber... dieser Mörder... die doch schlau genug waren, sich als ehrenwerte Leute aufzuspielen!

– O, entfuhr es Albertus Leuwen, sie haben uns doch niemals die geringste Sympathie eingeflößt.

– Nicht einmal jener Corty, der sich um unser Wohlbefinden so besorgt zeigte! erklärte Axel Wickborn.

– Und noch weniger Harry Markel, der in uns keine gute Vorstellung von dem Kapitän Paxton erweckte!« fügte Hubert Perkins hinzu.

[346] Will Mitz hörte dem Gespräche zu. Die jungen Leute wußten alles, waren sich über alles klar. Sie erinnerten sich nicht ohne Beschämung und Ingrimm der Lobsprüche, die sie über den Kapitän und seine Mannschaft geäußert hatten, der Dankesbezeugungen, mit denen die Verbrecher fast überhäuft worden waren, und auch der besonderen Belohnung, die Mistreß Kathlen Seymour der Mörderhorde zugewendet hatte.

Und gerade Patterson hatte sich bei diesen Lobsprüchen, eine Folge seiner leicht auflodernden Begeisterung, in den überschwenglichsten Worten überboten!

Augenblicklich mochte der Mentor freilich nicht auf das Vergangene zurückkommen, noch auf das, was er zur Ehre des Kapitäns etwa gesagt hatte. Hinten im Boote sitzend, hörte er kaum auf das Gespräch der anderen; seine Gedanken weilten – wenn er überhaupt an jemand dachte – unzweifelhaft bei seiner fernen Gattin.

Tatsächlich dachte er aber an gar nichts.

Endlich wurde noch eine letzte Frage aufgeworfen, die eine entschieden annehmbare – und zwar die wirklich richtige – Antwort fand.

Warum mochte sich Harry Markel, nachdem er die Pensionäre der Antilian School an Bord genommen hatte, dieser nicht gleich zu Anfang der Reise entledigt haben, da er doch dann sofort hätte nach den südlichen Meeren segeln können?

Louis Clodion gab darauf folgende Antwort:

»Ich glaube bestimmt, daß Harry Markel anfangs die Absicht gehegt hat, sich von uns zu befreien, sobald der ›Alert‹ auf hohem Meere war. Da er aber wegen Mangels an Wind gezwungen wurde, nahe der Küste beizulegen, wird er gehört haben, daß jeder der Passagiere auf Barbados eine Prämie erhalten sollte, und mit unglaublicher Tollkühnheit hat er sich deshalb mit dem ›Alert‹ nach den Antillen gewagt.

– Ja ja, sagte Will Mitz, ja, das wird der Grund gewesen sein, und das Verlangen, sich dieses Geldes zu bemächtigen, hat Ihnen das Leben gerettet... vorausgesetzt, daß es nun gerettet ist,« murmelte er noch für sich, denn er wollte niemand seine Unruhe merken lassen, obgleich die Lage sich mehr und mehr verschlimmerte.

Seit vollen zwei Stunden irrte das Boot nun schon im Nebel umher, ohne das Schiff zu finden, von dem man doch gestern sah, wo es gelegen hatte.

[347] Will Mitz hatte aber keinen Kompaß zur Hand, konnte sich nicht einmal nach den Sternen richten, und jetzt war schon weit mehr Zeit als nötig verflossen, auf das andere Schiff zu stoßen.

Wenn sie nun darüber hinausgefahren waren, was dann?... Sollten sie nach Osten oder nach Westen umkehren?... Liefen sie damit nicht Gefahr, etwa gar wieder auf den »Alert« zu treffen?... Da erschien es doch ratsamer, draußen auf dem Meere zu warten, bis der Nebel sich zerstreute, was ja schon mit Sonnenaufgang, das heißt, nach vier bis fünf Stunden eintreten konnte. Dann steuerte das Boot geraden Weges auf das Schiff zu, und selbst wenn die Flüchtlinge vom »Alert« aus bemerkt worden wären, würde es Harry Markel doch nicht wagen, sie zu verfolgen, denn das hätte für ihn und seine Leute voraussichtlich sehr schlecht ablaufen können.

Ehe es dahin kam, hätte der »Alert« freilich, wenn sich nur ein wenig Wind erhob, nach Südwesten absegeln können.

Will Mitz verstand jetzt gut genug, warum Harry Markel diesen Kurs bisher eingehalten hatte. Leider wäre es aber dem anderen Schiffe dann ebenso leicht gewesen, in entgegengesetzter Richtung weiter zu fahren, und am Morgen wäre es dann jedenfalls schon außer Sicht. Was sollte dann aus dem Boote mit seinen elf Insassen werden, wenn es hilflos dem Wind und Wellengange preisgegeben war?

Auf jeden Fall manövrierte Will Mitz so, daß er so weit wie möglich von dem »Alert« entfernt bliebe.

Eine Stunde nach Mitternacht hatte sich in der Sachlage noch nichts geändert. Einige der Flüchtlinge wurden schon von lebhafter Unruhe ergriffen. Hoffnungsvoll bei der Abfahrt, hatten sie angenommen, nach einer halben Stunde in Sicherheit zu sein, und jetzt irrten sie bei der Aufsuchung des anderen Schiffes schon zwei Stunden lang in tiefer Finsternis umher.

Louis Clodion und Roger Hinsdale, die überhaupt eine große Energie zeigten, sprachen ihren Kameraden Mut zu, wenn diese eine Klage hören ließen und sich niedergeschlagen erwiesen. Patterson schien überhaupt das Bewußtsein verloren zu haben.

Will Mitz unterstützte die beiden jungen Leute in ihrer Bemühung.

»Nur guten Mut, meine jungen Herren, sagte er. Noch hat sich kein Wind erhoben, das Schiff muß also noch an derselben Stelle liegen wie gestern Abend. Sobald der Nebel sich mit Anbruch des Tages verzieht, werden wir, da unser [348] Boot vom ›Alert‹ schon fern ist, es in der Nähe sehen, und dann erreichen wir es mit wenigen Ruderschlägen.«

Will Mitz war jetzt freilich selbst etwas ängstlicher, wenn er das auch nicht merken lassen wollte, ängstlicher, weil er an eine andere, nicht ausgeschlossene Möglichkeit dachte.

Einer der Räuber hatte ja die Flucht der Passagiere entdecken können, so daß Harry Markel wußte, was er zu tun habe, und er mit einigen seiner Leute in dem zweiten Boote des Dreimasters deren Verfolgung aufnahm.

Dem Schurken mußte doch alles daran liegen, die Flüchtlinge wieder in seine Gewalt zu bringen, da die Windstille den »Alert« hinderte, diese Gegend zu verlassen.

Und selbst wenn er hätte weiter segeln können, lief er da nicht Gefahr, von dem anderen Schiffe verfolgt zu werden, das sicherlich schneller und stärker als das seinige war und dessen Kapitän dann jedenfalls über alles aufgeklärt worden war?

Will Mitz lauschte gespannt auf das leiseste Geräusch vom Meere her. Zuweilen glaubte er, in kurzer Entfernung regelmäßige Ruderschläge zu hören, was darauf hingewiesen hätte, daß ein Boot des »Alert« sie verfolgte.

Dann ließ er selbst die Ruder einziehen, so daß das still liegende Boot nur schwach auf der langen Dünung schwankte.

Wiederum verfloß eine Stunde. Louis Clodion und seine Kameraden lösten einander beim Rudern ab, nicht um vorwärts zu kommen, sondern nur um sich an derselben Stelle zu erhalten. Will Mitz wollte sich nicht noch weiter entfernen, da er nicht wußte, welche Richtung er einschlagen sollte. Vor allem kam es ja darauf an, bei Sonnenaufgang nicht in zu großer Entfernung von dem Schiffe zu sein, entweder um ihm Signale zu geben oder um es noch zu erreichen, wenn es sich etwa in Bewegung setzte.

Jetzt zur Zeit der Tag- und Nachtgleiche in der zweiten Hälfte des Septembers bricht der Tag nicht vor sechs Uhr morgens an.

Zerstreute sich der Nebel, so wäre ein Schiff jedoch schon von fünf Uhr an bis auf eine Entfernung von drei bis vier Seemeilen wohl zu erkennen gewesen.

Will Mitz wünschte deshalb dringend und sprach darüber mit Roger Hinsdale, Louis Clodion und Tony Renault, den beherztesten von allen, daß der Nebel noch vor Tagesanbruch verschwinden möchte.

[349] »Doch nicht etwa durch eine frische Brise, setzte er hinzu, denn dann würde nicht nur der ›Alert‹ absegeln, sondern auch das andere Schiff, und wir trieben verlassen auf dem weiten Meere!«

Mit diesem unbedeckten und schwer belasteten Boote, auf dem man kein Segel hissen konnte, einem Boote, das schon ein geringer Wellenschlag zum Kentern bringen mußte, war die Hoffnung ausgeschlossen, einen Hafen der Antillen zu erreichen. Am ersten Reisetage mußte der »Alert«, nach der Schätzung des jungen Seemannes, in südöstlicher Richtung von Barbados wenigstens sechzig Seemeilen zurückgelegt haben. Sechzig Meilen hätte das Boot, selbst mit Hilfe eines Segels und bei günstigem Winde und schlichtem Wasser, aber kaum in achtundvierzig Stunden hinter sich bringen können. Dabei fehlte es ihm an Proviant und an Wasser. Wenn der Tag graute und die Passagiere Hunger und Durst verspürten, wie hätte man diese stillen können?

Von Anstrengung und unwiderstehlicher Schlafsucht überwältigt, waren die meisten der jungen Leute nach einer weiteren Stunde auf den Bänken zusammengesunken und lagen da in tiefem Schlummer. Widerstanden Louis Clodion und Roger Hinsdale demselben jetzt auch noch, so verging doch voraussichtlich die Nacht nicht, ohne daß auch sie der Übermüdung erlagen.

Dann mußte Will Mitz allein wach bleiben, und wer weiß, ob er, so vielen ungünstigen Umständen und so arg getäuschter Hoffnung gegenüber, nicht selbst zu verzweifeln anfing.

Dazu mußten auch immer noch die Ruder gebraucht werden, um sich gegen die Strömung zu halten, bis der Nebel sich auflöste oder der Tag anbrach.

Dann und wann strich jetzt ein schwacher Lufthauch durch die Dunstmassen, und wenn es nachher auch wieder ganz still wurde, deuteten doch gewisse Vorzeichen auf das Wiedererwachen des Windes, sobald der Tag graute.

Da erfolgte kurz nach vier Uhr plötzlich ein Stoß, das Boot war, wenn auch leicht, auf irgend ein Hindernis getroffen, und das konnte hier nur der Rumpf eines Schiffes sein.

Sollte es das sein, das die Flüchtlinge nun schon seit so langen Stunden suchten?

Die einen waren bei dem Anprall von selbst erwacht, die anderen von ihren Kameraden geweckt worden.

Will Mitz ergriff eines der Ruder, um das Boot neben die Schiffswand zu legen.

[350] Das Boot war an dem Heck des Fahrzeuges angestoßen, denn Will Mitz fühlte genau den Eisenbeschlag des Steuerruders.

So lag es also unter dem ausgebauchten Teile des Fahrzeuges, und obgleich der Nebel jetzt etwas schwächer war, hatte es doch kein Wachtposten von diesem bemerken können.

Plötzlich kam Will Mitz ein Seilende in die Hand, das vier bis fünf Fuß lang vom Deck herunterhing.

Will Mitz erkannte das Seil sofort...

Es war das Haltetau, das er selbst durchschnitten hatte, als sie vom »Alert« abstießen.

»Der ›Alert‹!« rief er leise, doch mit Verzweiflung in der Stimme.

Nachdem sie also die ganze Nacht umhergeirrt waren, hatte das Unglück sie wieder dem »Alert« zugeführt, wo sie bedroht waren, Harry Markel nochmals in die Hände zu fallen.

Allen sank jetzt der Mut und Tränen füllten ihre Augen.

Doch war es nicht noch immer Zeit, wieder zu entfliehen und das andere Schiff aufzusuchen? Schon färbte sich der Horizont im Osten mit dem ersten Tagesscheine. Es war bald fünf Uhr. Eine frische Morgenluft strich über das Wasser.

Plötzlich stiegen die Dunstmassen empor und legten die Oberfläche des Meeres frei, das nun im Umkreis von drei bis vier Seemeilen zu übersehen war.

Das andere Schiff benutzte den ersten Windhauch und entfernte sich schon nach Osten zu, so daß alle Hoffnung schwand, auf ihm Schutz zu sachen.

Vom Deck des »Alert« war nicht das geringste Geräusch zu vernehmen. Offenbar lagen Harry Markel und die Mannschaft noch in tiefem Schlafe. Selbst der wachthabende Matrose hatte das Wiedereinsetzen der Brise nicht bemerkt und die nicht richtig eingestellten Segel schlugen leise an die Masten.

Jetzt, wo die Passagiere keine Hoffnung auf andere Rettung mehr hatten, mußten sie versuchen, sich des »Alert« zu bemächtigen.

Will Mitz hatte darüber nachgedacht und war schon fest entschlossen, einen kühnen Handstreich zu wagen. Was er vorhatte, teilte er gedämpften Tones den andern mit. Louis Clodion, Tony Renault und Roger Hinsdale verstanden ihn. Das war noch die einzige Aussicht auf Rettung, da niemand das Boot hatte abfahren oder zurückkommen sehen.

»Wir folgen Ihnen, Will Mitz, erklärte Magnus Anders.

[351] – Sobald Sie wollen!« setzte Louis Clodion hinzu.

Da der Tag eben erst graute, galt es, den »Alert« zu überrumpeln, ehe darauf Alarm geschlagen wurde, und Harry Markel in seiner Kabine, die Mannschaft aber im Volkslogis einzusperren. Mit Unterstützung der jungen Leute gedachte dann Will Mitz so zu manövrieren, daß sie entweder wieder nach den Antillen kämen, oder sich an das erste Schiff anschließen könnten, das ihren Weg kreuzen würde.

Geräuschlos glitt das Boot längs des Schiffsrumpfes an Backbord und bis zu den Rüsten des Großmastes hin. Von hier mußte es unter Benützung der sogenannten Jungfern leicht sein, die Reling zu erklimmen und das Verdeck zu betreten. An den Rüsten des Besanmastes wäre das wegen der Höhe des Hinterkastells weit schwieriger gewesen.

Will Mitz stieg zuerst hinaus. Kaum war er mit dem Kopfe aber in der Höhe der Reling, als er anhielt und ein Zeichen gab, ganz still zu sein.

Harry Markel hatte seine Kabine verlassen und sah sich nach dem Wetter um. Da die Segel an die Masten schlugen, rief er nach seinen Leuten, diese richtig zu stellen.

Die Leute schliefen aber noch immer, wenigstens folgte keiner seinem Rufe, und er begab sich deshalb nach dem Volkslogis.

Will Mitz, der seine Bewegungen aufmerksam verfolgte, sah ihn an der nach diesem führenden Treppe verschwinden.

Jetzt war der Augenblick zum Handeln gekommen. Jedenfalls war es besser, Harry Markel nicht erst einschließen und sich dabei vielleicht auf einen Kampf einlassen zu müssen, dessen Lärm auch im Vorderteile des Schiffes hörbar gewesen wäre. Waren alle im Volkslogis eingesperrt, so würde man etwaige Ausbruchsversuche schon bis zum Eintreffen an den Antillen zu vereiteln wissen, und wenn der Passatwind anhielt, mußte Barbados binnen sechsunddreißig Stunden zu erreichen sein.

Will Mitz sprang zuerst auf das Verdeck. Die jungen Leute folgten ihm nach Festlegung des Bootes, worin Patterson zurückgeblieben war, und kletterten hinauf, ohne gehört oder gesehen zu werden.

In wenigen Sekunden hatten sie die Treppe zum Volkslogis erreicht und mit dem Lukendeckel geschlossen, der bei schlechtem Wetter darüber gelegt wurde. Dann bedeckten sie diesen schleunigst noch mit der dazu gehörigen geteerten Presenning und befestigten diese an den Rändern mit schweren Spieren und Tauen.


»Der Alert!« rief er leise, doch mit Verzweiflung in der Stimme. (S 351.)

[352] [355]Jetzt war die ganze Besatzung mit Einschluß Harry Markels gefangen und es war nur noch nötig, die Schurken zu überwachen, bis sie entweder an ein unterwegs angetroffenes Schiff oder im ersten Hafen, den der »Alert« anlief, ausgeliefert worden wären.

Allmählich wurde es nun heller, die Dunstmassen stiegen weiter in die Höhe und der Horizont erweiterte sich mit dem Morgenlichte.

Gleichzeitig frischte der Wind ein wenig auf, ohne aber stetig aus ein und derselben Richtung zu wehen. So wie die Segel jetzt eingestellt waren, konnten sie den Dreimaster nur an seiner Stelle halten.

Der Handstreich des kühnen Will Mitz war also gelungen. Seine Begleiter und er waren die Herren des »Alert«!

Das andere Schiff, auf dem sie Rettung zu finden gehofft hatten, lag schon fünf bis sechs Meilen draußen im Osten und mußte bald vollständig verschwinden.

11. Kapitel
Elftes Kapitel.
Als Herren an Bord.

Das Rettungswerk war also hauptsächlich dem kühnen und entschlossenen Will Mitz zu verdanken. Das Glück schien nun den Guten wieder zu lächeln, das Unglück die Schlechten getroffen zu haben. Das letzte Verbrechen, wodurch sie sich in der nächsten Nacht der Passagiere und des jungen Seemanns entledigen wollten, sollten diese nicht mehr ausführen können.

Jetzt waren vielmehr sie es, deren Greueltaten gesühnt, sie, die den Gerichten in einem beliebigen Hafen Antiliens oder des festländischen Amerika ausgeliefert werden sollten, sobald der »Alert« Land erreicht hatte, wenn es ihnen nicht ein zweites Mal gelang, sich des Schiffes zu bemächtigen.

Im Volkslogis waren sie ihrer zehn eingeschlossen, zehn kräftige Männer, gegen die sich Will Mitz und seine Begleiter kaum hätten erfolgreich verteidigen können. Und wenn sie die Scheidewand zertrümmerten, die das Volkslogis [355] vom Frachtraum trennte, konnten sie vielleicht durch die nach diesem führenden Luken auf das Verdeck gelangen. Jedenfalls versuchten sie gewiß alles mögliche, sich wieder zu befreien.

Zunächst brachte Will Mitz dem Herrn im Himmel seinen Dank dar und flehte ihn an, sie auch ferner zu beschützen.

Die jungen Leute vereinigten sich mit ihm zu innigem Gebete. Ein gläubiger und frommer Christ, hatte es der wackere Seemann hier nicht mit Undankbaren oder Ungläubigen zu tun... nein, aller Herzen waren von aufrichtiger Dankbarkeit gegen Gott erfüllt.

Horatio Patterson hatte man, ohne daß dieser sich über das Vorgegangene klar wurde, mit sanfter Gewalt auf das Verdeck befördert. In dem Glauben, einen schlimmen Traum gehabt zu haben, schwankte er nach seiner Kabine und war hier nach fünf Minuten fest eingeschlafen.

Der Tag schritt weiter vor, und bald erhob sich die Sonne hinter einer dicken Wolkenbank, die von Nordosten bis Südwesten reichte. Will Mitz hätte den Horizont freilich lieber dunstfrei gesehen. Er befürchtete, daß der Wind nicht von dieser Seite kommen könnte, um so mehr, als an der andern schon Vorzeichen am Himmel bemerkbar wurden, über die ihn sein seemännischer Instinkt nicht täuschen konnte.

Die ganze Frage spitzte sich darauf zu, ob der Passatwind stetig wehte, denn das würde die Fahrt des »Alert« nach den Antillen im Westen besonders begünstigen.

Bevor aber an die Abfahrt zu denken war, mußte abgewartet werden, daß die Brise von der einen oder anderen Seite einigermaßen beständig wehte. Vorläufig, wo sie immer wieder aussetzte, war an eine Entfaltung der Segel nicht zu denken.

Das Meer nahm weder im Osten noch im Westen seine gewöhnliche grüne Färbung an. Die Dünung, das Auf- und Abwogen des Wassers an derselben Stelle, brachte das Fahrzeug recht fühlbar zum Rollen.

Und doch war es von Wichtigkeit, die Fahrt in möglichst kurzer Zeit zu vollenden. Da der Frachtraum und die Kambüse jedoch Proviant für mehrere Wochen enthielten, brauchten die Passagiere keinen Mangel an Süßwasser und Nahrungsmitteln zu befürchten.

Eine offene Frage blieb es nur, wie die Gefangenen mit Nahrung versorgt werden sollten, wenn Windstillen oder schlechtes Wetter den »Alert« aufhielten.

[356] Schon an diesem ersten Tage mußten Harry Markel und seine Leute ja an Hunger und Durst zu leiden haben. Wollte man ihnen zu essen und zu trinken durch den Treppeneingang zukommen lassen, so hätten sie ja wieder auf das Verdeck heraufstürmen können.

Doch das wollte Will Mitz erst näher erwägen, wenn die Fahrt sich verlängerte. Es war ja recht gut möglich, daß der »Alert« die achtzig Seemeilen, die ihn etwa von Westindien trennten, binnen vierundzwanzig oder sechsunddreißig Stunden zurücklegte.

Da löste ein Zwischenfall die Frage der Ernährung der Gefangenen. Diese erschien danach gesichert, selbst wenn die Fahrt mehrere Wochen dauerte.

Es war gegen sieben Uhr, als Will Mitz, der mit Vorbereitungen zur Abfahrt beschäftigt war, durch einen Ruf Louis Clodions davon abgelenkt wurde.

»Hierher!... Hierher!« rief der junge Mann.

Will Mitz lief hinzu. Louis Clodion stemmte sich mit aller Gewalt gegen den Deckel der großen Luke, den man von unten her aufzuheben versuchte. Harry Markel und die anderen hatten die Wand des Volkslogis durchbrochen und waren in den Frachtraum gelangt, aus dem sie nun durch die Luke zu entkommen suchten, und das wäre ihnen ohne Zweifel geglückt, wenn es Louis Clodion nicht verhindert hätte.

Sofort kamen ihm Will Mitz, Roger Hinsdale und Axel Wickborn zu Hilfe. Der Lukendeckel wurde fest über seinen Scherstock gedrückt, und nachdem die dazugehörigen Eisenstangen darüber festgelegt waren, mußte es unmöglich sein, ihn abzuheben. Dasselbe geschah mit der Luke am Vorderdeck, durch die ja ebenfalls ein Entweichen möglich gewesen wäre.

Will Mitz trat darauf wieder an den Treppeneingang und rief laut:

»Hört auf mich da unten, und merkt, was ich sage!«

Aus dem Volkslogis kam keine Antwort.

»Harry Markel, meine Worte gelten dir!«

Als Harry Markel das hörte, sah er ein, daß seine Identität nachgewiesen war. Auf die eine oder andere Weise hatten die Passagiere alles erfahren und mußten wohl auch über seine letzten Absichten unterrichtet sein.

Entsetzliche Flüche bildeten die einzige Antwort, die Will Mitz erhielt.

»Harry Markel, fuhr er darauf fort, laß dir's und auch deinen Leuten gesagt sein, daß wir bewaffnet sind. Dem ersten von euch, der versuchen möchte, das Volkslogis zu verlassen, zerschmettere ich den Schädel!«

[357] Von Stund' an wachten die jungen Leute, die sich von dem Waffengestell Revolver geholt hatten, an den bedrohten Stellen, stets bereit, Feuer zu geben, wenn einer der Eingeschlossenen im Treppeneingange sichtbar würde.

War es den Gefangenen also auch nicht möglich, zu entfliehen, so hatten sie doch, da sie sich einen Weg in den Frachtraum gebahnt hatten, Proviant in Form von konserviertem Fleisch und Schiffszwieback, sowie Bier, Brandy und Gin in Überfluß, und Harry Markel verlor gewiß alle Macht über sie, wenn sie sich hier nach Belieben berauschen konnten.

Die Elenden konnten sich über die Absicht des Will Mitz keiner Täuschung hingeben. Harry Markel wußte recht gut, daß sich der »Alert« nur siebzig bis achtzig Seemeilen von den Antillen befand. Bei dem vorherrschenden Winde war es leicht möglich, eine der Inseln in weniger als zwei Tagen anzulaufen. Auf dem hier viel befahrenen Meere begegnete der »Alert« auch voraussichtlich so manchem Schiffe, mit dem Will Mitz sich in Verbindung setzen konnte. Ob an Bord eines anderen Fahrzeuges oder in einem der Häfen Antiliens... jedenfalls hatte die Räuberhorde vom »Halifax«, die so verwegen aus dem Gefängnisse in Queenstown entsprungen war, nur noch die Strafe für ihre Verbrechen zu erwarten.

Auch Harry Markel mußte einsehen, daß ihm keine Aussicht auf Rettung mehr winkte und daß er seine Spießgesellen nicht wieder befreien und noch einmal zu Herren an Bord machen konnte.

Nach der festen Verschließung der Luken und des Treppeneinganges bestand kein weiterer Verbindungsweg zwischen dem Frachtraume und dem Verdeck. An ein Durchbrechen des Schiffsrumpfes über der Schwimmlinie, sowie an eine Zerstörung der dicken Inhölzer oder an eine Durchlöcherung der Deckplanken war ohne Werkzeuge gar nicht zu denken. Das wäre auch nicht auszuführen gewesen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Ebenso vergeblich hätten die Gefangenen sich bemüht, in das Hinterteil des Schiffes dadurch einzudringen, daß sie die dicke und feste Plankenwand der Kambüse zu durchbrechen versuchten. Zu der Kambüse gelangte man überhaupt nur durch eine Luke vor dem Kastell. Hatten die Passagiere jetzt auch nur die Vorräte in der Kambüse zur Verfügung, so reichten diese doch für acht bis zehn Tage ebensogut aus wie das Wasser in den Tonnen auf dem Verdeck. Binnen achtundvierzig Stunden aber sollte der »Alert« doch – so nahm man wenigstens an – eine der Inseln des Archipels erreicht haben.

[358] Das Wetter klarte indes nicht auf, und wenn das andere Schiff hatte nach Osten absegeln können, kam das jedenfalls daher, daß es weiter nördlich gelegen hatte, wo der Passat sich schon beim Anbruche des Tages erhoben hatte.

In Erwartung des Windes, von wo er auch kommen mochte, und während Hubert Perkins und Axel Wickborn auf dem Verdeck nahe der Treppenkappe Wache hielten, umringten die anderen Will Mitz, um auszuführen, was er ihnen aufzutragen hatte. Dabei äußerte Will Mitz:

»Das wichtigste ist und bleibt es für uns, so bald wie möglich die Antillen anzulaufen...

– Und da, sagte Tony Renault, diese Schurken der Polizei auszuliefern.

– Zuerst wollen wir doch an uns selbst denken, meinte der praktische Roger Hinsdale.

– Welchen Tag könnte der »Alert« wohl ankommen? fragte Magnus Anders.

– Morgen Nachmittag, wenn uns der Wind begünstigt, antwortete Will Mitz.

– Glauben Sie, daß der Wind von dieser Seite kommen werde? fragte Hubert Perkins, der dabei nach Osten hinwies.

– Das hoffe ich; er muß dann aber auch noch sechsunddreißig Stunden anhalten. Bei der jetzigen Neigung zu Gewittern weiß man freilich nie, woran man ist.

– Und welche Richtung werden wir einschlagen, erkundigte sich Louis Clodion.

– Die genau nach Westen.

– Sind wir da sicher, auf die Antillen zu treffen? fiel John Howard ein.

– Ganz gewiß, versicherte Will Mitz. Der Archipel hat zwischen Antigoa und Tabago eine Länge von vierhundert Seemeilen, und auf welche Insel wir auch treffen mögen... in Sicherheit werden wir auf jeder sein.

– Ohne Zweifel, erklärte Roger Hinsdale, gleichviel, ob das eine französische, englische, dänische oder holländische wäre, und selbst wenn wir durch ungünstige Winde aus unserem Kurs verschlagen würden und bei Guyana oder in einem Hafen der Vereinigten Staaten ans Land kämen.

– Was zum Kuckuck, rief Tony Renault, wir werden doch nicht an Nord- oder Südamerika zwischen Neuengland und dem Kap Horn vorübersegeln!


Der Lukendeckel wurde fest über seinen Scherstock gedrückt. (S. 357.)

– Nein, das nicht, lieber Tony, schloß Will Mitz das Gespräch; der ›Alert‹ darf nur nicht durch Wind [359] stillen an diese Stelle gefesselt bleiben. Mag nur wieder Wind kommen und Gott es fügen, daß er uns günstig ist!«

Es genügte freilich nicht »daß der Wind günstig war, er durfte vorzüglich auch nicht zu heftig werden. Für Will Mitz wäre es eine gar zu schwierige Aufgabe gewesen, mit einer Mannschaft von jungen Leuten zu manövrieren, denen es an seemännischer Kenntnis fehlte oder die sich davon bei der ersten Überfahrt doch nur sehr wenig angeeignet hatten. Was sollte Will Mitz aber [360] beginnen, wenn ein schnelles Zugreifen nötig wurde, wenn entweder gehalst oder über Stag gesegelt werden sollte, wenn man lavieren oder Reffe einbinden mußte oder wenn gar ein Orkan die Bemastung zu zerstören drohte? Wie würde er gegen alle Möglichkeiten gewappnet sein, denen man in diesem von Zyklonen und Stürmen so oft heimgesuchten Meeresteile ausgesetzt ist?

Harry Markel rechnete vielleicht noch auf die üble Lage, in die Will Mitz kommen könnte; dieser war ja nur ein erfahrener und tatkräftiger Matrose, doch außer Stande, ein hinreichend genaues Besteck zu machen. Wurde die Lage [361] kritisch, trieben westliche Winde den »Alert« aufs hohe Meer hinaus, drohte ein Sturm diesen zu entmasten oder völlig zu zerstören, so würde sich – meinte er – Will Mitz wohl genötigt sehen. Markel und dessen Leute um Hilfe anzugehen, und dann...


»Was halten Sie vom Wetter, Will?« (S. 363.)

Doch nein... nimmermehr! Will Mitz hoffte, mit Hilfe der jungen Passagiere in jedem Falle auszukommen. Er wollte nur so viele Segel führen, daß sie leicht geborgen werden könnten, selbst wenn das die Fahrt des »Alert« etwas verlangsamte. Nein, eher zu Grunde gehen, als die Unterstützung jener Elenden anrufen, als wieder in ihre Hände fallen!

Soweit war man jedoch noch nicht, und was verlangte denn Will Mitz? Sechsunddreißig, höchstens achtundvierzig Stunden einen mäßigen Ostwind mit halbwegs ruhigem Meere. War das zuviel gehofft in einer Gegend, wo doch gewöhnlich ein Passatwind herrscht?

Es war jetzt gegen acht Uhr. Beim Überwachen der Treppenkappe und der beiden Luken hörte man die Mannschaft im Frachtraume hin- und hergehen und ihrer Wut in greulichen Flüchen und abscheulichen Verwünschungen Luft machen. Von den zur Ohnmacht verurteilten Burschen war indes nichts mehr zu fürchten.

Tony Renault schlug nun vor, endlich zu frühstücken. Nach der Anstrengung und Aufregung der vergangenen Nacht machte sich der Hunger mahnend fühlbar. Alles Nötige lieferten die Vorräte der Kambüse: Zwieback, konserviertes Fleisch und Eier, die der junge Mann in der Küche wo er alle Kochgeräte und dergleichen vorfand hart sott. Der Kambüse entnahm man auch etwas Whisky und Gin, die dem Süßwasser aus den Fässern in geringer Menge zugesetzt wurden. Durch dieses erste Frühstück gewannen alle Teilnehmer wieder neue Kräfte.

Auch Patterson hatte sich nicht davon ausgeschlossen; trotz seiner gewohnten Redseligkeit kamen ihm jetzt jedoch nur wenige Worte über die Lippen. Er begriff wohl vollständig den Ernst der gegenwärtigen Sachlage und die Gefahren des Meeres erschienen ihm jetzt in ihrer ganzen erdrückenden Schwere.

Gegen halb neun Uhr schien etwas Wind aufkommen zu wollen, und glücklicherweise ein solcher aus Osten. Auf dem Wasser zeigten sich lange Streifen kleiner Wellen, zwei Meilen von Backbord aber war zuweilen schon weißlicher Schaum zu sehen. Übrigens war alles ringsum öde und leer... kein Schiff zu sehen, soweit der Blick reichte.

[362] Will Mitz entschloß sich nun abzufahren. Die Bram- und Oberbramsegel, die bei starkem Winde gleich geborgen werden mußten, wollte er gar nicht führen.

Das große und das kleine Marssegel, das Fock-, das Brigg- und die Klüversegel würden ja hinreichen, schnell genug vorwärts zu kommen. Da alle diese Segel nur loszubinden, zu halfen und richtig einzustellen waren, mußte der »Alert« bald in westlicher Richtung davongleiten.

Will Mitz rief die jungen Leute zusammen. Er erklärte ihnen, was er von ihnen erwartete und wies jedem seinen Posten an.

Nachdem er Louis Clodion gesagt hatte, wie er das Steuer halten sollte, erstieg er die Marsen mit Tony Renault und Magnus Anders, die darin mehr geübt waren als ihre Kameraden.

»O... das macht sich!... Die Sache macht sich! rief Tony Renault mit der bei seinem Alter so natürlichen Vertrauensseligkeit, die ihn zu allem fähig zu machen schien.

– Ich hoffe es... mit Gottes Hilfe!« sagte Will Mitz.

Binnen einer Viertelstunde war der Dreimaster segelfertig und leicht geneigt glitt er dahin und ließ einen langen Streifen weißen Kielwassers hinter sich.

Bis ein Uhr wehte der Wind als leichte Brise, doch nicht ohne Unterbrechungen, die Will Mitz einige Unruhe verursachten. Im Westen türmten sich auch dicke, graublaue Wolken mit scharfem Rande auf, ein Beweis für den gewitterhaften Zustand der Atmosphäre.

»Was halten Sie vom Wetter, Will? fragte Roger Hinsdale.

– Es ist nicht ganz so, wie ich wünschte. Wir haben wahrscheinlich ein Gewitter oder mindestens starken Wind zu erwarten.

– Und wenn er von dieser Seite kommt?

– Ja, mein junger Freund, antwortete Will Mitz, wir haben einfach hinzunehmen, was uns beschert wird. Wir werden, bis der Passat wieder durchbricht, mehrfach kreuzen müssen, und wenn es nicht allzuhart weht, wird die Sache gut ablaufen. Das wichtigste für uns bleibt es nach wie vor, in Sicht eines Landes zu kommen, und wenn es erst in drei Tagen statt nach zweien erfolgt, so müssen wir uns drein ergeben. Fünf bis sechs Seemeilen von den Antillen treffen wir sicherlich auf Lotsen, die dann an Bord kommen, und ein paar Stunden später liegt der ›Alert‹ ruhig vor Anker.«

[363] Wie Will Mitz vorausgesehen hatte, hielt der Ostwind leider nicht lange an. Am Nachmittage wurde der »Alert« schon gründlich durch Gegenwellen geschaukelt, die der im fernen Westen aufgekommene starke Wind vor sich hertrieb.

Jetzt galt es also scharf am Winde zu segeln, um nicht aufs hohe Meer hinaus verschlagen zu werden. Das dazu erforderliche Manöver gelang recht leicht, ohne die Halsen zu wechseln. Tony Renault trat ans Steuer und hielt den Helmstock luvwärts. Will Mitz und die übrigen zogen die Trissen, die Schoten des Focksegels, der Mars-, der Klüversegel und des Briggsegels, an. Der »Alert« neigte sich etwas nach Steuerbord und trieb, zu dem ersten Schlage fertig, schnell nach Nordosten hin.

Im Frachtraume, worin sie eingesperrt waren, mußten es Harry Markel und seine Leute sicherlich bemerken, daß das Schiff sich jetzt mit Gegenwind von den Antillen entfernte. Diese dadurch bedingte Verzögerung konnte ihnen nur von Vorteil sein.

Gegen sechs Uhr abends meinte Will, der »Alert« sei nun nach Nordosten weit genug hinausgekommen, und zur besseren Ausnützung der Strömungen beschloß er, einen Schlag nach Südwesten machen zu lassen.

Das war das Segelmanöver, dem er mit der größten Besorgnis entgegensah. Um zu halfen ist ein Verfahren erforderlich, das die größte Sicherheit bei der Lageveränderung der Raaen erfordert. Der »Alert« hätte zwar auch backstags segeln können, wäre dabei aber Gefahr gelaufen, schwere Sturzseen überzunehmen. Zum Glück war der Wogengang nicht gar so stark. So holte man denn, bei luvwärts gehaltenem Steuer, das Briggsegel an und fierte so weit wie nötig die Schoten, so daß das Fock- und das kleine Marssegel den Wind nun von Steuerbord erhielten. Die Wendung gelang bald, und mit seinen von neuem gerichteten Segeln steuerte das Schiff nach Südwesten hinunter.

»Gut gemacht!... Bravo, meine jungen Herren! rief Will Mitz, als die Arbeit vollendet war. Sie haben hier manövriert wie echte, erfahrene Matrosen...

– Unter der Leitung eines guten Kapitäns!« antwortete Louis Clodion im Namen aller seiner Kameraden.

Wenn da Harry Markel, John Carpenter und die übrigen im Frachtraume oder im Volkslogis zu der Überzeugung kamen, daß es ohne ihre Hilfe gelungen[364] sei, das Schiff zu wenden, so konnte man sich wohl leicht denken, in welch tolle Wut sie das versetzen mußte.

Zum Mittagsessen, das kaum mehr Zeit in Anspruch nahm als das Frühstück, hatte Tony Renault noch einige Tassen Tee zurechtgemacht.

Gleich nach dem Essen verschwand Patterson wieder in seine Kabine, da er ja doch nirgends von Nutzen sein konnte.

Will Mitz verteilte nun die Nachtwachen zwischen Louis Clodion und dessen Kameraden.

Fünf von den jungen Leuten sollten auf dem Verdeck bleiben, während die vier übrigen der Ruhe pflegten. Von vier zu vier Stunden hatten sie einander abzulösen, und wenn es vor Tagesanbruch nötig wurde, das Schiff abermals zu wenden, so sollten alle dabei mit Hand anlegen.

Übrigens wurde ihnen empfohlen, die Treppenkappe und die Luken sorgsam zu überwachen, um vor jeder Überraschung gesichert zu sein.

Nachdem das vereinbart war, begaben sich Roger Hinsdale, Niels Harboe, Albertus Leuwen und Louis Clodion nach der Kajüte und streckten sich völlig bekleidet auf ihren Lagerstätten aus. Am Steuer stehend, folgte Magnus Anders den Anweisungen, die Will Mitz ihm gab. Tony Renault und Hubert Perkins nahmen auf dem Vorderteile Platz, und Axel Wickborn hielt sich mit John Howard am Fuße des Großmastes auf.

Will Mitz ging überall umher, hatte ein Auge auf alles, ließ die Schoten nachschießen oder holte sie an, je nachdem der Wind das erforderte, und ergriff auch die Ruderpinne, wenn diese einer festen und erfahrenen Hand bedurfte... kurz, er war Kapitän, Bootsmann, Marsgast, Steuermann und Matrose, alles in einer Person.

Die Wachthabenden folgten einander, wie das bestimmt worden war. Die die geschlafen hatten, traten auf dem Vorder- und Hinterdeck an die Stelle ihrer Kameraden.

Nur Will Mitz bestand darauf, bis zum Morgen auf den Füßen zu bleiben.

Nach einer ungestört verlaufenen Nacht – auch das vorher aufgestiegene Gewitter hatte sich zerstreut – wehte nur noch eine leichte Brise. Die Segelfläche brauchte also nicht verkleinert zu werden, eine Arbeit, die in der Finsternis doch recht schwierig gewesen wäre.

Im Volkslogis und Frachtraum ging es zwar wiederholt laut zu, doch unterließen Harry Markel und seine Leute jeden weiteren Versuch, das Schiff [365] wieder in ihre Gewalt zu bekommen. Sie mochten wohl wissen, daß ein solcher, selbst in der Nacht, hätte scheitern müssen. Zuweilen drang nur ein Wutschrei durch die Luken nach oben, und man hörte gelegentlich das Gepolter der Betrunkenen, das sich aber auch nach und nach legte.

Am Morgen hatte der »Alert« nun drei Schläge nach Westen gemacht. Die Entfernung, die ihn von den Antillen trennte, mochte sich jedoch kaum um zehn bis zwölf Seemeilen verkleinert haben.

12. Kapitel
Zwölftes Kapitel.
Die drei nächsten Tage.

Die über einem von zerrissenen Dunstmassen begrenzten Horizonte aufsteigende Sonne verkündigte keine durchgreifende Veränderung der Atmosphäre. Der aus Westen kommende Wind schien sogar Neigung zu haben, etwas aufzufrischen.

Die Wolken stiegen übrigens bald bis zum Zenit empor, und ohne Zweifel blieb das Wetter den Tag über bedeckt und regnerisch. Der Regen aber hatte vielleicht eine Abschwächung der Brise zur Folge, die von einigen heftigen Windstößen unterbrochen werden mochte... ein Umstand, den Will Mitz besonders fürchtete.

Mußte der »Alert« bis zum Abend lavieren, so war anzunehmen, daß er den Antillen nur um weniges näher kommen würde. Das stellte also eine Verzögerung in Aussicht, deren Dauer sich nicht abschätzen ließ, und gewiß war es höchst beklagenswert, daß der Ostwind nicht achtundvierzig Stunden länger angehalten hatte.

Als das Schiff unter dem Befehle Harry Markels Barbados verließ, hatte es der Passatwind in seiner Fahrt aufgehalten, andernfalls wäre es schon hundert Seemeilen weiter draußen auf dem Atlantischen Meere gewesen, und jetzt mußte es wieder gegen den Westwind aufkreuzen, um nach den Antillen zurückzukehren.

[366] Gegen sechs Uhr morgens gesellte sich Louis Clodion wieder zu Will Mitz.

»Nun... nichts neues? fragte er.

– Gar nichts, Herr Clodion.

– Ist denn noch keine Aussicht auf einen Umschlag des Windes?

– Das kann ich nicht sagen; doch wenn er nicht stark auffrischt, können wir wenigstens die jetzige Segelfläche beibehalten.

– Das bedeutet für uns aber eine Verzögerung, nicht wahr?

– Nun ja, eine kleine. Darum braucht sich indes niemand zu beunruhigen, und wir kommen trotzdem am Ziele an. Übrigens rechne ich auch darauf, einem Schiffe zu begegnen.

– Das hoffen Sie?

– Gewiß.

– Wollen Sie nun nicht ein wenig ausruhen?

– Nein, ich fühle mich nicht ermüdet. Sollte ich später ein Bedürfnis zu ruhen empfinden, dann werden ein oder zwei Stunden Schlaf für mich genügen.«

Wenn Will Mitz so wie jetzt sprach, geschah es, weil er die Passagiere nicht beunruhigen wollte. Im Grunde aber konnte er sich einer gewissen Besorgnis doch nicht erwehren. Wenn er das Meer schärfer beobachtete, schien es ihm, als ob »es etwas fühlte«, da es stärker bewegt war, als es dem jetzigen Winde entsprach.

Möglich war es ja immerhin, daß weiter im Westen rauhes Wetter herrschte. Im Juni oder Juli hätte solches nicht länger als vierundzwanzig, höchstens achtundvierzig Stunden angehalten; jetzt, zur Zeit der Äquinoctien, konnte es aber ein bis zwei Wochen fortdauern. Gerade zu dieser Jahreszeit sind ja die Antillen wiederholt von den schrecklichsten Zyklonen verheert worden.

Aber selbst wenn der Wind nicht zum Sturme ausartete, konnten die jungen Leute doch voraussichtlich die Anstrengungen einer Tag und Nacht nicht aussetzenden Tätigkeit kaum aushalten.

Gegen sieben Uhr erschien Patterson auf dem Verdeck, trat an Will Mitz heran und schüttelte ihm die Hand.

»Nun... immer noch kein Land zu sehen? fragte er.

– Leider keines, Herr Patterson.

Es liegt aber doch in dieser Richtung? setzte er nach Westen zeigend hinzu.

[367] – Ja... gewiß.«

Mit dieser immerhin tröstlichen Antwort mußte sich Patterson begnügen, wenn ihn seine überreizte Phantasie auch beträchtliche Verzögerungen ahnen ließ. Wenn das Schiff nun überhaupt nicht nach Barbados oder einer anderen Insel Antiliens käme, wenn es weit aufs Meer hinaus verschlagen oder von einem Sturme überrascht würde, was sollte dann aus seinem »Kapitän« und seiner »Besatzung« werden?... Der arme Mann sah sich schon nach den äußersten Grenzen des Weltmeeres verschlagen, an eine menschenleere Küste Afrikas geworfen und Monate, vielleicht Jahre lang verlassen. Er gedachte seiner Gattin, die, in dem Glauben, Witwe geworden zu sein, um ihn gewiß lange trauern und weinen würde... Ja, solche peinigende Gedanken stiegen in ihm auf, und weder bei Horaz noch bei Virgil fand er einen Trostspruch für seinen Schmerz. Er dachte sogar gar nicht mehr daran, Tony Renaults merkwürdiges lateinisches Citat zu übersetzen.

Am Vormittag trat keine Änderung der Windrichtung ein. Zu Mittag entschloß sich Will Mitz, wieder zu lavieren. Da der Seegang jetzt aber stärker war, konnte der »Alert« nicht durch einfaches Halsen wenden, sondern mußte dazu über Stag segeln.

Als das Manöver endlich gelungen war, legte sich Will Mitz, von der Anstrengung übermannt, auf dem Hinterkastell nahe dem Kompaßhäuschen nieder, während Louis Clodion das Steuer führte.

Kaum hatte er eine Stunde geschlafen, als er durch Rufe vom Vorderdeck her, wo Roger Hinsdale und Axel Wickborn auf Ausguck standen, schon wieder geweckt wurde.

»Ein Schiff!... Ein Schiff in Sicht!« wiederholte der junge Däne, während er die Hand nach Osten ausstreckte.

Wirklich zeigte sich auf dieser Seite ein Schiff, das den gleichen Kurs wie der »Alert« einhielt. Es war ein Dampfer, von dem man vorläufig nur den Rauch sah. Er fuhr sehr schnell und bald erhob sich auch sein Rumpf über den Horizont. Aus seinen beiden Schornsteinen wirbelten dicke, schwarze Wolken, er mochte also sehr scharfe Feuer haben.

Die Aufregung unter den jungen Leuten bei der Annäherung dieses Schiffes kann man sich wohl leicht vorstellen. Vielleicht wurde dadurch das Ende einer Lage herbeigeführt, die sich durch die Andauer widriger Winde schon ernstlich verschlimmert hatte.

[368] [371]Alle Fernrohre richteten sich auf den Dampfer, dessen Bewegungen keiner aus dem Auge ließ.

Will Mitz achtete vorzüglich auf die Richtung, der er nach Westen hin folgte. Er überzeugte sich dabei aber, daß jener, wenn er seinen Kurs beibehielt, den des »Alert« nicht kreuzen und wenigstens in der Entfernung von vier Seemeilen an ihm vorüberfahren würde. Er beschloß deshalb sich treiben zu lassen, um dem Schiffe so nahe zu kommen, daß seine Signale bemerkt werden könnten. Man braßte also die Raaen der beiden Marssegel und des Focksegels, ließ auch die Schoten des Briggsegels und der Klüversegel nach, und der »Alert« drehte danach um mehrere Viertel in den Wind.


Nun ging es an die gefährliche Arbeit. (S. 373.)

Eine halbe Stunde später war der Dampfer noch drei Meilen entfernt. Nach dessen Form und Größe mußte es ein französisches oder englisches transatlantisches Paketschiff sein. Luvte es jetzt nicht weiter an, so müßten die beiden Fahrzeuge bald miteinander in Verbindung treten können.

Auf Anordnung des jungen Seemanns hißte Tony Renault am Fockmaste die blau und weiße Lotsenflagge, und gleichzeitig stieg an der Gaffel des Besanmastes die britische Flagge empor.

Eine Viertelstunde verging. Der »Alert«, der jetzt Rückenwind hatte, konnte nichts weiter tun, sich noch mehr dem Dampfer zu nähern, der von ihm immer drei Meilen im Norden entfernt blieb. Da sie auf ihre Signale keine Antwort erhalten hatten, holten Roger Hinsdale und Louis Clodion zwei Gewehre aus der Kajüte und gaben mehrere Schüsse ab. Da der Wind nach dem Dampfer zu stand, konnten sie auf diesem vielleicht gehört werden.

Harry Markel, John Carpenter und die übrigen hatten ohne Zweifel erraten, was da vorging, der Dreimaster hatte seinen Kurs gewechselt und rollte mehr als vorher, wo er scharf am Winde segelte. Dann krachten an Bord auch noch mehrere Gewehrschüsse.

Jedenfalls war also ein Schiff in Sicht, mit dem der »Alert« sprechen wollte.

Da sie sich nun verloren glaubten, verdoppelten die Gefangenen ihre Bemühungen, aus dem Frachtraum zu entkommen, und donnerten mit aller Gewalt an die Wände des Volkslogis und an die Deckluken. Dabei brüllten sie vor Wut. Übrigens hätte Will Mitz dem ersten, der etwa sichtbar wurde, gleich eine Kugel in den Kopf gejagt.

Leider nahm der so froh begrüßte Zwischenfall für den »Alert« ein klägliches Ende. Auf dem Dampfer hatte man weder die Signale gesehen, noch [371] die Schüsse gehört. Eine halbe Stunde später lag dieser schon fünf bis sechs Meilen weit entfernt und verschwand dann bald unter dem Horizonte.

Will Mitz ließ wieder gegen den Wind anlaufen und aufs neue einen Schlag nach Südwesten machen.

Den ganzen Nachmittag lavierte dann der »Alert«, ohne merkbar vorwärts zu kommen. Das Aussehen des Himmels war etwas bedrohlicher geworden. Im Westen ballten sich immer mehr Wolken zusammen, der Wind frischte auf, das Meer wurde unruhiger und dann und wann schäumten schon die Wellen zum Vorderkastell hinaus. Ließ der Wind nicht bald nach, so konnte Will Mitz die bisherige Richtung nicht länger einhalten, ohne die Segelfläche zu verkleinern. Er wurde allmählich unruhiger, bemühte sich aber, es niemand merken zu lassen. Louis Clodion und Roger Hinsdale, die gesetztesten der Passagiere, fühlten jedoch recht gut mit, was in ihm vorging. Als sie ihn ansahen und mit dem Blicke fragten, wendete Will Mitz den Kopf zur Seite.

Die herankommende Nacht drohte recht schlimm zu werden. Man mußte eiligst zwei Reffe in die Marssegel und eines in das Fock- und Briggsegel schlagen. Diese für eine improvisierte Mannschaft schon am hellen Tage schwierige Arbeit wäre im Dunkeln kaum auszuführen gewesen. Jetzt galt es vor allem, so zu manövrieren, daß man nicht überrascht würde und sich in der steifen, mit Sturmwindstößen einhergehenden Brise halten könnte.

Was wäre auch aus dem »Alert« geworden, wenn er noch weiter nach Osten hinaustrieb? Wohin konnte ihn ein Sturm verschlagen, der voraussichtlich mehrere Tage dauerte?... Und kein Land in der Nähe, höchstens weiter draußen im Nordosten die gefährlichen Bermudasinseln, wo der Dreimaster schon ein schweres Wetter durchgemacht hatte, das ihn damals zwang, vor dem Sturme zu fliehen. Sollte er jetzt gar über den ganzen Atlantischen Ozean verschlagen und etwa auf die Risse der afrikanischen Küste geworfen werden?

Es blieb also nichts übrig, als das Schiff, gleichviel ob scharf am Winde oder diesem gerade entgegen, in der Nähe der Antillen zu halten. Nach Vorübergang des Sturmes gewann ja der Passat jedenfalls wieder die Oberhand und der »Alert« konnte dann die wenigen verlorenen Tage wieder einbringen.

Will Mitz erklärte, was nun zu tun sei. Da die Segel oft wie ein Geschützdonner anschlugen, wollte man sich zuerst mit dem kleinen, und dann mit dem großen Marssegel beschäftigen. Magnus Anders, Tony Renault, Louis Clodion und Axel Wickborn sollten Will Mitz nach den Raaen folgen, doch [372] wohl achtgeben, daß sie sich tüchtig festhielten, und wenn dann die Leinwand herangezogen wäre, sollten die Seisinge darüber gebunden werden.

Nach dem Wiederhinabsteigen sollten alle an die Trissen gehen und die Raaen fest anziehen.

Albertus Leuwen und Hubert Perkins war einstweilen das Steuer anvertraut, und Will Mitz erklärte ihnen, wie sie es handhaben sollten.

Nun ging es an die gefährliche Arbeit. Mit großer Mühe wurde das kleine Marssegel zweimal gerefft, und nachdem es von unten her gehißt war, scharf gegen den Wind eingestellt.

Dasselbe geschah mit dem großen Marssegel. Wegen des Briggsegels brauchte man den Besanmast nicht zu erklettern, sondern man hatte nur seinen unteren Teil um den Gickbaum zu wickeln.

Was das Focksegel betraf, begnügte man sich, es aufzugeien, um es sofort wieder entfalten zu können, im Fall der Wind gegen Morgen schwächer würde.

Mit dieser Beseglung rauschte der »Alert« nun über den Ozean hin. Zuweilen neigte er sich so stark zur Seite, daß das Wasser heraufschäumte und das Verdeck weithin überschwemmte. Am Steuer stehend, richtete Will Mitz mit starker Hand und von einem oder dem andern der jungen Leute unterstützt, das Schiff wieder auf.

In dieser Weise ging es die ganze Nacht weiter, und Will Mitz glaubte, vor Sonnenaufgang keinen neuen Schlag – zum Lavieren – machen zu müssen.

Während Will Mitz das Deck bis zum Anbruch des Tages nicht verließ, hatten die jungen Leute einander nach je vier Stunden abgelöst und sich dann für einige Stunden zum Ausruhen niedergelegt.

Sobald der Horizont an der Windseite übersehbar wurde, prüfte ihn Will Mitz aufmerksamen Blickes. Nur von dorther drohte eine Gefahr. Der Anblick des Himmels befriedigte ihn leider nicht im mindesten. War der Wind im Laufe der Nacht auch nicht noch stärker geworden und hatte er nur als steife Brise angehalten, so war doch auch kein Zeichen einer bevorstehenden Besserung zu entdecken. Im Gegenteil drohten noch heftige Regengüsse und schwere Sturmböen, die noch weitere Vorsichtsmaßregeln erforderten. Vielleicht wurde es gar nötig, ganz beizulegen und das Schiff den Wogen gerade entgegen zu stellen. Statt vorwärts zu kommen, würde der »Alert« sich dann freilich von den Antillen nur noch mehr entfernen.

[373] Bald brach nun der Sturmwind los, daß die Marssegel klatschten und in Fetzen gerissen zu werden drohten. Patterson konnte die Kajüte natürlich nicht verlassen, die andern aber blieben, in Wachsleinwandjacken und den Südwester auf dem Kopfe, auf dem Verdeck, um Will Mitz stets zur Hand zu sein. Das in Strömen herabstürzende Wasser singen sie in Baljen auf, um an solchem keinen Mangel zu leiden, wenn der vor dem Sturme fliehende »Alert« noch viel weiter aufs Meer hinaus verschlagen würde.

Am Vormittag gelang es Will Mitz mit unerhörter Anstrengung, einen Schlag nach Südwesten zu erzwingen, was ihn wenigstens in der Breite der Antillen, und seiner Schätzung nach auf der Höhe von Barbados im mittleren Teile des Archipels hielt.

Er hoffte schon, die zweimal gerefften Marssegel, das Brigg- und das große Klüversegel auch weiter beibehalten zu können, als der Wind am Nachmittage an Stärke zunahm und etwas nach Nordwesten schralte.

Der »Alert« neigte sich manchmal so weit zur Seite, daß das Ende der großen Raa die Wellenkämme streifte und er große Mengen von Wasser übernahm.

Harry Markel und seine Leute unten mußten sich sagen, daß es oben schlecht stehe und dem Schiffe vom Sturm so arg mitgespielt werde, daß Will Mitz die Herrschaft darüber verlieren müsse. Wenn es zerstört zu werden drohe, werde man sich schon noch an sie wenden müssen.

Sie täuschten sich, und wenn der »Alert« zerstört würde, sollte er eher mit Mann und Maus verschlungen werden, als den Verbrechern nochmals in die Hände fallen!

Will Mitz erlahmte auch unter diesen grauenvollen Verhältnissen nicht, und es schien, als ob die jungen Passagiere die Gefahr nicht sehen wollten.

Allen Befehlen kamen sie mit ebensoviel Mut wie Geschicklichkeit nach, wenn es sich darum handelte, die Segelfläche zu verringern.

Das große Marssegel wurde, ebenso wie das Briggsegel, eingezogen und festgebunden. Der »Alert« lief nur noch unter dem kleinen Marssegel, das zweimal gerefft wurde, eine Arbeit, die durch das Vorhandensein doppelter Raaen auf dem Schiffe erleichtert wurde. Am Vorderteile ließ Will Mitz nur ein Klüversegel, und am Hinterteile, am Besan, ein dreieckiges Sturmsegel stehen, das fest genug war, auch den stärksten Winddruck auszuhalten. Und noch immer alles ringsum öde und leer! Kein Schiff zu sehen! Obendrein [374] wär' es ja auch ganz unmöglich gewesen ein solches anzulaufen, da man jetzt kein Boot aufs Meer setzen konnte.

Will Mitz sah bald ein, daß er darauf verzichten mußte, gegen den Sturm anzukämpfen. Es verbot sich unbedingt, scharf dagegen anzusegeln oder sich ihm gerade gegenüber zu stellen. Der »Alert« hatte aber »Flucht vor sich«, wie die Seeleute sagen, und lief nicht Gefahr, an eine Küste zu treiben, von der er nicht wieder hätte loskommen können. Vor ihm lag ja der ganze Atlantische Ozean, und in kurzer Zeit trennten ihn wahrscheinlich mehrere tausend Seemeilen von Westindien.

Bei luvwärts gelegtem Steuer drehte das Schiff unter dem furchtbarsten Schwanken, und nachdem es in die Richtung der Wellen gekommen war, schoß es mit Rückenwind pfeilschnell dahin.

Das ist aber besonders gefährlich, wenn ein Schiff nicht noch schneller läuft als die Wellen und dann immer einen Schwall von Wasser übernimmt. Die Handhabung des Steuers wird ebenfalls sehr gefährlich, und die dabei stehenden Leute müssen sich anseilen, um nicht über Bord gespült zu werden.

Trotz ihres Widerspruches veranlaßte Will Mitz die jungen Leute, sich in die Kajüte zurückzuziehen. Er werde sie schon rufen, wenn er ihrer bedürfte.

Und in der Kajüte, deren Wände knarrten und krachten, auf den Bänken zusammengekauert, wiederholt durchnäßt von dem Wasser, das vom Verdeck aus hereinsprudelte, sowie darauf beschränkt, sich mit Schiffszwieback und Konserven zu sättigen, verbrachten die jungen Leute den 25. September, den schrecklichsten Tag. den sie bisher erlebt hatten.

Dann kam die Nacht mit ihrer Finsternis und dem entsetzlichsten Getöse ringsumher. Der Orkan wuchs zu unvergleichlicher Heftigkeit an. Da drängte sich jedem die Frage auf, ob der »Alert« ihm wohl noch vierundzwanzig Stunden widerstehen, ob man nicht gezwungen sein werde, die Masten zu kappen, wenn das überhaupt gelang, um ihn vor dem Kentern zu bewahren, oder ob er nun nicht bald werde in die Tiefe gerissen werden.

Will Mitz stand jetzt allein am Steuer. Mit Gewalt bekämpfte er seine Müdigkeit und hielt den »Alert« bei den furchtbaren Schwankungen, die ihn quer gegen die Wellen zu werfen drohten.

Gegen Mitternacht bäumte sich eine Sturzwelle fünf bis sechs Fuß hoch über die Schanzkleidung auf und schlug mit solcher Gewalt auf das Deck, daß dieses zu bersten drohte. Weiter riß sie das am Heck hängende kleine Boot weg [375] und zertrümmerte alles, was sie traf, mehrere Baljen ebenso, wie die am Großmaste befestigten Wassertonnen. Dann riß sie das zweite Boot aus seinen Davits und schleuderte es weit aufs Meer hinaus.

Nun war nur noch ein einziges Boot übrig, das, in dem die Passagiere das erstemal zu entfliehen versucht hatten. Auch das hätte ihnen jetzt nichts nützen können, da es doch von dem Wogenschwalle im ersten Augenblick verschlungen worden wäre.

Bei den Stößen, die das Schiff bis zu den Mastspuren erzittern machten, stürmten Louis Clodion und einige andere wieder auf das Verdeck hinaus.

Da übertönte aber noch die Stimme des jungen Seemannes das Geheul des Sturmes.

»Zurück!... Zurück! rief er.

– Ist denn keine Aussicht mehr auf Rettung? fragte Roger Hinsdale.

– O, mit Gottes Hilfe doch noch, antwortete Will Mitz. Aber er allein kann uns jetzt retten!«

In diesem Augenblick ließ sich ein kreischendes Geräusch vernehmen. Eine weißliche Masse flatterte gleich einem Riesenvogel zwischen der Takelage. Das kleine Marssegel war von seiner Raa abgerissen worden und nur noch seine Leiken waren davon übrig.

Der »Alert« war hiermit in der Hauptsache ohne Segel, und da auch sein Steuer nicht mehr wirkte, wurde er, ein Spiel des Windes und der Wellen, mit entsetzlicher Geschwindigkeit nach Osten hin fortgerissen.

In welcher Entfernung von den Antillen mochte sich nun der »Alert« beim Tagesgrauen befinden? Da er vor dem Sturme hatte fliehen müssen, war diese gewiß auf mehrere hundert Seemeilen zu schätzen. Und wenn jetzt auch der Wind nach Osten umschlug und man Reservesegel setzen konnte, mußten doch viele Tage vergehen, ehe diese Strecke wieder zurück gelegt werden konnte.

Der Sturm schien indes nachlassen zu wollen. Der Wind räumte auch so unvermittelt, wie man das nur in Tropengegenden beobachtet hat.

Will Mitz schien anfänglich erstaunt über das Aussehen des Himmels. In den letzten Stunden war der Horizont im Osten reingefegt worden von den dicken Wolkenmassen, die ihn seit dem vorigen Tage bedeckt hatten.

Louis Clodion und seine Kameraden erschienen wieder auf dem Verdeck. Der Sturm schien offenbar seinem Ende nahe. Das Meer war freilich noch gewaltig [376] aufgeregt und es mochte wohl kaum ein Tag hinreichen, die jetzt noch mit weißem Schaum bedeckten, brodelnden Wellen zu beruhigen.

»Ja... ja... endlich erlöst!« sagte Will Mitz.

Voll Vertrauen und neuer Hoffnung hob er dabei die Hände gen Himmel, und die jungen Leute folgten dankerfüllt seinem Beispiele.

Jetzt galt es, sofort den geraden Weg nach Westen wieder einzuschlagen. Wo das Land auch lag, es mußte doch gefunden werden. Übrigens war der »Alert« ja nur von der Zeit an weiter hinausgetrieben worden, wo er bei [377] der Unmöglichkeit, noch länger zu kreuzen, hatte vor dem Sturme fliehen müssen.

Gegen Mittag war der Wind so weit gemäßigt, daß ein Schiff die Reffe losbinden und seine Marssegel nebst den unteren Segeln führen konnte.

Gleichzeitig mit dem Abflauen lief er mehr nach Süden um und begünstigte damit die Fahrt des »Alert«.


Gegen Mitternacht bäumte sich eine Sturzwelle hoch über die Schanzkleidung. (S. 375.)

Daraufhin wurden nun das kleine und das große Marssegel, das Brigg- und das Focksegel sowie die Klüversegel von neuem gehißt.

Damit verstrich die Zeit bis fünf Uhr nachmittags, denn es war keine leichte Arbeit, für das vom Sturm zerrissene Segel ein neues einzulegen, das man der Segelkoje auf dem Hinterdeck entnommen hatte.

In diesem Augenblick hörte man aus dem Frachtraume gellende Schreie, und gleichzeitig dröhnten Schläge gegen die Luken und die Wände des Volkslogis, als wollten Markel und seine Spießgesellen noch einmal einen Durchbruch nach außen zu erzwingen sachen.

Die jungen Leute eilten nach ihren Waffen und hielten sich bereit, sie gegen jeden zu gebrauchen, der etwa sichtbar werden würde.

Fast gleichzeitig rief aber auch Louis Clodion:

»Feuer im Schiffe!«

Wirklich drang schon aus dem Inneren Rauch empor, der bald das Deck einhüllte.

Jedenfalls hatten – wahrscheinlich aus Unvorsichtigkeit – einige von Brandy und Gin berauschte Gefangene verschiedene Frachtstücke in Brand gesetzt. Schon hörte man das Holzwerk im Raume knisternd und krachend zerspringen.

War diese Feuersbrunst noch zu löschen?... Vielleicht... wenn man die Luken öffnete und den Frachtraum überschwemmte. Damit wäre aber Harry Markel mit seiner Bande befreit worden und hätte sich des »Alert« wieder bemächtigen können. Statt die Flammen zu unterdrücken, hätten die Schurken die Passagiere abgeschlachtet und ins Meer geworfen.

Inmitten zunehmenden Geschreis wälzten sich immer dickere Rauchwolken über das Verdeck, dessen ausgepichte Fugen schon auseinander zu weichen anfingen. Gleichzeitig donnerten einige Explosionen, mehr unter dem Vorderteile, wo verschiedene Tonnen mit Alkohol lagerten. Die Gefangenen mußten in dem von der Luft abgeschlossenen Frachtraum schon halb erstickt sein.

[378] »Will, Will!« riefen John Howard, Tony Renault und Albertus Leuwen, indem sie diesem die Arme entgegenstreckten.

Es schien fast, als ob sie ihn um Erbarmen für Harry Markel und dessen Leute anflehen wollten.

Doch nein... das Wohl aller duldete hier keine Schwäche, kein menschliches Mitleid!

Außerdem war auch kein Augenblick zu verlieren gegenüber einer Feuersbrunst, die man nicht mehr bewältigen konnte und die in kurzer Zeit das ganze Schiff zu verzehren drohte. Jetzt galt es nur noch, den »Alert« zu verlassen, dessen frühere Besatzung mochte mit ihm zu Grunde gehen.

Das zweite Boot und die sonst am Heck hängende Jolle waren vom Sturm entführt worden; nur das an Steuerbord untergebrachte große Boot war noch übrig.

Will Mitz warf einen Blick auf das Meer, das sich schon etwas beruhigt hatte. Dann sah er auf den von züngelnden Flammen umringten »Alert«... noch ein Blick auf die von Schreck erstarrten jungen Leute, und dann rief er:

»Sofort... alle ins Boot!«

13. Kapitel
Dreizehntes Kapitel.
Aufs Geratewohl hinaus.

Diesmal handelte es sich nicht mehr darum, ein Schiff aufzusuchen, das einige Kabellängen oder wenige Seemeilen entfernt läge. Jetzt galt es nur, ein über und über brennendes Schiff zu verlassen. Mit der unsicheren Hoffnung, auf dem weiten Meere von einem anderen Fahrzeuge aufgenommen zu werden, sollte ein gebrechliches Boot allen etwaigen Gefahren zu trotzen versuchen.

Will Mitz traf in größter Eile alle Vorbereitungen zur Abfahrt und half das letzte Boot über Bord zu schaffen und aufs Wasser zu setzen.

[379] Im Frachtraum ertönte das Wut- und Angstgeschrei der zum Tode Verurteilten. Unaufhörlich hämmerten und rüttelten sie an den Luken und der Treppenkappe des Volkslogis. Es war auch nicht ausgeschlossen, daß die Gefangenen die Hindernisse doch noch durchbrechen oder sich durch eine Öffnung am Schiffsrumpfe ins Meer stürzen und dann wieder das Deck erklimmen könnten.

Was die Ursache der Feuersbrunst betraf, so mochte diese darin zu suchen sein, daß ein Faß mit Alkohol geborsten war und Morden oder ein anderer, der nicht recht bei Sinnen war, den Inhalt aus Unvorsichtigkeit entzündet hatte. Jetzt loderte das Feuer schon im ganzen Frachtraume vom Vorderteile bis zu der Scheidewand, die diesen vom Hinterteile trennte. Selbst wenn diese Wand nicht durchbrannte, mußte das Schiff doch soweit zerstört werden, daß von ihm nur noch verkohlte Trümmer auf dem Wasser umherschwammen.

Als das Boot niedergefiert und längs der Schiffswand angeseilt war, ließ Will Mitz alles hineinschaffen, was bei einer vielleicht längeren Irrfahrt gebraucht werden konnte. Louis Clodion und Albertus Leuwen, die schon hinuntergestiegen waren, reichte man zwei Kisten mit Konserven und Schiffszwieback aus der Kambüse zu, ferner das letzte Fäßchen Alkohol, zwei Tönnchen Süßwasser, einen tragbaren Kochofen, zwei Säcke Steinkohle, eine kleine Menge Tee, einige Waffen nebst Munition, und endlich wurden noch verschiedene Geräte aus der Küche und der Zeugkammer ins Boot verladen.

Gleichzeitig schafften Tony Renault und die anderen dessen Ausrüstung herbei, nämlich einen Mast mit Trissen, ein Segel mit der dazugehörigen Stange, ein Klüversegel, vier Ruder, ein Steuer, einen Kompaß und eine Übersichtskarte der Antillen. Dazu kamen noch mehrere Angelschnüre, da ja der Fall eintreten konnte, den vorhandenen Proviant durch den Fischfang zu ergänzen.

Nun stieg Patterson als erster in das Boot ein. Der arme, durch so viel Ungemach ganz zusammengebrochene Mann dachte nicht mehr an seine Trigonocephale, die von den Flammen vernichtet werden sollte, und auch nicht mehr an die unübersetzbaren Worte des lateinischen Citates. Ihn erfüllte nur die Angst, sich dem Meere in einem Boote anvertrauen zu müssen, in das Will Mitz noch Kleidungsstücke zum Wechseln, Wachsleinwandjacken, Decken und eine Presenning hinabwarf, mit der man eine Art Zelt oder Schutzplane herstellen konnte.

Diese Vorbereitungen waren binnen einer Viertelstunde beendet, während sich das Geschrei unten verdoppelte und die Flammen schon an den Masten und der Takelage emporzüngelten.

[380] Jeden Augenblick fürchtete man einen aus dem brennenden Raume Entwichenen auftauchen zu sehen, ein halb verbranntes Gespenst, das sich aus der Glut gerettet hätte.

Es war jetzt die höchste Zeit, den »Alert« zu verlassen. Nichts war vergessen worden, doch rief Niels Harboe, als Will Mitz eben als letzter einsteigen wollte:

»Aber die Prämien... das Geld?

– Ja, antwortete Will Mitz, das Geld ist das von unserer Wohltäterin. Das müssen wir mitnehmen, sonst geht es verloren mit dem Schiffe, von dem nichts übrig bleiben wird.«

Nach der Kajüte zurückeilend, ergriff er das Packet mit dem Gelde, das in der Kabine des Mentors niedergelegt worden war. Dann kletterte er gewandt über die Reling, ließ sich ins Boot hinab und rief:

»Abstoßen!«

Das Seil wurde losgeworfen und das Boot entfernte sich in der Richtung nach Westen.

Kaum war es davongefahren, da erfolgte eine Explosion infolge des Druckes der im Frachtraume übermäßig erhitzten Luft. Sie war so heftig, daß der aus seiner Spur gehobene Fockmast mit der ganzen Takelage des Vorderteiles nach Backbord umstürzte. Gleichzeitig neigte sich der »Alert« sehr stark zur Seite, richtete sich aber sofort wieder auf, so daß das Wasser, das die Flammen vielleicht gelöscht hätte, nicht in das Innere des Schiffes einströmen konnte.

Noch wurde keiner der Leute Harry Markels auf den Verdecke sichtbar. Entweder waren sie bereits erstickt oder sie hatten sich durch den Rauch und die Flammen noch nicht Bahn brechen können.

Es war jetzt halb sechs Uhr abends, der Wind wehte so gleichmäßig, daß man das Segel des Bootes hissen konnte, das bei dessen Auffrischen ja leicht wieder zu bergen war. Tony Renault setzte es also ebenso wie das Klüversegel bei. Will Mitz bediente das Steuer, die Ruder wurden aus den Pflöcken gehoben und hereingenommen. Um die größtmögliche Schnelligkeit noch ohne Gefährdung der Sicherheit zu erreichen, ließ man die Schote des Segels etwas nach und das Boot glitt nun geschwind auf der Oberfläche des Meeres hin.

Will Mitz befand sich erst eine halbe Meile von dem »Alert« entfernt, als auch dessen beide anderen Maste umbrachen, nachdem das Feuer deren Wanten und Pardunen zerstört hatte. Das jetzt einem Ponton ähnliche Schiff [381] neigte sich tief zur Seite, richtete sich diesmal aber nicht wieder auf. Nach und nach drang immer mehr Wasser durch die Schanzkleidung ein. An der höher stehenden Seite zeigten sich jetzt mehrere Leute, darunter auch Harry Markel, und noch einmal flammte ein wütender Blick in seinen Augen auf, als er das Boot so fern sah, daß es auf keine Weise erreicht werden konnte.

Endlich senkte sich der »Alert« weiter und verschwand bald in der Tiefe. Gott hatte die Piraten vom »Halifax« gerichtet, die der irdischen Gerechtigkeit entgangen waren. Von dem Fahrzeuge war nichts mehr übrig, als unförmige Stücke der Maste, die hier-und dorthin trieben.

Als die jungen Passagiere den »Alert« untergehen sahen, bemächtigte sich ihrer eine tiefe Erregung, so daß sich aller Augen mit Tränen füllten.

Hatte sich der Sturm nun auch schon seit zwölf Stunden gelegt, so war die Lage jetzt doch kaum minder gefährlich.

Das vom Bug bis zum Heck dreißig Fuß lange und in der Mitte fünf Fuß breite Boot reichte zwar für die elf Insassen aus, da es aber kein Verdeck hatte, bot es nicht den geringsten Schutz gegen Regen und Wind und konnte sich gar zu leicht mit Wasser füllen.

Will Mitz breitete deshalb zwischen dem Maste und dem Hintersteven die Presenning von einem Rande zum anderen so aus, daß sie, von einigen Spieren gehalten, ein Dach bildete, worunter drei Personen Platz fanden.

Louis Clodion und Roger Hinsdale bemühten sich gleichzeitig, dem Kompaß und den Kisten mit Zwieback und Konserven auf dem Boden des Fahrzeuges einigen Schutz zu beschaffen.

Der mitgenommene Proviant reichte, von der Ausbeute durch Fischfang abgesehen, gut für zehn Tage, und an Süßwasser war für eine Woche genug vorhanden, wenn inzwischen auch kein Regenfall eine Ergänzung des Vorrates lieferte.

War nun zu erwarten, daß man in dieser Zeit auf ein Land, auf die Antillen oder die Bermudasinseln traf?

Nein, das wohl kaum. Der »Alert« war mehr nach Südosten zu aufs offene Meer und damit nur weiter von den Bermudasinseln verschlagen worden. Will Mitz beabsichtigte auch, eher nach einer der Inseln Antiliens oder nach der festländischen Küste von Brasilien, Venezuela oder Guyana zu steuern.

Mehr Hoffnung setzte er jedoch noch darauf, durch ein ihm begegnendes Schiff gerettet zu werden. So war also die Lage der Dinge am Abend des 26. Septembers. Die Nacht kam heran und bald mußte es ganz dunkel werden.

[382] Nach Sonnenuntergang hatte der Himmel sein freundliches Aussehen behalten; nur ein schwacher Nebelschleier lag auf dem Wasser, Wolken zeigten sich dagegen weder im Osten noch im Westen. Das Meer glättete sich noch weiter, so daß jetzt nur eine lange Dünung bemerkbar war. Dazu wehte ein mäßiger Passat, der das Segel beizubehalten erlaubte. Da gerade Neumond war, würde es in der Nacht zwar recht dunkel bleiben, dafür schimmerte aber im Norden der Polarstern wenige Grade über dem Horizonte.

Anfangs hatten sich Louis Clodion und seine Kameraden zu rudern erboten, wobei sie sich Stunde für Stunde ablösen wollten; Will Mitz bedeutete sie aber, daß das jetzt unnötig sei und daß sie ihre Kräfte für dringendere Fälle sparen sollten.

»Der Wind ist stetig, sagte er, und verspricht das auch noch längere Zeit zu bleiben. Zum Rudern wird es Zeit sein, wenn eine Windstille eintritt, wo wir darauf halten müssen, von der Stelle zu kommen, um bald einem Schiffe zu begegnen.

– Sagen Sie, Will, fragte Roger Hinsdale, wie weit sind wir jetzt wohl von dem nächsten Lande entfernt?

– Mindestens vierhundert Seemeilen.

– Und wie viel kann unser Boot bei mittlerer Windstärke zurücklegen? setzte Louis Clodion hinzu.

– In vierundzwanzig Stunden etwa sechzig Meilen.

– Dann hätten wir also sechs bis sieben Tage lang zu segeln? sagte Albertus Leuwen.

– Jawohl, bestätigte Will Mitz, wenn wir nicht vorher an Bord eines Schiffes Aufnahme gefunden haben.«

Das wäre freilich die glücklichste Lösung gewesen und auch die, auf die am meisten zu rechnen war.

»Auf jeden Fall, Will, nahm Louis Clodion wieder das Wort, schonen Sie uns nicht! Wir stehen Ihnen zur Verfügung, sobald der Wind zu schwach werden sollte.

– Das weiß ich, liebe junge Herren, antwortete Will Mitz, und ich verzweifle auch keineswegs daran, Sie noch alle retten zu können. Es ist aber nutzlos, sich ohne Notwendigkeit anzustrengen. Strecken Sie sich im Boote unter der Presenning aus und schlafen Sie ruhig. Wenn ich Sie brauche, werd' ich Sie schon wecken. Ich hoffe übrigens, die Nacht werde ganz ruhig verlaufen.

[383] – Sie wünschen also nicht, daß einer von uns an der Schote des Segels bleibt? ließ sich Axel Wickborn vernehmen.


Diese Vorbereitungen waren binnen einer Viertelstunde beendet. (S. 380.)

– Das ist nicht unbedingt nötig, Herr Axel, ich werde schon alles besorgen. Ich wiederhole Ihnen, wenn der Wind gänzlich aufhören und das uns zwingen sollte, nach den Rudern zu greifen, so rufe ich Sie. Folgen Sie mir nur: hüllen Sie sich in die Decken und schlafen Sie bis morgen früh!«


In den Augen Harry Markels flammte ein wütender Blick auf. (S. 382.)

Die jungen Leute taten, was Will Mitz empfohlen hatte. Zwei von ihnen schlüpften unter die Plane, wo Patterson lag, die anderen streckten sich, so gut [384] [387]es an ging, auf den Bänken aus, und bald schliefen alle an Bord. Will Mitz, der nun allein im Hinterteile stand, hielt mit der einen Hand das Steuer und war mit der anderen bereit, die Schoten des Segels und des Klüvers anzuziehen oder nachzulassen. Eine kleine, vor ihm stehende Laterne beleuchtete den Kompaß, so daß er es sehen konnte, wenn das Boot aus dem richtigen Kurse wich.

So vergingen die langen Stunden, ohne daß Will Mitz auch nur eine Minute die Augen zugetan hatte. Zu viele Gedanken, zu viele Sorgen erfüllten den wackeren jungen Seemann. Sein unerschütterliches Vertrauen auf Gott ließ ihn aber nicht verzweifeln. Er stand jetzt am Heck des Bootes ebenso, wie vergangene Nacht auf dem Hinterkastell des »Alert«, und lenkt das eine ebenso mit fester Hand, wie er den andern gelenkt hatte. An die Stelle des festen Fahrzeuges, das ihn und seine Begleiter vorher trug, war jetzt ein gebrechliches Boot getreten, mit einem Proviantvorrat, den eine Woche erschöpfen mußte, ein Boot, worin sie allen Zufälligkeiten der Schiffahrt, allen Gefahren des Meeres preisgegeben waren.

Da die Brise leicht und regelmäßig blieb, hatte Will Mitz keine Ursache, seine kleine Welt zu wecken. Dann und wann richtete sich davon wohl einer auf und fragte, wie es stände.

»Alles gut... alles nach Wunsch«, antwortete er dann ruhig.

Dann streckten sich die Frager wieder in ihre Decken gehüllt aus und überließen sich einem friedlichen Schlummer.

Mit dem Morgenrote waren alle auf den Füßen, selbst Patterson, der unter dem Schutzdache hervorkroch und sich im Vorderteile des Bootes niedersetzte.

Der Tag versprach schön zu werden. Die Sonne erhob sich über einem von leichtem Nebel verdeckten Horizonte, den ihre ersten Strahlen davon befreien mußten. Ein leichtes Wellenkräuseln lag auf der Meeresfläche und wie schmeichelnd klatschte das Wasser an die Längswand des Bootes.

Seiner Gewohnheit entsprechend machte sich Tony Renault sofort an die Zubereitung des Frühstückes, wie er das auf dem »Alert« immer getan hatte, und sorgte für Tee, den er auf dem tragbaren Ofen kochte. Dann entnahm er einer Kiste den nötigen Schiffszwieback und auch ein wenig Brandy, der dem Trinkwasser beigemischt wurde.

Jetzt wandte sich Roger Hinsdale an Will Mitz.

[387] »Nun müssen Sie aber schlafen, sagte er, das ist notwendig, vor allem, wenn Sie die nächste Nacht wieder am Steuer bleiben wollen.

– Ja, es ist unbedingt nötig,« setzte Louis Clodion hinzu.

Will Mitz ließ die Blicke über den Horizont schweifen, und da er das Meer so ruhig und den Wind so stetig sah, antwortete er:

»Gut; ich werde zwei Stunden schlafen«

Damit überließ er das Steuer an Magnus Anders, nachdem er ihm noch einige Anweisungen gegeben hatte, und dann begab er sich unter das Schutzdach.

Zwei Stunden später erschien er, seinen Worten getreu, schon wieder und trat an das Heck des Bootes.

Sobald er sich hier überzeugt hatte, daß dieses richtig steuerte, beobachtete er aufmerksam den Himmel und das Meer.

Der Zustand der Atmosphäre hatte sich nicht geändert. An reinem Himmel stieg die Sonne dem Zenit entgegen. Die Temperatur wäre, im Verein mit der Spiegelung der Sonnenstrahlen auf dem Wasser, recht unerträglich gewesen, wenn die frische Seeluft sie nicht einigermaßen gemildert hätte.

Soweit man aber auch sehen konnte, nirgends zeigte sich weder die weiße Silhouette eines Segels, noch die schwarze Rauchsäule eines Dampfers. Vergeblich durchmaßen die Fernrohre die ungeheure Kreisfläche.

Zu dieser Jahreszeit befahren gewöhnlich zahlreiche englische, französische, amerikanische oder deutsche Schiffe die Meeresteile zwischen den Bermudasinseln im Norden und dem Archipel von Westindien im Westen. Nur selten vergeht da ein Tag, wo nicht Schiffe einander begegnen.

Will Mitz fragte sich jetzt auch, ob der Sturm den »Alert« nicht viel weiter hinaus, als er es annahm, und bis in eine Entfernung verschlagen habe, die vielleicht erst in zwei bis drei Wochen zu durchmessen war. Dann würde der Proviant aber lange vorher schon erschöpft sein, und bezüglich der Nahrung wären sie ausschließlich auf den Ertrag des Fischfangs, ihren Durst zu löschen aber auf den gelegentlichen Regen angewiesen gewesen.

Diese beunruhigenden Gedanken behielt Will Mitz jedoch für sich und heuchelte vielmehr eine Vertrauensseligkeit, die ihn doch mehr und mehr verließ.

Der Morgen verging ohne jede Veränderung der Sachlage, nur war noch eine Art Leesegel beigesetzt worden, wodurch der Rückenwind den Lauf des Bootes noch etwas beschleunigte.

[388] Das zweite, etwas reichlichere Frühstück bestand aus Schiffszwieback, Dörrfleisch und konserviertem Gemüse, das nur aufgewärmt zu werden brauchte, und als Getränk gab es dazu noch Tee. Patterson gewöhnte sich an die jetzige Lage und aß schon mit einigem Appetit. Die jungen Leute entwickelten einen wahren Heißhunger, Will Mitz krampfte sich aber das Herz zusammen, wenn er die Leiden bedachte die bei einer größeren Verzögerung der Fahrt allen noch bevorständen.

Am Nachmittage lieferten die nachgeschleppten Angelschnüre einige Fische, die, in Seewasser abgekocht, die Abendspeisekarte vervollständigten.

Dann kam die Nacht. Vor Sonnenuntergang war noch kein Segel zu sehen gewesen. Will Mitz, der bis zum Morgen am Steuer bleiben wollte, nötigte Louis Clodion und dessen Kameraden, wie in der letzten Nacht ruhig zu schlafen.

Am nächsten Tage, am 28. September, frischte der Wind, der zwischen Untergang und Aufgang der Sonne etwas schwächer geworden war, nach und nach wieder auf, so daß das Leesegel im Laufe des Vormittags wieder eingezogen werden mußte. Das Boot schnitt bei seiner Geschwindigkeit ziemlich tief ins Wasser ein und es wurde immer schwieriger, gelegentliche Gierschläge zu vermeiden. In der Voraussicht, daß, es nötig werden würde, die Segelfläche noch mehr zu verkleinern, gönnte sich Will Mitz nicht einmal zwei Stunden Schlaf.

Der Wind schien um so mehr stetig zu bleiben, als der tiefblaue Himmel jetzt vollständig wolkenlos war. Obgleich die Sonne nach dem Äquinoctium einen kürzeren Tagesbogen beschrieb, erzeugten ihre schrägen Strahlen doch noch eine sehr starke Hitze. Dabei mußte an Süßwasser möglichst gespart werden, da der schon zur Hälfte erschöpfte Vorrat an solchem nur durch Regenfälle ergänzt werden konnte. Das Wasser konnte also nur noch in Rationen abgegeben werden, doch nahm das jeder ohne zu klagen hin.

An diesem Tage erschien gegen drei Uhr nachmittags im Nordosten wieder ein langer Rauchstreifen, der die Hoffnung erweckte, einem Schiffe zu begegnen.

Leider sollte die Hoffnung nur kurz sein. Wohl tauchte bald ein großer Dampfer auf, doch vom Boote in der Entfernung von zehn Seemeilen. Seine Aufmerksamkeit zu erregen erwies sich als unmöglich, und Will Mitz überzeugte sich auch, daß der Dampfer ihren Weg nicht kreuzen werde. Nach einer Stunde[389] hatte dieser das Boot auch schon weit überholt, und bald sah man von ihm nur noch die letzten, vom Winde weitergetragenen Rauchwirbel.

Vor dem Abendessen singen Tony Renault, Hubert Perkins und Albertus Leuwen noch einige Fische, die wie vorher zubereitet wurden. Jetzt mußte man auch schon mit dem Kohlenvorrat sparsam umgehen.

Am nächsten Tage ging die Fahrt fast ganz unter gleichen Verhältnissen weiter, nur war der Wind etwas mehr nach Norden umgeschlagen, so daß man die Schoten anziehen und nun mit Seitenwind segeln mußte.

Die Geschwindigkeit des Bootes wurde dadurch zwar nicht verändert, es legte sich aber wiederholt so stark auf die Seite, daß sein Rand in gleicher Ebene mit dem Wasser lag.

Will Mitz blieb am Steuer und sorgte dafür, daß es kein Wasser übernahm, während Tony Renault die Schote nach Bedarf nachschießen ließ.

Am meisten beunruhigte es Will Mitz, daß die jungen Leute seine Besorgnis, die er doch immer zu verbergen suchte, zu erraten und zu teilen anfingen.

Vor allen schien der minder ausdauernde Patterson sich nicht mehr so aufrecht zu halten, wie bisher. An der Seekrankheit litt er zwar nicht, dagegen schüttelte ihn ein leichtes Fieber mit wahrhaft verzehrendem Durste. Diesen zu befriedigen, war jeder gern bereit, ihm seine schon knapp bemessene Wasserration abzutreten. Was hätte man auch beginnen sollen, wenn er schwerer erkrankte und etwa gar delirierte... eine naheliegende Befürchtung, da er schon jetzt ganz unzusammenhängende Worte murmelte.

Auch Axel Wickborn und Hubert Perkins wurden zuweilen von einer solchen Schwäche befallen, daß sie sich nicht mehr auf den Bänken halten konnten. Ihr blasses Gesicht, ihre hohlen Augen und etwas irren Blicke verrieten, daß es mit ihrer Kraft zu Ende war, und man mußte ihnen neben Patterson ein Lager bereiten.

Die Nacht vom 28. zum 29. September brachte Will Mitz noch mehr Angst und Sorge. Roger Hinsdale, Tony Renault und Magnus Anders, die bisher die größte Energie bewiesen hatten, schienen das Schicksal der Erstgenannten teilen zu sollen. Obendrein zeigte der Wind, der bis jetzt der Fahrt des Bootes günstig gewesen war, entschieden Neigung abzuflauen.

Am meisten zu fürchten war jetzt eine Windstille, deren Ende niemand absehen konnte. Das gab neue Verzögerungen, wo der Proviant sich doch [390] jeden Tag verminderte und das Trinkwasser, von dem nur noch wenige Pinten übrig waren, bald gänzlich fehlen mußte.

Das Boot hatte den »Alert« am Abend des 26. verlassen. Seit vier Tagen irrte es nun aufs Geratewohl auf dem öden Meere umher, und als Louis Clodion fragte, wie viele Meilen es nach Westen hin wohl zurückgelegt haben möchte, antwortete Will Mitz:

»Vielleicht hundertfünfzig...

– Hundertfünfzig Meilen, rief John Howard, und wir sehen noch immer kein Land!

– Liegt denn überhaupt kein Land nach dieser Seite?« murmelte Niels Harboe.

Will Mitz war um eine Antwort verlegen. Land gab es in jener Richtung, doch in welcher Entfernung, ließ sich unmöglich abschätzen.

Waren jetzt Lebensmittel noch für einige Tage vorhanden, so mußte das Trinkwasser schon nach achtundvierzig Stunden zu Ende gehen, wenn inzwischen kein Regen kam.

Bei dem durchweg heiteren Himmel war darauf leider wenig Aussicht. Der nach Norden umgeschlagene Wind brachte nicht das kleinste Wölkchen. Das Boot trieb dabei auch mehr nach Süden ab, und da konnte es nicht auf die amerikanische Küste treffen, denn nach dieser Seite lag vor ihm der ungeheure Ozean bis hinunter zum antarktischen Meere.

In der Nacht vom 29. zum 30. September legte sich der Wind noch weiter und bei Tagesanbruch schlug das schlaff hängende Segel gegen den Mast.

Mit Verzweiflung im Blicke starrten auch die Mutigsten auf die Wasserwüste hinaus.

Selbst Will Mitz konnte, die Hände faltend, nur noch die Vorsehung um Hilfe anrufen:

»Herr, mein Gott, flehte er, erbarme dich unser!«

Der Tag verging ohne jede Veränderung und trotz der glühenden Hitze mußte unausgesetzt gerudert werden. Dazu waren nur noch vier, Louis Clodion, Tony Renault, John Howard und Magnus Anders, einigermaßen fähig. Von den Strapazen erschöpft und vom Fieber gepackt, lagen ihre Kameraden auf dem Grunde des Bootes, und nun sollte es ihnen obendrein an Trinkwasser fehlen...

[391] Will Mitz bewahrte sich jedoch seine Tatkraft, um auch seine jungen Begleiter zu ermutigen. Er verließ nur das Steuer, wenn er selbst zum Ruder griff. Vergebens hoffte er auf den Wiedereintritt des Windes. Die wenigen Wolken am Horizont lösten sich stets sofort wieder auf. Das Segel hing ganz schlaff herunter und wurde nur nicht abgenommen, weil es wenigstens einigen Schutz gegen die brennenden Sonnenstrahlen gewährte.

In dieser Weise konnte es nicht mehr lange fortgehen.

Schon in der Nacht vom 1. zum 2. Oktober singen einige der armen jungen Leute an, irre zu reden. Sie weinten... riefen nach ihrer Mutter, und wenn Will Mitz sie nicht scharf im Auge behalten hätte, wären sie, eine Beute der schrecklichsten Wahnvorstellungen, wohl ins Meer gesprungen.

Endlich kam der Tag... sollte es für den und jenen von ihnen vielleicht der sein, der sie von ihren Leiden für immer erlöste?

Plötzlich ertönte ein Ausruf, ein Freudenschrei, der über Louis Clodions Lippen kam:

»Ein Schiff in Sicht!«

14. Kapitel
Vierzehntes Kapitel.
Das Ende der Reise.

Der auf der Fahrt von Dominique nach Liverpool befindliche Dampfer »Viktoria« glitt eben in dreihundertfünfzig Seemeilen Entfernung von den Antillen dahin, als seine Wachtposten das Boot des »Alert« bemerkten.

Der davon unterrichtete Kapitän John Davis gab sofort Befehl, auf das kleine Fahrzeug zuzusteuern, ob dieses nun ausgesetzt worden wäre oder Unglückliche trüge, die sich aus einem Schiffbruche gerettet hätten.

In dem Augenblicke, wo Louis Clodion den Ruf »Ein Schiff!« ausstieß, hatten sich auch schon Will Mitz und zwei oder drei andere aufgerichtet und streckten die Arme nach dem Dampfer hin aus.

[392] [395]Selbst die Geschwächtesten gewannen einige Kräfte wieder, und der Kapitän der »Viktoria« brauchte nicht erst ein Boot auszusetzen, sie aufzunehmen. Mit Will Mitz und Louis Clodion an den Rudern und Tony Renault am Steuer, lag das Boot bald an der Längsseite des Dampfers. Man warf ihm ein Seil zu und ließ die Fallreepstreppe hinunter. Fünf Minuten später waren alle Passagiere des »Alert« an Bord der »Viktoria«, wo sie höchst freundlich aufgenommen wurden und die ihnen so nötige Pflege fanden.


Selbst die Geschwächtesten gewannen einige Kräfte wieder. (S. 395.)

Endlich sahen sie sich also gerettet, die Pensionäre der Antilian School, die Stipendiaten der Mistreß Kathlen Seymour, mit ihnen auch Herr Horatio Patterson und Will Mitz, dem sie so viel zu verdanken hatten.

Louis Clodion berichtete, was sich seit der Abreise von Barbados zugetragen hatte. Der Kapitän der »Viktoria« erfuhr auch, unter welchen Verhältnissen die erste Überfahrt erfolgt war, als sich der »Alert« noch in den Händen Harry Markels und seiner Verbrecherrotte befand. Er hörte ferner von der Besuchsreise durch die kleinen Antillen und wie Will Mitz die Pläne der Schurken entdeckt hatte, wie seine Begleiter und er von dem brennenden Schiffe hatten fliehen müssen, und endlich wie die Fahrt des Bootes in den letzten Tagen verlaufen war.

Der »Alert«, den man an diesem Datum schon im zweiten Drittel seiner Rückfahrt glaubte, war also mit den Piraten vom »Halifax«, den aus dem Gefängnis in Queenstown entwichenen Verbrechern, im Atlantischen Meere untergegangen.

Im Namen seiner Kameraden und mit tief erregter Stimme dankte Louis Clodion dann dem jungen Seemanne für alles, was er für sie getan hatte. Alle drückten auch, mit Tränen des Dankes im Auge, Will Mitz innig in die Arme.

Die »Viktoria« war ein Kohlenschiff von zweitausendfünfhundert Tonnen, das nach Ablieferung einer Ladung Steinkohlen in Dominique, eben auf der Rückfahrt nach Liverpool begriffen war. Die Passagiere sollten mit ihm also geraden Weges nach England kommen. Da die »Viktoria« bequem ihre fünfzehn Seemeilen in der Stunde zurücklegte, erfuhr die Rückkehr Pattersons und der jungen Preisträger voraussichtlich kaum eine Verzögerung um eine Woche.

Es braucht wohl nicht hervorgehoben zu werden, daß von diesem Tage an keiner von ihnen bei der vortreffliche Pflege, die sie genossen, noch etwas von den Seelenqualen und den physischen Leiden, von den schrecklichen Prüfungen [395] verspürte, die sie zu bestehen gehabt hatten. Das verblich schon fast in ihrer Erinnerung. Alle fühlten sich schon so befriedigt, so glücklich, den Gefahren der zweiten Fahrt und den Leiden nicht länger ausgesetzt zu sein, die sie an Bord des Bootes auf dem Atlantischen Ozean hatten erdulden müssen.

Bei einem längeren und interessanten Gespräche Pattersons mit dem Kapitän der »Viktoria«, in dem die Erscheinungen der beiden Ungeheuer, Harry Markels und der Schlange von Martinique, ineinanderflossen, äußerte sich der Mentor folgendermaßen:

»Entschieden, Herr Kapitän, tut man immer gut daran, die peinlichsten Vorsichtsmaßregeln zu treffen, ehe man eine Reise antritt!... Suave mari magno es ist wohltuend, wie Lukrez sagt, wohltuend, wenn das Meer unruhig ist, sich zu erinnern, daß man seiner Pflicht genügt hat. Was in aller Welt wäre geschehen, wenn ich in die Tiefe des Ozeans versunken... wenn ich nicht nach dem Heimathafen zurückgekehrt wäre... wenn man lange Jahre nichts von dem Verwalter der Antilian School gehört hätte?... Meine Gattin freilich hätte von den letzten, von mir getroffenen Verfügungen Gebrauch machen können, doch, Gott sei Dank, nun. komme ich ja rechtzeitig zurück und jene Verfügungen brauchen nicht rechtskräftig zu werden! Finis coronat opus!«

Wahrscheinlich begriff der Kapitän der »Viktoria« nicht ganz, was ihm der Mentor, lateinisch und in seiner Muttersprache, bezüglich der Frau Patterson sagte; er verzichtete jedoch auf eine nähere Erklärung und beglückwünschte nur seinen neuen Passagier, über so viele Unfälle triumphiert zu haben.

Patterson war jetzt offenbar, geistig und leiblich, wieder der alte. Da erinnerte er sich nun auch des berühmten lateinischen Citats, dessen Übersetzung ihm immer noch nicht gelungen war. Tony Renault wollte ihm die Sache aber nicht schenken, und brach am nächsten Tage eine Gelegenheit, darauf zurückzukommen, vom Zaune.

»Na, Herr Patterson, wie stehts denn mit Ihrer Übersetzung? begann er.

– Mit der Ihres lateinischen Satzes?

– Jawohl... mit dieser.

Letorum rosam angelum?

– Nein, nein, korrigierte ihn Tony Renault, rosam angelum letorum.

– Auf die Stellung der Worte kommt doch nichts an...

– O, bitte, Herr Patterson, sogar sehr viel!

– Nun, das ist spaßhaft!

[396] – Ja... wie Sie sagen. Sie haben die Lösung also nicht gefunden?

– Ich habe gefunden, daß die Worte überhaupt nichts bedeuten.

– Ein Irrtum!... Freilich habe ich Ihnen zu sagen vergessen, daß sie nur ins Französische übersetzt werden können.

– Nun, werden Sie mir endlich deren Sinn erklären?

– Nicht eher, als bis wir in Sicht der englischen Küste sind!«

In den folgenden Tagen mühte sich Patterson emsig mit den wahrhaft kabalistischen Worten ab. Ein Lateiner wie er in Verlegenheit!...

Sobald der Ruf »Land!« erscholl, forderte der gequälte Gelehrte Tony Renault auf, ihm die unverständlichen Worte zu erklären.

»Das ist sehr einfach, erwiderte der junge Witzbold der Antilian School.

– Nun also?...

Rosam angelum letorum bedeutet in gutem Französisch genau: Rose a mangé l'omelette au rhum« (Rosa hat die Omelette mit Rum gegessen).

Patterson verstand das nicht sofort, doch als ihm ein Licht aufging, schnellte er, wie von einem elektrischen Schlage getroffen, mit allen Zeichen des Schreckens in die Höhe.

Nach einer glücklichen Überfahrt lief die »Viktoria« am 22. Oktober in den Sankt-Georgskanal ein, und noch an demselben Abend legte sie bei dem Dock in Liverpool an.

An den Direktor der Antilian School und an die Familien der jungen Pensionäre wurden sofort Depeschen mit der Meldung ihrer Rückkehr abgesendet.

Noch am Abend berichteten mehrere Zeitungen die Vorgänge, deren Schauplatz der »Alert« gewesen war, und schilderten, unter welchen Umständen Horatio Patterson und die jungen Preisträger nach England zurückgekehrt wären.

Diese Mitteilungen fanden einen weiten Widerhall, und eine große Erregung rief es hervor, als man die Einzelheiten dieses Dramas erfuhr, das in der Bai von Cork mit der Ermordung des Kapitäns Paxton und seiner Mannschaft begonnen, und weit draußen auf dem Ozean mit dem Untergange Harry Markels und seiner Spießgesellen seine Lösung gefunden hatte.

Gleichzeitig wurde durch Herrn Ardagh auch Mistreß Kathlen Seymour von den Vorfällen in Kenntnis gesetzt, und man kann sich ja leicht vorstellen, was die freigebige, edle Dame empfand, als sie alles er fuhr. Was wäre ja geschehen, wenn sie nicht den Gedanken gehabt hätte, die Überfahrt des wackern [397] Will Mitz an Bord des »Alert« zu vermitteln! Und wie dankerfüllt war sie für den jungen Seemann, der jetzt zum Helden des Tages geworden war! Jetzt, in Liverpool, hatte Will Mitz nun nur noch seine Stellung als Obersteuermann auf der »Elisa Warden« anzutreten.

Nachdem Patterson und seine Pensionäre dem Kapitän der »Viktoria« nochmals den herzlichsten Dank für seine Menschenfreundlichkeit abgestattet hatten, benutzten sie den nächsten Nachtzug und trafen am anderen Tage in der Antilian School ein.

An diesem Tage schlossen gerade die Ferien, und nun vergegenwärtige man sich den Empfang, den die Zurückgekehrten nach ihrer abenteuerreichen Reise fanden. Jeder wollte alles haarklein erfahren, und noch lange Zeit, in den Erholungsstunden vielleicht immer, sprach man von dieser gefährlichen Fahrt. Doch trotz der vielen Gefahren, denen die Passagiere des »Alert« mit großer Not entgangen waren, bedauerten sehr viele ihrer Kameraden, diese nicht haben teilen zu können. Wenn noch einmal ein Wettbewerb mit der Aussicht auf Reisestipendien veranstaltet würde, fehlte es diesem an Teilnehmern gewiß nicht.

Freilich war es ja ausgeschlossen, daß gleich wieder eine Bande von Seeräubern bei der Hand wäre, sich des Schiffes zu bemächtigen, das dann zur Beförderung der jungen Preisträger bestimmt wäre.

Jetzt drängte es natürlich alle, ihre Familien wiederzusehen, von denen sie ja sehnsüchtig erwartet wurden, und wie wenig hätte daran gefehlt, daß sie von den Antillen überhaupt niemals zurückgekehrt wären!

Abgesehen von Hubert Perkins, dessen Eltern auf Antigoa waren, und von Roger Hinsdale, dessen Familie in London wohnte, fuhren John Howard, Louis Clodion, Tony Renault, Niels Harboe, Axel Wickborn, Albertus Leuwen und Magnus Anders mit der ersten Gelegenheit nach Manchester, Paris, Nantes, Kopenhagen, Rotterdam und Gothenburg ab, um daselbst einige Tage vor ihrem Wiedereintritt in die Antilian School zu verbringen.

Diese Geschichte hätte keinen richtigen Abschluß, wenn sie nicht ein letztes Mal auf Horatio Patterson zurückkäme.

Selbstverständlich war der Augenblick, wo die beiden Gatten einander in die Arme fielen, höchst rührender Natur. O, Frau Patterson konnte sich gar nicht vorstellen, daß ihr Ehegatte, dieser ordnungsliebende, gesetzte, allen schlimmen Möglichkeiten aus dem Wege gehende Mann, derartigen Fährnissen ausgesetzt gewesen und doch so glücklich davongekommen wäre! Jedenfalls erklärte aber [398] der vortreffliche Verwalter, daß er niemals wieder eine solche Reise mit ihren tausend Gefahren wagen werde. Vielleicht wäre er dann zuletzt nicht ebenso vom Glück begünstigt...non bis in idem, und Frau Patterson erkannte die Richtigkeit dieses juristischen Grundsatzes widerspruchslos an.

Als Patterson seiner Frau die siebenhundert Pfund einhändigte, die er auf Barbados als Prämie erhalten hatte, gab er seinem lebhaften Bedauern Ausdruck, diesen nicht auch die berühmte Trigonocephale beifügen zu können, die nun in der dunkeln Tiefe des Atlantischen Ozeans ruhte. Welch herrliche Wirkung hätte die große Schlange, wenn auch nicht in dem Salon des Verwalters, so doch im naturwissenschaftlichen Kabinett der Antilian School hervorgebracht!

»Wir haben nun, schloß Patterson seine Worte, bloß noch dem hochwürdigen Herrn Finbook von dem Kirchspiele, zu dem die Oxfordstreet gehört, Nachricht zu geben.«

Frau Patterson konnte sich eines Lächelns nicht erwehren.

»Das ist wohl unnötig, lieber Horatio.

– Wieso... unnötig?« rief Patterson ebenso verwundert wie verblüfft.

Dieser kleine Zwischenfall bedarf einer Erklärung, die hier folgen mag.

Aus übertriebener Vorsicht und in seinem maßlosen Eifer, in allem die peinlichste Ordnung zu halten, war der ängstliche Verwalter der Antilian School, dem im vorliegenden Falle sein Testament noch nicht ausreichend schien, auf den barocken Gedanken gekommen, sich vor der Abreise – von seiner Frau scheiden zu lassen. Wenn dann keine Nachricht von ihm eintraf und er vielleicht niemals wiederkehrte, brauchte Frau Patterson nicht jahre- und jahrelang zu warten, ehe sie jede Bevormundung von sich abschütteln konnte, wie das manche Frauen großer Reisender zu ihrem Leidwesen erfahren haben. Patterson konnte es nicht über sich gewinnen, daß seine Nachlaßangelegenheiten nicht auch schon während seiner Abwesenheit bis aufs kleinste geregelt wären, und daß seine teure Lebensgefährtin, als Lohn für ihre Liebe und Treue, nicht sofort über ihre Person und ihr kleines Vermögen verfügen könnte, wie das jeder rechtschaffenen Witwe erlaubt ist.

Hatte sich Patterson aber so sehr in seinen Gedankengang verbissen, daß jeder, und auch ein noch so begründeter Widerspruch vergeblich gewesen wäre, so war doch seine würdige Gattin ebenso fest entschlossen, ihren Willen durchzusetzen und auch unter den vorliegenden außergewöhnlichen Verhältnissen auf keine Ehescheidung [399] einzugehen. Neben der Starrsinnigkeit des Verwalters zeichnete diesen aber auch eine gute Portion Zerstreutheit aus – was aus unserer Erzählung ja vielfach hervorgeht – und darauf rechnete Frau Patterson, alles nach ihrem Wunsche ablaufen zu sehen. Im Einverständnis mit einem Rechtsanwalte, einem bewährten alten Hausfreunde, hatte sie vorgetäuscht, sich dem Verlangen ihres Gatten zu fügen. Bei der erklärlichen Seelenerregung, die ihm die Scheidungsformalitäten verursachten und die Frau Patterson voraussah, hatte ihr Gatte auf die Vorgänge dabei aber gar nicht geachtet.

»Nein, lieber Patterson, ich habe den Vertrag nicht unterzeichnet, wir sind niemals durch einen Scheidungsprozeß getrennt gewesen, unser Ehekontrakt besteht noch jetzt und für immer, wie er einst abgeschlossen wurde.

Ne varietur!« antwortete Herr Patterson und schloß die treue Lebensgefährtin zärtlich in die Arme.


Ende.

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TextGrid Repository (2012). Verne, Jules. Romane. Reisestipendien. Reisestipendien. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-7532-3