Jules Verne
Das Land der Pelze

1. Theil

1. Capitel
Erstes Capitel.
Eine Abendgesellschaft in Fort-Reliance.

Am Abend des 17. März 1859 gab Kapitän Craventy in Fort-Reliance ein Fest.

Mit diesen Worten verbinde aber Niemand den Begriff einer großartigen Galaversammlung, eines Hofballes, eines mit allen Glocken eingeläuteten »raout« oder den einer Festlichkeit mit großem Orchester. Der Empfang bei Kapitän Craventy war einfacher, und doch hatte dieser Nichts gespart, ihm den möglichsten Glanz zu verleihen.

Wirklich hatte sich der Salon im Erdgeschoß unter der Leitung des Corporal Joliffe vollkommen verwandelt. Freilich waren die Wände, welche aus kaum behauenen, horizontal gelegten Stämmen bestanden, noch sichtbar, doch verhüllten vier in den Ecken angebrachte englische Flaggen und eine Anzahl dem Arsenale entnommene Waffen einigermaßen deren Nacktheit. Wenn sich die langen, rohen und geschwärzten Deckbalken auch kunstlos auf ihre Strebepfeiler stützten, so hingen doch dafür zwei mit Blechschirmen versehene Lampen als Kronleuchter davon herab und verbreiteten eine hinreichende Helligkeit in der dunstigen Atmosphäre des Saales. Die Fenster desselben waren schmal, und zum Theil vielmehr Schießscharten ähnlich; ihre dicht [5] verblendeten Oeffnungen verwehrten jede Neugier, und zwei bis drei geschmackvoll daran angebrachte Stücken rothen Baumwollenstoffes erregten die Bewunderung der Eingeladenen. Der Fußboden bestand aus dicken Bohlen, welche Joliffe bei dieser Gelegenheit sorgfältig mit dem Besen gereinigt hatte. Weder Lehnsessel, noch Sophas oder Stühle, noch irgend welch' anderes Möbel stand im Wege. Holzbänke, welche in den dicken Wänden befestigt waren, roh zugehauene Klötze und zwei Tische mit stämmigen Füßen bildeten die ganze Ausrüstung des Salons; dagegen war die Zwischenwand, durch welche eine Thür nach dem Nebenzimmer führte, in außergewöhnlicher Weise reich geschmückt. An den Balken hingen, geschmackvoll angeordnet, so überreichlich Pelzfelle, daß man eine gleiche Auswahl in den Schaufenstern der Regent-Street oder Niewski-Perspective vergeblich gesucht haben würde. Alle arktischen Thierfamilien waren unter dieser Decoration durch Muster ihrer Felle vertreten. Da sah man die von Wölfen, grauen Bären, Eisbären, Ottern, Wieseln, Bibern, Moschusratten, Hermelinen und Silberfüchsen. Ueber dieser Ausstellung prangte eine Inschrift, deren Buchstaben kunstreich aus buntem Papiere ausgeschnitten waren, das Motto der weltberühmten Hudsons-Bai-Compagnie:


Propelle cutem.


»Wahrlich, Corporal Joliffe, sagte Kapitän Craventy zu seinem Untergebenen, Ihr habt Euch selbst übertroffen.

– Ich glaub es, Herr Kapitän, ich glaub es selbst, erwiderte der Corporal. Aber Jedem das Seine! Ein Theil Ihrer Lobsprüche trifft Mrs. Joliffe, die mir bei alledem geholfen hat.

– Das ist eine Capitalsfrau, Corporal.

– Sie hat nicht ihresgleichen, mein Kapitän.«

Mitten im Salon erhob sich ein ungeheurer Ofen, der halb aus Backsteinen und halb aus glasirten Kacheln aufgebaut war. Sein dickes Eisenblechrohr ging durch die Decke und verbreitete draußen dichte, schwarze Rauchwirbel. Dieser Ofen zog, prasselte und glühte bei der unausgesetzten Kohlenfütterung, die ihm der Heizer – ein speciell dazu angewiesener Soldat – zuführte. Manchmal verfing sich der Wind in der Esse, dann wälzte sich ein scharfer Rauch durch den Rost in den Salon; lange Flammen leckten an den Backsteinen in die Höhe; ein dichter Nebel verschleierte den [6] Schein der Lampen und schwärzte die Balken der Decke. Diese kleine Unbequemlichkeit störte indeß die Gäste des Fort-Reliance nicht im Mindesten. Der Ofen spendete ja Wärme, und diese war damit nicht zu theuer erkauft, denn draußen war eine bittere Kälte, welche durch einen scharfen Nordwind doppelt fühlbar wurde.

Rund um das Haus tobte der Sturm. Der Schnee, der fast in festen Stücken fiel, trommelte an den Fenstern. Der Luftzug, welcher durch die Ritzen der Thüren und Fenster einen Eingang fand, verstärkte sich manchmal bis zum hörbaren Pfeifen. Dann wurde es wieder ganz still. Die Natur schien Athem zu holen, und erhoben die Windstöße darauf sich wieder mit furchtbarer Gewalt. Man fühlte das Haus in seinen Grundpfählen erzittern, hörte die Dielen krachen und die Balken seufzen. Jeder Fremdling, der weniger, als die Gäste des Fort-Reliance, an dieses Wüthen des Luftmeeres gewöhnt war, hätte sich gefragt, ob dieser Hansen von Brettern und Bohlen nicht Gefahr liefe, ganz umgerissen zu werden. Kapitän Craventy's Gäste kümmerte der Sturm aber wenig und hätte sie auch draußen eben so wenig erschreckt, wie die Sturmvögel, die dabei umherflatterten.

Die Gesellschaft bestand aus etwa hundert Personen beiderlei Geschlechts; nur Zwei – zwei Frauen – zählten nicht zu dem gewöhnlichen Personal und Besuchscontingent des Forts. Zu dem ersteren gehörte Kapitän Craventy, Lieutenant Jasper Hobson, Sergeant Long, Corporal Joliffe und etwa sechzig Soldaten und Beamte der Compagnie. Einige von diesen waren verheiratet, unter Anderen der Corporal Joliffe, der glückliche Gatte einer munteren und geschickten Canadierin; ferner ein gewisser Mac Nap, ein Schotte, und mit einer Landsmännin verheiratet, und John Raë, der sich kürzlich eine Indianerin aus der Nachbarschaft zur Frau genommen hatte. Diese ganze Gesellschaft ohne Unterschied des Ranges, Officiere, Beamte und Soldaten, wurde an erwähntem Abende von Kapitän Craventy festlich bewirthet.

Das Personal der Compagnie lieferte aber die Festgäste nicht allein. Die Forts in der Nachbarschaft – und in solchen entlegenen Gegenden rechnet man diese bis auf hundert Meilen Entfernung – waren der Einladung des Kapitän Craventy gefolgt. Eine gute Anzahl Beamte oder Geschäftsführer waren aus Fort-Providence oder Fort-Resolution, ja sogar aus dem südlicher gelegenen Fort-Chipewan und Fort-Liard herbeigekommen.

[7] Eine so seltene Lustbarkeit und so unerwartete Zerstreuung durften sich diese Einsiedler, diese Verbannten, welche in der Einsamkeit der Borealgegenden halb verloren waren, nicht entgehen lassen.

Endlich hatten auch einige Indianerchefs die ihnen zugegangene Einladung nicht abgeschlagen. Diese Eingeborenen, welche zu den Factoreien in dauernder Beziehung stehen, liefern zum größten Theil und mittels Tauschhandel die Pelzwaaren, welche die Compagnie vertreibt. Es waren zumeist Chipeway-Indianer, starke, prächtig gebaute Menschen, die in Lederröcke und Pelzumhänge der schönsten Art gekleidet waren. Ihr halb rothes, halb schwarzes Gesicht gewährte einen Anblick, wie man ihn in Europa bei Zaubervorstellungen etwa an den Teufeln sieht. Auf ihrem Haupte thronte ein Adlerfederbusch, wie der Fächer einer Sennora, der bei jeder Bewegung ihres pechschwarzen Haares erzitterte. Diese Häuptlinge, etwa ein Dutzend an Zahl, hatten ihre Frauen nicht mitgebracht, welche bedauernswerthen »Squaws« ein Leben nicht besser als das von Sklaven führen.

So war die Gesellschaft zusammengesetzt, welcher der Kapitän des Fort-Reliance seine Honneurs machte. Getanzt wurde, wegen Orchestermangels, nicht; das Büffet ersetzte aber reichlich die Lohnmusik der europäischen Bälle. Auf der Tafel erhob sich ein pyramidenförmiger Pudding, den Mrs. Joliffe hergestellt hatte; er bildete einen großen abgestumpften Kegel und war aus Mehl und Rennthier, sowie Bisonochsenfett zusammengebaut. Vielleicht fehlte ihm die Zuthat an Eiern, Milch und Citronen, welche die Kochkünstler vorschreiben; diesen Mangel ersetzte er aber reichlich durch seine erstaunliche Größe. Mrs. Joliffe schnitt fleißig davon ab, ohne daß man deshalb eine wesentliche Verminderung der enormen Masse bemerkt hätte. Ferner figurirten sogenannte Sandwichbrödchen auf der Tafel, bei welchen freilich der Schiffszwieback die Scheiben seinen englischen Brodes ersetzen mußte. Zwischen diese Zwiebackschnitten, welche trotz ihrer Härte den Zähnen der Chipeways nicht zu widerstehen vermochten, hatte Mrs. Joliffe erfinderischer Weise Schnitten von »corn-beef«, d.i. eine Art Pökelrindfleisch gelegt, welches den Schinken von York und die Trüffel-Gelatine der europäischen Büffets ersetzen mußte. Als Erfrischung reichte man Whisky und Gin in kleinen Zinnbechern herum, ohne des riesigen Punsches zu gedenken, der ein Fest beschließen sollte, von dem die Indianer in ihren Wigwams gewiß noch lange sprachen.

[8] Wie viele Lobsprüche ernteten die Joliffe'schen Eheleute an diesem Abende! Aber welche Thätigkeit und Liebenswürdigkeit entfalteten sie auch! Sie schienen sich zu vervielfältigen. Mit welcher Freundlichkeit besorgten sie die Vertheilung der Herzstärkungen; sie erwarteten die Wünsche eines Jeden gar nicht, sie kamen ihnen zuvor. Niemand kam dazu, Etwas zu verlangen oder nur zu wünschen. Den Sandwichbrödchen folgten die Schnitten des unerschöpflichen Puddings, dem Pudding der Gin und der Whisky.

[9] »Nein, ich danke, Mrs. Joliffe.

– Sie sind zu gütig, Corporal, lassen Sie mich nur einmal zu Athem kommen.


Corporal Joliffe und Frau bei der Abendgesellschaft in Fort-Reliance. (S. 10.)

– Mrs. Joliffe, ich versichere Ihnen, daß ich ersticke!

– Corporal Joliffe, Sie machen aus mir, was Sie wollen.

– Nein, jetzt nicht, Mistreß, ich bin es nicht im Stande.«

Der Art waren die fast stehenden Antworten, welche sich das glückliche Ehepaar zuzog. Der Corporal und sein Weib nöthigten aber so herzhaft, daß ihnen auch die Widerspenstigsten den Willen thun mußten. Man aß ohne Unterlaß und trank eben immer.

Die Unterhaltung ward munter; Soldaten und Beamte wurden lebendiger. Hier sprach man von der Jagd, dort vom Handel. Was gab es da für Pläne für die kommende Saison! Die ganze Thierwelt der arktischen Regionen hätte die kühnen Nimrods nicht befriedigen können. Schon fielen Bären, Füchse und Bisonochsen unter ihren Kugeln. Biber, Hermeline, Wiesel und Marder singen sich in ihren Fallen zu Tausenden. Die kostbarsten Pelze füllten die Magazine der Compagnie, welche in diesem Jahre einen ganz unerwarteten Segen einheimste. Während die reichlich fließenden Liqueure aber die Einbildung der Europäer erhitzten, ließen die ernsten und schweigsamen Indianer, welche zu stolz sind, um zu bewundern, und zu vorsichtig, um leichtsinnig zu versprechen, jene geläufigen Zungen schwatzen und vertilgten nur in großer Menge das »Feuerwasser« des Kapitän Craventy.

Dieser selbst, glücklich über den Jubel und befriedigt, daß sich diese armen Leute, welche fast außerhalb der bewohnten Erde dahinleben, einmal ergötzten, ging voller Freude unter seinen Gästen umher, antwortete aber auf alle Fragen, welche bezüglich des Festes an ihn gerichtet wurden, mit:

»Fragen Sie Joliffe! Immer nur Joliffe!«

Joliffe hatte aber auf jede Frage eine freundliche Antwort.

Von den Personen nun, welche eigentlich zum Fort-Reliance gehörten, müssen wir Einige näher betrachten, da wir sie in so schrecklichen Verhältnissen, wie keine menschliche Voraussicht sie erwarten konnte, wiederfinden werden. Es sind dies aber: der Lieutenant Jasper Hobson, Sergeant Long, das Joliffe'sche Ehepaar, und zwei weibliche Fremdlinge, denen zu Ehren der Kapitän jene Festlichkeit veranstaltet hatte.

[10] Lieutenant Hobson war ein Mann von vierzig Jahren. Klein und mager, besaß er keine besondere Körperkraft, seine geistige Energie half ihm aber über alle Prüfungen und Unfälle hinaus. Er war ein »Kind der Compagnie«. Sein Vater, Major Hobson, ein Irländer aus Dublin, war erst seit einigen Jahren todt, nachdem er sehr lange Zeit mit Mrs. Hobson auf Fort-Assiniboine gewaltet hatte. Dort war auch Jasper Hobson geboren. Dort, am Fuße felsiger Berge, verlebte er seine Kindheit und Jugend.

Bei dem strengen Unterrichte Major Hobson's ward er durch seine Kaltblütigkeit und seinen Muth zum »Manne« als er den Jahren nach noch Jüngling war. Jasper Hobson war kein Jäger, aber ein Soldat, ein tüchtiger und gebildeter Officier. Während der Kämpfe, welche die Compagnie in Oregon gegen rivalisirende Compagnien zu bestehen hatte, zeichnete er sich durch seine Kühnheit ebenso, wie durch seinen Eifer aus, und avancirte bald zum Lieutenant. In Folge seiner anerkannten Verdienste war er eben zum Befehlshaber einer Expedition nach dem hohen Norden ausersehen worden. Diese Expedition sollte die Gegenden nördlich vom »See des Großen Bären« erforschen, und an der Küste des amerikanischen Festlandes ein Fort errichten. Lieutenant Jasper Hobson's Abreise hatte in den ersten Tagen des April zu erfolgen.

Bot nun der Lieutenant das vollkommene Bild eines Officiers, so war dagegen Sergeant Long, ein Mann von fünfzig Jahren, dessen röthlicher Bart aus Kokosfasern zu bestehen schien, der Urtypus eines Soldaten; eine wackere Natur, gehorsam von Temperament, kannte er nur seine Ordre, grübelte über keinen noch so sonderbaren Befehl, und dachte an nichts Anderes, sobald es sich um den Dienst handelte; eine wahre Maschine in Uniform war er doch eine vollkommene, welche sich nicht abnutzte, immer im Gange blieb, und nie ermüdete. Dabei war Sergeant Long gegen seine Leute, aber auch gegen sich selbst, etwas hart. Er duldete nicht die geringste Lockerung der Disciplin, und machte unerbittlich von dem geringsten Fehler Meldung, wogegen wider ihn nie eine Anzeige eingelaufen war Er commandirte wohl, weil er als Sergeant das mußte, aber man sah daß er nur ungern Befehle ertheilte. Mit einem Worte, er war nur zum Gehorchen erschaffen, und diese Verneinung seines eigenen Ichs ihm ganz in Fleisch und Blut übergegangen. Aus solchen Leuten bildet man die furchtbaren Armeen. Sie sind nur Arme, welche einem Kopfe gehorchen. Liegt aber [11] darin nicht die wahrhafte Organisation der Kraft? Die Fabel hat zwei Bilder erfunden: Briareus mit hundert Armen und die Hydra mit hundert Köpfen. Wenn diese beiden Ungeheuer mit einander kämpften, wer trüge den Sieg davon? – Briareus.

Corporal Joliffe ist schon etwas bekannt. Er war schon mehr eine schwärmende Fliege, aber man ergötzte sich bei deren Summen. Zu einem Haus- und Hofmeister eignete er sich besser, als zum Soldaten, und wußte das auch selbst. Mit Vorliebe nannte er sich den »Corporal für alles Mögliche«, aber dabei wäre er hundertmal nicht zurecht gekommen, hätte ihn nicht die sichere Hand der kleinen Mrs. Joliffe geleitet. Daraus folgt, daß der Corporal, ohne es zuzugestehen, nach seines Weibchens Pfeife tanzte, wobei er wohl mit dem Philosophen Sancho denken mochte: »An dem Rathschlage einer Frau ist zwar nicht viel, aber ein Thor ist, wer gar nicht auf einen solchen merkt.«

Das fremde Element der Abendgesellschaft war, wie erwähnt, durch zwei Frauen, im Alter von etwa vierzig Jahren, repräsentirt. Die Eine derselben verdiente mit Recht in der Reihe der berühmtesten weiblichen Reisenden zu stehen; als Rivalin der Ida Pfeifer, der Tinné, der Haumaire de Hell, wurde auch Paulina Barnett's Name in den Sitzungen der Königlich Geographischen Gesellschaft häufig ehrenvoll erwähnt. Paulina Barnett hatte auf ihrem Zuge längs des Bramaputra bis zu den Gebirgsstöcken Tibets, und bei einem solchen durch unbekannte Theile Australiens, nämlich von der Bai der Schwäne bis zum Golf von Carpentaria, alle Eigenschaften einer großen Reisenden entfaltet. Sie war eine Frau von hohem Wuchse, seit fünfzehn Jahren Witwe, welche die Leidenschaft zu reisen immerfort durch unbekannte Länder jagte. Ihr von langen Bändern umrahmter, stellenweise schon ergrauter Kopf brachte eine stählerne Energie zum Ausdruck. Ihre etwas kurzsichtigen Augen verbargen sich hinter einem silbernen Lorgnon, welches seinerseits auf einer langen, geraden Nase aufsaß, deren bewegliche Flügel »nach der Weite zu trachten« schienen. Ihr Auftreten war freilich etwas männlich, und ihre ganze Erscheinung athmete weniger Liebreiz, als moralische Kraft. Sie war eine reiche Engländerin aus der Grafschaft York und verwendete einen großen Theil ihres Vermögens auf abenteuerliche Reisen. Auch wenn sie sich jetzt in Fort-Reliance befand, kam das daher, daß eine neue Entdeckungsfahrt sie dorthin verschlagen hatte. Nach Durchstreifung [12] der Tropenregionen wollte sie nun zweifellos bis an die letzten Grenzen der Polarländer vordringen. Ihre Gegenwart im Fort galt als ein Ereigniß. Der Director der Compagnie hatte sie dem Kapitän Craventy schriftlich speciell empfohlen. Dieser sollte, nach dem Inhalte des Briefes, die Absicht der berühmten Reisenden, nach den Küsten des Eismeeres zu ziehen, nach Kräften fördern. Welch' großes Unternehmen! Es galt, den Weg eines Hearne, Mackenzie, Raë und Franklin einzuschlagen. Welche Mühen und Prüfungen, welche Kämpfe gegen die in den Polarländern so schreckliche Natur standen damit bevor! Wie konnte ein Weib sich dahin wagen, wo so viele Forscher umgekehrt oder untergegangen waren? Aber die Fremde, welche jetzt schon bis nach Fort-Reliance gekommen, war kein gewöhnliches Weib, es war eben Paulina Barnett, die Preisgekrönte der Royal Society.

Wir fügen hinzu, daß die berühmte Reisende in ihrer Begleiterin, Namens Madge, mehr als eine Dienerin, eher eine muthige, ergebene Freundin besaß, welche nur für sie lebte, eine Schottin aus der guten alten Zeit, die ein Caleb ohne langes Besinnen hätte heiraten können. Madge war noch einige Jahre älter als ihre Herrin, dabei groß und von gesundem Holze gezimmert. Madge duzte Paulina, wie diese Madge. Paulina betrachtete Letztere mehr als ältere Schwester, Madge aber Paulina als ihre Tochter. Alles in Allem machten Beide nur ein zusammengehöriges Wesen aus.

Zu Ehren dieser Paulina Barnett also bewirthete Kapitän Craventy an jenem Abende seine Beamten und die Indianer vom Stamme der Chipeways. Die Reisende sollte sich dann dem Detachement des Lieutenants Jasper Hobson auf dessen Erforschungsreise nach dem Norden anschließen. Für Paulina Barnett ertönte der große Salon der Factorei von kräftigen Hurrahs.

Wenn der Ofen an diesem denkwürdigen Abend einen Centner Kohlen consumirte, so lag das daran, daß draußen eine Kälte von vierundzwanzig Grad 1 herrschte, und Fort-Reliance unter 61°47'', also weniger als fünf Grade vom Polarkreise lag.

Fußnoten

1 Die Temperaturangaben beziehen sich im Folgenden auf Celsiusgrade. (100° Celsius = 80° Réaumur.) – Unter Meilen sind englische zu verstehen, von denen 4,611 einer geographischen, 4,681 einer österreichischen Meile gleich sind.

2. Capitel
Zweites Capitel
Hudson's bay fur Company.

»Herr Kapitän?

– Mistreß Barnett.

– Was denken Sie von Ihrem Lieutenant, Herrn Jasper Hobson?

– Ich halte ihn für einen Officier, der weit vordringen wird.

– Was verstehen Sie unter den Worten, weit vordringen? Wollen Sie damit sagen, daß er den achtzigsten Breitengrad überschreiten wird?«

Der Kapitän Craventy konnte sich bei dieser Frage Mrs. Barnett's des Lächelns nicht erwehren. Er und sie plauderten nahe dem Ofen, während die Eingeladenen zwischen dem Tische mit Speisen und dem mit Erfrischungen hin- und hergingen.

»Madame, erwiderte der Kapitän, Alles, was einem Manne möglich ist, wird Jasper Hobson thun. Die Compagnie hat ihn mit der Durchforschung ihrer nördlichsten Besitzungen und der Errichtung einer Factorei, möglichst nahe der Nordküste Amerikas, beauftragt, und das wird er auch ausführen.

– Da ruht aber eine große Verantwortlichkeit auf dem Lieutenant Hobson, sagte die Reisende.

– Ja, Madame, doch ist Jasper Hobson nie vor der Durchführung eines Versuches, und wenn dieser auch noch so mühsam war, zurückgeschreckt.

– Ich glaube Ihnen, Kapitän, antwortete Mrs. Paulina, und ich werde ja diesen Lieutenant in Thätigkeit sehen. Welches Interesse treibt aber die Compagnie, auch an der Küste des Arktischen Oceans noch ein Fort zu errichten?

– O, ein sehr großes Interesse, Madame, um nicht zu sagen, ein doppeltes. Voraussichtlich wird Rußland in nächster Zeit seine amerikanischen Besitzungen der Regierung der Vereinigten Staaten abtreten. 1 Tritt diese Cession ein, so wird der Handel der Compagnie nach dem Pacifischen Ocean hin wesentlich erschwert, wenn die von Mac Clure entdeckte nordwestliche [14] Durchfahrt keinen brauchbaren Seeweg bieten sollte. Darüber müssen erst neue Untersuchungen Licht geben, und die Admiralität rüstet eben ein Schiff aus, dessen Aufgabe es sein wird, von der Behrings-Straße aus längs der amerikanischen Küste bis zum Krönungs-Golf an der Ostgrenze, wo das neue Fort gegründet werden soll, hinzufahren. Gelingt das Vorhaben, so wird dieser Punkt zu einer sehr wichtigen Factorei werden, in der sich der ganze Rauchwaarenhandel des Nordens concentriren müßte. Und während der Transport der Pelze über die Indianer-Territorien sehr viel Zeit und hohe Spesen kostet, könnten flinke Dampfer den Stillen Ocean von jenem Fort aus in wenigen Tagen erreichen.

– Das wäre freilich, erwiderte Mrs. Paulina Barnett, ein schwerwiegender Erfolg, wenn die Nordwest-Passage überhaupt benutzbar ist. Doch Sie sprachen, glaub' ich, von einem doppelten Interesse?

– Das zweite Interesse, fuhr der Kapitän fort, berührt gewissermaßen eine Lebensfrage der Compagnie. Hierzu muß ich Sie jedoch um die Erlaubniß bitten, Ihnen deren Ursprung mit kurzen Worten zu berichten. Sie werden daraus abnehmen können, wie diese einst so blühende Handelsverbindung jetzt in ihrer Wurzel bedroht ist.«

In wenigen Worten erzählte also der Kapitän die Geschichte dieser weitberühmten Compagnie.

Es ist bekannt, daß der Mensch schon in den ältesten Zeiten nach den Fellen und Pelzen gewisser Thiere trachtete, um sie zu seiner Kleidung zu verwenden. Der Rauchwaarenhandel reicht also bis in das hohe Alterthum zurück. Der Kleiderluxus ging ja manchmal so weit, daß mehrere Male sogenannte Aufwands-Gesetze (Kleiderordnungen) erlassen wurden, um dieser Mode, welche vorzüglich in Pelzwaaren Verschwendung trieb, zu steuern. So mußte z.B. das graue Pelzwerk im zwölften Jahrhundert verboten werden.

Im Jahre 1553 gründete Rußland in seinen Steppen des Nordens mehrere Niederlassungen, und englische Compagnien folgten bald diesem Beispiele. Der Handel mit Zobel, Hermelin, Biber u.s.w. wurde damals durch die Samojeden vermittelt. Unter der Regierung Elisabeth's aber wurde der Gebrauch kostbarer Pelzwaaren durch ein königliches Verbot streng verpönt, und einige Jahre lag diese Handelsbranche völlig brach.


Lientenant Hobson. (S. 11.)

Am 2. Mai 1670 erhielt dann die Pelzwaaren-Compagnie der Hudsons-[15] Bai ein Privilegium. Diese Compagnie hatte eine Anzahl Theilhaber aus den höchsten Kreisen, wie den Herzog von York, den Herzog von Albemarle, den Grafen von Shaftesbury u.s.w. Ihr Capital betrug anfangs nur 8400 Pfund Sterling. – Als Rivalen hatte sie besondere Genossenschaften, deren französische, in Canada seßhafte Agenten oft sehr abenteuerliche, aber auch ergiebige Züge unternahmen. Die unerschrockenen Jäger, welche unter dem Namen der »Canada-Reisenden« bekannt sind, machten der jungen [16] Compagnie eine derartige Concurrenz, daß deren Fortbestand ernstlich in Zweifel gestellt wurde.

Die Eroberung von Canada aber veränderte diese bedrohliche Sachlage. Drei Jahre nach der Einnahme von Quebec, im Jahre 1766, blühte der Rauchwaarenhandel sehr merkbar auf. Die englischen Factore hatten sich in die Schwierigkeiten dieses Geschäftes eingelebt, sie kannten nun die Landessitten, die Gewohnheiten der Indianer und das Verfahren, welches diese bei [17] ihrem Tauschhandel einhielten. Dennoch war von Erträgnissen der Compagnie noch keine Rede. Dazu waren, gegen 1784, Kaufleute aus Montreal zur Ausbeutung desselben Geschäftes zusammengetreten, und hatten die mächtige »Compagnie des Nordwestens« gegründet, welche bald Alles zu sich heranzog. Im Jahre 1798 belief sich der Umsatz dieser neuen Compagnie auf die enorme Ziffer von hundertundzwanzig Millionen Pfund Sterling, während die Hudsons-Bai-Compagnie noch um ihren Fortbestand kämpfte.


»Los! Joliffe!« (S. 21.)

Freilich schreckte jene Compagnie des Nordwestens auch vor keiner Immoralität zurück, wenn ihr Interesse im Spiele war. Sie beutete ihre eigenen Beamten aus, speculirte auf das Elend der Indianer, mißhandelte sie, machte sie trunken, um sie zu berauben, und übertrat das Parlamentsverbot, welches den Verkauf von Spirituosen in den Gebieten der Eingeborenen untersagte. So ernteten die Agenten dieser Gesellschaft reiche Erträgnisse, trotz der Concurrenz der inzwischen gegründeten amerikanischen und russischen Handelsgesellschaften, unter Anderen der »Amerikanischen Rauchwaaren-Compagnie«, welche 1809 mit dem Capitale von einer Million Dollars gegründet worden war und den Westen der Felsengebirge ausbeutete.

Von allen Gesellschaften blieb die Hudsons-Bai-Compagnie die bedrohteste, bis sie im Jahre 1821 nach lange hingezogenen Verhandlungen ihre alte Rivalin, die Compagnie des Nordwestens, in sich aufnahm und sich nun »Hudson's bay fur Company« nannte.

Heutzutage hat diese mächtige Gesellschaft keine andere Rivalin, als die »Amerikanische Pelzwaaren-Compagnie von St. Louis«. Sie besitzt zahlreiche Etablissements, welche auf einem Raume von 3,700,000 Quadratmeilen verstreut liegen. Ihre Hauptfactoreien befinden sich an der James-Bai, an der Mündung des Severn, im südlichen Theile und nahe den Grenzen von Ober-Canada, an den Seen Athapeskow, Winnipeg, Superior, Methye, Buffalo, ferner an den Strömen Colombia, Mackenzie, Saskatchavan, Assinipoil u.s.w. Fort-York, welches den Nelson-Fluß, der in die Hudsons-Bai mündet, beherrscht, bildet das Hauptquartier der Compagnie, bei dem sich die ausgedehntesten Rauchwaarenmagazine befinden. Daneben hat sie, seit 1842, gegen eine jährliche Entschädigung von 200,000 Francs die russischen Etablissements im Norden Amerikas übernommen. Sie beutet also für eigene Rechnung die ungeheuren Ländereien zwischen dem Mississippi und dem Stillen Weltmeere aus. Nach allen Richtungen hat sie unerschrockene [18] Reisende entsendet, so Hearn nach dem Polarmeere, welcher 1770 Copernicia entdeckte; Franklin, von 1819 bis 1822, über 5550 Meilen des amerikanischen Küstenlandes; Mackenzie, welcher nach der Entdeckung des Flusses, der seinen Namen trägt, die Ufer des Stillen Oceans unter 52°24' nördlicher Breite erreichte. Von 1833 bis 1834 sendete sie folgende Massen von Häuten und Pelzfellen nach Europa, welche den erstaunlichen Umfang ihres Handels genau angeben:


Biber1,074
Seehunde und junge Biber92,288
Bisams694,092
Dachse1,069
Bären7,451
Hermelins491
Iltisse5,296
Füchse9,937
Luchse14,255
Marder64,490
Nerze25,100
Fischottern22,303
Waschbären713
Schwäne7,918
Wölfe8,484
Vielfraße1,571.

Eine solche Production mußte der Gesellschaft wohl einen reichen Ertrag liefern; unglücklicher Weise waren aber solche Ziffern nicht beständig, und etwa seit zwanzig Jahren nahmen sie fortwährend ab.

Woher kam nun diese Abnahme, welche Kapitän Craventy jetzt Mrs. Barnett erklärte?

»Bis zum Jahre 1837, Madame, sagte er, konnte man den Zustand der Compagnie einen blühenden nennen. In eben diesem Jahre hatte sich der Export bis auf 2,358,000 Felle erhoben. Seitdem hat er sich aber stets vermindert, und erreicht jetzt kaum die Hälfte.

– Worin suchen Sie aber die Ursache hierfür? fragte Mrs. Paulina Barnett.

[19] – In der Entvölkerung, welche die Thätigkeit der Jäger, und, fügen wir hinzu, die Sorglosigkeit derselben in den Jagdgebieten erzeugt hat. Man stellte dem Wilde nach und tödtete es ohne Schonzeit. Die Metzeleien vollzogen sich ohne Ausnahmen. Selbst die Jungen und die tragenden Weibchen wurden nicht verschont. Die Otter ist fast ganz verschwunden und findet sich nur nahe den Inseln des höchsten Nordens. Die Biber sind in kleinen Gesellschaften an die Ufer der entlegensten Ströme entflohen. Dasselbe ist mit anderen kostbaren Thieren der Fall, welche vor dem Andringen der Jäger entfliehen mußten. Die sonst immer gefüllten Fallen und Gruben sind jetzt leer. Der Preis der rohen Felle steigt, gerade wo die Pelzwaaren sehr gesucht sind. Auch verlieren die Jäger die Lust, und nur die Kühnsten und Unermüdlichen dringen noch bis zu den Grenzen des amerikanischen Festlandes vor.

– Ich begreife jetzt das Interesse, sagte Mrs. Paulina Barnett, welches die Compagnie an der Gründung einer Factorei an der Küste des Eismeeres hat, da sich die jagdbaren Thiere über den Polarkreis hinaus geflüchtet haben.

– So ist es, Madame, antwortete der Kapitän. Uebrigens mußte sich die Compagnie bald entschließen, den Mittelpunkt ihrer Thätigkeit mehr nach Norden zu verlegen, da vor zwei Jahren eine Parlamentsacte ihr Jagdgebiet wesentlich eingeschränkt hat.

– Und was konnte der Grund dieser Einschränkung sein? fragte die Reisende.

– Ein sehr wichtiger nationalökonomischer war es, Madame, der die Staatsmänner Großbritanniens lebhaft berühren mußte. Die Mission der Compagnie ist offenbar keine civilisatorische gewesen; im Gegentheil. In ihrem eigenen Interesse mußte sie den Zustand der öden Landgebiete in Gleichem erhalten. Jeder Versuch einer Urbarmachung, welche die Pelzthiere verscheucht hätte, wurde unerbittlich von ihr unterdrückt. Ihr Monopol ist der Feind des Landbaues. Alle seiner Industrie fremden Fragen wurden von ihrem Verwaltungsrathe von der Hand gewiesen. Dieses absolute und von gewissem Gesichtspunkte unmoralische Regime hat jene Maßnahme des Parlaments veranlaßt, und eine im Jahre 1857 von dem Secretär der Colonien ernannte Commission entschied dahin, daß alle zum Ackerbau geeigneten Ländereien zu Canada geschlagen würden, wie die Territorien des [20] Rothen und die Districte des Saskatchavan-Flusses, während der Gesellschaft fernerhin nur diejenigen Strecken als Domäne zu überlassen seien, welche für die Civilisation keine Zukunft hätten. Im folgenden Jahre verlor die Compagnie die Abhänge der Felsen-Gebirge, welche nun direct unter dem Colonialamte stehen und der Jurisdiction der Hudsons-Bai-Compagnie entzogen werden. Und deshalb, Madame, will die Compagnie, statt ihren Handel aufzugeben, die noch fast unbekannten nördlichen Gegenden ausbeuten, und Mittel und Wege zu einer Verbindung mit dem Pacifischen Oceane suchen.«

Mrs. Paulina Barnett war über diese Projecte der berühmten Handelsgesellschaft sehr zufrieden. Sie sollte in Person an der Gründung eines neuen Forts an der Küste des Eismeeres theilnehmen. Kapitän Craventy hatte sie mit der Sachlage völlig bekannt gemacht, und bald wäre er – denn er plauderte gern – auch noch auf weitere Einzelheiten eingegangen, wenn ihm nicht ein Zufall das Wort abschnitt.

Corporal Joliffe meldete nämlich mit lauter Stimme an, daß er mit Mrs. Joliffe's Hilfe daran gehe, den Punsch zu bereiten. Diese Nachricht fand die verdiente Würdigung. Die Bowle – doch es war vielmehr ein Bassin – war mit dem köstlichen Naß gefüllt; sie enthielt nicht weniger, als zehn Maß Branntwein, auf dem Boden lag ein ganzer Haufen Zucker und auf der Oberfläche schwammen die nöthigen, freilich vor Alter schon runzlichen Citronen. Es bedurfte nur noch der Entzündung dieses Sees von Alkohol, und der Corporal wartete, mit der Lunte in der Hand, der Befehle seines Kapitäns, so als gelte es eine Mine anzuzünden.

»Los! Joliffe!« rief nun Kapitän Craventy.

Sofort flammte unter dem Jubel der Umstehenden das Meer von Punsch in die Höhe.

Zwei Minuten später wurden die gefüllten Gläser umhergereicht, welche stets eifrige Abnehmer fanden.

»Hurrah! Hurrah! Der Mrs. Paulina Barnett! Ein Hurrah für unseren Kapitän!«

Mitten in diesem Freudenlärmen ertönte plötzlich ein Geschrei von außerhalb. Erstaunt schwieg die Gesellschaft.

[21] »Sergeant Long, sehen Sie nach, was draußen vorgeht«, sagte der Kapitän.

Und auf den Befehl seines Chefs ließ der Soldat sein Glas halb ausgetrunken stehen und verließ den Salon.

Fußnoten

1 Ist inzwischen wirklich geschehen.

3. Capitel
Drittes Capitel
Ein aufgethauter Gelehrter.

Als Sergeant Long in dem engen Gange war, auf welchen sich die Außenthüre des Forts öffnete, hörte er die Rufe sich verdoppeln. Irgend Jemand klopfte auch heftig an das Ausfallsthor, welches zu dem von hohen Holzmauern geschützten Hofe den Zugang bildete. Der Sergeant stieß die Thür auf. Ein fußhoher Schnee bedeckte den Boden. Bis an die Kniee in diese weiße Decke sinkend, blind vom Schneewirbel, und geschüttelt von der eisigen Kälte ging jener quer über den Hof auf das Thor zu.

»Wer, zum Kukuk, mag nur bei diesem miserablen Wetter noch kommen! sagte sich Sergeant Long und hob methodisch, um nicht zu sagen ›reglementmäßig‹ die schweren Schließbalken des Thores aus, – bei einer solchen Kälte wagen sich doch nur Eskimos heraus.

– Aufmachen! Aufmachen! drängte von draußen eine Stimme.

– Es wird schon aufgemacht«, antwortete Sergeant Long, der allerdings seine zwölf Tempos zum Oeffnen zu brauchen schien.

Endlich schlugen sich die Thorflügel nach Innen auf, wobei den Sergeanten ein Schlitten halb in den Schnee schleuderte, welcher mit einer Bespannung von sechs Hunden wie ein Blitz hereinfuhr. Fast wäre der wackere Long überfahren worden. Doch erhob er sich ohne Murren, schloß das Thor wieder und kam in gewöhnlichem Marschirtempo, d.h. mit fünfundsiebenzig Schritt per Minute, an das Hauptgebäude nach.

Schon waren Kapitän Craventy, Lieutenant Jasper Hobson und Corporal [22] Joliffe da, welche, der entsetzlichen Kälte trotzend, den überschneiten Schlitten betrachteten, der vor ihnen hielt.

Soeben entstieg demselben ein dick in Pelze verpackter Mann.

»Das Fort-Reliance? fragte dieser.

– Ist hier, antwortete der Kapitän.

– Der Kapitän Craventy?

– Bin ich; und Sie?

– Ein Courier der Compagnie.

– Allein?

– Nein, ich bringe einen Reisenden.

– Einen Reisenden? Und was will er hier?

– Er will den Mond sehen.«

Bei dieser Antwort fragte sich der Kapitän, ob er es mit einem Tollhäusler zu thun habe, was in Anbetracht der begleitenden Umstände nicht unwahrscheinlich war. Jetzt hatte er aber keine Zeit, darüber nachzudenken. Der Courier hatte eine schwere Masse, eine Art schneebedeckten Sack, von dem Schlitten gezogen, den er Anstalt traf, in das Haus zu bringen, als der Kapitän ihn fragte:

»Was ist's mit diesem Sacke?

– Das ist mein Reisender.

– Und wer ist er?

– Der Astronom Thomas Black.

– Aber er ist erfroren!

– Nun, dann thauen wir ihn wieder auf.«

Von den Händen des Sergeanten, des Corporals und des Couriers getragen, hielt Thomas Black seinen Einzug in das Haus, wo man ihn in einem Zimmer des ersten Stockwerks niederlegte, dessen Temperatur in Folge eines wohlgeheizten Ofens eine ganz erträgliche war. Dort legte man ihn auf ein Bett, und der Kapitän ergriff seine Hand.

Diese Hand war buchstäblich gefroren. Man löste die Decken und Pelzhüllen, welche Thomas Black, der wie ein Packet verschnürt war, umschlossen, und fand darunter einen dicken, kleinen Mann von gegen fünfzig Jahren, mit graulichen Haaren und struppigem Barte, dessen Augen geschlossen und dessen Lippen zusammengepreßt waren, als wären sie mit Leim verbunden. Dieser Mann athmete gar nicht, oder doch nur so schwach, daß er dadurch keinen Spiegel [23] getrübt hätte. Joliffe entkleidete ihn weiter, und wendete und drehte ihn immer hin und her mit den Worten:


»Das ist mein Reisender!« (S. 23.)

»Nun vorwärts, mein Herr! Wollen Sie denn nicht wieder zu sich kommen?«

Die also angeredete Persönlichkeit schien aber nur noch ein Leichnam zu sein. Um in ihm die entschwundene Wärme wieder zurückzurufen, fand Joliffe nur ein heroisches Mittel, welches darin bestand, den Patienten in den heißen Punsch zu tauchen.


Wie der Astronom aufgethaut wird. (S. 26.)

Ohne Zweifel zum Glücke für Thomas Black kam Lieutenant Jasper Hobson auf einen anderen Gedanken.

»Schnee her! befahl er. Sergeant Long, schaffen Sie einige Hände voll Schnee!«

Im Hofe von Fort-Reliance war daran kein Mangel Während der Sergeant den verlangten Schnee zu [24] holen ging, kleidete Joliffe den Astronomen vollends aus. Der Körper des Unglücklichen zeigte sich mit weißen Flecken bedeckt, welche auf ein tiefes Eindringen der Kälte in den Organismus [25] hinwiesen. Gewiß war es die höchste Zeit, den ergriffenen Stellen wieder Blut zuzuführen, was Jasper Hobson durch kräftige Abreibungen mittels Schnee zu erreichen hoffte. Bekanntlich bedient man sich in den Polargegenden ganz allgemein dieses Mittels, um die Blutcirculation wieder herzustellen, welche eine übermäßige Kälte eben so hemmt, wie sie das Wasser der Flüsse zum Stehen bringt.

Sergeant Long war zurückgekommen, und er und Joliffe frottirten nun den neuen Ankömmling auf eine Weise, die dieser vorher sicher nicht gewöhnt war. Es war das kein sanftes Abreiben oder Einsalben mehr, sondern ein handfestes Kneten, das mehr etwa an die Bearbeitung mit einer Striegel, als mit der Hand erinnerte.

Während dieser Operation sprach der schwatzhafte Corporal immer auf den Reisenden, der ihn doch nicht hören konnte.

»Nun aber vorwärts, mein Herr! Was ist Ihnen nur eingefallen, sich dermaßen durchfrieren zu lassen. So seien Sie doch nicht so halsstarrig!«

Jedenfalls blieb Thomas Black zunächst noch halsstarrig, denn eine halbe Stunde verging noch ohne ein Lebenszeichen von seiner Seite. Schon wollte man daran verzweifeln, daß er wieder zu beleben sei, und die Massirenden gedachten eben ihre anstrengenden Versuche aufzugeben, als der arme Mann leise aufseufzte.

»Er lebt! Er erholt sich!« rief freudig Jasper Hobson.

Nach Wiedererwärmung der Körperoberfläche durch jene Frictionen durfte man auch die inneren Organe nicht vergessen.

Corporal Joliffe beeilte sich demnach, einige Gläser Punsch herbeizuschaffen, die dem Reisenden sehr wohl zu thun schienen. Seine Wangen bekamen wieder Farbe, seine Augen den Blick, seine Lippen die Sprache, und der Kapitän durfte endlich auf die Mittheilung hoffen, warum Thomas Black hierher und das in so jämmerlichem Zustande gekommen war.

Der nun wieder warm zugedeckte Thomas Black richtete sich halb empor, stützte sich auf einen Ellenbogen und sagte mit schwacher Stimme:

»Fort-Reliance?

– Ist hier, erwiderte der Kapitän.

– Der Kapitän Craventy?

– Bin ich selbst, mein Herr, der Sie hier willkommen heißt. Doch darf ich fragen, was Sie nach Fort-Reliance führte?

[26] – Er will den Mond sehen!« fiel der Courier ein, der beharrlich bei dieser Antwort blieb.

Sie schien übrigens Thomas Black zu befriedigen, denn er nickte beifällig mit dem Kopfe. Dann fuhr er fort:

»Der Lieutenant Hobson?

– Steht auch vor Ihnen.

– Also noch nicht abgereist?

– Wie Sie sehen, noch nicht, mein Herr.

– Schön, schön, mein Herr, versetzte Thomas Black, dann habe ich zunächst Ihnen nur noch zu danken und bis morgen auszuschlafen.«

Der Kapitän zog sich mit seinen Begleitern zurück und überließ den Sonderling der so nothwendigen Ruhe. Eine halbe Stunde später war das Abendfest zu Ende und Alle suchten ihre betreffenden Wohnungen auf, entweder im Fort selbst, oder in einigen kleinen Baulichkeiten, welche außerhalb desselben in der Nähe lagen.

Am anderen Tage war Thomas Black annähernd wieder hergestellt. Seine kräftige Constitution hatte der furchtbaren Kälte widerstanden. Ein Anderer wäre wohl nicht aufgethaut, aber Er war eben von besserem Holze geschnitzt.

Doch wer war dieser Astronom? Woher kam er? Wozu diese Reise durch die Compagnie-Ländereien, und das jetzt, noch während des strengen Winters? Was bedeutete die Antwort des Couriers, den Mond zu sehen? War denn der Mond nicht überall sichtbar und hatte es einen Zweck, ihn hier im hohen Norden zu suchen?

Diese Fragen stellte sich Kapitän Craventy. Als er jedoch Tags nachher ein Stündchen mit seinem neuen Gast gesprochen hatte, war er sich über alle im Klaren.

Thomas Black war in der That Astronom und zwar an der von Airy mit so großem Geschick geleiteten Sternwarte von Greenwich. Ein mehr intelligenter und kluger Kopf, als Theoretiker, hatte Thomas Black seit den vierundzwanzig Jahren, die er seine Stelle schon einnahm, den uranographischen Wissenschaften (d.i. der Himmelskunde) sehr große Dienste geleistet. Im Privatleben war er ein ganz unbrauchbarer Mensch, der außerhalb seiner astronomischen Fragen gar nicht existirte und mehr im Himmel als auf der Erde wohnte, ein würdiger Abkomme des gelehrten La Fontaine, der bekanntlich [27] in einen Ziehbrunnen fiel. Mit ihm war keine Unterhaltung möglich, wenn man nicht von Sternen und Sternbildern sprach. Er war ein Mann, geschaffen, gleich im Fernrohr zu leben. Aber wenn er beobachtete, that es ihm auch Keiner gleich. Welch' unerschöpfliche Geduld hatte er dann! Ganze Monate lang konnte er nach einem kosmischen Phänomen auf der Lauer liegen. Meteore und Sternschnuppen bildeten seine Specialität, und seine Entdeckungen in die ser Richtung sind von bleibendem Werthe. Handelte es sich um ganz seine Beobachtungen oder genaue Messungen und Bestimmungen, so wandte man sich stets an Thomas Black, der eine sehr merkwürdige »Gewandtheit des Blickes« besaß. Beobachten zu können ist nicht Jedermanns Sache. So nimmt es nicht Wunder, daß der Greenwicher Astronom ausersehen worden war, die nachfolgenden Beobachtungen, welche für die Selenographie (d.i. die Mondkunde) von hohem Werthe waren, auszuführen.

Bei einer totalen Sonnenfinsterniß erscheint die Mondscheibe nämlich von einem Strahlenkranze umgeben, dessen Ursprung indessen noch nicht fest steht. Ist er thatsächlich vorhanden oder Brechungsphänomen der Sonnenstrahlen rund um den Mond? Noch ist das eine offene Frage.

Seit 1706 schon haben die Astronomen diese »Aureola« wissenschaftlich beschrieben. Louville und Halley beobachteten bei der totalen Sonnenfinsterniß von 1715, Maraldi bei der von 1724, Antonio de Ulloa 1778, Bouditch und Ferrer 1806, diesen Strahlenkranz möglichst genau. Bei Gelegenheit der totalen Sonnenfinsterniß von 1842 suchten Gelehrte aller Nationen, wie Airy, Arago, Peytal, Laugier, Mauvais, Otto Struve, Petit, Baily u.A. die Lösung des Ursprungs dieser Erscheinung zu finden; aber so streng auch diese Beobachtungen waren, so sagt Arago dar über doch, daß »der Mangel an Uebereinstimmung, welchen man an den von geübten Astronomen an verschiedenen Punkten angestellten Beobachtungen ein und derselben Sonnenfinsterniß findet, über diese Frage eine solche Dunkelheit verbreitet habe, daß vor der Hand an eine bestimmte Entscheidung über den Ursprung dieser Erscheinung nicht gedacht werden könne«.

Diese Frage berührt jedoch die Mondkunde sehr wesentlich und verlangt gebieterisch ihre Lösung. Jetzt bot sich eine neue Gelegenheit, diesen Lichtkranz zu beobachten. Am 18. Juli 1860 stand wieder eine totale Sonnenfinsterniß bevor, welche im Norden Amerikas, in Spanien und dem nördlichen [28] Afrika sichtbar sein mußte. Die Astronomen verschiedener Länder waren übereingekommen, gleichzeitige Beobachtungen an verschiedenen Punkten in der Zone der Sichtbarkeit anzustellen. Thomas Black war zu dem Ende für den Norden Amerikas gewählt worden. Er befand sich da etwa unter denselben Verhältnissen, wie die englischen Astronomen, welche zur Beobachtung der Finsterniß von 1851 nach Schweden und Norwegen gegangen waren.

Es ist selbstverständlich, daß Thomas Black die ihm gebotene Gelegenheit, jenen Lichtkranz zu beobachten, mit Begierde ergriff. Er sollte gleichzeitig so weit als möglich die Natur der röthlichen Protuberanzen in's Auge zu fassen suchen, welche an verschiedenen Stellen des Umkreises an unserem Tagesgestirne bemerkt werden. Gelang es dem Astronomen aus Greenwich, diese Frage auf unwiderlegliche Weise zu lösen, so durfte er der Anerkennung der ganzen gelehrten Welt sicher sein.

Thomas Black rüstete sich also zur Abreise und erhielt an die Hauptagenten der Hudsons-Bai-Compagnie die gewichtigsten Empfehlungsschreiben. Gleichzeitig sollte auch nächstens eine Expedition nach den Nordgrenzen abgehen, um dort eine neue Factorei zu gründen. Von dieser Gelegenheit galt es Nutzen zu ziehen. Thomas Black reiste also ab und durchschiffte den Atlantischen Ocean nach New-York, gelangte über die amerikanischen Seen nach der Niederlassung am Rothen Flusse, und dann von Fort zu Fort auf flüchtigem Schlitten, unter Leitung eines Couriers der Compagnie, trotz des Winters, trotz der Kälte, unter Mißachtung aller Gefahren einer Reise durch die arktischen Länder, am 17. März in Fort-Reliance unter den eben beschriebenen Umständen an.

Das waren die Aufklärungen, die der Astronom dem Kapitän Craventy gab, welcher sich in Folge dessen Thomas Black vollkommen zur Verfügung stellte.

»Aber, Herr Black, sagte er, warum eilten Sie dermaßen, um hierher zu kommen, da diese Sonnenfinsterniß erst im nächsten Jahre, also 1860, statthaben wird?

– Ich hatte ja gehört, Herr Kapitän, daß die Compagnie eine Expedition nach dem nördlichen Küstengebiet und über den siebenzigsten Breitengrad hinaus entsende, und wollte also die Abreise des Lieutenant Hobson nicht verfehlen.

– Herr Black, versetzte der Kapitän, wäre der Lieutenant schon fort [29] gewesen, so würde es mir eine Ehre gewesen sein, Sie bis an die Küsten des Eismeeres zu geleiten.«

Endlich wiederholte er dem Astronomen, daß dieser völlig auf ihn rechnen könne, und nannte ihn nochmals in Fort-Reliance herzlich willkommen.

4. Capitel
Viertes Capitel
Eine Factorei.

Der Sklavensee ist einer der größten, welchen man über dem einundsechzigsten Breitengrade begegnet. Er ist bei fünfzig Meilen Breite einhundertundfünfzig Meilen lang und liegt unter 61°25' nördlicher Breite und 144° westlicher Länge. Seine ganze Umgebung dacht sich von weither nach einem gemeinschaftlichen Mittelpunkte, eben jener Bodensenkung hin, ab, welche der erwähnte See ausfüllt.

Die Lage dieses Sees, mitten in den Jagdgebieten, welche früher von Pelzthieren fast übervölkert waren, hatte von jeher die Aufmerksamkeit der Compagnie erregt. Zahlreiche Wasserläufe mündeten in denselben, oder entsprangen aus ihm, wie der Mackenzie, der Foin-Fluß, der Athapeskow u.a.m. An seinen Ufern waren einige ansehnliche Forts errichtet, wie Fort-Providence im Norden und Fort-Resolution im Süden. Fort-Reliance selbst lag am nordöstlichen Ende des Sees, nur dreihundert Meilen vom Chesterfield-Busen, den die Gewässer der Hudsons-Bai füllen.

Der Sklavensee ist von kleinen, zwei- bis dreihundert Fuß hohen Inseln, auf welchen Granit und Gneiß da und dort zu Tage steht, so zu sagen übersäet. Sein nördliches Ufer ist von dichtem Gehölz besetzt, welches an jenen dürren und eisigen Theil des Festlandes grenzt, der den Namen des »verwünschten Landes« nicht mit Unrecht erhalten hat. Dagegen ist die aus kalkigem Boden bestehende Gegend im Süden flach, ohne jeden Hügel oder irgend eine Bodenerhebung. Dort zieht sich die Grenze hin, welche die großen[30] Wiederkäuer Amerikas, die Büffel und Bisonochsen, fast nie überschreiten, und deren Fleisch fast die ausschließliche Nahrung der canadischen und eingeborenen Jäger bildet.

Der Baumbestand im Norden bildet prächtige Wälder. Es ist nicht zu erstaunen, daß man in einer so entlegenen Gegend doch einen so schönen Pflanzenwuchs antrifft. Wirklich liegt der Sklavensee nicht in höherer Breite, als etwa Stockholm und Christiania in Schweden und Norwegen. Doch gehört hierzu die Bemerkung, daß die Isothermen, d.h. die Linien der gleichen Wärme, fast gar nicht den Breitengraden parallel laufen, und daß Amerika in gleicher Breite ungleich kälter ist, als Europa. Im April liegt in den Straßen New-Yorks z.B. noch Schnee, während diese Stadt etwa mit den Azoren in gleicher Breite liegt. Es kommt das daher, daß die Natur eines Continentes, seine Lage bezüglich der Meere, und selbst seine Bodengestaltung, von großem Einflusse auf sein Klima ist.

Fort-Reliance war zur Sommerzeit von Grün umgeben, an dem sich das Auge nach dem langen, strengen Winter ergötzte. Die Wälder bestanden in der Hauptsache aus Pappeln, Fichten und Birken. Die See-Eilande trugen herrliche Weidenbäume. Wild war im Ueberflusse darin und verließ es sogar während der schlechten Jahreszeit nicht. Mehr nach Süden zu erlegten die Jäger des Forts reichlich Bisonochsen, Elennthiere und eine Art canadischer Stachelschweine, deren Fleisch sehr geschätzt ist. Die Gewässer des Sklaven-Sees waren sehr fischreich. Seeforellen erlangten darin eine außergewöhnliche Größe und öfters ein Gewicht von über sechzig Pfunden. Hechte, gefräßige Quappen, eine Art Schattenfisch, den die Engländer den »blauen Fisch« nennen, ganze Legionen »Tittamegs«, der »weiße Corregu« der Naturforscher, vermehrten sich darin im Ueberfluß. Die Nahrungsfrage bot demnach für die Insassen des Fort-Reliance eine leichte Lösung, und unter der Bedingung, daß sie sich den Winter über wie die Füchse, die Marder, die Bären und andere Pelzthiere bekleideten, konnten sie es wohl mit der Strenge des Klimas aufnehmen.

Das genannte Fort bestand zunächst aus einem hölzernen Hause mit Erdgeschoß und einem Stockwerke, welches dem Commandanten und dessen Officieren zu Wohnungen diente. Rund um dieses Haus befanden sich die Wohnstätten der Soldaten, die Magazine der Compagnie und die Comptoire, in welchen die Tauschgeschäfte abgewickelt wurden. Ein kleines Bethaus, dem [31] nur ein Priester fehlte, und ein Pulverhäuschen vervollständigten die Bauwerke des Etablissements.


Die erste Frage des Wiederbelebten. (S. 26.)

Das Ganze war von zwanzig Fuß hohen Palissaden umplankt, die ein weites von vier Eckbastionen mit spitzen Dächern vertheidigtes Parallelogramm bildeten. Gegen einen Handstreich war das Fort also hinreichend geschützt. Diese Vorsicht war übrigens zu einer Zeit nöthig, während der die Indianer, statt Lieferanten der Compagnie zu sein, für die Unabhängigkeit ihrer Territorien kämpften; gleichzeitig bedurfte man ihrer früher auch gegen die Agenten und Soldaten concurrirender Gesellschaften, [32] als um den Besitz und das Ausbeutungsrecht dieser pelzreichen Ländereien noch Streit war.

Auf ihrem ganzen Gebiete zählte die Hudsons-Bai-Compagnie früher ein Personal von etwa tausend Mann. Ueber ihre Beamten und Soldaten stand ihr die ausgedehnteste Gerichtsbarkeit, selbst das Recht über Leben und Tod, zu. Die Chefs der Factoreien regelten die Gehalte nach Belieben und stellten eben so den Kaufwerth des Proviantes, wie den der Pelzwaaren fest. In Folge dieses Systemes, das jeder Controle entbehrte, war es nicht selten, daß sie zwei- bis dreihundert Procent Nutzen erzielten.

Aus folgender Zusammenstellung, welche der »Reise des Kapitän Robert Lade« entnommen ist, kann man ersehen, welche Ansätze dem Tauschhandel mit den Indianern zu Grunde gelegt wurden. Letztere sind übrigens die eigentlichen und besten Jäger der Compagnie geworden. Ein Biberfell war zu jener Zeit die beim Ein- und Verkauf benutzte Werthseinheit.

Die Indianer zahlen:


Für ein Gewehr10 Biberfelle.
Für ein halbes Pfund Pulver1 Biberfelle.
Für vier Pfund Blei1 Biberfelle.
Für eine Axt1 Biberfelle.
Für sechs Messer1 Biberfelle.
Für ein Pfund kleine Glaswaaren1 Biberfelle.
Für einen Tressenrock6 Biberfelle.
Für einen gewöhnlichen Rock5 Biberfelle.
Für ein besetztes Frauenkleid6 Biberfelle.
Für ein Pfund Tabak1 Biberfelle.
Für ein Pulverhorn1 Biberfelle.
Für einen Kamm und einen Spiegel2 Biberfelle.

Seit einigen Jahren waren aber Biber so selten geworden, daß man mit der Münzeinheit wechseln mußte, und jetzt dient eine Bisonhaut als solche. Kommt ein Indianer nach einem Fort, so erhält er von den Agenten eben so viele Holzmarken, als er Häute bringt, welche er dann am betreffenden Orte gegen irgendwelche Producte umtauscht. Da die Compagnie alle Ein- und Verkaufspreise nach Gutdünken feststellt, erzielt sie bei diesem System meist einen glänzenden Gewinn.

Wie in allen Factoreien galten diese Handelsbräuche auch in Fort-[33] Reliance. Mrs. Paulina Barnett konnte sie während ihres Aufenthaltes, der sich bis zum 16. April ausdehnte, kennen lernen. Ost unterhielten sich die Reisende und Lieutenant Hobson mit einander, entwarfen stolze Pläne und waren jedenfalls entschieden dafür, vor keinem Hindernisse zurückzuweichen. Thomas Black sprach nur dann, wenn es seine Specialmission betraf. Der Lichtkranz und die röthlichen Protuberanzen um den Mond verschlangen sein ganzes Interesse. Man fühlte es heraus, daß er sein ganzes Leben an die Lösung dieses Problems gesetzt hatte, und zuletzt erregte er auch in Mrs. Paulina ein lebhaftes Interesse für dieses wissenschaftliche Räthsel. O, wie verlangte es sie Beide, nur erst den Polarkreis zu überschreiten, und wie entfernt erschien noch dieser 18. Juli 1860, mindestens dem Astronomen aus Greenwich.

Die Vorbereitungen zur Abreise konnten erst gegen Mitte März begonnen werden und nahmen einen vollen Monat in Anspruch. Es bedurfte auch wirklich einer langwierigen Arbeit, eine solche Expedition nach den Polargegenden zu organisiren, da man ja Alles, wie Lebensmittel, Kleidung, Werkzeuge, Ausrüstungsgegenstände, Waffen und Munition mitnehmen mußte.

Die von Lieutenant Jasper Hobson befehligte Truppe sollte aus einem Officier, zwei Unterofficieren und zehn Soldaten bestehen, von denen drei Verheiratete auch ihre Frauen mitnahmen. Aus den energischsten und entschlossensten Mannschaften der Besatzung hatte Kapitän Craventy folgende ausgewählt:


1) Lieutenant Jasper Hobson.
2) Sergeant Long.
3) Corporal Joliffe.
4) Petersen, Soldat.
5) Belcher, Soldat.
6) Raë, Soldat.
7) Marbre, Soldat.
8) Garey, Soldat.
9) Vond, Soldat.
10) Mac Nap, Soldat.
11) Sabine, Soldat.
12) Hope, Soldat.
13) Kellet, Soldat.

[34] Darüber:

Mrs. Raë.
Mrs. Joliffe.
Mrs. Mac Nap.
Fremde:

Mrs. Paulina Barnett.
Madge.
Thomas Black.

Zusammen waren das also neunzehn Personen, welche es mehrere Hundert Meilen über wüste und wenig gekannte Gebiete zu transportiren galt.

Mit Rücksicht hierauf hatten die Agenten der Compagnie alles für diesen Zug Nöthige nach Fort-Reliance geschafft. Ein Dutzend Schlitten nebst zugehöriger Bespannung standen bereit. Diese sehr kunstlosen Fahrzeuge bestanden aus leichten Planken, welche durch Querhölzer fest mit einander verbunden waren. Dazu kam ein dem Vordertheile eines Schlittschuhs ähnliches Stück Holz, welches also nach aufwärts gebogen war und dem Schlitten gestattete, leicht, und ohne tief einzusinken, über den Schnee zu gleiten. Sechs paarweis angespannte Hunde bildeten die Zugkraft jedes Schlittens, – intelligente und flüchtige Thiere, welche unter günstigen Umständen bis fünfzehn Meilen in der Stunde zurückzulegen vermögen.

Die Garderobe der Reisenden bestand aus Rennthierfellen, welche mit dickem Pelze gefüttert waren. Alle führten auch noch wollene Kleidung mit sich, um gegen den in jenen Breiten oft sehr schroffen Temperaturwechsel gesichert zu sein. Jedermann, Officier und Soldat, Mann oder Weib, war mit Stiefeln aus Robbenfell, die mit Sehnen genäht werden und welche die Eingeborenen mit einer Geschicklichkeit ohne Gleichen herstellen, ausgerüstet. Diese Stiefeln sind für Wasser ganz undurchlässig und empfehlen sich zum Marschiren durch ihre leichte Biegsamkeit. An die Sohlen derselben waren Schneeschuhe aus Fichtenholz von drei bis vier Fuß Länge angepaßt, Apparate, welche das Gewicht eines Menschen auch auf dem lockersten Schnee tragen und eine sehr schnelle Fortbewegung, etwa wie die der Schlittschuhläufer auf den Eisflächen, ermöglichen. Pelzmützen und Gürtel aus Damwildleder vervollständigten diese Ausrüstung.

An Waffen nahm Lieutenant Hobson, neben hinreichender Munition, von der Compagnie gelieferte Dienstgewehre, Pistolen und einige Ordonnanz-[35] Säbel mit; an Werkzeugen Aexte, Sägen, Hohlbeile und andere zur Zimmerarbeit nöthige Instrumente; an Ausrüstungsgegenständen Alles, was zur Gründung einer Factorei unter den gegebenen Umständen gehörte, unter Anderem einen Ofen, einen Kochofen, zwei Luftpumpen als Ventilatoren, ein »Halkett-Boat«, das ist ein Kautschuk-Canot, welches man im Augenblicke des Bedarfs aufbläst.

Bezüglich der Verpflegung durfte man wohl auf die Jäger des Detachements rechnen. Einige der Soldaten waren geübte Treiber, und Rennthiere fehlten in diesen hochnördlichen Gegenden niemals. Ganze Stämme von Indianern oder Eskimos nähren sich, aus Mangel an Brod und anderen Speisen, ausschließlich von diesem Wild, welches reichlich vorhanden und sehr schmackhaft ist. Da jedoch auch auf unvermeidliche Verzögerungen und Schwierigkeiten aller Art zu rechnen war, so mußte immerhin eine gewisse Menge Proviant mitgeführt werden. Dieser bestand aus Bisonochsen-, Elenn- und Damhirschfleisch, welches durch große Treibjagden im Süden des Sees gewonnen wurde; ferner aus Pökelfleisch, das sich ja eine beliebige Zeit lang eßbar erhält, und endlich aus einem Präparate nach Indianerart, in welchem das getrocknete und zu ganz seinem Pulver gemahlene Fleisch alle seine nährenden Bestandtheile bei geringster Masse behält. So zerrieben, braucht es auch gar nicht gekocht zu werden, und bildet in dieser Form eine sehr stoffreiche Nahrung.

An Liqueuren nahm Lieutenant Hobson mehrere Barils 1 Branntwein und Whisky mit, nahm sich aber vor, damit so sparsam als möglich umzugehen, da Spirituosen bei ganz strenger Kälte dem Menschen leicht Nachtheile zuziehen können. Dagegen hatte ihm die Compagnie, nebst einer Taschenapotheke, beträchtliche Mengen von »Lime juice« (Limoniensaft), Citronen und andere Droguen zur Verfügung gestellt, welche zur Bekämpfung der in jenen Gegenden so furchtbar auftretenden scorbutischen Affectionen, wie zum Verhindern ihres Eintritts, unentbehrlich sind. Alle Theilnehmer waren übrigens sorgfältig ausgewählt, um nicht zu fett und nicht zu mager zu sein; seit langen Jahren an die Strenge dieses Klimas gewöhnt, mußten sie die Strapazen eines Zuges nach dem Eismeere leichter ertragen. Zudem waren es gutwillige, herzhafte und unerschrockene Leute, welche ungezwungen [36] theilnahmen. Während der Zeit ihres Aufenthaltes an den Grenzen des amerikanischen Continentes war ihnen ein doppelter Sold für den Fall zugesichert, daß sie bis über den siebenzigsten Breitengrad hinauskamen.

Für Mrs. Paulina Barnett und ihre getreue Madge war ein besonderer, etwas bequemerer Schlitten hergestellt worden. Die muthige Frau wollte zwar durchaus keinen Vorzug vor ihren Mitreisenden genießen; sie mußte sich jedoch der Einsprache des Kapitäns fügen, der übrigens nur der Dolmetscher der Compagnie selbst war.

Den Astronomen Thomas Black sollte dasselbe Gefährt, welches ihn nach Fort-Reliance gebracht hatte, auch sammt seinem gelehrten Apparate bis zum Ziele führen. Die, übrigens wenig zahlreichen, Instrumente des Astronomen, – bestehend aus: einem Fernrohre zur Mondbeobachtung, einem Sextanten zur Bestimmung der geographischen Breite und einem Chronometer zu der der Längengrade, einigen Karten und wenigen Büchern – Alles war auf diesen Schlitten verpackt, und Thomas Black rechnete stark darauf, daß ihn seine getreuen Hunde nicht im Stiche lassen würden.

Selbstverständlich war das Futter für die Bespannung nicht vergessen. Es galt unterwegs im Ganzen zweiundsiebenzig Hunde, also eine ganze Heerde, zu unterhalten, wofür die Jäger des Detachements speciell zu sorgen hatten. Diese klugen und kräftigen Thiere waren von Chipeway-Indianern angekauft, welche sie zu ihrer harten Arbeit ausgezeichnet abzurichten wissen.

Die ganze Organisation der kleinen Gesellschaft erfreute sich der einsichtigsten Leitung. Lieutenant Jasper Hobson unterzog sich ihr mit einem über alles Lob erhabenen Eifer. Stolz auf seine Mission, begeistert für sein Werk, wollte er Nichts vernachlässigen, was den Erfolg unsicher machen könnte. Corporal Joliffe, der immer alle Hände voll zu thun hatte, brachte dabei nicht viel zu Stande; doch die Gegenwart seiner Frau war und wurde für die Expedition sehr nützlich. Mrs. Paulina Barnett schloß diese intelligente und muntere Canadierin, mit den blonden Haaren und großen Augen, bald in ihr Herz.

Es bedarf kaum der Erwähnung, daß Kapitän Craventy für den guten Ausgang der Unternehmung Nichts unterließ. Die seitens der Oberagenten der Compagnie ihm zugestellten Instructionen bewiesen, welchen Werth man auf den Erfolg der Expedition und auf die Gründung einer neuen Factorei jenseit des siebenzigsten Breitengrades legte. Alles, was menschenmöglich [37] war, wurde denn auch zu diesem Zwecke aufgeboten. Wenn die Natur aber dem Fuße des kühnen Lieutenants unübersteigliche Hindernisse entgegenthürmte? – Das entzog sich freilich aller Vorausberechnung.

Fußnoten

1 Ein Baril – etwa siebenzig Liter.

5. Capitel
Fünftes Capitel
Von Fort-Reliance nach Fort-Entreprise.

Die ersten schönen Tage waren herangenaht. Der grüne Mantel der Hügel kam unter dem theilweise verschwundenen Schnee zum Vorschein. Einige Vögel, als: Schwäne, Auerhähne, kahlköpfige Adler und andere Zugvögel, strichen, von Süden kommend, durch die lauere Luft. An den Zweigspitzen der Pappeln, Birken und Weiden schwollen die Knospen. Große Wasserlachen, welche durch das Schmelzen des Schnees entstanden, lockten jene rothköpfigen Enten herbei, von denen es im nördlicheren Amerika so zahllose Arten giebt. Die Taucherhühner, Wasserscheerer und Eidergänse suchten sich im Norden kältere Gegenden auf. Spitzmäuse, in der Größe von Haselnüssen, spielten neben ihren Löchern und zeichneten mit ihrem kleinen, spitzigen Schwanze bunte Linien auf dem Erdboden. Es war jetzt eine Wollust, zu athmen und die Sonnenstrahlen einzusaugen, welche den Frühling so lebenweckend machen. Die Natur erhob sich nach der endlosen Winternacht aus dem Schlafe und lächelte beim Erwachen. Die Wirkung dieser Rückkehr zu neuem Leben ist in diesen nördlichsten Gegenden vielleicht fühlbarer, als auf jedem anderen Punkte der Erde.

Immerhin war die Thauwitterung noch nicht durchgreifend. Zwar zeigte das Thermometer + 5°, aber die weit niedrigere Temperatur der Nächte erhielt noch die Schneeflächen. Es war das übrigens ein für die Benutzung der Schlitten allzu günstiger Umstand, als daß Jasper Hobson nicht davon hätte Nutzen ziehen sollen.

Das Eis des Sees stand noch fest. Die Jäger des Forts machten bei ihren weiten Excursionen auf dieser ebenen Fläche immer gute Beute, da das [38] Wild schon wiedergekommen war. Mrs. Paulina Barnett konnte gar nicht genug die Geschicklichkeit bewundern, mit welcher diese Männer sich ihrer Schneeschuhe bedienten. Sie erreichten mit denselben die Geschwindigkeit eines galopirenden Pferdes. Auf den Rath Craventy's übte sich auch die Reisende in dem Gebrauche dieser Apparate, und erwarb sich bald eine hinlängliche Geschicklichkeit, über den Schnee zu gleiten.

Schon seit einigen Tagen kamen die Indianer truppweise zum Fort, um die Ergebnisse ihrer Winterjagden gegen allerhand andere Gegenstände umzutauschen. Pelze gab es aber nicht im Ueberflusse; Marder- und Wieselselle erreichten zwar eine hohe Zahl, aber Biber, Ottern, Luchse, Hermelins und Füchse waren selten. Die Compagnie that also gewiß gut daran, höher im Norden neue, von der Raubgier des Menschen noch verschonte Jagdgebiete aufzusuchen.

Am Morgen des 16. April war Lieutenant Jasper Hobson nebst Gesellschaft zur Abreise fertig. Durch die ganze bekanntere Gegend zwischen dem Sklaven-See und dem des Großen Bären, welcher schon über dem Polarkreise liegt, war der Weg im Voraus festzustellen. Jasper Hobson sollte zunächst nach Fort-Confidence, das am nördlichsten Theile dieses Sees liegt, ziehen. Dann war ein ganz geeigneter Punkt zur frischen Verproviantirung der Gesellschaft das Fort-Entreprise, welches zweihundert Meilen im Nordwesten, am Ufer des kleinen Snure-Sees erbaut ist. Bei Zurücklegung von fünfzehn Meilen täglich rechnete Jasper Hobson darauf, dort in den ersten Tagen des Mai einmal Halt zu machen.

Von dieser Stelle aus sollte die Expedition auf kürzestem Wege die amerikanische Küste zu erreichen suchen und sich von da aus nach dem Cap Bathurst begeben. Man war dahin übereingekommen, daß Kapitän Craventy nach einem Jahre eine Proviantsendung nach demselben Punkte dirigiren und daß Lieutenant Hobson dieser Sendung einige Mann entgegenschicken sollte, um sie nach dem Orte, an dem dann das neue Fort errichtet wäre, zu geleiten. Auf diese Weise war die Zukunft der Factorei gegen alle Uebelstände sicher gestellt, und der Lieutenant nebst seinen Begleitern, diese freiwillig Verbannten, blieben doch in einiger Beziehung zu ihren Nebenmenschen.

Am Morgen des 16. April erwarteten die angespannten Hunde vor dem äußeren Thore des Forts nur noch die Reisenden. Kapitän Craventy hatte [39] die zu dem Detachement gehörigen Mannschaften versammelt und richtete an sie einige herzliche Worte.


Kapitän Craventy's Abschiedsworte. (S. 40.)

Vor allen Dingen empfahl er ihnen die vollkommenste Einigkeit mitten in den Gefahren, denen sie zu trotzen berufen waren. Die Unterordnung unter ihre Führer war eine unabweisliche Bedingung für dieses Unternehmen, eine Sache der Entsagung und Ergebenheit. Ein Hurrah antwortete der Rede des Kapitäns. Dann sagte man kurz Lebewohl, und Jeder nahm in dem ihm vorher bezeichneten Schlitten Platz.


»Es geht gut ...« (S. 42.)

Jasper Hobson und Sergeant Long nahmen die [40] Spitze des Zuges ein. Mrs. Paulina Barnett und Madge folgten ihnen, die lange Eskimopeitsche, welche in trockene gedrehte Sehnenstücke auslief, geschickt handhabend. Thomas Black und einer der Soldaten, der Canadier Petersen, kamen in dritter Reihe. Hieran schlossen sich dann die anderen, von den Soldaten und den drei Frauen besetzten Schlitten. Corporal Joliffe nebst Gattin bildeten den Schluß. Nach Jasper Hobson's Anordnung sollte jeder Schlitten in der vorgeschriebenen Reihenfolge verbleiben, auch eine gewisse Distanz halten, um [41] jeder Unordnung vorzubeugen. Der Stoß eines solchen Schlittens, der im vollsten Jagen war, hätte auch sicher leicht Unheil anrichten können.

Von Fort-Reliance aus schlug Jasper Hobson sogleich eine nordwestliche Richtung ein. Dabei war zunächst ein breiter Strom zu überschreiten, welcher den Sklaven-See mit dem Wolmstey-See verbindet. Dieser Wasserlauf, welcher noch dick gefroren war, unterschied sich indeß in keiner Weise von der ungeheuren weißen Ebene. Ein gleichmäßiger Schneeteppich lag über die ganze Umgebung gebreitet, und die von der kräftigen Bespannung gezogenen Schlitten sausten über die feste Unterlage.

Das Wetter war schön, aber noch sehr kalt. Die nur wenig über den Horizont aufsteigende Sonne beschrieb am Himmel nur einen sehr flachen Bogen. Ihre von der Schneedecke glänzend reflectirten Strahlen spendeten mehr Licht, als Wärme. Glücklicherweise bewegte kein Windhauch die Luft, welche Ruhe die Kälte weit erträglicher machte. Dennoch mußte wohl der durch die Schnelligkeit der Schlitten entstehende Luftstrom den beiden, nicht an das rauhe Polarklima gewöhnten Begleitern des Lieutenants Hobson empfindlich in's Gesicht schneiden.

»Es geht gut, sagte da Jasper Hobson zu dem Sergeanten, welcher ruhig neben ihm saß, als stände er ›Gewehr auf Schulter‹, die Fahrt läßt sich gut an. Der Himmel ist günstig, die Temperatur mäßig, unsere Bespannung läuft wie ein Expreßzug, und wenn diese gute Witterung anhält, wird unsere Ueberfahrt ohne Hinderniß verlaufen. Was denken Sie darüber, Sergeant Long?

– Was Sie selbst denken, Lieutenant Jasper, antwortete der Sergeant, der sich nichts anders vorstellen konnte, als sein Vorgesetzter.

– Sind Sie ebenso wie ich dafür, Sergeant, fuhr Jasper Hobson fort, so weit als möglich nach Norden vorzudringen?

– Sie haben nur zu befehlen, Herr Lieutenant, ich gehorche.

– Ich weiß es, Sergeant, ich weiß, daß es hinreicht, Ihnen eine Ordre zuzustellen, um sie ausgeführt zu sehen. Möchten unsere Leute ebenso die Tragweite unserer Mission einsehen, und sich mit Leib und Seele den Interessen der Compagnie widmen. O, Sergeant Long, ich glaube, wenn ich Ihnen einen ganz unausführbaren Befehl gäbe ...

– Es giebt keine unausführbaren Befehle, Herr Lieutenant.

– Was? Und wenn ich Sie bis an den Nordpol schickte?

[42] – Dann ginge ich hin, Herr Lieutenant.

– Um auch von dort zurückzukehren? setzte Jasper Hobson lächelnd hinzu.

– Ich käme auch wieder«, antwortete einfach der Sergeant.

Während dieses Zwiegesprächs zwischen Lieutenant Hobson und seinem Sergeant hatten auch Mrs. Paulina Barnett und Madge, als die Schlitten der Steilheit des Bodens wegen etwas langsamer gingen, einige Worte gewechselt. Diese beiden beherzten Frauen betrachteten, wohl verwahrt in ihren Otterpelzhauben und unter einem dicken, weißen Bärenfelle halb begraben, diese rauhe Natur und die blassen Umrisse der hohen Eisberge, welche sich längs des Horizontes abhoben. Das Detachement hatte die Hügel schon hinter sich gelassen, welche das nördliche Ufer des Sklaven-Sees uneben machen, und deren Gipfel von starrenden Baumgerippen bekrönt waren. Die unendliche Ebene dehnte sich ohne Grenzen vor den Augen aus.

Doch belebten einige Vögel durch ihre Stimmen und ihr Auffliegen die ungeheure Einöde. Unter diesen bemerkte man einige Schwärme von Schwänen, welche nach Norden zogen und deren Weiße des Gefieders mit der des Schnees verschmolz. Man unterschied sie blos, wenn man das Grau der Atmosphäre als Hintergrund hatte. Auf dem Erdboden aber waren sie auch von dem schärfsten Auge kaum zu entdecken.

»Welch' wunderbare Gegend! sagte Mrs. Paulina Barnett. Welch' ein Unterschied zwischen diesen Eisregionen und den grünenden Ebenen Australiens! Erinnerst Du Dich, meine gute Madge, als uns am Golf von Carpentaria die Hitze überwältigte; entsinnst Du Dich dieses unerbittlichen Himmels, ohne jede Wolke und jeden Wasserdunst?

– Meine Tochter, antwortete Madge, ich besitze nicht, wie Du, die Gabe der Erinnerung. Du bewahrst Deine gehabten Eindrücke, ich vergesse die meinen.

– Was, Madge, rief Mrs. Barnett, Du hast die Tropenhitze Indiens und Australiens vergessen? Dir ist keine Erinnerung an unsere Qualen verblieben, wie uns in der Wüste das Wasser fehlte, wie die Sonnenstrahlen uns brannten bis in's Mark hinein, und selbst die Nacht unsere Leiden kaum unterbrach?

– Nein, nein, Paulina, erwiderte Madge, die sich dichter in die Pelzdecken wickelte, nein, ich erinnere mich dessen nicht. Und wie kannst Du mir [43] auch jetzt die Leiden, von denen Du sprichst, die Hitze und den quälenden Durst in's Gedächtniß zurückrufen wollen, jetzt, wo das Eis uns rings umstarrt, und ich nur die Hand auszustrecken brauche, um einen Schneeball zu erfassen. Du sprichst mir von Hitze, und wir frieren unter den dicken Bärenfellen! Du erinnerst Dich der Sonnengluth, während diese Aprilsonne nicht einmal das Eis von unseren Lippen wegthauen kann! Nein, meine Tochter, sprich mir nicht mehr von Hitze, sage nicht, daß ich mich je beklagt hätte, es sei mir zu warm gewesen, jetzt könnte ich Dir's nicht glauben.«

Mrs. Paulina Barnett konnte sich eines Lächelns nicht erwehren.

»Ach, sagte sie, Du frierst wohl sehr, meine gute Madge?

– Gewiß, meine Tochter, mir ist's kalt, aber diese Temperatur mißfällt mir nicht. Im Gegentheil, dieses Klima muß recht gesund sein, und ich hoffe, mich an diesem Ende von Amerika sehr wohl zu befinden. Das ist wirklich ein schönes Land hier!

– Ja wohl, Madge, ein wunderbares Land, und bis jetzt haben wir von seinen Wundern nur noch sehr wenig gesehen. Laß aber unsere Reise sich bis an die Küsten des Polarmeeres ausdehnen, laß den Winter kommen mit seinen gigantischen Eisgebilden, seiner tiefen Schneedecke, seinen Borealstürmen, mit dem Nordlichte, den funkelnden Sternbildern, der langen sechsmonatlichen Nacht – dann wirst Du es begreifen, daß des Schöpfers Werk allüberall vollkommen ist!«

So sprach, bei ihrer lebhaften Einbildung, Mrs. Paulina Barnett.

In diesen entlegenen Regionen mit ihrem unerträglichen Klima sah sie nur die schönsten Phänomene der Natur. Ihr Reisetrieb überwog die Vernunft. Jetzt sog sie aus diesen Polargegenden nur die ergreifende Poesie, welche die Weisen durch die Legende fortgepflanzt und die Barden aus Ossian's Zeiten gesungen hatten. Die nüchternere Madge aber machte sich aus den Gefahren einer Reise nach den arktischen Ländern kein Hehl, so wenig, wie aus den Leiden einer Ueberwinterung bei weniger als dreißig Graden vom Nordpole.

Wirklich unterlagen ja oft auch die Stärksten den Anstrengungen und Entbehrungen, den geistigen und körperlichen Qualen dieser rauhen Klimate. Lieutenant Jasper Hobson's Mission gab freilich keine Veranlassung, bis zu den höchsten Breitengraden der Erdkugel vorzudringen; es handelte sich nach seinem Auftrage nicht darum, den Pol zu erreichen oder sich auch nur auf [44] die Fährten eines Parry, Roß, Mac Clure, Kane oder Morton zu wagen. Hat man den Polarkreis aber einmal überschritten, so sind die Prüfungen fast die nämlichen, nehmen wenigstens nicht in dem Verhältniß, wie das Wachsthum der Breite, zu. Jasper Hobson dachte wohl auch gar nicht daran, über den siebenzigsten Grad hinauszugehen! Gut. Man erinnere sich aber, daß Franklin und seine Unglücksgenossen durch Hunger und Frost umgekommen sind, an einer Stelle, wo sie noch nicht einmal den achtundsechzigsten Grad nördlicher Breite passirt hatten!

In dem vom Joliffe'schen Ehepaare besetzten Schlitten war unterdessen von ganz anderen Dingen die Rede. Wahrscheinlich hatte der Corporal seinen Abschied etwas zu reichlich begossen, denn er wagte ganz ausnahmsweise anderer Ansicht zu sein, als sein Weibchen. Ja, er trotzte ihr sogar, was nur bei ganz außergewöhnlichen Gelegenheiten vorkommen konnte.

»Nein, liebe Frau, sagte der Corporal, keine Furcht! Ein Schlitten ist nicht schwieriger zu regieren, als ein Ponygespann, und der Kukuk hole mich, wenn ich nicht mit solch' einer Hundebespannung fertig werde.

– Dein Geschick hierzu bestreite ich ja gar nicht, entgegnete Mrs. Joliffe, Du sollst nur die Schnelligkeit der Fahrt mäßigen. Da sind wir schon an der Spitze des Zuges, und ich höre den Zuruf des Lieutenant Hobson, daß Du Deinen Platz am Ende desselben wieder einnehmen sollst.

– Laß ihn nur rufen, Frauchen, immer laß ihn rufen ...«

Von neuen Peitschenschlägen angetrieben, flogen die Hunde mit dem Schlitten in wachsender Schnelligkeit dahin.

»Nimm Dich in Acht, Joliffe! mahnte seine Frau. Nicht so schnell! Es geht hier bergab!

– Bergab? erwiderte der Corporal, Du nennst das bergab?

– Ich sage es Dir noch einmal, es geht hier bergunter!

– Und ich versichere Dir, daß es bergauf geht. Da sieh' doch, wie die Hunde ziehen müssen!«

In Wahrheit zogen aber die Hunde keineswegs. Die Abhängigkeit des Bodens war im Gegentheil ganz auffallend. Mit schwindelnder Schnelligkeit flog der Schlitten dahin, und war jetzt den anderen schon weit voraus. Mr. und Mrs. Joliffe sprangen darin auf und nieder. Die Stöße in Folge der Unebenheit des Weges wurden häufiger. Die beiden Gatten, welche bald nach links, bald nach rechts und bald an einander geworfen wurden, schüttelte [45] es tüchtig durch. Der Corporal wollte aber einmal auf Nichts, weder auf die Ermahnungen seiner Frau, noch auf das Zurufen des Lieutenants Hobson, hören. Da Letzterer die Gefahren dieser wilden Jagd einsah, trieb er sein eigenes Gespann an, um den Tollkopf einzuholen, und ihm folgte die ganze Karawane in demselben Sturmschritte.

Der Corporal aber flog immer tapfer weiter; seine Schnelligkeit berauschte ihn; er focht mit den Armen, rief und handhabte seine lange Peitsche, als wäre er ein vollkommener Sportsman.

»Ein prächtiges Instrument, eine solche Peitsche, sagte er, und dazu verstehen die Eskimos mit unglaublicher Geschicklichkeit mit ihr umzuspringen.

– Du bist aber kein Eskimo, fiel seine Frau ein und machte den vergeblichen Versuch, den Arm ihres tollen Schlittenlenkers fest zu halten.

– Ich habe mir sagen lassen, lallte der Corporal, ja, ich habe mir sagen lassen, daß die Eskimos jeden Zughund und auch an jeder beliebigen Stelle zu treffen wissen. Mit dem harten sehnigen Ende können sie ihm sogar ein kleines Endchen vom Ohre abschlagen, wenn sie das für passend halten. Ich werde versuchen ...

– Versuche Nichts, Joliffe, thu' es nicht! rief die kleine auf's Höchste erschreckte Frau.

– Keine Furcht, Mrs. Joliffe, nur keine Furcht. Ich verstehe mich darauf. Da ist gerade unser fünfter Hund, der Dummheiten macht, ich werde ihn gleich in Ordnung bringen! ...«

Ohne Zweifel war aber der Corporal weder genug »Eskimo«, noch mit dem Gebrauche des langen Riemens, der bis vier Fuß über die Bespannung hinausreichte, genügend vertraut, denn pfeifend rollte sich zwar die Peitsche lang auf, schnellte aber durch einen falsch berechneten Rückschlag zurück und schlang sich um Mr. Joliffe's Kopf und Hals, wobei auch seine Pelzkapuze verloren ging. Ohne diese dicke Mütze hätte der Corporal wahrscheinlich sein eigenes Ohr ganz empfindlich getroffen.

Gleichzeitig warfen sich die Hunde nach der Seite, der Schlitten stürzte um und die Insassen rollten in den Schnee, der zum Glück tief genug war, um sie keinen Schaden nehmen zu lassen. Aber welche Beschämung für den Corporal! Wie verdutzt sah er sein Weibchen an! Und dazu die Vorwürfe seitens des Lieutenants Hobson!

Der Schlitten ward wieder aufgerichtet, aber gleichzeitig bestimmte man, [46] daß die Zügel von Rechts wegen nun Mrs. Joliffe zu überlassen seien. Der ganz beschämte Corporal mußte sich fügen, und der kurze Zeit unterbrochene Zug des Detachements bewegte sich weiter.

Die folgenden vierzehn Tage verliefen ohne weiteren Zufall. Die Witterung blieb dauernd günstig, die Temperatur erträglich, und am 1. Mai langte die Gesellschaft bei Fort-Entreprise an.

6. Capitel
Sechstes Capitel
Ein Wapiti-Duell.

Zweihundert Meilen hatte die Expedition seit ihrer Abfahrt von Fort-Reliance zurückgelegt. Die Reisenden, welche, begünstigt durch die lange Dämmerung, Tag und Nacht auf den durch die Zughunde schnell davongeführten Schlitten verblieben, waren sehr erschöpft, als sie die Ufer des Snure-Sees, neben welchem Fort-Entreprise liegt, erreichten.

Dieses Fort, das erst seit wenigen Jahren von der Hudsons-Bai-Compagnie errichtet war, bildete nur einen Verproviantirungsplatz von untergeordneter Bedeutung. Hauptsächlich diente es als Haltepunkt für die Detachements, welche die Fellsendungen vom See des Großen Bären her, der gegen dreihundert Meilen nordwestlich davon lag, begleiteten. Nur ein Dutzend Soldaten waren dort auf Posten. Das Fort bestand auch nur aus einem umplankten Holzgebäude. So wenig einladend diese Wohnstätte aber auch war, so willkommen erschien sie doch den Gefährten des Lieutenants Hobson, welche dort zwei Tage lang von den ersten Anstrengungen der Reise ausruhten.

Der Polarfrühling machte hier schon seinen bescheidenen Einfluß geltend. Allmälig schmolz der Schnee und die Nächte waren nun nicht mehr kalt genug, ihn frisch zu übereisen. Einige leichte Moose und schwächliche Grasarten grünten da und dort auf, und kleine, fast farblose Blumen erhoben ihre feuchte Blüthe zwischen den Kieseln.


Das Ehepaar im Schnee. (S. 46.)

Diese Vorzeichen des langsamen [47] Erwachens der Natur nach langem Winterschlafe ergötzten das von der Weiße des Schnees angegriffene Auge, das mit Wohlgefallen auf diesen noch seltenen Beispielen der arktischen Flora ruhte.


Mrs. Barnett und Jasper Hobson am Snure-See. (S. 48.)

Mrs. Paulina Barnett und Jasper Hobson benutzten die Mußezeit, um die Ufer des kleinen Sees kennen zu lernen. Beide hatten Verständniß für die Natur, deren begeisterte Bewunderer sie waren. Sie wanderten also zusammen über die gebrochenen Eisstücken und die durch die Wirkung der [48] Sonnenwärme hervorgezauberten Cascaden. Das Eis des Snure-Sees stand noch. Kein Sprung deutete auf einen bevorstehenden Bruch desselben hin.

Einige zerfallende Eisberge starrten aus der festen Fläche empor und bildeten sonderbare Formen und Erscheinungen, vorzüglich wenn das Licht, das sich an ihren scharfen, durchsichtigen Spitzen brach, deren Farben veränderte. Es erschien, als habe eine mächtige Hand einen Regenbogen zerstückelt, dessen Strahlen sich nun auf dem Erdboden kreuzten.

»Das ist doch ein herrliches Schauspiel, Herr Hobson, sagte wiederholt [49] Mrs. Paulina. Diese Strahlenbrechungen ändern sich stets, je nachdem man den Ort wechselt. Erscheint es Ihnen nicht so, als stünden wir vor der Oeffnung eines ungeheuren Kaleidoskops? Vielleicht sind Sie aber für dieses mir so neue Schauspiel schon unempfänglicher geworden?

– Gewiß nicht, Mistreß, erwiderte der Lieutenant. Ich bin zwar in diesem Lande geboren, welches meine ganze Kindheit und Jugend sah, aber ich werde niemals satt, seine Schönheiten zu betrachten. Ist aber Ihr Enthusiasmus schon so groß, wenn die Sonne ihr Licht über diese Gegenden gießt, das will sagen, wenn das Tagesgestirn den Anblick des Landes schon verändert hat, wie groß wird er sein, wenn Sie diese Gebiete mitten in der strengsten Winterkälte werden betrachten können? – Ich muß Ihnen gestehen, Mistreß, daß die Sonne, welche für gemäßigte Zonen so unbezahlbar ist, mir die Freude an meinem arktischen Vaterlande etwas verleidet.

– Wirklich, Herr Hobson? antwortete die Reisende, welche über diese Bemerkung des Lieutenants lächelte. Meines Erachtens nach ist die Sonne doch ein trefflicher Reisebegleiter, und hat man sich über die Wärme, welche sie ausstrahlt, selbst in den Polargegenden doch nicht zu beklagen.

– Ah, Madame, entgegnete Jasper Hobson, ich gehöre zu denen, welche Rußland mit Vorliebe im Winter und die Sahara im Sommer besuchen. Dann erst sieht man diese Länder in ihrem charakteristischen Gewande. Nein! Die Sonne ist ein Gestirn für die gemäßigten und heißen Zonen. Dreißig Grade vom Pole ist sie nicht an ihrem Platze. Der Himmel dieser Erdengegend ist der reine, kalte Winterhimmel, der mit Sternen besäet und manchmal durch ein Nordlicht erhellt ist. Hier ist das Reich der Nacht, Madame, nicht das des Tages, und diese lange Polarnacht birgt auch noch Freuden und Wunder in ihrem Schooße.

– Haben Sie, Herr Hobson, die gemäßigten Zonen Europas und Amerikas besucht? fragte da die Dame.

– Ja, Mistreß, und habe sie nach Verdienst bewundert. Aber stets bin ich mit brennender Begierde und neuem Enthusiasmus nach dem Lande meiner Geburt zurückgekehrt. Ich bin einmal der Mann der Kälte, und rechne mir das, daß ich sie ertrage, nicht zum Verdienst an. Sie hat durchaus keine Gewalt über mich, und ich könnte wie die Eskimos, ganze Monate in einer Schneehütte zubringen.

– Herr Hobson, antwortete die Reisende, Sie haben eine Art und Weise [50] von diesem furchtbaren Feinde zu reden, welche Einem ordentlich das Herz erwärmt. Ich hoffe mich Ihrer würdig zu zeigen, und so weit Sie nach dem Pole hinauf der Kälte zu trotzen wagen, werden wir es auch zusammen thun.

– Schön, Madame, sehr schön; möchten nur Alle, die mir folgen, Soldaten wie Frauen, sich ebenso entschlossen zeigen, wie Sie! Mit Gottes Hilfe werden wir noch weit gehen.

– Ueber den Anfang der Reise haben Sie sich eben nicht zu beklagen. Bis jetzt gab es keinen Unfall, aber günstiges Wetter und erträgliche Temperatur, so daß Alles nach Wunsch ging.

– Gewiß, Madame, entgegnete der Lieutenant; aber gerade die von Ihnen so bewunderte Sonne wird bald Strapazen und Hindernisse unter unserem Fuße hervorrufen.

– Und inwiefern, Herr Hobson? fragte begierig Mrs. Paulina Barnett.

– Insofern, als die Sonne binnen Kurzem das Aus sehen dieses Landes verändert haben wird; als das schmelzende Eis dann den Schlitten keine geeignete Oberfläche mehr bietet; als der Erdboden holperig und hart werden wird, und die keuchenden Hunde uns nicht mehr mit Pfeilgeschwindigkeit werden befördern können. Dann gehen Flüsse und Seen wieder in flüssigen Zustand über, und wir werden sie umfahren oder durchwaten müssen. Alle diese dem Einflusse der Sonne zuzuschreibenden Veränderungen werden sich in Verzögerungen, Mühen und Gefahren übersetzen, von denen der lockere Schnee, welcher unter den Füßen weicht, und die Lawinen, welche von den Eisbergen hernieder donnern, nur die kleinsten sind. Sehen Sie, das wird uns die Sonne nützen, wenn sie sich mehr und mehr über den Horizont erhebt. Erinnern Sie sich später meiner Worte, Mistreß! Von den vier Elementen des Alterthums ist uns hier ein einziges, die Luft, nützlich, nothwendig, ja unentbehrlich; die drei anderen aber, Erde, Feuer und Wasser, brauchten für uns gar nicht vorhanden zu sein. Sie entsprechen der Natur der Polargegenden nicht!«

Offenbar übertrieb der Lieutenant. Mrs. Paulina Barnett hätte ihn leicht mit seinen eigenen Beweismitteln schlagen können, aber es machte ihr Vergnügen, Jasper Hobson mit solcher Wärme der Ueberzeugung sprechen zu hören. Leidenschaftlich liebte der Lieutenant das Land, durch welches des [51] Lebens Wechselfälle die Reisenden soeben führten, und ihr gab das die Versicherung, daß er vor keinem Hinderniß zurückweichen werde.

Immerhin hatte Jasper Hobson ganz Recht, wenn er sich von der Sonne zukünftiger Schwierigkeiten versah. Man merkte das schon, als sich das Detachement nach drei Rasttagen am 4. Mai wieder auf den Weg machte. Das Thermometer hielt sich selbst während der kältesten Nachtstunden immer über dem Gefrierpunkte. Die weiten Flächen kamen zum Thauen. Die weiße Decke verschwand in Form von Wasser. Die Unebenheiten des aus Urgebirge bestehenden Bodens verriethen sich durch die wiederholten Stöße, welche die Schlitten, und in Folge dessen die Darinsitzenden, erschütterten. Die Hunde konnten sich in Folge des beschwerlicheren Ziehens nur in mäßigem Traben erhalten, und nun durften auch die Zügel gefahrlos wieder Corporal Joliffe's unkluger Hand anvertraut werden. Weder sein Zuruf, noch das Kitzeln mit der Peitsche hätte die angestrengte Bespannung in schnelleren Gang gebracht.

So kam es, daß die Reisenden von Zeit zu Zeit die Last der Hunde verminderten, indem sie einen Theil des Weges zu Fuße zurücklegten. Damit waren vor Allen die Jäger des Detachements einverstanden, denn Letzteres näherte sich unmerklich den wildreicheren Jagdgründen des britischen Amerikas. Mrs. Paulina Barnett und ihre getreue Madge folgten den Jagden mit ausgesprochener Theilnahme. Thomas Black dagegen gab sich den Anschein, als habe er durchaus kein Interesse an allen waidmännischen Uebungen. In diese entlegenen Gegenden hatte er sich nicht begeben, um Wiesel und Hermelins zu erlegen, sondern einzig, um den Mond in den Augenblicken, wo seine Scheibe die der Sonne überdecken würde, zu beobachten. Sobald die Leuchte der Nacht über dem Horizonte auftauchte, verschlang sie der ungeduldige Astronom mit den Augen, was den Lieutenant einmal zu den Worten veranlaßte:

»He, Herr Black, nun sollte, wenn's auch nicht gut möglich ist, der Mond kommenden 18. Juli 1860 das Stelldichein verfehlen, das dürfte Ihnen wohl unangenehm sein!

– Herr Hobson, erwiderte der Astronom mit allem Ernst, wenn der Mond so gegen alles Uebereinkommen sündigte, würde ich ihn gerichtlich belangen lassen.«

Die besten Jäger der Gesellschaft waren die Soldaten Marbre und [52] Sabine, Beide Meister in ihrem Fache. Ihre Geschicklichkeit ohne Gleichen, die Schärfe ihres Auges und die Sicherheit ihrer Hand übertraf kein Indianer. Sie waren Schützen und Fallensteller zu gleicher Zeit. Ihnen waren alle Apparate und Maschinen bekannt, mit deren Hilfe man Marder, Ottern, Wölfe, Füchse und Bären sing. Keine Jägerlist war ihnen fremd. Es waren im Ganzen geschickte und intelligente Männer, und Kapitän Craventy hatte wohl daran gethan, sie Lieutenant Hobson's Detachement beizugeben.

Während des Marsches fanden Marbre und Sabine freilich nicht die Muße, Schlingen zu legen. Sie konnten sich nur eine bis zwei Stunden lang entfernen, und mußten sich mit dem Wilde begnügen, das ihnen selbst in Schußweite kam. Doch wären sie schon sehr zufrieden gewesen, einen jener großen Wiederkäuer der amerikanischen Fauna zu erlegen, welche in so hohen Breiten freilich selten angetroffen werden.

Eines Tages, am Morgen des 15. Mai, hatten sich die beiden Jäger, Lieutenant Hobson und Mrs. Barnett einige Meilen östlich von ihrem Wege hinwegbegeben. Marbre und Sabine hatten von ihrem Lieutenant die Erlaubniß erhalten, einige eben entdeckte frische Wildspuren zu verfolgen, und Jasper Hobson gestattete das nicht nur, sondern wollte ihnen, in Begleitung der reisenden Dame, folgen.

Jene Spuren rührten offenbar von einem Rudel großen Damwildes her. Ein Irrthum war nicht denkbar. Marbre und Sabine stimmten in obiger Ansicht überein, und im Nothfall hätten sie auch noch die specielle Art, der diese Wiederkäuer angehörten, bezeichnen können.

»Die Anwesenheit jener Thiere in diesen Gegenden scheint Sie Wunder zu nehmen, Herr Hobson? fragte Mrs. Paulina Barnett den Lieutenant.

– Ja wohl, Madame, antwortete Jasper Hobson, nur selten begegnet man diesen Gattungen über dem siebenundfünfzigsten Breitengrade. Wir jagen sie eigentlich nur im Süden des Sklaven-Sees, dort, wo sich neben Schößlingen von Pappeln und Weiden auch gewisse wilde Rosen finden, nach denen das Damwild sehr lüstern ist.

– Dann muß man also annehmen, daß diese Wiederkäuer, ebenso wie die Pelzthiere, von den Jägern vertrieben, jetzt nach stilleren Gegenden flüchten.

– Es ist mir keine andere Ursache für ihr Vorkommen hier im fünfundsechzigsten [53] Breitengrade erklärlich, erwiderte der Lieutenant, wenn wir annehmen, daß sich unsere beiden Jäger bezüglich der Natur und des Ursprungs dieser Spuren nicht getäuscht haben.

– Nein, Herr Lieutenant, meldete sich Sabine, das nicht. Marbre und ich, wir haben uns nicht geirrt. Diese Spuren auf der Erde rühren von Damhirschen her, welche wir anderen Jäger rothe Damhirsche, und die Eingeborenen ›Wapitis‹ nennen.

– Das steht fest, bekräftigte Marbre. Alte Trappers, wie wir, täuschen sich darin nicht. Uebrigens, Herr Lieutenant, hören Sie nicht jenes eigenthümliche Pfeifen?«

Jasper Hobson, Mrs. Paulina Barnett und ihre Begleiter waren jetzt am Fuße eines kleinen Hügels angekommen, dessen schneefreie Abdachung gangbar war. Sie eilten also denselben hinan, während das von Marbre bezeichnete Pfeifen deutlich hörbar wurde. Ein Geschrei, wie das eines Esels, vermischte sich manchmal damit und bewies, daß die beiden Jäger Recht gehabt hatten.

Auf dem Gipfel angelangt, ließen Alle den Blick über die Ebene nach Osten schweifen. An manchen Stellen war der Boden noch weiß, aber ein schüchternes Grün unterbrach doch schon da und dort die blendenden Schneeflächen. Einzelne nackte Gebüsche waren sichtbar. Am Horizonte hoben sich große, platt abgeschnittene Eisberge von dem graulichen Himmel ab.

»Wapitis! Wapitis! Da sind sie! riefen Sabine und Marbre wie aus einem Munde, und zeigten eine Viertelmeile östlich auf eine dichte, doch leicht unterscheidbare Gruppe von Thieren.

– Aber was beginnen diese? fragte die Reisende.

– Sie kämpfen, Mistreß, antwortete Jasper Hobson; das ist so ihre Gewohnheit, wenn die Polarsonne ihr Blut erhitzt. Wieder eine traurige Folge des Tagesgestirns!«

Von der Entfernung aus, in welcher sie sich befanden, konnten Jasper Hobson, Mrs. Paulina Barnett und die Jäger den Trupp Wapitis bequem sehen. Es waren prächtige Exemplare jener Damwildfamilie, welche unter den verschiedenen Namen der Damhirsche mit rundem Geweih, amerikanischen Hirsche und Hindinnen, der grauen und rothen Elenns verstanden werden. Diese zierlichen Thiere haben feingebaute Beine. Einige röthliche Streifen, welche sich in der warmen Jahreszeit noch lebhafter färben, ziehen sich durch [54] ihr braunes Fell. An dem weißen, stolz entwickelten Geweih erkennt man die Männchen unter ihnen leicht, denn die Weibchen entbehren dieses Schmuckes vollkommen. Früher waren diese Wapitis auf dem ganzen Gebiete des nördlichen Amerikas verbreitet und sogar noch zahlreich in den Vereinigten Staaten. Aber bei der allseitigen Urbarmachung, bei dem Sinken der Wälder unter der Axt der Pionniere, mußte sich der Wapiti in die friedlicheren Gefilde Canadas zurückziehen. Auch dort fehlte ihm bald die Ruhe, und so floh er zumeist an die Küsten der Hudsons-Bai. Kurz, der Wapiti ist zwar ein Thier der kälteren Länder, doch bevölkert er, wie der Lieutenant erwähnt hatte, nur selten Gegenden über dem siebenundfünfzigsten Breitengrade. Die hier Vorgefundenen waren zweifellos nur deshalb bis in diese hohen Breiten geflohen, um den Chipeways, welche gegen sie einen Krieg bis auf's Messer führen, zu entgehen und jene Sicherheit wiederzufinden, die der Wüstenei niemals abgeht.

Der Kampf der Wapitis setzte sich indessen mit Erbitterung fort. Die Thiere hatten das Erscheinen der Jäger, welches dem Streite wahrscheinlich auch kein Ende gemacht hätte, offenbar nicht bemerkt. Marbre und Sabine, welche schon wußten, mit welch' blinden Kämpfern sie zu thun hatten, konnten sich also ohne Scheu nähern und bequem schießen.

Dieser Vorschlag wurde auch von Lieutenant Hobson gemacht.

»Entschuldigen Sie, Herr Lieutenant, sprach da Marbre. Schonen wir unser Pulver und Blei. Diese Thiere spielen ein wenig ›sich gegenseitig tödten‹, und wir kommen immer noch zeitig genug, die Gefallenen aufzulesen.

– Haben diese Wapitis einen Handelswerth? fragte da Mrs. Paulina Barnett.

– Ja, Mistreß, antwortete Jasper Hobson, und ihre Haut, welche nicht ganz so stark ist, wie die des eigentlichen Elenns, liefert ein sehr geschätztes Leder. Reibt man sie mit dem eigenen Fett und Gehirn des Thieres ein, so wird dieses sehr weich, und widersteht der Trockenheit und Feuchtigkeit gleich gut. Deshalb ergreifen und suchen sogar die Indianer jede Gelegenheit, sich Wapitihäute zu verschaffen.

– Ist ihr Fleisch nicht auch eine ausgezeichnete Nahrung?


Beim Belauschen eines Wapiti-Duelles. (S. 54.)

– Eine mittelmäßige, Madame, wirklich, eine sehr mittelmäßige. Dieses Fleisch ist hart und wenig schmackhaft, das Fett desselben gerinnt, sobald es[55] vom Feuer wegkommt, und klebt an den Zähnen. Es wird also nur gering geschätzt und steht weit unter dem des anderen Damwildes. Doch ißt man es in der Noth, beim Mangel eines besseren, und dann ernährt es seinen Mann so gut wie anderes Fleisch«

So unterhielten sich die Beiden während einiger Minuten, als der Kampf der Wapitis plötzlich aufhörte. Hatten die Thiere ihren Zorn gestillt oder die Jäger, und damit eine drohende Gefahr, gewittert? Wie dem auch sei, jedenfalls entfloh, mit Ausnahme zweier großer Exemplare, die ganze [56] Gesellschaft mit Windeseile nach Osten. Nach wenigen Augenblicken waren sie verschwunden, und das schnellste Pferd hätte sie nicht einzuholen vermocht.

Zwei stolze Damhirsche aber waren auf dem Schlachtfelde zurückgeblieben. Mit gesenkten Köpfen, Geweih gegen Geweih, die Hinterfüße kräftig eingestemmt, boten sie sich die Spitze. Wie zwei Kämpfer, die sich nicht loslassen, bis Einer unterliegt, drehten sie sich nur auf den Vorderfüßen, so als ob sie aneinander genietet wären.

»O, welche Erbitterung! rief Mrs. Barnett.

– Ja, sagte Jasper Hobson, diese Wapitis sind sehr nachtragende Thiere, und jene kämpfen jetzt gewiß einen alten Strauß aus.

– Wäre das nicht aber der Zeitpunkt, sich ihnen zu nähern, während sie so wuthblind sind?

– Dazu ist noch Zeit, Mistreß, bemerkte Sabine, diese da können uns nicht mehr entwischen. Wir könnten ihnen auf drei Schritte nahe sein, das Gewehr in Anschlag und den Finger am Drücker, sie wichen doch nicht von der Stelle.

– Wirklich?

– In der That, Madame, meinte Jasper Hobson, der darauf die Zweikämpfer aufmerksamer beobachtet hatte, ob durch unsere Hand oder die Zähne der Wölfe, jedenfalls werden diese Wapitis auf der Stelle selbst, auf der sie sich befinden, früher oder später umkommen.

– Ich begreife nicht, wie Sie das wissen können, Herr Hobson, versetzte die Reisende.

– Nun wohl, Mistreß, erwiderte der Lieutenant, nähern Sie sich Jenen. Fürchten Sie nicht, die Thiere zu verscheuchen. Diese können, wie unser Jäger gesagt hat, nicht mehr fliehen.«

Mrs. Paulina Barnett stieg, von Sabine, Marbre und dem Lieutenant begleitet, den Hügel hinab. Wenige Minuten reichten zur Durchschreitung der kleinen Entfernung hin, die sie von dem Schauplatz des Kampfes trennte. Die Wapitis waren nicht von der Stelle gewichen. Sie stießen sich noch immer mit den Köpfen, wie zwei streitende Widder, und schienen doch fest mit einander verbunden.

Wirklich hatten sich die Geweihe der beiden Wapitis in der Hitze des Kampfes so in einander gestoßen, daß jene dieselben, ohne sie abzubrechen, [57] nicht wieder lösen konnten. Eben das kommt übrigens häufig vor, und es ist nicht selten, in den Jagdgebieten solche abgebrochene, aber fest an einander hängende Geweihe auf der Erde zu finden. Die derselben beraubten Thiere sterben bald vor Hunger oder werden eine leichte Beute der Raubthiere.

Zwei Kugeln endigten das Duell der Wapitis. Marbre und Sabine, welche dieselben auf der Stelle abzogen, nahmen nur die Häute mit, um diese später zuzurichten, und überließen den Wölfen und Bären einen Haufen blutigen Fleisches.

7. Capitel
Siebentes Capitel.
Der Polarkreis.

Die Expedition ging weiter nach Norden, aber das Ziehen der Schlitten auf dem unebenen Boden ermüdete die Hunde übermäßig. Die muthigen Thiere, welche am Anfang der Reise der Zügel der Führer kaum bändigen konnte, kamen nur noch langsam vorwärts, so daß ihnen mehr als zehn bis zwölf Meilen den Tag nicht zuzumuthen waren. Dennoch beeilte Jasper Hobson den Zug seines Detachements nach Möglichkeit. Es drängte ihn, an der Grenze des Sees des Großen Bären anzukommen und Fort-Confidence zu erreichen. Dort hoffte er manche für die Expedition wichtige Fingerzeige zu erhalten. Hatten die Indianer, welche das nördliche Ufer des Sees besuchen, auch schon die Gegenden in der Nachbarschaft des Meeres durchstreift? War das Eismeer zu jener Jahreszeit überhaupt offen? Das waren gewichtige Fragen, von deren zweifelloser Beantwortung die Zukunft der neuen Factorei abhing.

Die Gegend, welche die kleine Gesellschaft durchzog, war von einer großen Anzahl Wasserläufen, meist Zuflüssen der beiden großen Ströme, welche von Süden nach Norden laufend sich in den arktischen Ocean stürzen, durchschnitten. Diese waren, im Westen der Mackenzie-, im Osten der Coppermine-Strom. Zwischen diesen zwei Hauptpulsadern lagen Seen, [58] Lagunen und zahlreiche Teiche. Auf ihre schon im Aufthauen begriffene Oberfläche durfte man sich mit den Schlitten nicht wagen. Man mußte diese also umfahren, wodurch die Länge des Weges wesentlich vergrößert wurde.

Entschieden hatte Lieutenant Hobson Recht gehabt: der Winter ist die eigentliche Jahreszeit dieser hochnördlichen Länder; er macht sie wenigstens leichter passirbar. Mrs. Paulina Barnett sollte das noch bei mancher Gelegenheit bestätigt finden.

Diese unter dem Namen des »Verwünschten Landes« bekannte Gegend war übrigens, wie fast alle die nördlichen Gebiete des amerikanischen Festlandes, völlig verlassen. Die Bevölkerungsdichtigkeit ergiebt durch Rechnung noch nicht einen Menschen auf zehn Quadratmeilen. Die Bewohner bestehen, wenn man von den schon sehr verminderten Eingeborenen absieht, aus einigen Tausend Agenten oder Soldaten, welche den verschiedenen Pelzcompagnien angehören. Es drängt sich diese Bevölkerung mehr in den südlichen Districten und in der Nachbarschaft der Forts zusammen. Auf dem Wege des Detachements traf man also auf keines Menschen Spuren. Was von solchen in dem mürben Schnee noch gefunden wurde, rührte allein von Wiederkäuern oder Nagethieren her. Einige Bären wurden bemerkt; furchtbare Thiere, wenn sie zur Familie der Polarbären gehören. Immerhin erstaunte Mrs. Paulina Barnett über diese Seltenheit der Fleischfresser. Die Reisende dachte, in Erinnerung der Berichte von Ueberwinterungen, daß die arktischen Regionen sehr reich an dergleichen furchtbaren Thieren sein müßten, weil Schiffbrüchige oder Wallfischfahrer der Bassins-Bai, wie die von Grönland und Spitzbergen, regelmäßig von denselben angegriffen wurden, und sich hier kaum dann und wann ein solches Raubthier im Sehfelde der Gesellschaft zeigte.

»Warten Sie den Winter ab, Madame, erwiderte ihr Lieutenant Hobson; gedulden Sie sich bis zur Kälte, die den Hunger reizt, dann werden Sie vielleicht nach Wunsch bedient werden.«

Endlich kam die kleine Gesellschaft nach einem langen, anstrengenden Zuge am 23. Mai an der Grenze des Polarkreises an. Bekanntlich bezeichnet der vom Pole um 23°27'57'' entfernte Parallelkreis diejenige Linie, bis zu der die Sonnenstrahlen am kürzesten Tage nur reichen, wenn die andere [59] südliche Erdhälfte Sommer hat. Von dieser Stelle aus betrat die Expedition also frischen Muthes die Gebiete der arktischen Regionen.

Die geographische Breite war mittels der sehr seinen Instrumente, welche Thomas Black und Jasper Hobson gleich geschickt handhabten, sorgfältig aufgenommen worden. Mrs. Paulina Barnett, welche dabei zugegen war, hörte mit Vergnügen, daß sie nun den Polarkreis betrete. Es war das eine gewiß zulässige Eigenliebe von ihr.

»Sie haben bei Ihren früheren Reisen, Madame, bemerkte der Lieutenant, die beiden Tropenzonen durchwandert und begeben sich hiermit über den nördlichen Polarkreis. Wenige Forscher haben sich so verschiedenen Zonen ausgesetzt. Die Einen befassen sich, so zu sagen als Specialität, mit den warmen Ländern, und Afrika und Australien bilden das Hauptfeld ihrer Thätigkeit, z.B. eines Barth, Burton, Livingstone, Speke, Douglas und Stuart. Andere dagegen widmeten sich mit Vorliebe den noch so wenig bekannten arktischen Regionen, wie Mackenzie, Franklin, Penny, Kane, Parry und Raë, auf deren Wegen wir uns eben befinden. Alle Ehre also der Mrs. Paulina Barnett, der so kosmopolitischen Reisenden!

– Man muß Alles sehen, oder doch zu sehen suchen, Herr Hobson, erwiderte die Dame. Ich glaube, die Schwierigkeiten und Gefahren sind wohl unter jeder Zone gleich groß. In den Polarländern hat man die Fieber der heißen Zone nicht zu fürchten, so wenig, wie die gesundheitlichen Nachtheile der zu großen Hitze oder die Grausamkeit der Wilden, dafür ist wohl die Kälte ein ebenso schrecklicher Feind. Auf wilde Thiere stößt man in allen solchen Gegenden, und die Eisbären, denke ich, werden hier gegen Reisende nicht freundlicher sein, als die Tiger in Thibet oder die Löwen in Afrika. Ueber den Polarkreisen drohen also wohl die nämlichen Gefahren, wie unter den Tropen. Das sind eben Landstriche, welche sich lange der Erforschung durch den Menschen widersetzen.

– Ohne Zweifel, Madame, antwortete Jasper Hobson, aber ich glaube, daß das bei den hochnördlichen Gegenden am längsten der Fall sein wird. In den Tropengegenden sind es vorzüglich die Ureinwohner, deren Auftreten ein schwer zu beseitigendes Hinderniß bietet, und ich weiß, wie viele Opfer diesen afrikanischen Barbaren, welche doch ein civilisatorischer Krieg früher oder später einmal zu Paaren treiben wird, gefallen sind. In den arktischen und antarktischen Gegenden dagegen halten zwar keine Einwohner den [60] Schritt der Reisenden auf, sondern die Natur selbst errichtet eine unübersteigliche Schranke, die Kälte, die grausame Kälte, welche die Kraft des Menschen verzehrt.

– Sie glauben demnach, Herr Hobson, daß die heiße Zone bis in die unbekanntesten Theile Afrikas und Australiens eher bekannt sein wird, bevor die kalte Zone vollkommen durchforscht sein werde?

– Ja, Madame, antwortete der Lieutenant, und diese Ansicht scheint auch wohl begründet. Die kühnsten Entdeckungsreisenden in den arktischen Gegenden, wie Parry, Penny, Franklin, Mac Clure und Andere mehr, sind noch nie über den dreiundachtzigsten Breitengrad hinausgekommen, blieben also noch immer sieben Grade vom Pole entfernt. Dagegen ist Australien von Süden nach Norden schon mehrere Male, z.B. durch den unerschrockenen Stuart durchforscht worden, und Afrika, – das so furchtbare – hat Doctor Livingstone von der Loanga-Bai bis zur Mündung des Zambese durchzogen. Man hat also allen Grund zu der Annahme, daß die Gebiete der heißen Zone eher geographisch bekannt sein werden, als die der kalten.

– Sind Sie auch der Meinung, Herr Hobson, fragte Mrs. Paulina Barnett, daß der Mensch nie im Stande sein werde, den Pol selbst zu erreichen?

– Ohne Zweifel erreicht ihn einst ein Mann, Madame, sagte Hobson, oder eine Frau, fügte er galant hinzu. Doch scheint mir, daß die von den Seefahrern bislang dazu angewendeten Mittel einer tiefgreifenden Modification bedürfen. Man spricht von einem freien Meere, welches einzelne Forscher gesehen haben wollen. Dieses eisfreie Meer ist aber, wenn es überhaupt existirt, nur sehr schwer zu erreichen, und so kann zunächst Niemand mit Sicherheit voraussagen, daß er zum Pol gelangen werde. Ich bin übrigens der Meinung, daß ein solches freies Meer weit mehr eine Erschwerung, als eine Erleichterung jeder dorthin gerichteten Reise darstellen würde. Einen festen, gleichviel ob aus Eis oder aus Felsen bestehenden Boden würde ich für meinen Theil bei einer solchen Reise weit lieber sehen. Dann ließe ich durch wiederholte Expeditionen Niederlagen von Nahrungsmitteln und Kohlen immer näher nach dem Pole hin errichten, und so glaube ich, daß man nach langer Zeit, großen Geldopfern, und wohl auch mit dem Verluste so manchen Menschenlebens, doch endlich bis zu diesem unerreichten Punkte der Erdkugel gelangen müßte.

[61] – Ich theile ganz Ihre Meinung, Herr Hobson, antwortete Mr. Paulina Barnett, und wenn Sie sich jemals an dieses Unternehmen wagten, werd' ich nicht davor zurückschrecken, Mühen und Gefahren mit Ihnen zu theilen, um auf den Nordpol die Fahne des Vereinigten Königreichs zu pflanzen. Aber für jetzt ist das ja wohl unser Zweck nicht.

– Für jetzt, Madame, nein, erwiderte Jasper Hobson. Immerhin könnte, nach Realisirung der Projecte der Compagnie, das an der obersten Grenze des amerikanischen Festlandes begründete Fort einen natürlichen Ausgangspunkt für alle ferneren Nordpolexpeditionen bilden. Wenn übrigens die Pelzthiere durch die Jagd weiter und bis zu dem Nordpole hin vertrieben würden, müßten wir ihnen auch bis dahin folgen.

– Mindestens, wenn diese kostspielige Mode des Pelztragens nicht einmal aufhört, ergänzte Mrs. Paulina Barnett.

– O, Mistreß, entgegnete der Lieutenant, eine schöne Frau, welche einen Zobelmuff oder eine Pelzpelerine haben möchte, wird es immer geben, und diese muß doch befriedigt werden.

– Das fürchte ich auch, lenkte die Reisende lächelnd ein, und wahrscheinlich ist der Erste, der den Pol erreicht, ein Jäger bei der Verfolgung eines Marders oder eines Silberfuchses.

– Das ist meine Ueberzeugung, Madame, erwiderte Jasper Hobson. Die menschliche Natur ist nun einmal so geschaffen, daß die Gewinnsucht mehr und weiter treibt, als der Wissensdrang.

– Wie? Und so sprechen Sie, Herr Hobson?

– Nun, bin ich denn nicht Beamter der Hudsons-Bai-Compagnie, und besteht deren Thätigkeit denn in etwas Anderem, als ihre Agenten und ihre Capitalien daran zu wagen, in der einzigen Hoffnung, ihre Erträgnisse zu erhöhen?

– Herr Hobson, sagte da Mrs. Paulina Barnett, ich glaube Sie so weit zu kennen, daß Sie, wenn nöthig, Leib und Seele der Wissenschaft zu opfern im Stande wären. Gälte es ein einfaches geographisches Interesse, bis zum Pole vorzudringen, so bin ich überzeugt, daß Sie nicht zögern würden. Doch, fügte sie lächelnd hinzu, das ist eine große Frage, deren Lösung noch in weiter Ferne liegt. Wir selbst sind ja bis jetzt nur am Polarkreise angelangt, den wir hoffentlich ohne zu große Schwierigkeiten überschreiten werden.

[62] – Ich weiß das nicht bestimmt, Madame, antwortete Jasper Hobson, welcher den Himmel aufmerksam musterte. Seit einigen Tagen droht schon ein Witterungswechsel. Betrachten Sie diese gleichmäßige, graue Himmelsbedeckung. Alle diese Nebel werden sich bald in Schnee auflösen, und sollte sich nur Wind erheben, so würden wir auch bald einen tüchtigen Sturm haben. Mich drängt es wirklich, erst am See des Großen Bären anzukommen.

– Dann, Herr Hobson, schloß Mrs. Paulina Barnett, sich erhebend, dieses Gespräch, wollen wir keine Zeit verlieren, und Sie sollten wohl das Zeichen zum Aufbruch geben.«

Der Lieutenant bedurfte keiner weiteren Anregung. Allein, oder in Begleitung thatkräftiger Männer, wie er es war, hätte er seinen Zug Tag und Nacht fortgesetzt. Aber er konnte nicht von Allen verlangen, was er sich selbst zumuthete. Er mußte wohl die Ermüdung der Anderen in Anschlag bringen, wenn er auch die seinige nicht beachtete. An jenem Tage hatte er deshalb seiner kleinen Gesellschaft, welche erst gegen drei Uhr Nachmittags weiter zog, eine dreistündige Rast gegönnt.

Bezüglich des nahe bevorstehenden Umschlages der Witterung hatte sich Jasper Hobson nicht getäuscht. Noch an diesem Tage ballten sich die Dunstmassen dichter zusammen und boten einen gelblichen, düsteren Anblick. Der Lieutenant war sehr unruhig, ohne es äußerlich durchblicken zu lassen, und während die Hunde seinen Schlitten nur mit großer Mühe dahin zogen, unterhielt er sich mit Sergeant Long, der die Vorzeichen des Sturmes nicht so sehr wahrnahm.

Das Land, über welches der Zug ging, war zu einer Schlittenreise zum Unglück wenig geeignet. Der sehr unebene, da und dort von Hohlwegen durchschnittene Boden, dessen Wege einmal mit Granitblöcken besäet, ein andermal durch große, kaum vom Thauwetter angenagte Eisberge versperrt waren, verzögerte den Lauf der Zugthiere sehr wesentlich, und machte ihn sehr beschwerlich. Die armen Hunde konnten nicht mehr leisten und auch die Peitsche der Führer hatte keinen Erfolg.

Der Lieutenant und seine Leute waren oft genöthigt, zu Fuße zu gehen, und um die Kräfte der erschöpften Bespannung zu unterstützen, die Schlitten zu schieben, oder diese auch zu halten, wenn sie bei den stark wechselnden Bodenneigungen umzustürzen drohten. Es ist einleuchtend, daß hierdurch eine [63] unausgesetzte Anstrengung erwuchs, welche übrigens Alle ohne Klage ertrugen. Nur Thomas Black, der immer seiner fixen Idee nachhing, verließ seinen Schlitten niemals, da seine Corpulenz auch zu derartigen mühseligen Uebungen nicht besonders paßte.


Lieutenant Hobson und Sergeant Long beobachten Vorzeichen eines Sturmes. (S. 63.)

Seit Ueberschreitung des Polarkreises hatte sich also, wie man sieht, die Bodenbeschaffenheit vollkommen geändert. Offenbar hatten Erdrevolutionen jene gigantischen Felsblöcke dahin verschlagen. Auf der Oberfläche erhob [64] sich dagegen eine ausgebildetere Vegetation.


Die einzige Zuflucht im Unwetter. (S. 66.)

Nicht Büsche und Sträucher allein, auch Bäume besetzten die Abhänge der Hügel an Stellen, wo sie gegen die gar so rauhen Nordwinde geschützt waren. Sie bestanden aus Tannen, Fichten und Weiden, Baumarten, welche durch ihr Vorkommen in dieser kalten Zone doch eine gewisse vegetative Kraft der Letzteren bewiesen. Jasper Hobson rechnete sehr darauf, daß an diesen Erzeugnissen der arktischen Zone auch an den Küsten des Eismeeres kein Mangel sein werde. Diese Bäume lieferten ja Holz, Holz zum Erbauen eines Forts, Holz zum [65] Erwärmen seiner einstigen Bewohner. Jedermann drängte sich der Unterschied zwischen dieser minder unfruchtbaren Gegend und den langen, weißen Flächen auf, welche sich zwischen dem Sklaven-See und Fort-Entreprise erstreckten.

Gegen Abend wurden die gelben Dünste dunkler. Der Wind sprang auf. Bald fiel der Schnee in großen Flocken, und in wenigen Minuten hatte sich der Boden mit einer dicken weißen Decke überzogen. In weniger als einer Stunde lag ein Fuß hoch Schnee, und da derselbe sich nicht hielt, sondern zu mürbem Kothe wurde, so kamen die Schlitten nur mit größter Anstrengung vorwärts. Ihr aufgebogener Vordertheil sank tief in die weiche Masse ein, welche sie stets aufhielt.

Gegen acht Uhr Abends steigerte sich der Wind zum Sturme. Der heftig fortgetriebene Schnee, der bald den Boden berührte, bald wieder in die Höhe geweht wurde, bildete nur noch einen dichten Wirbel. Die von den Windstößen zurückgeworfenen Hunde, welche durch das Schneetreiben blind waren, konnten nicht mehr vorwärts. Der Zug bewegte sich jetzt durch einen schmalen Engpaß, den hohe Eisberge flankirten, und durch welchen der Sturm mit schrecklichster Heftigkeit fegte. Vom Orkan abgerissene Stücken der Eisberge stürzten in den Hohlweg und machten den Durchmarsch sehr gefährlich. Sie bildeten ebenso viele partielle Lawinen, deren jede einzelne hingereicht hätte, die Schlitten und deren Insassen zu zerschmettern. Unter solchen Umständen konnte der Weg nicht weiter fortgesetzt werden. Jasper Hobson mußte sich ergeben. Nachdem er noch Sergeant Long's Ansicht eingeholt hatte, ließ er Halt machen. Nun galt es aber einen Schutz vor den Schneewehen zu suchen, welche unerhört fortwütheten.

Männer, welche an Polarexpeditionen gewöhnt sind, konnte das nicht in Verlegenheit setzen. Jasper Hobson und seine Gefährten wußten sich in solchen Fällen zu helfen. Es war ja nicht das erste Mal, daß der Sturm sie, vielleicht einige Hundert Meilen von einem Fort der Compagnie, überfiel, ohne daß ihnen eine Eskimohütte oder ein Indianerwigwam zur Verfügung stand.

»Nach den Eisbergen! Nach den Eisbergen!« rief Jasper Hobson.

Der Lieutenant wurde von Allen verstanden. Es galt jetzt in den dichten Eismassen sogenannte »Schneehäuser« auszuhöhlen, oder vielmehr nur Löcher, in welche sich Alle während der Dauer des Sturmes bergen [66] könnten. Die Axte und Messer waren schnell in Thätigkeit, die mürbe Masse anzugreifen.

Dreiviertel Stunde später schon war ein Dutzend Höhlen mit engen Eingängen ausgearbeitet, deren jede zwei bis drei Menschen aufnehmen konnte. Die Hunde wurden abgezäunt und sich selbst überlassen. Man überließ es ihrem Spürsinne, unter dem Schnee ein schützendes Obdach zu finden.

Vor zehn Uhr war das ganze Personal der Expedition in den Schneehäusern untergebracht. Man hatte sich zu Zweien und zu Dreien, zum Theil je nach Neigung, zusammengefunden. Mrs. Paulina Barnett, Madge und Lieutenant Hobson nahmen eine Hütte ein. Thomas Black und Sergeant Long vergruben sich zusammen in einer anderen Höhle. Die Anderen würfelte der Zufall zusammen.

Diese Zufluchtsorte waren, wenn nicht comfortabel, so doch wenigstens verhältnißmäßig warm, und man erinnerte sich dabei auch, daß die Eskimos und Indianer selbst in der strengsten Kälte keinen besseren Schutz haben. Jasper Hobson und die Seinen konnten den Sturm nun ruhig abwarten und hatten nur dafür zu sorgen, daß sich die Oeffnungen der Höhlen nicht mit Schnee verstopften, weshalb diese von einer halben Stunde zur anderen immer frei gelegt wurden. Während dieses Unwetters konnte Niemand einen Fuß in's Freie setzen. Zum Glück aber hatten sich Alle hinreichend mit Proviant versehen, um dieses Biberleben, ohne von Frost oder Hunger gequält zu werden, auszuhalten.

Achtundvierzig Stunden lang nahm der Sturm an Heftigkeit zu. Der Wind heulte durch den Engpaß und entriß den Eisbergen ihre Gipfel. Ein Donner, den das Echo zwanzigfach wiedergab, bezeichnete den Sturz der Eislawinen. Jasper Hobson hatte allen Grund, zu befürchten, daß sein Weg durch herabgestürzte Eisblöcke ganz und gar versperrt sein möchte. Unter jenes Donnern mischte sich auch ein Brummen, über dessen Ursprung der Lieutenant nicht im Unklaren sein konnte, und er verhehlte der furchtlosen Mrs. Barnett auch nicht, daß Bären durch den Engpaß trotteten. Die mit sich selbst zu sehr beschäftigten Thiere entdeckten aber glücklicherweise das Versteck der Reisenden nicht. Weder die Hunde, noch die Schlitten, welche unter dichter Schneedecke vergraben waren, erregten ihre Aufmerksamkeit.

Die letzte Nacht, die vom 25. zum 26. Mai, war noch furchtbarer. Die Wuth des Orkanes nahm so zu, daß ein allgemeiner Einsturz des Eisberges [67] zu befürchten war, denn man fühlte diese ungeheuren Massen in ihren Grundfesten erzittern.

Ein schrecklicher Tod erwartete die Unglücklichen, die von dem Berge zerschmettert worden wären. Entsetzlich krachten die Eisblöcke, und schon bildeten sich da und dort Sprünge in der Masse, welche ihre Haltbarkeit bedrohlich verminderten. Doch trat kein Einsturz ein. Die ganze Bergmasse leistete Widerstand; gegen Ende der Nacht ließ, wie man das in Polarländern häufig beobachtet, die Gewalt des Sturmes, wie erschöpft, plötzlich unter dem Eintritt einer grellen Temperaturerniedrigung nach, und mit dem anbrechenden Tageslichte war die vollkommene Ruhe der Atmosphäre wieder hergestellt.

8. Capitel
Achtes Capitel.
Der See des Großen Bären.

Die lebhafte Kälte, welche an einigen Tagen des Mais selbst in gemäßigten Zonen auf kurze Zeit einzutreten pflegt, war unseren Reisenden günstig; sie reichte hin, die dichte Schneedecke haltbar zu machen. Die Bahn wurde wieder gut. Jasper Hobson brach also wieder auf, und die Gesellschaft flog mit der ganzen Schnelligkeit der Zughunde dahin.

Die Richtung der Reise wurde nun etwas geändert. Statt geraden Weges nach Norden wandte man sich westlicher und folgte gewissermaßen dem vom Polarkreise beschriebenen Bogen. Der Lieutenant wollte nach Fort-Confidence, welches an der äußersten Spitze des Sees des Großen Bären errichtet ist. Die wenigen Kältetage waren seiner Absicht sehr förderlich; es ging sehr rasch und ohne dazwischen tretende Hindernisse vorwärts, so daß die kleine Gesellschaft schon am 30. Mai an jenem Fort ankam.

Fort-Confidence und Fort-Good-Hope, beide am Mackenzie-Flusse gelegen, waren die nördlichsten Vorposten, welche die Hudsons-Bai-Compagnie bis dahin besaß. Das sehr wichtige, an der nördlichsten Spitze des Sees des [68] Großen Bären gelegene Fort-Confidence stand durch die im Winter gefrorenen, im Sommer schiffbaren Gewässer des Sees mit dem am Südende desselben errichteten Fort-Franklin in bequemer Verbindung. Abgesehen von dem tagtäglichen Handel, welcher hier mit den Indianer-Jägern stattfand, beuteten diese Factoreien, und vorzüglich Fort-Confidence, auch die Ströme und die Gewässer des Großen Bären durch Fischfang aus. Dieser See ist ein wirkliches Binnenmeer, das sich über einige Längen-und Breitengrade hin erstreckt. Es hat eine eigenthümliche, in der Mitte durch zwei spitze Vorgebirge zusammengedrängte Form und bildet im nördlichen Theile etwa ein sich nach oben erweiterndes Dreieck. Seine allgemeine Form ähnelte der des Fells eines großen Wiederkäuers, an dem die Kopfhaut fehlte.

Am Ende der »rechten Tatze« war Fort-Confidence erbaut, mindestens zweihundert Meilen vom Krönungs-Golf, einem jener zahlreichen Einschnitte, welche die Nordküste Amerikas so launenhaft ausschweifen. Es befand sich also ein wenig oberhalb des Polarkreises, aber fast noch drei Grade von jenem siebenzigsten Parallelkreise entfernt, über welchen hinaus die Hudsons-Bai-Compagnie noch ein Fort zu errichten strebte.

Fort-Confidence zeigte im Großen und Ganzen die nämliche Anordnung, wie die meisten übrigen Factoreien im Süden. Es bestand aus einem Officierhause, den Soldatenwohnungen und den Magazinen für die Pelzwaaren, – Alles aus Holz, und von einem Palissadenkranze umschlossen. Der commandirende Kapitän war zur Zeit abwesend. Er hatte sich einer Abtheilung Indianer und Soldaten angeschlossen, welche nach Osten, zur Aufsuchung wildreicheren Jagdgebietes, ausgezogen war. Die letzte Saison war keine gute gewesen. Vorzüglich fehlte es an werthvolleren Pelzen. Zum Ersatz waren wenigstens Otternfelle, Dank der Nachbarschaft des Sees, in großer Zahl erbeutet worden. Dieser Vorrath war aber sofort nach den Centralstationen im Süden versandt worden, so daß die Magazine des Fort-Confidence augenblicklich leer standen.

In Abwesenheit des Kapitäns empfing ein Sergeant den Lieutenant Hobson im Fort. Dieser Unterofficier war ein Schwager des Sergeant Long, Namens Felton. Derselbe stellte sich ganz zur Verfügung des Lieutenants, welcher, da er seinen Begleitern einige Rast gönnen wollte, zwei bis drei Tage in Fort-Confidence zu bleiben beschloß. An Wohnräumen war, da die kleine Besatzung sich auswärts befand, kein Mangel, und Menschen [69] wie Thiere wurden also bequem untergebracht. Das beste Zimmer im Hauptgebäude blieb natürlich für Mrs. Paulina Barnett reservirt, welche die Aufmerksamkeit des Sergeant Felton gar nicht genug loben konnte.

Jasper Hobson's erste Sorge war es gewesen, sich bei Felton zu erkundigen, ob nicht irgend eine Gesellschaft von Indianern des Nordens jetzt etwa an den Seeufern hause.

»Ja wohl, Herr Lieutenant, antwortete der Sergeant. Uns wurde kürzlich ein Lager von Hafen-Indianern angezeigt, welches sich an der anderen Spitze der Nordküste des Sees befindet.

– Und in welcher Entfernung vom Fort? fragte Jasper Hobson.

– Gegen dreißig Meilen, erwiderte Sergeant Felton. Haben Sie wohl Interesse daran, sich mit diesen Eingeborenen in Beziehung zu setzen?

– Ohne Zweifel, sagte Jasper Hobson. Diese Indianer können mir werthvolle Notizen über das Territorium geben, welches an das Polarmeer grenzt und mit Cap Bathurst endigt. Ist die Oertlichkeit günstig, so möchte ich dort unsere neue Factorei anlegen.

– Nun, Herr Lieutenant, antwortete Felton, nach dem Lager der Hafen-Indianer können Sie sehr leicht gelangen.

– Längs des Seeufers?

– Nein, gleich über den See selbst, denn dieser ist jetzt offen und der Wind günstig. Wir stellen Ihnen unser Boot zur Verfügung, zu dessen Leitung ein Matrose zur Hand ist; so können Sie das Indianerlager in wenigen Stunden erreichen.

– Gut, Sergeant, sagte Jasper Hobson, ich gehe auf Ihren Vorschlag ein, und, wenn Sie wollen, morgen früh ...

– Wann es Ihnen beliebt, Herr Lieutenant«, antwortete Sergeant Felton.

Die Abfahrt wurde auf den anderen Morgen festgesetzt. Als Mrs. Paulina Barnett von dem Vorhaben hörte, bat sie Jasper Hobson, ihn begleiten zu dürfen, was ihr natürlich gern zugestanden wurde.

Nun galt es noch, den Tag bestmöglichst auszunutzen. Mrs. Paulina Barnett, Jasper Hobson, zwei oder drei Soldaten, Madge, Mrss. Mac Nap und Joliffe besuchten unter Felton's Führung das benachbarte Seeufer welches mit frischem Grün geschmückt war. Die nun schneefreien Abhänge waren da und dort mit Harzbäumen, vorzüglich mit Kiefern, bestanden.

[70] Diese Bäume stiegen etwa vierzig Fuß vom Boden auf, und lieferten übrigens den Bewohnern des Forts alles für die langen Wintermonate nöthige Brennmaterial. Ihre dicken, von biegsamen Zweigen umgebenen Stämme zeigten eine sehr charakteristische, grauliche Färbung. Doch verliehen sie in Folge ihres dichten gleichmäßigen Beisammenstehens, ihrer Geradheit und fast ganz gleichen Größe, der Landschaft nicht den Reiz der Abwechselung. Zwischen diesen Baumgruppen bedeckte eine Art weißlichen Grases den Erdboden, von welchem ein angenehmer, dem des Thymians ähnlicher Geruch aufstieg. Sergeant Felton belehrte seine Gäste, daß dieses wohlriechende Gras den Namen »Weihrauch-Gras« habe, dem es auch, auf glimmende Kohlen geworfen, alle Ehre machte.

Die Spaziergänger verließen das Fort und kamen schon nach einigen hundert Schritten zu einem kleinen, von hohen Granitfelsen gedeckten Hafen, von welchem letztere den Wellenschlag der freien Wasserfläche abhielten. Dort ankerte die Flotille von Fort-Confidence, die aus einem einzigen Fischerboote bestand, dem nämlichen, welches anderen Tages Jasper Hobson und die Reisende nach dem Lager der Indianer tragen sollte. Von dieser Stelle aus schweifte der Blick über einen großen Theil des Sees, über sein bewaldetes, sanft ansteigendes Uferland, seine wunderliche Küste, die von Caps und Buchten zerrissen erschien, und über das wenig bewegte Wasser, über dem nur einige schwimmende Eisblöcke ihre beweglichen Umrisse schaukelten. Im Süden verlor sich das Auge in einem wahrhaften Meereshorizonte, einer vollkommenen Bogenlinie, an der Himmel und Wasser unter dem Glanze der Sonnenstrahlen verschmolzen.

Der weite Raum, den die Oberfläche des Sees des Großen Bären einnahm, die mit Kieselgestein und Granitblöcken besäeten Ufer, die grasbekleideten Abhänge und endlich die Hügel mit ihren Bäumen boten ein vollkommenes Bild des pflanzlichen und thierischen Lebens. Zahlreiche Arten von Enten huschten laut schnatternd über das Wasser; ferner Eidergänse, Pfeifenten, sogenannte »alte Frauen«, geschwätzige Vögel, deren Schnabel niemals stillstand. Einige Hundert Wasserscheerer und Tauchhühner flogen eiligst nach allen Richtungen davon. Unter der Decke der Bäume stolzirten Fischadler einher, Thiere von zwei Fuß Höhe, eigentlich einer Falkenart angehörig, deren Bauch von aschgrauer, Füße und Schnabel von bläulicher, und deren Augen von orangegelber Farbe sind. Die in den Zweiggabelungen [71] der Bäume angebrachten Nester dieser Vögel sind aus Seepflanzen zusammengesetzt und von enormer Größe. Der Jäger Sabine hatte das Glück, ein paar solcher gewaltiger Fischadler zu erlegen, welche eine Flügelspannweite von sechs Fuß zeigten, – ein paar prächtige Proben jener, ausschließlich Fische fressender, Zugvögel, welche der Winter bis an die Küsten des Mexicanischen Meerbusens treibt und der Sommer nach den höchsten Breiten Nordamerikas zurücklockt.

[72] Was die Wanderer aber am meisten interessirte, war der Fang einer Otter, deren Fell mehrere hundert Rubel gilt.

Das Pelzwerk von dieser kostbaren Amphibie war früher in China sehr gesucht. Wenn diese Felle aber auch an den Märkten des Himmlischen Reiches sehr verloren haben, so stehen sie dafür an denen Rußlands in hoher Gunst. Dort ist ihr Absatz, und zwar zu sehr hohen Preisen, stets gesichert. Auch sind die russischen Händler, welche die ganze Küste von Neu-Cornwallis bis zum Polarmeere durchziehen, sehr begierig nach See-Ottern, deren Vorkommen immer seltener wird.


Zwei Tage und zwei Nächte gefangen. (S. 67.)

Das ist der Grund, warum diese Thiere immer vor den Jägern fliehen, die ihnen bis zu den Küsten von Kamtschatka und nach den Inseln des Behring-Archipels folgen mußten.

»Doch, fügte Sergeant Felton hinzu, nachdem er seinen Gästen diese Einzelheiten mitgetheilt hatte, die amerikanischen Ottern sind auch nicht zu verachten und diejenigen, welche den See des Großen Bären bewohnen, haben noch immer einen Preis von zwei- bis dreihundert Francs das Stück.«

Wirklich lebten in den Gewässern des Sees ganz prächtige Ottern. Ein von dem Sergeanten selbst geschickt getroffenes und getödtetes Exemplar mochte wohl die »Wasserschlangen« Kamtschatkas aufwiegen. Es war übrigens von der Schnauze bis zur Schwanzspitze zweiundeinhalb Fuß lang, hatte handförmige Füße, kurze Beine, ein bräunliches, auf dem Rücken dunkleres, am Bauche helleres Fell und lange, seidenglänzende Haare.

»Ein schöner Schuß, Sergeant, sagte Lieutenant Hobson, der Mrs. Paulina Barnett das prächtige Fell des erlegten Thieres zeigte.

– Das ist er wohl, Herr Hobson, antwortete Sergeant Felton, und wenn jeder Tag ein solches Otternfell einbrächte, würden wir uns nicht zu beklagen haben. Doch wie viele Zeit geht mit dem Auflauern der Thiere verloren, die mit der äußersten Schnelligkeit schwimmen und untertauchen. Sie selbst gehen nur in der Nacht auf Raub und wagen sich am Tage nur sehr selten aus ihrem Lager heraus, das sich in einer auch von dem geübtesten Jäger nur schwer aufzufindenden Aushöhlung eines Baumstammes oder eines Felsens befindet.

– Und diese Ottern werden auch immer und immer seltener? fragte Mrs. Paulina Barnett.

– Ja, Madame, erwiderte der Sergeant, und mit dem Tage, da diese Race einmal ausstirbt, werden sich auch die Erträgnisse der Compagnie [73] wesentlich vermindern. Alle Jäger streiten vorzüglich um dieses Pelzwerk, und die Amerikaner bedrohen uns mit einer verderblichen Concurrenz. Haben Sie auf Ihrer Herreise, Herr Lieutenant, keinen Agenten einer amerikanischen Compagnie getroffen?

– Keinen Einzigen, antwortete Jasper Hobson. Besuchen Jene überhaupt diese Gebiete im hohen Norden?

– Gewiß, Herr Hobson, bestätigte der Sergeant, und wenn diese lästigen Menschen in der Nähe sind, ist es gut, auf seiner Hut zu sein.

– Diese Agenten sind wohl Straßenräuber? fragte Mrs. Barnett.

– Nein, Mistreß, entgegnete der Sergeant; aber es sind furchtbare Rivalen, und ist das Wild rar, dann fallen auch ein paar Schüsse zwischen den Jägern gegenseitig. Ich glaube sogar vorhersagen zu können, daß die Amerikaner, die der Himmel verderben möge, sollte der Versuch der Compagnie mit Erfolg gekrönt sein und es Ihnen gelingen, an der äußersten Grenze des Landes ein Fort zu errichten, nicht zögern werden, Ihrem Beispiele zu folgen.

– Was thut das? erwiderte der Lieutenant. Die Jagdgebiete sind groß und unter der Sonne ist für Jedermann Platz. Wir wollen also getrost den Anfang machen. Immer vorwärts, so lange der Boden den Füßen nicht fehlt und Gottes Hilfe mit uns ist!«

Nach dreistündigem Spaziergange kehrten Alle nach Fort-Confidence zurück. Im großen Saale desselben erwartete sie eine leckere, aus Fisch und frischem Wild bestehende Mahlzeit, der sie alle Ehre anthaten. Einige Plauderstunden im Salon beschlossen diesen Tag, und auch die Nacht spendete den Besuchern des Forts einen vortrefflichen Schlaf.

Am anderen Morgen, den 31. Mai, waren Mrs. Paulina Barnett und Jasper Hobson schon seit fünf Uhr auf den Füßen. Der Lieutenant wollte diesen ganzen Tag dem Besuche des Indianerlagers widmen, um dabei alle ihm behilfliche Nachrichten einzuziehen. Er schlug auch Thomas Black vor, an dem Ausfluge Theil zu nehmen. Der Astronom zog es jedoch vor, auf dem Lande zu bleiben. Er wünschte einige astronomische Beobachtungen anzustellen und die Lage von Fort-Confidence nach Länge und Breite genau zu bestimmen. Mrs. Paulina Barnett und Jasper Hobson sollten demnach allein über den See setzen, wobei ein alter Seemann, Namens Norman, der [74] schon lange Jahre im Dienste der Compagnie stand, die Leitung des Fahrzeuges übernahm.

Die beiden Passagiere begaben sich also, von Sergeant Felton begleitet, nach dem kleinen Hafen, wo der alte Norman sie schon in seinem kleinen Schiffe erwartete. Letzteres bestand eigentlich nur in einem ungedeckten, am Kiele sechzehn Fuß langen Fischerboot, und war nach Art eines Kutters aufgetakelt, so daß ein Mann zu seiner Bedienung hinreichte. Das Wetter war schön. Eine leichte Brise blies, in sehr günstiger Richtung für die Ueberfahrt, aus Nordosten. Sergeant Felton empfahl sich seinen Gästen, die er um Entschuldigung bat, sie nicht begleiten zu können, doch dürfe er in Abwesenheit des Kapitäns die Factorei nicht so weit verlassen. Die Leine wurde gelöst und das Canot, welches unter Backbordhalfen den kleinen Hafen verließ, glitt schnell über die frischen Gewässer des Sees.

Die Reise glich wirklich mehr einer anmuthigen Promenade. Der alte und von Natur verschlossene Matrose verhielt sich, das Steuer im Arme, schweigend im Hintertheile des Bootes. Mrs. Paulina Barnett und Jasper Hobson, welche auf Seitenbänken saßen, musterten die Landschaft, die sich vor ihren Augen entrollte.

Das Fahrzeug segelte in etwa drei Meilen Entfernung von der Nordküste des Sees hin, um eine gerade Linie einhalten zu können. Dabei konnte man leicht die bewaldeten Abhänge, welche nach Westen zu immer niedriger wurden, überblicken. Von dieser Seite aus gesehen schien die Umgebung im Norden des Sees völlig eben zu sein, denn der Horizont erweiterte sich ganz auffallend. Ueberhaupt stach das Ufer hier sehr gegen das des spitzen Winkels ab, an welchem Fort-Confidence, von Tannen grün umrahmt, lag. Noch sah man die Flagge der Compagnie, welche von der Spitze des Wartthurmes daselbst flatterte. Nach Süden und Westen glitzerten stellenweise die von der Sonne schief beleuchteten Wasser des Sees; vorzüglich blendend erschienen aber die beweglichen Eisberge, welche schmelzenden Silberblöcken glichen, und deren Strahlenbrechung das Auge kaum zu ertragen vermochte.

Von der Eisdecke des Sees, die jeder Winter über diesen legte, war keine Spur mehr vorhanden. Nur diese schwimmenden Berge, welche das Strahlengestirn kaum auflösen konnte, schienen gegen die Polarsonne zu protestiren, die ja nur einen sehr flachen Bogen am Himmel beschrieb, und der die Wärme, nicht aber der Glanz abging.

[75] Die beiden Passagiere plauderten über derartige Gegenstände und tauschten, wie immer, die Gedanken aus, welche diese fremdartige Natur in ihnen erweckte. Sie bereicherten dadurch ihren Geist mit Erinnerungen, während das Boot, welches sich leicht auf den friedlichen Wellen wiegte, rasch dahinschoß.

Wirklich näherte sich dasselbe, nachdem es um sechs Uhr früh abgefahren war, schon um neun Uhr demjenigen Punkte der nördlichen Küste, den es anlaufen sollte. Das Indianerlager war nahe der nordwestlichen Ecke des Sees aufgeschlagen. Vor zehn Uhr hatte Norman diese Stelle erreicht und landete an einem ziemlich steilen Gestade.

Der Lieutenant und Mrs. Paulina sprangen sofort an's Land.

Zwei bis drei Indianer – darunter deren federngeschmückter Häuptling, der sie in genügend verständlichem Englisch ansprach –, kamen ihnen entgegen.

Die Hafen-Indianer, ebenso wie die Kupfer-, die Biber-Indianer und Andere, gehören alle zum Stamme der Chipeways, und unterscheiden sich in Kleidung und Lebensweise nur wenig von einander. Sie stehen übrigens in so häufiger Verbindung mit den Factoreien, daß dieser Handel sie so zu sagen, und soweit das bei einem Wilden eben möglich ist, »britannisirt« hat. Nach den Forts bringen sie ihre Jagdbeute, in diesen vertauschen sie dieselbe gegen andere zum Leben nothwendige Gegenstände, welche sie schon seit einigen Jahren nicht mehr selbst herstellen. Sie stehen gewissermaßen im Solde der Compagnie; durch diese allein existiren sie, und es wäre kaum zu verwundern, wenn sie schon ihre ganze Ursprünglichkeit eingebüßt hätten. Um Indianer zu finden, bei welchen die Berührung mit Europäern noch keinen Eindruck hinterlassen hat, muß man bis in die höchsten Breiten, nach den von Eskimos bevölkerten Eisregionen hinausgehen. Der Eskimo ist, wie der Grönländer, das echte Kind dieser Polarländer.

Mrs. Paulina Barnett und Jasper Hobson begaben sich also nach dem Lager dieser Hafen-Indianer, das eine halbe Meile vom Ufer entfernt lag. Dort trafen sie etwa dreißig Eingeborene, Männer, Weiber und Kinder, an, welche von Jagd und Fischfang lebten und die Umgebungen des Sees ausbeuteten. Nur vor Kurzem waren diese Indianer aus den nördlichsten Gebieten Amerikas zurückgekommen, und gaben Jasper Hobson einige, wenn auch sehr lückenhafte Auskunft über die Verhältnisse des Küstenstriches in [76] der Nähe des siebenzigsten Breitengrades. Cap Bathurst selbst, wohin er sich ja gerade begeben wollte, kannten die Hafen-Indianer nicht. Uebrigens sprach ihr Häuptling von dem Gebiete zwischen dem See des Großen Bären und jenem Cap Bathurst, als von einem sehr unwegsamen Lande, das sehr hügelig und von zahlreichen, jetzt aufgethauten Wasserläufen durchschnitten wäre. Er rieth dem Lieutenant, längs des Coppermine-Flusses, im Nordosten des Sees, hinzuziehen, und so die Küste auf kürzestem Wege zu gewinnen. Am Polarmeere angelangt, würde es leichter sein, dieser Küste zu folgen, und es stände ja dann in Jasper Hobson's Belieben, Halt zu machen, wo er die Oertlichkeit eben für geeignet hielt.

Der Lieutenant dankte dem Indianer-Häuptling und verabschiedete sich unter Zurücklassung einiger Geschenke. Dann besuchte er in Mrs. Paulina Barnett's Begleitung noch die Umgebungen des Lagers, und kam erst gegen drei Uhr Nachmittags an das Boot zurück.

9. Capitel
Neuntes Capitel.
Ein Binnenseesturm.

Der alte Seemann erwartete seine Passagiere schon mit einiger Ungeduld.

Seit einer Stunde hatte sich das Wetter merklich geändert; freilich konnte das Aussehen des Himmels nur einen Mann beunruhigen, welcher Wind und Wolkenbildungen zu beobachten schon gewöhnt war. Die von dichten Dünsten verhüllte Sonne bot nur noch das Bild einer weißlichen, glanz- und strahlenlosen Scheibe. Der Wind hatte sich zwar gelegt, doch hörte man von Süden her das Grollen der Wogen des Sees. Die Anzeichen des nahe bevorstehenden Witterungswechsels waren so plötzlich eingetreten, wie es jenen hohen Breiten eigenthümlich ist.

»Wir wollen schnellstens abreisen, Herr Lieutenant, sagte der alte Norman, und ja keinen Augenblick verlieren. In der Luft droht Unheil.

[77] – Wirklich, antwortete Jasper Hobson, der Himmel sieht anders aus, als vorher. Wir hatten die Aenderung gar nicht bemerkt, Mistreß Paulina.

– Befürchten Sie einen Sturm? fragte die Reisende Norman.

– Ja, Madame, entgegnete der alte Seemann, und die Stürme auf dem Großen Bärensee sind oft furchtbar, die Orkane wüthen wie im Atlantischen Oceane. Der plötzliche Nebel da oben weissagt nichts Gutes. Immerhin ist es möglich, daß der Tanz vor drei bis vier Stunden nicht losgeht, und bis dahin würden wir Fort-Confidence wohl erreicht haben. Doch lassen Sie uns unverzüglich absegeln, denn das Boot könnte bei den bis zur Wasserlinie aufragenden Felsen in große Gefahr kommen.«

Der Lieutenant konnte Norman bei Fragen, welche dieser besser zu lösen verstand als er, nicht widersprechen. Uebrigens war der alte Seemann in der Beschiffung gerade dieses Sees wohl erfahren, weshalb man sich wohl seinem Urtheile fügen mußte. Mrs. Paulina Barnett und Jasper Hobson schifften sich also ein.

Als Norman aber die Bootsleine löste und abstieß, murmelte er – vielleicht in Folge eines beängstigenden Vorgefühls – die Worte:

»Es wäre wohl besser, jetzt zu warten!«

Jasper Hobson, dem diese Worte nicht entgangen waren, blickte den schon am Steuer sitzenden alten Seemann besorgt an. Wäre er allein gewesen, so würde er keinen Augenblick gezweifelt haben, abzufahren; die Mitanwesenheit der Mrs. Paulina Barnett verpflichtete ihn aber doch zu größerer Vorsicht. Die Reisende verstand das Zaudern ihres Begleiters.

»Nehmen Sie auf mich keine besondere Rücksicht, Herr Hobson, sagte sie, und handeln Sie, als ob ich nicht da wäre. Wenn unser wackerer Seemann den Zeitpunkt zur Abfahrt gekommen glaubt, nun wohl, so segeln wir ab.

Also, Gott befohlen! sagte Norman, indem er die Leine schießen ließ, so kehren wir so schnell als möglich zum Fort zurück.«

Das Boot stach in See; wahrend einer Stunde kam es nur wenig vorwärts. Das Segel schlug, von wechselnden Winden geschwellt, klatschend an den Mast. Die Dunstmassen wurden dichter. Schon schwankte das Boot auf der hohler gehenden See, denn das Wasser »fühlte« mit der Atmosphäre schon die drohende Sturmfluth.

Schweigend verharrten die beiden Passagiere, während der ergraute [78] Seemann bei halbgeschlossenen Augenlidern den dichten Nebel zu durchdringen suchte. Im Uebrigen war er auf Alles vorbereitet und wartete, seine Schoten fest in der Hand, des Sturmes, bereit jene sofort nachzulassen, wenn der Anprall desselben zu heftig wäre.

Bis jetzt waren aber die Elemente noch nicht im Kampfe und Alles wäre gut gewesen, hätte das Boot nur Fahrt machen können. Nach einer Stunde noch befand es sich aber kaum zwei Meilen von dem Indianerlager. Zudem war es von einigen unglückseligen Windstößen, welche von der Landseite herkamen, weit in See hinausgetrieben worden, so daß das im Nebel verhüllte Ufer kaum noch zu erkennen war. Es wäre ein sehr bedenklicher Umstand, wenn der Nordwind etwa stetig blieb, denn das leichte Boot, welches sehr zum Abweichen neigte und nicht sehr dicht vor dem Winde segeln konnte, lief dann Gefahr, weit in den See hinaus verschlagen zu werden.

»Wir kommen kaum vorwärts, sagte da der Lieutenant zum alten Normann.

– Kaum, Herr Hobson, bestätigte dieser. Der Wind hält nicht aus einer Gegend an, und wenn es geschieht, ist zu befürchten, daß er gerade in der für uns ungünstigsten Richtung wehen wird. Dann könnten wir, setzte er hinzu, und wies mit der Hand nach Süden, dort eher Fort-Franklin, als Fort-Confidence zu sehen bekommen.

– Nun, warf die Reisende lächelnd ein, da hätten wir doch nur eine ausgedehntere Spazierfahrt gemacht. Dieser See des Großen Bären ist ja prächtig und verdient vom Norden bis zum Süden besucht zu werden. Ich setze voraus, Norman, daß man auch von diesem Fort-Franklin aus den Rückweg findet.

– Gewiß, Madame, sagte der alte Norman, wenn man nämlich bis dahin gekommen ist. Aber das stürmische Wetter hält auf diesem See oft vierzehn Tage unausgesetzt an, und wenn wir zum Unglück bis an die Südküste desselben verschlagen würden, könnte ich Herrn Jasper Hobson wohl kaum vor einem Monate für die Rückkehr nach Fort-Confidence stehen.


Begegnung mit Hafen-Indianern. (S. 76.)

– Dann wollen wir auf unserer Hut sein, versetzte der Lieutenant, denn ein solcher Verzug könnte unser Vorhaben sehr in Frage stellen. Unterlassen Sie also ja Nichts, mein Freund, und gehen, wenn nöthig, irgend wo an der Nordküste an's Land. Mrs. Paulina Barnett wird meiner Ansicht [79] nach vor einer Fußreise von zwanzig bis fünfundzwanzig Meilen nicht zurückschrecken.


Ueberfallen vom Sturme. (S. 83.)

– Ich würde gern an der Nordküste landen, Herr Hobson, entgegnete Norman, aber dorthin kann ich nicht zurück. Sehen Sie selbst, der Wind scheint von daher beständig zu werden. Höchstens kann ich auf das Nordost-Cap zu halten, und wenn es nicht zum Sturme kommt, hoffe ich dann gute Fahrt zu machen.«

Schon gegen halb fünf Uhr kündigte sich aber das Unwetter an. Aus [80] den höheren Luftschichten hörte man ein scharfes Pfeifen. Noch berührte der Wind, der in Folge des Zustandes der Atmosphäre mehr in den höheren Luftschichten wehte, die Oberfläche des Sees nicht, doch konnte das nicht mehr fern sein. Laut hörte man die Vögel kreischen, welche erschreckt durch die Dunstmassen jagten. Plötzlich zertheilten sich diese und machten schwere, niedrige, ausgezackte Wolken, wahre Fetzen von Wasserdunst, sichtbar, welche stürmisch nach Süden trieben. Die Befürchtung des alten Seemanns hatte [81] sich also bewahrheitet; der Wind blies aus Norden und mußte in nächster Zeit zur Gewalt eines Orkanes anwachsen.

»Achtung!« rief Norman, der die Schoten straff anzog, um das Boot mit Hilfe des Steuers möglichst scharf an den Wind zu bringen.

Da brach der Sturm los. Weit neigte sich das Schiffchen auf die Seite, erhob sich dann wieder und tanzte auf einem Wellenberge. Von dem Augenblicke an wurde der Seegang so hohl, wie im freien Meere. Bei dem hier verhältnißmäßig seichten Wasser stießen sich die Wellen mit Macht an dem Seegrunde und schnellten dann zu beträchtlicher Höhe auf.

»Zu Hilfe! Zu Hilfe!« rief der alte Seemann, der das Segel schnell einzuziehen suchte.

Jasper Hobson und selbst Mrs. Paulina Barnett suchten dem alten Norman beizustehen, erreichten aber Nichts, da sie mit Schiffsmanoeuvren zu wenig vertraut waren. Norman konnte das Steuer unmöglich verlassen, und da sich die Hißleinen an der Mastspitze verwickelt hatten, folgte das Segel dem Zuge nicht. Jeden Augenblick drohte das Boot umzuschlagen, und häufig schon drang das Wasser über die eine Seite herein. Der dicht bedeckte Himmel verdunkelte sich mehr und mehr. Ein kalter Regen stürzte, mit Schnee vermischt, stromweise herab, und der Orkan verdoppelte seine Wuth und zerbrach den Kamm der Wellen.

»Abschneiden! Abschneiden!« rief der alte Seemann mitten durch das Toben des Sturmes. Jasper Hobson, dem der Wind die Kopfbedeckung geraubt und der Platzregen das Sehen fast unmöglich gemacht hatte, ergriff Norman's Messer und trennte die wie eine Harfensaite gespannte Hißleine. Das naßgewordene Troß glitt aber nicht mehr in der Hohlkehle der Blockrolle, und so blieb die Segelstange immer noch in senkrechter Stellung zu der Mastspitze.

Nun wollte Norman fliehen, fliehen nach Süden, da er gegen den Wind ja doch nicht aufkommen konnte; fliehen, trotzdem daß dieser Versuch, mitten durch die Wogen, deren Schnelligkeit größer war als die des Fahrzeuges, zu gehen, außerordentlich gefährlich erschien; fliehen, und lief er auch dabei Gefahr, bis an die südliche Küste des Sees getrieben zu werden.

Jasper Hobson und seine muthige Begleiterin waren sich der ihnen drohenden Gefahr wohl bewußt. Dieses zerbrechliche Boot konnte ja dem Anschlagen der Wogen nicht lange widerstehen. Entweder mußte es zertrümmert [82] werden, oder kentern. Das Leben derjenigen, die es trug, stand nur in Gottes Hand.

Trotz alledem verzweifelte weder der Lieutenant, noch Mrs. Paulina Barnett. Von Kopf bis zu Füßen von den Sturzseen bedeckt, vom kalten Regen durchnäßt und von dunkeln Sturmwolken umhüllt, klammerten sie sich fest an die Bänke und blickten forschend durch die Wasserstaubmassen. Das Land war völlig außer Sicht. Kaum eine Kabellänge vom Boote entfernt mischten sich scheinbar Wolken und Wellen. Dann lenkten sich ihre Blicke fragend auf den alten Norman, der, mit trotzig geschlossenem Munde und das Steuerruder krampfhaft in den Händen, sein Schiff noch immer möglichst nahe am Winde zu halten suchte.

Die Heftigkeit des Orkans ward aber so groß, daß das Boot in dieser Richtung nicht mehr lange weiter segeln konnte. Die ihm von vorn entgegenschlagenden Wogen mußten es unfehlbar zertrümmern. Schon hatten sich die ersten Bordplanken gelöst und es war, wenn es mit seinem ganzen Gewichte in ein Wellenthal hinabstürzte, immer zu befürchten, daß es sich nicht wieder erheben werde.

»Wir müssen fliehen, trotz alledem fliehen!« murmelte der alte Seemann.

Er wendete also das Steuer, zog die Schoten an und richtete den Cours nach Süden. Mit rasender Schnelligkeit flog das Schiffchen sofort unter dem straff gespannten Segel dahin. Doch die ungeheuren, noch leichter beweglichen Wellen eilten noch schneller vorwärts, und hierin lag die größte Gefahr dieser Flucht mit dem Winde im Rücken. Schon wälzten sich ganze Wassermassen über das gerundete Hintertheil des Bootes, welches immer ausgeschöpft werden mußte, wenn man nicht sinken wollte. Je weiter es in den offenen See hinauskam und sich dem entsprechend also vom Ufer entfernte, desto wilder wurde das Wasser. Kein Schutz, keine Baumwand oder Hügelkette brachen die Wuth des Orkans. Durch gewisse Lichtungen, oder vielmehr durch Risse in den Dunstmassen erblickte man manchmal enorme Eisberge, welche wie Ankerbojen von den Wogen gehoben und wieder gesenkt wurden und ebenfalls nach Süden zu trieben.

Es war jetzt halb sechs Uhr; weder Norman, noch Jasper Hobson vermochten die durchfahrene Strecke abzuschätzen, so wenig, wie sie die eingehaltene Richtung bestimmen konnten.

[83] Sie waren nicht mehr Herren ihres Fahrzeuges, vielmehr ganz den Launen des Sturmes preisgegeben.

Da erhob sich, etwa hundert Fuß hinter dem Boote, eine riesige Welle, deren Kamm ein weißer Schaum krönte. Vor ihr her lief eine Wassersenkung, die mehr einem Abgrunde ähnlich war. Alle kleinen Wellen dazwischen, die der Wind aufgewirbelt hatte, waren in ihr aufgegangen. In der Tiefe jenes Abgrundes erschien das Wasser von schwärzlicher Farbe. Das Boot, welches in diese Tiefe hineingerissen wurde, sank immer mehr und mehr. Der Wogenberg, der die ganze Umgebung überragte, zog heran. Er hing schon über dem Boote und drohte es zu erdrücken. Norman, der sich zurückgebogen hatte, sah ihn herankommen. Jasper Hobson und Mrs. Paulina Barnett sahen ihm starr mit weit aufgerissenen Augen entgegen, und erwarteten ängstlich, daß er sich über sie stürzen werde.

In diesem Augenblicke brach die Woge auch mit Donnertoben über ihnen zusammen. Einer Brandung ähnlich fluthete sie über das Schiffchen, dessen Hintertheil vollständig begraben wurde. Ein furchtbarer Stoß wurde fühlbar, den ein Schrei von den Lippen des Lieutenants und der Mrs. Paulina Barnett, die unter dem Wasserberge verschwanden, begleitete. Sie mußten annehmen, daß das Boot jetzt untergehe.

Dennoch erhob es sich, zu drei Viertel mit Wasser gefüllt, wieder ..., aber der alte Seemann war verschwunden.

Jasper Hobson entrang sich ein Schrei der Verzweiflung. Mrs. Paulina Barnett wandte sich nach ihm.

»Norman! rief er, und zeigte nach dem leeren Platz am Steuer.

– Der Unglückliche!« sagte die Reisende.

Jasper Hobson und sie hatten sich auf die Gefahr hin, aus dem Boote geworfen zu werden, erhoben, doch sahen sie Nichts. Kein Schrei, kein Zuruf war zu vernehmen, – kein Körper tauchte in dem weißen Schaume auf ... Der alte Seemann hatte den Tod in den Wellen gefunden.

Mrs. Paulina Barnett und Jasper Hobson waren auf ihre Sitze zurückgesunken. Jetzt hatten sie allein für ihre Rettung zu sorgen. Aber weder der Lieutenant noch seine Begleiterin verstanden mit einem Schiffe umzugehen, das unter den jetzigen mißlichen Verhältnissen kaum ein wetterfester Seemann zu regieren vermocht hätte. Das Boot war nun ein Spiel der [84] Wellen. Das geblähte Segel riß dasselbe fort; konnte Jasper Hobson seinen Lauf hemmen?

Die Lage der beiden Unglücklichen, die vom Sturme in einer zerbrechlichen Barke erfaßt, diese nicht einmal lenken konnten, wurde entsetzlich.

»Wir sind verloren! sagte der Lieutenant.

– Nein, Herr Lieutenant, entgegnete die muthige Paulina Barnett. Helfen wir uns selbst, so wird uns auch der Himmel helfen.«

Jasper Hobson erkannte jetzt ganz die unerschrockene Frau, deren Schicksal augenblicklich auch das seine war.

Am nothwendigsten erschien es, das Boot von dem eingedrungenen Wasser zu befreien. Eine zweite Sturzwelle würde es augenblicklich gefüllt und auf den Grund versenkt haben. Es handelte sich demnach darum, das Fahrzeug so zu erleichtern, daß es sich leichter mit den Wellen hob und weniger Gefahr lief, zertrümmert zu werden. Mrs. Paulina Barnett und Jasper Hobson schöpften also das Wasser möglichst schnell aus, welches durch seine Beweglichkeit das Umschlagen begünstigen mußte, was keine leichte Arbeit war, da jeden Augenblick ein Wellenkamm über den Bordrand schlug, und man die Wasserschaufel nie aus der Hand legen konnte. Vorzüglich unterzog sich die Reisende dieser Mühe, während der Lieutenant das Steuerruder hielt, und das Schiff wohl oder übel vor dem Wind zu halten suchte.

Zur Vergrößerung der Gefahr brach die Nacht, oder wenn nicht die Nacht, denn diese dauert zu jener Jahreszeit in solchen hohen Breiten nur wenige Stunden, – so doch die Abenddämmerung mehr und mehr herein. Die niedrigen, mit Wasserstaub vermengten Wolken waren kaum noch vom verschwimmenden Lichte erhellt. Kaum zwei Bootslängen weit konnte man vor sich sehen, und mußte doch fürchten, durch den etwaigen Anprall an einen schwimmenden Eisblock vollständig zu scheitern. Solche Eisinseln konnten aber ganz unerwartet auftauchen, und bei dieser Geschwindigkeit gab es kein Mittel, ihnen auszuweichen.

»Sind Sie nicht Herr Ihres Steuers, Herr Hobson? fragte Mrs. Paulina Barnett, als der Sturm eine kurze Pause machte.

– Nein, Madame, antwortete der Lieutenant, Sie werden auf Alles gefaßt sein müssen.

– Ich bin es!« erwiderte einfach die muthige Frau.

In demselben Augenblicke ließ sich ein scharfes Reißen hören, das fast [85] betäubend war. Das durch den Druck des Windes aufgeschlitzte Segel flog wie eine kleine weißliche Wolke von dannen. Noch schoß das Boot, in Folge der ihm innewohnenden Geschwindigkeit, einige Augenblicke weiter fort; dann kam es zur Ruhe, und die Wellen schaukelten es, wie ein Stückchen eines Wracks. Jasper Hobson und Mrs. Paulina Barnett gaben sich verloren; sie wurden furchtbar erschüttert, von den Bänken geschleudert, gequetscht und verwundet. An Bord war kein Stückchen Leinwand weiter, welches man dem Winde hätte bieten können. Die beiden Unglücklichen sahen sich, bei diesem dunkeln Wasserstaube und den fortwährenden Schneewirbeln und Regenschauern, kaum selbst einander. Verständlich machen konnten sie sich eben so wenig; so verharrten sie, jeden Augenblick in Todesangst, wohl eine Stunde lang, und empfahlen sich der Gnade des Höchsten, der sie allein noch zu retten vermochte.

Wie lange sie so von den wüthenden Wellen umhergeworfen wurden? – Weder Lieutenant Hobson, noch Mrs. Paulina Barnett hätten das sagen können. Da erfolgte ein furchtbarer Stoß.

Das Boot war gegen einen ungeheuren Eisberg gestoßen, einen schwimmenden Block mit steilen und glatten Seitenwänden, an welchen kein Halt zu finden war. Bei diesem plötzlichen Stoße, dem gar nicht auszuweichen gewesen war, wich das Vordertheil aus einander und strömend drang das Wasser ein.

»Wir sinken! Wir sinken!« rief Jasper Hobson.

Wirklich sank das Fahrzeug, und schon stand das Wasser in der Höhe der Sitzbänke.

»Mistreß, Mistreß! rief der Lieutenant laut, ich bin hier, ich bleibe ... bei Ihnen!

– Nein, Herr Jasper, entgegnete Mrs. Paulina; allein können Sie sich retten; zu Zweien würden wir Beide untergehen. Lassen Sie mich! Lassen Sie mich!

– Niemals!« rief Lieutenant Hobson.

Kaum hatte er indeß dieses Wort vollendet, als das von einem neuen Wellenschlage getroffene Boot senkrecht hinabsank.

Alle beide verschwanden in dem Schaum, der über das plötzlich sinkende Boot zusammenwirbelte. Nach wenig Augenblicken tauchten sie wieder an der Oberfläche auf. Kräftig schwamm Jasper Hobson mit dem einen Arme [86] und umschlang seine Begleiterin mit dem andern. Offenbar konnte aber sein Kampf gegen die wüthenden Wellen nicht von langer Dauer sein, und bald hätte er wohl mit der, welche er retten wollte, untergehen müssen.

In diesem Augenblicke erweckten fremdartige Laute seine Aufmerksamkeit. Das waren keine Schreie eines erschreckten Vogels, sondern Zurufe einer menschlichen Stimme. Jasper Hobson, der sich mit der gewaltigsten Anstrengung möglichst über das Wasser zu erheben suchte, spähte rasch rund umher.

Aber Nichts sah er mitten in diesem Wasseraufruhre. Immer noch hörte er jedoch die Rufe, welche sich offenbar näherten.

Welche Tollköpfe wagten es wohl, ihm hier zu Hilfe zu kommen? Doch, wer sie auch seien, sie mußten ja zu spät kommen.

Von seinen Kleidern behindert, fühlte sich der Lieutenant sinken sammt der Unglücklichen, deren Kopf er kaum noch über Wasser zu halten vermochte.

Wie als letztes Lebenszeichen stieß da Jasper Hobson einen herzzerreißenden Schrei aus, dann verschwand er unter einer ungeheuren Woge.

Doch er hatte sich vorher nicht getäuscht. Drei Menschen, welche auf dem See waren, hatten das Boot in Noth gesehen und eilten ihm zu Hilfe. Diese Menschen, die Einzigen, welche mit einiger Aussicht auf Erfolg einem solchen wüthenden Wasser trotzen konnten, befanden sich in der einzigen Art von Booten, welche einem solchen Sturme Widerstand zu leisten vermochte.

Diese Menschen waren drei Eskimos, deren Jeder in seinem Kaiak festgebunden war. Der Kaiak ist eine lange, an beiden Enden aufgebogene Pirogue, die aus sehr leichtem Holz gezimmert ist, und über welche mit Seekalbsehnen genähte Robbenfelle gespannt sind. So ist der ganze Kaiak bis auf eine in der Mitte aufgesparte Oeffnung mit Fellen überdeckt. In der Mitte nimmt der Eskimo Platz, befestigt seine für Wasser undurchdringliche Jacke an dem Rande der Oeffnung, und bildet sonach mit seinem Boote ein unzertrennliches Ganzes, in welches kein Tropfen Wasser eindringen kann.

Dieser lenksame und leichte Kaiak tanzt immer auf dem Rücken der Wellen; untergehen kann er nicht, höchstens umschlagen, doch ein Schlag mit dem Doppelruder richtet ihn ebenso leicht wieder auf. Wo die besten [87] Schaluppen unfehlbar zertrümmert würden, widersteht ein solcher Kaiak mit Erfolg.


In Todesnöthen! (S. 86.)

Auf den letzten, von dem Lieutenant ausgestoßenen Schrei trafen die drei Eskimos gleichzeitig an der Stelle des Schiffbruchs ein. Jasper Hobson und Mrs. Paulina Barnett, die schon fast bewußtlos waren, fühlten nur noch, wie eine kräftige Hand sie erfaßte und dem Abgrunde entriß. Bei der herrschenden Dunkelheit war es ihnen aber unmöglich, ihre Retter zu erkennen.


Unerwartete Rettung. (S. 88.)

Der Eine der Eskimos packte den Lieutenant und legte ihn quer über [88] sein Boot, ein Anderer verfuhr ebenso mit Mrs. Paulina Barnett, und schnell schossen die drei von sechsfüßigen Doppelrudern geschickt getriebenen Kaiaks über die schäumenden Wellen dahin.

Eine halbe Stunde nachher waren beide Schiffbrüchige auf einer sandigen Stelle am Ufer, drei Meilen unterhalb Fort-Providence, niedergelegt.

Nur der alte Seemann fehlte bei der Heimkehr.

[89]
10. Capitel
Zehntes Capitel
Ein Rückblick.

Gegen zehn Uhr Abends klopften Mrs. Paulina Barnett und Jasper Hobson an das äußere Thor des Forts. Da war eine Freude, sie wiederzusehen, nachdem man sie schon verloren geglaubt hatte. Diese Freude wich aber einer tiefen Betrübniß, als man den Tod des alten Norman vernahm. Der brave Mann hatte die Liebe Aller besessen, und ein lebhaftes Bedauern ehrte sein Andenken. Die muthigen und opferfreudigen Eskimos wollten, als sie den herzlichsten Dank des Lieutenants und seiner Begleiterin sehr phlegmatisch entgegen genommen hatten, nicht einmal mit nach dem Fort kommen. Was sie gethan hatten, erschien ihnen ganz selbstverständlich. Es war das auch nicht ihr erstes Rettungswerk gewesen und sofort hatten sie den gefährlichen Weg über den See wieder eingeschlagen, auf dem sie bei Tag und Nacht dem Fange der Ottern und verschiedener Wasservögel oblagen.

Die auf die Rückkehr Jasper Hobson's folgende Nacht, der nächste Tag, der 1. Juni und die Nacht vom 1. zum 2. wurde ausschließlich der Ruhe gewidmet. Die kleine Truppe ließ sich das ganz gern gefallen, doch war der Lieutenant fest entschlossen, am Morgen des 2., an dem sich der Sturm auch glücklicher Weise gelegt hatte, abzureisen.

Alle Hilfsmittel des Forts hatte Sergeant Felton der Gesellschaft zur Verfügung gestellt. Einige Gespanne Hunde wurden ersetzt, und zur Zeit der Abfahrt fand Jasper Hobson seine Schlitten in bester Ordnung am äußeren Thore aufgefahren.

Man nahm Abschied. Jeder dankte dem Sergeant Felton, der sich unter den gegebenen Verhältnissen sehr gastfreundlich gezeigt hatte, und Mrs. Paulina Barnett war nicht die Letzte, ihm ihre Anerkennung auszudrücken. Ein kräftiger Handschlag, den der Sergeant seinem Schwager Long reichte, beendete die Abschiedsceremonie.

Paarweise besetzte man wieder die bestimmten Schlitten, doch fuhren diesmal Mrs. Paulina und der Lieutenant mit einander, während Madge und Sergeant Long ihnen folgten.

[90] Dem Rathe des Indianerhäuptlings folgend wollte Jasper Hobson die Küste Amerikas auf kürzestem, nämlich dem geraden Wege zwischen Fort-Confidence und dem Meere erreichen. Nach seinen Karten, welche die Gestaltung des Landes freilich nur annäherungsweise zeigten, schien es ihm gut, längs dem Thale den Lauf des Coppermine, eines ziemlich mächtigen, in die Krönungs-Bai einmündenden Flusses, zu verfolgen. Die Entfernung zwischen dem Fort und jener Ausmündung beträgt nur anderthalb Breitengrade, – etwa fünfundachtzig bis neunzig Meilen. Die tiefe Einbuchtung, welche jenen Golf bildet, wird im Norden durch das Cap Krusenstern begrenzt; von da aus aber verläuft die Küste flach bis zu jenem Punkte des siebenzigsten Breitengrades, an welchem die Bathurst-Spitze, oder das Cap gleichen Namens, emporsteigt.

Hobson änderte also die bis jetzt eingehaltene Richtung und wandte sich nach Osten, um dem Wasserlaufe in gerader Linie nach wenigen Stunden zu begegnen.

Anderen Tages, am 3. Juni Nachmittags, wurde der Fluß erreicht. Der Coppermine strömte mit klarem, schnellem, jetzt ganz eisfreiem Wasser, voll bis an die Ufer, in einem breiten Thale dahin, genährt von zahllosen, launenhaften Bergwässern, welche indeß alle ohne Beschwerde zu passiren waren. Leicht glitten die Schlitten dahin. Unterwegs erzählte Lieutenant Hobson seiner Gefährtin die Geschichte des Landes, durch welches sie reisten. Zwischen ihm und der Reisenden hatte sich in Folge der Umstände und des gleichen Alters eine wirkliche Vertraulichkeit und ernsthafte Freundschaft derausgebildet. Mrs. Paulina Barnett strebte ihre Kenntnisse zu erweitern, und da sie selbst Sinn für Entdeckungen hatte, hörte sie auch gern von Entdeckern erzählen.

Jasper Hobson, der sein Nordamerika »aus dem Fundamente« kannte, war in der Lage, die Wißbegier der Reisenden vollkommen zu befriedigen.

»Noch vor etwa neunzig Jahren, sprach er, war dieses vom Coppermine durchströmte Gebiet völlig unbekannt, und verdankt man seine Entdeckung einigen Agenten der Hudsons-Bai-Compagnie, nur fand hierbei Dasselbe statt, was in der Wissenschaft so häufig vorkommt, daß man nämlich das Eine suchte, und das Andere fand. Columbus suchte z.B. Asien und entdeckte dafür Amerika.

[91] – Und was suchten damals die Sendlinge der Compagnie? fragte Mrs. Paulina Barnett. Etwa die berühmte nordwestliche Durchfahrt?

– Nein, Madame, entgegnete der junge Lieutenant, das nicht. Vor hundert Jahren lag der Compagnie Nichts daran, die Fahrbarkeit dieses Seeweges, der nur ihren Concurrenten von Vortheil gewesen wäre, festzustellen. Man behauptet sogar, daß im Jahre 1741 ein gewisser Christoph Middleton, der jene Gegenden bereiste, von der Compagnie 5000 Pfund Sterling für die Erklärung erhalten habe, daß eine Verbindung zwischen den beiden Meeren nicht vorhanden sei und auch nicht vorhanden sein könne.

– Das gereicht der berühmten Compagnie nicht gerade zur Ehre, warf Mrs. Paulina Barnett ein.

– In diesem Punkte möchte ich sie auch gar nicht vertheidigen, fuhr Jasper Hobson fort. Ich füge Ihnen sogar noch hinzu, daß das Parlament diese Handlungsweise sehr durchschlagend desavouirte, indem es, im Jahre 1746, einen Preis von 20,000 Pfund Sterling für Denjenigen auswarf, der die fragliche Durchfahrt entdecken würde. So sah man denn auch noch in dem nämlichen Jahre zwei unerschrockene Reisende, William Moore und Francis Smith, bis zur Repulse-Bai, um jene gewünschte Meeresverbindung aufzusuchen, vordringen. Ihr Unternehmen blieb jedoch erfolglos, und nach anderthalbjähriger Abwesenheit kehrten sie wieder nach England zurück.

– Aber begaben sich nicht andere, von der Thatsache überzeugte Seefahrer sogleich auf die Spuren Jener? fragte Mrs. Paulina Barnett.

– Nein, Mistreß; dreißig Jahre lang wurde trotz der hohen Belohnung seitens des Parlamentes kein neuer Versuch zur Lösung dieses geographischen Räthsels unternommen, welches so hinderlich über diesem Theil des amerikanischen Festlandes, oder vielmehr des britischen Nordamerika, – denn dieser Name soll erhalten bleiben, – schwebte. Erst im Jahre 1769 nahm ein Agent der Compagnie Moores und Smith's unterbrochene Arbeiten wieder auf.

– Demnach war die Compagnie von ihren engherzigen und selbstsüchtigen Ideen abgekommen?

– Nein, Madame, noch nicht. Samuel Hearne, – dies ist der Name des betreffenden Agenten, – hatte nur den Auftrag, die Lage einer Kupfermine zu bestimmen, von welcher umherschweifende Eingeborene gesprochen [92] hatten. Am 6. November 1769 verließ dieser Agent Fort-Prince-de-Galles, das am Churchill-Strome, nahe der Westküste der Hudsons-Bai, liegt. Schnell drang Samuel Hearne nach Nordwesten vor; die eintretende allzu heftige Kälte und der Mangel an Nahrungsmitteln nöthigten ihn jedoch, nach Fort-Prince-de-Galles zurückzukehren. Zum Glück war er aber ein nicht so schnell zu entmuthigender Mann. Am 23. Februar reiste er in Begleitung mehrerer Indianer auf's Neue ab. Die Strapazen dieser zweiten Reise waren ganz außerordentliche. Wild und Fische, worauf Samuel Hearne rechnete, fehlten oft gänzlich. Sieben Tage lang hatte er einmal Nichts als wilde Früchte neben Stücken alten Leders und gebrannter Knochen zur Nahrung. Nochmals war der furchtlose Reisende gezwungen, ohne Erzielung irgend eines Resultates nach der Factorei umzukehren. Dennoch beruhigte er sich nicht. Zum dritten Male ging er am 7. December 1770 ab und entdeckte nun, nach neunzehnmonatlichen Kämpfen, am 13. Juli 1772, den Coppermine-Fluß, den er bis zur Mündung verfolgte, von welcher aus er das offene Meer gesehen haben wollte. Zum ersten Male war hiermit die Nordküste Amerikas erreicht worden.

– Aber die nordwestliche Durchfahrt, d.h. die Verbindung zwischen dem Atlantischen und dem Stillen Weltmeere, war damit noch nicht entdeckt? fragte Mrs. Paulina Barnett.

– O nein, Mistreß, erwiderte der Lieutenant, und wie viele abenteuerlustige Seefahrer suchten sie später noch! So unterzogen sich Phipps (1773), James Cook und Clerke (von 1776 bis 1779), Kotzebue (von 1815 bis 1818), Roß, Parry, Franklin und noch viele Andere, diesem immer vergeblichen Versuche, und erst in unserer Zeit begegnet man in dem unerschrockenen Entdeckungsreisenden Mac Clure dem einzigen Menschen, der wirklich durch das Polarmeer von einem Ocean zum anderen gelangt ist.

– Wahrlich, Herr Hobson, antwortete die Reisende, dann bildet das ein geographisches Ereigniß, auf welches stolz zu sein wir Engländer alle Ursache haben. Doch sagen Sie mir, hat denn die Hudsons-Bai-Compagnie, nachdem sie endlich auf ihrer würdigere Gedanken gekommen war, nach Samuel Hearne keinem anderen Reisenden ihre Unterstützung geliehen?

– Gewiß, Madame, und ihr verdankt es beispielsweise Franklin, daß er seine Reise 1819 bis 1822, genau zwischen dem Hearne-Flusse und dem Cap Turnagain, ausführen konnte. Dieser Zug verlief freilich unter den [93] härtesten Leiden und Entbehrungen, denn auch bei diesem ging den Reisenden die Nahrung öfter gänzlich aus. Zwei Canadier, die von ihren Kameraden erschlagen worden waren, wurden aufgezehrt. Trotz aller Qualen zog Franklin aber doch nicht weniger als 5500 Meilen an dem bis dahin unbekannten Küstengebiete Nordamerikas hin.

– Ja, das war ein Mann von seltener Thatkraft, fügte Mrs. Paulina Barnett hinzu. Hat er es nicht dadurch bewiesen, daß er sich trotz der überstandenen Leiden und Gefahren noch an eine neue Nordpolexpedition wagte?

– Ja wohl, bestätigte Jasper Hobson, und der kühne Forscher mußte noch auf dem Schauplatze seiner Entdeckungen einen grausamen Tod finden. Doch ist es sehr wahrscheinlich, daß nicht alle Begleiter Franklin's mit ihm umgekommen sind, und gewiß irren noch viele dieser Unglücklichen in den eisstarrenden Einöden umher. O, ich kann an dieses traurige Verlassensein nicht ohne Beklommenheit des Herzens denken. Der Tag wird noch kommen, Mrs. Paulina, setzte der Lieutenant sichtlich bewegt hinzu, an dem auch ich jene unbekannten Länder, welche diese schreckliche Katastrophe sahen, durchstreifen werde ...

– Und dann werde ich, schloß Mrs. Paulina Barnett mit einem warmen Händedrucke diese Worte, dann werde ich Ihre treue Begleiterin sein. O, mir ist, ebenso wie Ihnen, dieser Gedanke mehr als einmal gekommen, und das Herz will mir brechen, wenn ich mir sage, daß da droben Engländer, Landsleute vielleicht sehnsüchtig auf Hilfe harren ...

– Welche freilich für die Meisten dieser Bedauernswerthen zu spät, aber doch noch für Einige, das dürfen Sie glauben, gelegen kommen würde.

– Gott hört Sie, Herr Hobson! sagte Mrs. Paulina Barnett fast feierlichen Tones. Ich finde übrigens, daß diejenigen Agenten der Compagnie, welche dem nördlichen Ufer ganz nahe wohnen, in der besten Lage wären, die Erfüllung dieser Pflicht der Menschlichkeit zu versuchen.

– Auch ich theile Ihre Ansicht, Mistreß, antwortete der Lieutenant, denn diese Agenten sind an die Strenge des Polarklimas am meisten gewöhnt. Hiervon haben sie übrigens manche Beweise gegeben. Waren sie es nicht, welche im Jahre 1834 den Kapitän Back auf seiner Reise unterstützten, deren Folge die Entdeckung des König-Wilhelm-Landes, d.h. desjenigen Gebietes war, auf dem sich die Katastrophe mit Franklin ohne Zweifel zugetragen [94] hat? Waren es nicht Zwei der Unseren, der muthige Dease und Simpson, denen der Gouverneur der Hudsons-Bai im Jahre 1838 die specielle Erforschung der Ufer des Polarmeeres auftrug, in deren Folge das Victoria-Land zum ersten Male erblickt wurde? – Unserer Compagnie scheint also die Zukunft die Erforschung der arktischen Continente aufgespart zu haben. Allmälig werden sich neue Factoreien immer weiter im Norden, dem natürlichen Zufluchtsorte der Pelzthiere, erheben, und dereinst gewiß auch auf dem Pole selbst, jenem mathematischen Punkte, an dem sich alle Meridiane der Erdkugel schneiden!«

Während dieses Gespräches und mehrerer anderer, die ihm noch folgten, erzählte Jasper Hobson auch seine eigenen Abenteuer im Dienste der Compagnie, seine Kämpfe mit den Agenten concurrirender Gesellschaften und seine Erforschungsversuche in den unbekannten Gebieten des Nordens und Westens. Ihrerseits berichtete Mrs. Paulina Barnett über ihre eigenen Wanderungen durch die Tropenländer. Sie sprach von Allem, was sie schon ausgeführt habe und noch auszuführen gedenke. Hierdurch bildete sich zwischen den beiden Insassen des Schlittens ein angenehmer Austausch, der die langen Reisestunden verkürzte.

Unterdessen eilten die von den Hunden im Galop gezogenen Schlitten dem Norden zu. Das Coppermine-Thal erweiterte sich entsprechend der Annäherung an das Meer. Die minder zerrissenen Seitenhügel wurden niedriger. Da und dort unterbrachen kleine Gruppen von Harzbäumen die Eintönigkeit dieser fremdartigen Gegenden. Einige von der Strömung mitgeführte Eisblöcke widerstanden noch den auflösenden Strahlen der Sonne. Von Tag zu Tage wurden ihrer aber weniger, und ein Boot, selbst eine Schaluppe hätte diesen Strom, den nirgends ein natürliches Hinderniß aufhielt, bequem hinabfahren können. Das Bett des Coppermine war tief und breit. Seine sehr klaren, von dem thauenden Schnee genährten Wässer liefen zwar schnell, bildeten aber nirgends gefährliche Wirbel.


An der Küste des arktischen Oceans. (S. 98.)

Sein im oberen Theile sehr gewundener Lauf streckte sich im unteren gerader und verlief meilenweit in ganz ungebrochener Linie. Die breiten und flachen Ufer, welche aus seinem, hartem Sande bestanden, waren stellenweise mit niedrigem, trockenem Grase bedeckt und demnach für die Fortbewegung der Schlitten und die Kraftentwickelung der langen Bespannung verhältnißmäßig günstig.


Glückliche Vorzeichen. (S. 101.)

Die Gesellschaft kam also schnell vorwärts. Man reiste Tag und Nacht, [95] wenn dieser Ausdruck für eine Gegend paßt, über der die Sonne nur einen sehr flachen Bogen beschrieb und kaum unter dem Horizonte verschwand. Die wirkliche Nacht währte zu dieser Jahreszeit nur zwei Stunden und die Morgendämmerung schloß sich fast unmittelbar an die des Abends an. Zudem war die Witterung gut, der Himmel, wenn auch der Horizont etwas dunstig, doch ziemlich rein, und so vollzog sich die Reise unter den günstigsten Bedingungen.

Zwei Tage lang verfolgte man den Lauf des Coppermine ohne jede [96] Schwierigkeit. Die Umgebungen erschienen zwar arm an Pelzthieren, aber überreich an Geflügel. Der erstere Umstand beunruhigte übrigens Lieutenant Hobson kaum, da er sich sagte, daß die Thierbevölkerung dieser Gattung durch die lebhafte Jagd auf Raub- und Nagethiere vertrieben sein werde. Das wurde auch dadurch noch wahrscheinlicher, daß man da und dort Spuren von Lagern und auch verloschene Feuer fand, welche die kürzer oder länger vorhergegangene Anwesenheit eingeborener oder anderer Jäger bekundeten. Jasper Hobson sah es ganz gern, daß er weiter nach Norden zu gehen [97] Veranlassung hatte und daß mit Erreichung der Mündung des Coppermine erst ein Theil seiner Reise zurückgelegt sei. Er hatte demnach Eile, seinen Fuß auf das von Samuel Hearne entdeckte Küstengebiet zu setzen und beschleunigte den Marsch seiner Gesellschaft nach. Kräften.

Im Uebrigen theilten Alle die Ungeduld Jasper Hobson's. Eine unerklärliche Anziehungskraft trieb diese kühnen Pionniere vorwärts. Der Reiz des Unbekannten funkelte vor ihren Augen. Vielleicht sollten aber ernsthafte Schwierigkeiten an dieser so herbeigesehnten Küste erst beginnen? Sei es darum, Alle beeilten sich, ihnen Trotz bieten und auf ihr eigentliches Ziel lossteuern zu können. Die jetzige Reise führte sie ja nur durch ein Land, welches ihnen kein directes Interesse darbot; erst an den Küsten des Eismeeres sollten die eigentlichen Nachforschungen beginnen. Jedermann strebte also, sich auf jenem Küstenstriche zu befinden, den der siebenzigste Breitengrad einige hundert Meilen im Westen durchschnitt.

Am 5. Juli endlich, vier Tage nach der Abreise von Fort-Confidence, bemerkte Lieutenant Jasper Hobson eine ganz beträchtliche Verbreiterung des Coppermine. Die westliche Küste entwickelte sich in einer leicht gekrümmten Linie, welche fast direct nach Norden verlief. Im Osten dagegen verschwand sie am unbegrenzten Horizonte.

Jasper Hobson hielt sofort an und zeigte seinen Genossen mit der Hand das grenzenlose Meer.

11. Capitel
Elftes Capitel.
Längs der Küste.

Der breite Meerbusen, den die Gesellschaft nach sechswöchentlicher Fahrt erreichte, bildete einen trapezförmigen, scharf in das Festland Amerikas hinein verlaufenden Einschnitt.

In seiner westlichen Ecke befand sich die Mündung des Coppermine-Flusses. An der östlichen dagegen zog sich eine lange Meerstraße hin, welche [98] den Namen »Bathurst's Eingang« erhalten hat. An dieser Seite zeigt das Ufer eine launenhafte Bildung, ist von Buchten und kleinen Schlüpfhäfen unterbrochen und mit scharfen Caps und steil abfallenden Vorgebirgen besetzt, verliert sich auch weiterhin in jenes Gewirr von Meerengen, Oeffnungen und Durchlässen, welche den Karten der Polargegenden einen so sonderbaren Anblick verleihen. An der anderen, also an der westlichen Seite des Meerbusens, steigt die Küste, von der Mündung des Coppermine aus, nach Norden zu an und läuft in dem Cap Krusenstern aus.

Dieser Meerbusen trägt den Namen der Krönungs-Bai, und seine Gewässer sind mit Inseln und Eilanden, welche den Archipel des Herzogs von York bilden, bedeckt.

Nach Zuratheziehung des Sergeants Long beschloß Jasper Hobson, seinen Begleitern an diesem Punkte einen Rasttag zu gewähren.

Die Erforschung im eigentlichen Sinne, welche dem Lieutenant eine zur Gründung einer Factorei geeignete Stelle nachweisen sollte, begann also von hier ab. Die Compagnie hatte empfohlen, sich so weit als möglich oberhalb des siebenzigsten Breitengrades und an der Küste des Polarmeeres zu halten. Seinem Mandate gemäß konnte der Lieutenant also nur im Westen nach einem Punkte suchen, welcher so hoch und doch noch auf dem Festlande läge. Nach Osten hin bilden die so merkwürdig zerrissenen Ländermassen (vielleicht mit alleiniger Ausnahme des Bootia-Landes), welche von jenem Breitengrade durchschnitten werden, Theile der eigentlich arktischen Gebiete, deren geographische Gestaltung aber nur erst sehr unvollkommen bekannt ist.

Nach Aufnahme der Länge und Breite und Einzeichnung seiner Position in der Karte sah Jasper Hobson, daß er sich noch mehr als hundert Meilen unterhalb des siebenzigsten Breitengrades befand. Oberhalb des Cap Krusenstern aber durchschnitt die Küste, welche sich nach Nordwesten fortsetzte, etwa mit dem hundertunddreißigsten Meridiane, jenen Parallelkreis, genau in der Höhe des Cap Bathurst, welches von Kapitän Craventy als Ort des Zusammentreffens bezeichnet worden war. Diesen Punkt galt es also zu erreichen und dort etwa konnte sich auch das neue Fort erheben, wenn die Oertlichkeit die nöthigen Hilfsquellen für eine Factorei versprach.

»Da, Sergeant Long, sagte der Lieutenant und zeigte seinem Unterofficier die Karte der Polargegenden, da werden wir uns unter den von der Compagnie vorgeschriebenen Bedingungen befinden. An diesem Punkte gestattet [99] das einen großen Theil des Jahres über offene Meer den Schiffen von der Behrings-Straße bis an das Fort zu gelangen, dieses mit allem Nöthigen zu versehen und seine Producte auszuführen.

– Ohne zu erwähnen, fügte Sergeant Long hinzu, daß unsere Leute von der Zeit ab, da wir uns über dem siebenzigsten Breitengrade befinden, doppelte Löhnung beziehen sollen.

– Das versteht sich von selbst, entgegnete der Lieutenant, und ich denke, sie werden sie ohne Murren annehmen.

– Nun wohl, Herr Lieutenant, dann haben wir nur also nach Cap Bathurst aufzubrechen«, sagte einfach der Sergeant.

Da aber einmal ein Rasttag angesagt war, fand die Abreise erst anderen Tages, am 6. Juni, statt.

Dieser zweite Theil der Reise mußte dem ersten gegenüber sehr verschieden sein und war es auch wirklich. Die Ordnung, welche den Schlitten bis hierher vorgeschrieben gewesen war, wurde nicht weiter aufrecht erhalten. Man zog in kleinen Tagereisen weiter, hielt an allen Ecken der Küste und ging häufig zu Fuß. Lieutenant Hobson empfahl seinen Begleitern nur dringend, sich niemals weiter als drei Meilen von der Küste zu entfernen und zweimal des Tages, Mittags und Abends, bei der Hauptabtheilung wieder einzutreffen. Bei einbrechender Nacht lagerte man sich Das Wetter war zu dieser Jahreszeit beständig schön, und die Temperatur, welche bis + 15° C. stieg, sehr angenehm. Zwei- oder dreimal brachen zwar plötzliche Schneestürme los, welche aber nicht andauernd genug waren, um die Luftwärme wesentlich zu beeinträchtigen.

Der ganze Theil der amerikanischen Küste zwischen Cap Krusenstern und Cap Parry, welcher eine Ausdehnung von etwa zweihundertundfünfzig Meilen hat, wurde nun zwischen dem sechsten und dem zwanzigsten Grad möglichst sorgsam bereist. Wenn die geographische Aufnahme dieses Küstenstriches Nichts zu wünschen übrig ließ, wenn Jasper Hobson sogar – und hierbei wurde er von Thomas Black sehr erfolgreich unterstützt – einige hydrographische Irrthümer zu berichtigen vermochte, so wurde doch auch das benachbarte Land fortwährend scharf im Auge behalten, vorzüglich in der Hinsicht, welche die Hudsons-Bai-Compagnie direct interessirte.

Waren diese Gebiete z.B. wildreich? Konnte man auf eßbare Thiere ebenso rechnen, wie auf Pelzthiere? Würden die selbständigen Hilfsquellen [100] des Landes ausreichen, eine Factorei, mindestens den Sommer über, zu erhalten? Das waren die wichtigeren Fragen, welche sich Jasper Hobson vorlegte und die ihn mit vollem Rechte beschäftigten. In Bezug hierauf beobachtete er etwa Folgendes:

Das eigentliche Wild, d.h. dasjenige, dem Corporal Joliffe, so gut wie Andere, den Vorzug gaben, schien nicht eben im Ueberfluß vorhanden. Geflügel, welches zu der zahlreichen Familie der Enten gehörte, gab es zwar in großer Menge, aber Nagethiere waren nur durch einige Polarhasen, welche sich übrigens schwierig ankommen ließen, vertreten. Dagegen mußten Bären hier häufig sein. Sabine und Marbre hatten nicht selten frische Spuren dieser Raubthiere angetroffen. Mehrere waren sogar bemerkt oder aufgespürt worden, doch hielten sie sich immer in gemessener Entfernung. Jedenfalls lag es auf der Hand, daß diese Thiere, wenn sie die strengere Jahreszeit durch Hunger aus den höher gelegenen Gegenden vertrieb, an den Küsten des Eismeeres nicht selten sein konnten.

»Uebrigens, sagte Corporal Joliffe, den die Verproviantirungsfrage vorwiegend beschäftigte, wenn der Bär in der Speisekammer hängt, ist er auch gar nicht zu verachten. Ist das aber noch nicht der Fall, so stellt er nur ein sehr problematisches Wild, welches alle Vorsicht nöthig macht, dar, und droht Euch Jägern immer dasselbe Loos, welches Ihr ihm bestimmt habt.«

Klüger konnte wohl kein Mensch reden. Bären konnten die Bedürfnisse des Forts nicht wohl mit Sicherheit decken. Glücklicher Weise war das Gebiet aber auch von Banden noch nützlicherer, und vorzüglich wohlschmeckenderer Thiere, als es die Bären sind, häufiger besucht, denen die Indianer und manche Eskimostämme oft ihre einzige Nahrung entlehnen. Es sind das die canadischen Rennthiere, deren häufiges Vorkommen Corporal Joliffe auf diesem Küstenstriche constatirte. Wirklich hatte die Natur Alles gethan, sie hierher zu locken, indem sie den Boden mit jener Moosart bedeckte, nach welcher das Rennthier vorzüglich lüstern ist, die es sogar geschickt unter dem Schnee hervorzuscharren weiß, und von der es den Winter über ausschließlich lebt.

Jasper Hobson war nicht minder befriedigt, als Corporal Joliffe, als er mit diesem die Fußtapfen solcher Wiederkäuer auffand, welche sich dadurch leicht von anderen unterscheiden, daß die innere Huffläche, ähnlich der des Kameels, einen convexen Abdruck hinterläßt. Man begegnet in gewissen [101] Gegenden Amerikas ganz beträchtlichen wilden Heerden dieser Thiere, die sich wohl bis zu mehreren tausend Köpfen ansammeln. Lebend lassen sie sich leicht zähmen, und leisten dann den Factoreien beträchtliche Dienste; entweder durch ihre selbst die Kuhmilch an Stoffreichthum übertreffende Milch, oder auch als Zugthiere für die Schlitten. Todt sind sie kaum minder nützlich, da ihr sehr dichtes Fell sich zu Kleidungsstücken verwerthen läßt: ihr Haar liefert gesponnen sehr dauerhafte Fäden; ihr Fleisch ist ziemlich schmackhaft, und kaum giebt's unter den hohen Breiten ein allseitiger verwendbareres Geschöpf. Das Vorkommen solcher Rennthiere, welches unzweifelhaft bestätigt war, konnte also Jasper Hobson in seiner Absicht, auf einem Punkte dieses Gebietes eine Niederlassung zu begründen, nur bekräftigen.

Bezüglich der Pelzthiere war er aber ebenso befriedigt. Längs der kleinen Wasserläufe fanden sich häufige Bauten von Bibern und Bisamratten. Dachse, Luchse, Hermelins, Vielfraße, Marder und Wiesel waren in der Umgebung zahlreich, wo das Nichtauftreten von Jägern ihnen Ruhe gelassen hatte. Von Menschen sah man hier noch keine Spuren, folglich mußten die Thiere ebenda eine gesicherte Zuflucht finden. Gleichzeitig fanden sich auch Spuren von blauen, und von Silber-Füchsen, eine Abart, welche immer seltener und deren Fell sozusagen mit Gold aufgewogen wird. Die Jäger hätten auf dem Zuge nicht selten Gelegenheit gehabt, sich einen Preis herauszuschießen, doch verbot kluger Weise Hobson vorläufig alles Jagen. Er wollte die Thiere nicht vor der Saison, das heißt, vor der Zeit aufschrecken, in welcher ihr Fell dichter und schöner ist, und auch höher im Preise steht. Nebenbei wäre es nutzlos gewesen, die Schlitten zu überlasten. Sabine und Marbre sahen diese Gründe wohl ein, aber ihre Hand bewegte sich doch unwillkürlich, wenn ihnen ein Zobel oder ein kostbarer Fuchs vor den Lauf kam. Jasper Hobson's Befehl war aber einmal ausgesprochen, und der Lieutenant hätte nicht geduldet, daß man dem zuwider handelte.

Die Gewehre der Jäger hatten also während dieser zweiten Reiseperiode kein anderes Ziel, als einige Eisbären, welche sich manchmal an den Seiten des Zuges sehen ließen. Diese Raubthiere aber liefen, da sie jetzt nicht Hunger litten, meist eiligst davon, so daß es zu keinem ernsthaften Engagement mit ihnen kam. Hatten die Vierfüßler des Landes aber von der Ankunft der Reisegesellschaft nicht zu leiden, so hatte dafür das ganze Federvieh reichlich zu bezahlen. So erlegte man weißköpfige Adler, eine Art großer[102] Vögel, welche sehr laut kreischen; Fischer-Falken, die gewöhnlich in den Höhlungen abgestorbener Bäume nisten und während des Sommers bis in die arktischen Breiten hinaufziehen; ferner Schneegänse von prachtvoll weißem Gefieder, wilde Baumgänse, vom Standpunkte der Eßbarkeit wohl die beste Art des Geschlechts der Gänse; Enten mit rothem Schnabel und schwarzer Brust; aschfarbene Krähen, eine Art Spott-Elstern von ausnehmender Häßlichkeit; Eidergänse, Trauerenten und noch verschiedene Arten Geflügel, die mit ihrem Geschrei das Echo der Uferwände wach riefen. Die Vögel bewohnen diese Nachbarschaft der Seeküste zu Millionen, und ihre Menge übersteigt wirklich jede Schätzung.

Die Jäger, denen jede andere Jagd streng untersagt war, stillten also ihre Lust an dem Federvieh. Mehrere hundert, meist gut eßbare Vögel erlagen während der ersten vierzehn Tage dem Schrote, und brachten in die gewöhnliche aus Pökelfleisch und Schiffszwieback bestehende Tafel eine gern gesehene Abwechselung.

Thiere fehlten also in diesen Gebieten offenbar nicht. Die Compagnie konnte leicht ihre Magazine füllen, sowie das Personal des Forts seine Speisekammern. Hiermit allein war aber die Zukunft einer Factorei nicht sicher gestellt. In so hohen Breiten war eine dauernde Niederlassung ja ohne bequemen Bezug reichlichen Brennmateriales nicht zu begründen, da es hier auch der schneidigen Kälte des Polarwinters zu widerstehen galt.

Glücklicher Weise war das Küstengebiet bewaldet. Die Hügel, welche sich im nächsten Hinterlande erhoben, waren mit grünen Bäumen, vorherrschend mit Fichten so besetzt, daß diese fast den Namen von Wäldern verdienten. Da und dort bemerkte Jasper Hobson auch in einzelnen Gruppen Weiden, Pappeln, Zwergbirken und andere baumartige Gesträuche.


Die erste Beute an Proviant. (S. 103.)

Jetzt, in der warmen Jahreszeit, grünten alle diese Bäume und machten auf das Auge, gegenüber der gewohnten Nacktheit der Polarländer, fast einen fremdartigen Eindruck. Am Fuße der Hügel war der Erdboden mit kurzem Grase bedeckt, das die Rennthiere begierig aufsuchen, und von dem sie sich den Winter über ausschließlich nähren.


»Das sind Fußspuren einer tanzenden Person.« (S. 107.)

Man sieht also, daß der Lieutenant sich nur Glück wünschen konnte, dies neue Jagdgebiet im Norden des amerikanischen Festlandes aufgesucht zu haben.

Kamen aber Thiere in der erwähnten Gegend fast im Ueberfluß vor, so [103] schienen Menschen dagegen fast absolut zu fehlen. Man traf weder Eskimos an, deren Stämme mit Vorliebe die der Hudsons-Bai näher liegenden Ländereien durchstreifen, noch Indianer, welche sich so weit über den Polarkreis nur selten hinauswagen. Wirklich könnten solche Einzeljäger hier auch von einem plötzlichen und nicht selten andauernden Rückschlage der schlechten Witterung überrascht und von jeder Verbindung abgeschnitten werden. Daß Lieutenant Jasper Hobson keine Ursache hatte, sich über die Abwesenheit von [104] Seinesgleichen zu beklagen, liegt wohl auf der Hand, da er in ihnen doch nur Rivalen hätte sehen können. Ein jungfräulicher Boden war es, den er suchte; eine Einöde, in der nur die Pelzthiere ein Asyl gefunden hätten, und hierüber sprach er öfters sehr eingehend mit Mrs. Paulina Barnett, welche sich sehr lebhaft für den Erfolg der Unternehmung interessirte. Die Reisende vergaß nie, daß sie Gast der Hudsons-Bai-Compagnie sei, und ihre Wünsche richteten sich auf ein möglichst durchgreifendes Resultat bezüglich Jasper Hobson's Vorhabens.

[105] Wie groß mußte da die unangenehme Verwunderung des Lieutenants sein, als er sich am 20. Juni plötzlich angesichts eines Lagers, das erst vor mehr oder weniger langer Zeit verlassen sein konnte, sah.

Es befand sich bei einer kleinen, schmalen Bucht, welche den Namen Darnley-Bai führt, und deren westlichste Spitze das Cap Parry bildet. An dieser Stelle sah man am Fuße eines kleinen Hügels noch Pfähle, welche zu einer Art Umzäunung gehört haben mochten, und auf den erloschenen Herden noch Haufen erkalteter Asche.

Die ganze Reisegesellschaft lief an diesem Lager zusammen.

Jeder fühlte, daß dieses auf Lieutenant Hobson einen sehr unangenehmen Eindruck hervorbringen mußte.

»Das ist ein übles Ding, sagte er; lieber wäre ich auf dem Wege einer Familie Eisbären begegnet.

– Die Leute aber, wer sie nun auch gewesen sein mögen, welche hier gelagert haben, antwortete Mrs. Paulina Barnett, sind nun schon wieder ohne Zweifel fern, und haben sich wahrscheinlich nach ihren gewöhnlichen Jagdgebieten im Süden zurückgewendet.

– Das ist die Frage, Mistreß Paulina, entgegnete der Lieutenant. Waren es Eskimos, so sind sie voraussichtlich weiter gegen Norden gezogen. Waren es dagegen Indianer, so dürften sie, so gut wie wir, wohl in der Auskundschaftung neuer Jagdgebiete begriffen gewesen sein, und ich wiederhole, daß das für uns von sehr üblen Folgen begleitet sein könnte.

– Aber kann man denn, fragte Mrs. Paulina Barnett, an gar Nichts erkennen, welcher Race diese Reisenden angehörten? Sollte sich nicht entscheiden lassen, ob es Eskimos oder Indianer aus dem Süden gewesen sind? Stämme von so verschiedenem Ursprunge und Volkssitten werden ein Lager doch nicht auf ganz gleiche Weise herstellen.«

Mrs. Paulina Barnett hatte hiermit offenbar Recht, und es war wohl möglich, daß diese Frage durch ein genaueres in Augenschein-Nehmen des Lagers eine Lösung versprach.

Jasper Hobson ging also mit einigen Anderen an diese Prüfung, und suchte peinlich nach jeder Spur, nach irgend einem vergessenen Gegenstande, selbst nur nach einer Fußspur, welche ihnen einige Andeutung gegeben hätte. Doch weder aus dem Zustande des Erdbodens, noch der Feuerherde, war [106] eine solche herzuleiten. Einige Thiergebeine, welche da und dort umherlagen, waren dazu ebenso ungenügend. Schon wollte der Lieutenant die fruchtlose Nachforschung aufgeben, als ihn Mrs. Joliffe, die sich etwa hundert Schritte nach links hin entfernt hatte, anrief.

Jasper Hobson, Mrs. Paulina Barnett, der Sergeant und noch Mehrere eilten sogleich auf die junge Canadierin zu, welche unbeweglich den Erdboden betrachtete.

»Sie suchten nach Spuren, sagte Mrs. Joliffe zu dem Lieutenant. Nun, hier sind deren!«

Sie zeigte dabei auf zahlreiche Fußeindrücke, welche sich in dem thonichten Erdboden sehr scharf erhalten hatten. Diese hätten wohl ein charakteristisches Merkmal bieten können, denn der Fuß des Eskimos und der des Indianers ist ebenso verschieden, wie das beiderseitige Schuhwerk.

Vor Allem war Jasper Hobson über die eigenthümliche Art dieser Eindrücke verwundert. Gewiß rührten sie von einem menschlichen, mit einem Stiefel bekleideten Fuße her, zeigten aber nur den Abklatsch der Sohle, während der des Fersentheiles fehlte. Daneben waren diese Fußspuren nach allen Seiten gerichtet, und nur in beschränktem Umkreise sehr zahlreich.

Jasper Hobson machte seine Begleiter auf diese Eigenthümlichkeit aufmerksam.

»Das sind keine Fußtapfen einer Person, welche im Gehen begriffen war, sagte er.

– Und auch keine eines springenden Menschen, da der Abdruck der Ferse fehlt, setzte Mrs. Barnett hinzu.

– Nein, antwortete Mrs. Joliffe, das sind Fußspuren einer tanzenden Person!«

Mrs. Joliffe hatte vollkommen Recht. Bei genauerer Betrachtung bestätigte sich ihre Annahme, daß jene von irgend einer choregraphischen Vorstellung herrührten, und dazu nicht von einem langsamen, abgemessenen, sondern von einem leichten, lustigen Tanze. Die Thatsache war unbestreitbar. Aber welcher Mensch konnte wohl so leichtlebigen Charakters sein, um den Gedanken, oder gar das Bedürfniß zu einem flotten Tanze, hier an den Grenzen Amerikas, einige Grade über dem Polarkreise zu bekommen?

»Das war sicher kein Eskimo, sagte der Lieutenant.

– Auch kein Indianer! meinte Corporal Joliffe.

[107] – Nein, entschied sehr ruhig Sergeant Long, das war ein Franzose!«

Und nach der Ansicht Aller mußte es wirklich nur ein Franzose gewesen sein, welcher an einer solchen Stelle der Erdkugel noch – an's Tanzen denken konnte!

12. Capitel
Zwölftes Capitel.
Die Mitternachtssonne.

War denn Sergeant Long's Ausspruch doch nicht etwas zu kühn? Ein Tanz war hier abgehalten worden; durfte man aber von seiner Leichtigkeit allein schließen, daß nur ein Franzose ihn habe ausführen können?

Indessen, Lieutenant Jasper Hobson theilte die Ansicht seines Sergeanten, und alle Uebrigen mit ihm. Alle hielten es für ausgemacht, daß sich an dieser Stelle eine Reisegesellschaft, unter der sich wenigstens ein Landsmann Vestris' befand, aufgehalten habe.

Selbstverständlich war das für den Lieutenant keine besonders erfreuliche Entdeckung. Jasper Hobson kam die Befürchtung, daß ihm in den nordwestlichen Gebieten des britischen Amerika schon Concurrenten vorausgeeilt seien, und so geheim sein Vorhaben auch seitens der Compagnie gehalten wurde, so konnte es doch in den Handelsbrennpunkten Canadas oder der Vereinigten Staaten bekannt geworden sein.

Als er dann sein einen Augenblick unterbrochenes Vordringen fortsetzte, erschien der Lieutenant sehr sorgenvoll, der Sachlage nach war aber an eine Rückkehr gar nicht zu denken.

Nach obigem Vorfalle stellte Mrs. Barnett an ihn die Frage:

»Herr Hobson, begegnet man denn noch Franzosen in diesen Gebieten des arktischen Continentes?

– Ja, Madame, erwiderte Jasper Hobson; und wenn auch nicht eigentlich Franzosen, so doch, was fast dasselbe sagen will, Canadiern, welche von den früheren Herren Canadas, aus der Zeit, wo es eine französische Besitzung [108] war, herstammen, und man muß gestehen, daß diese Leute gar nicht zu verachtende Rivalen sind.

– Ich glaubte immer, entgegnete die Reisende, daß die Hudsons-Bai-Compagnie, nachdem die Compagnie des Nordwestens in ihr aufgegangen war, auf dem amerikanischen Festlande ohne Concurrenten sei.

– O, Madame, antwortete Jasper Hobson, wenn neben ihr auch keine bedeutendere Gesellschaft, welche den Pelzhandel betreibt, existirt, so bestehen doch noch kleinere, ganz unabhängige Vereinigungen. Im Allgemeinen sind es amerikanische, welche sich noch französischer Agenten, oder doch der Abkömmlinge dieser, bedienen.

– Diese Agenten scheinen also in hohem Ansehen zu stehen? fragte Mrs. Paulina Barnett.

– Gewiß, Mistreß, und das mit vollem Rechte. Während der vierundneunzig Jahre, welche die Oberherrschaft Frankreichs über Canada dauerte, zeigten sich diese französischen Agenten den unserigen immer überlegen. Man soll immer gerecht sein; selbst gegen Rivalen.

– Vorzüglich gegen Rivalen! verbesserte Mrs. Paulina Barnett.

– Ja wohl ... vorzüglich ... Jener Zeit drangen die französischen Jäger von Montreal, ihrer Hauptstation aus, kühner als alle Anderen nach Norden vor. Jahre lang lebten sie mitten unter Indianerstämmen und heirateten nicht selten unter diesen. Man nannte sie ›Waldläufer‹ oder ›Canada-Reisende‹, und sie behandelten sich einander Alle als Brüder oder Vettern. Sie waren kühne, geschickte Männer, mit der Flußschifffahrt wohl vertraut, muthig, sorglos, und schickten sich mit der ihrem Stamme eigenen Fügsamkeit in alle Umstände. Dabei waren sie sehr treu und lustig und unter allen Verhältnissen aufgelegt, zu singen und zu tanzen.

– Und Sie argwöhnen, daß die Reisegesellschaft, deren hinterlassene Spuren wir trafen, nur zu dem Zwecke, Pelzthiere zu jagen, so hoch hinauf vorgedrungen ist?

– Etwas Anderes ist gar nicht anzunehmen, Madame, antwortete Lieutenant Hobson, und sicher sind jene Leute auf Kundschaft nach neuen Jagdgründen. Da uns nun kein Mittel zu Gebote steht, sie aufzuhalten, so wollen wir unser Ziel nur desto eher zu erreichen suchen, und dann gegen jede Concurrenz muthig ankämpfen!«

Lieutenant Hobson, der sich des Gedankens einer drohenden Concurrenz [109] nicht erwehren konnte, trieb also sein Detachement zu möglichster Eile an, um schneller über den siebenzigsten Breitengrad hinaus zu gelangen. Vielleicht – er hoffte es mindestens – würden ihm seine Rivalen nicht bis dahin folgen.

Während der nächsten Tage wandte sich die kleine Gesellschaft einige zwanzig Meilen nach Süden, um schneller um die Franklin-Bai herum zu kommen. Das Land bot immerfort ein grünes Aussehen. Die schon beobachteten Säugethiere und Vögel waren ebenfalls in großer Anzahl vorhanden und der ganze Nordwesten aller Wahrscheinlichkeit nach ebenso reich bevölkert.

Das Meer, welches hier die Küste netzte, dehnte sich noch immer endlos vor den Blicken, und fand sich auch auf den neuesten Karten kein nördlich von der Festlandgrenze gelegenes Land verzeichnet. Es bildete einen freien Raum, und nur das Eis hätte also Seefahrern hinderlich sein können, von der Behrings-Straße bis zum Pole vorzudringen.

Am 4. Juli war das Detachement um eine andere tief einspringende Bai, die Washburn-Bai, gekommen, und erreichte die Spitze eines noch wenig bekannten Sees, der aber nur eine kleine Fläche, etwa zwei Quadratmeilen, bedeckte. Er bildete eigentlich nur eine Süßwasser-Lagune, mehr einen großen Teich, als einen See.

Die Schlitten glitten leicht dahin. Der Anblick des Landes reizte hier zur Gründung einer neuen Factorei, und allem Anschein nach mußte ein Fort an der Spitze des Cap Bathurst, hinter sich jene Lagune, vor sich die vier Monate lang im Jahre freie Behrings-Straße, das heißt das offene Meer, sich in einer sehr günstigen Lage für die Productenausfuhr sowohl, als auch für seine eigene Verproviantirung befinden.

Am 5. Juli, Nachmittags gegen drei Uhr, hielt das Detachement endlich an der Spitze des Cap Bathurst an, dessen Position, welche die Karten über den siebenzigsten Breitengrad verlegten, nur noch genau zu bestimmen war. Auf die Hydrographie dieses Küstenstriches, welche noch nicht sehr genau sein konnte, durfte man sich nämlich nicht allzusehr verlassen. Jasper Hobson beschloß, vorläufig an dieser Stelle anzuhalten.

»Was hindert uns, uns hier endgiltig festzusetzen? fragte Corporal Joliffe. Sie werden zugeben, Herr Lieutenant, daß die Oertlichkeit ganz verführerisch ist.

[110] – Sie wird es Ihnen noch mehr sein, erwiderte Lieutenant Hobson, wenn Sie da eine doppelte Löhnung erhalten, mein wackerer Corporal.

– Das ist ja nicht zweifelhaft, antwortete Joliffe, man kann sich stets auf die Instructionen der Compagnie verlassen.

– Gedulden Sie sich bis morgen, fügte Jasper Hobson hinzu, und wenn Cap Bathurst, wie ich voraussetze, wirklich über dem siebenzigsten Breitengrade liegt, so werden wir hier unser Zelt aufschlagen.«

Wirklich zeigte sich diese Stelle zur Gründung einer Factorei sehr geeignet. Die Ufer der Lagune, welche von bewaldeten Hügeln umgeben war, konnten genug Fichten, Birken und anderes zum Hausbau und zur Heizung nöthige Material liefern. Der Lieutenant, der mit einigen seiner Begleiter bis nach der Spitze des Caps gegangen war, sah, wie die Küste im Westen in einem langen Bogen zurückwich. Das Wasser der Lagune erkannte man als trinkbar und nicht als Brackwasser, wie es doch bei der nahen Nachbarschaft des Meeres leicht zu erwarten gewesen wäre. Jedenfalls hätte der Colonie aber Trinkwasser nicht gefehlt, denn es verlief ein kleines, klares und frisches Flüßchen nach dem Eismeere, in dem es, einige hundert Schritte südöstlich von Cap Bathurst, in einer engen Bucht mündete. Diese Bucht, welche nicht von Felsen, sondern von einer auffälligen Anhäufung von Sand und besserer Erde geschützt war, vermochte bequem zwei bis drei Schiffe gegen etwaige Stürme der offenen See zu decken; sie bildete also einen ganz vortheilhaften Ankerplatz für diejenigen Fahrzeuge, welche in der Folge durch die Behrings-Straße kommen würden. Aus Galanterie gegen die Reisende taufte Jasper Hobson den kleinen Wasserlauf »Paulina-Fluß« und nannte die Bucht »Barnett-Hafen«, worüber die Dame offenbar sehr erfreut war.

Errichtete man das Fort etwas hinter dem durch Cap Bathurst gebildeten Vorsprunge, so mußten sowohl das Hauptgebäude, als auch die Magazine, gegen die schneidendsten Winde vollkommen geschützt sein. Voraussichtlich deckte sie die Erhebung auch einigermaßen gegen die heftigen Schneewehen, welche in einigen Stunden ganze Wohnungen, wie unter großen Lawinen, zu begraben vermögen. Der Raum zwischen dem Fuße des Vorgebirges und dem nördlichen Ende der Lagune war übrig hinreichend, alle für die Factorei nothwendigen Baulichkeiten aufzuführen. Man konnte diese sogar noch mit einem Palissadenzaune umgeben, welcher sich an das steile Ufer anlehnen sollte, und das Cap selbst mit einer Schanze krönen – reine [111] Vertheidigungsmaßregeln, welche doch in dem Falle nützlich sein konnten, daß es Concurrenten einfallen sollte, sich auch hier festzusetzen. Ohne daß Jasper Hobson für jetzt an die Ausführung solcher Maßnahmen dachte, erkannte er doch mit Genugthuung, daß dieser Platz leicht zu vertheidigen sein werde.


Vorläufige Niederlassung. (S. 113.)

Noch immer war das Wetter sehr schön und die Wärme beträchtlich. Weder am Zenith, noch am Horizonte schwebte eine Wolke. Den klaren Himmel der gemäßigten und heißen Zonen durfte man freilich in so hoher Breite nicht suchen. Auch während des Sommers erfüllte die Atmosphäre [112] immer ein leichter Dunst. Aber im Winter, wenn sich die Eisberge fest setzten, wenn der rauhe Nordwind die Uferwände peitschte, wenn die viermonatliche Nacht über diese Länder herabsank, wie mochte es wohl dann um Cap Bathurst aussehen? Jetzt dachte keiner von Jasper Hobson's Begleitern daran, denn das Wetter war herrlich, die Landschaft mit Grün geschmückt, die Wärme angenehm, und lieblich glitzerte das Meer.


Innerhalb des Polarkreises - doppelter Sold! (S. 116.)

Ein provisorisches Lager, zu welchem man auf den Schlitten alles Nöthige mit sich führte, wurde für die Nacht am Ufer der Lagune aufgeschlagen.

[113] Bis zum Abend durchstreiften Mrs. Paulina Barnett, der Lieutenant, selbst Thomas Black und Sergeant Long die nächsten Umgebungen, um deren Erzeugnisse kennen zu lernen. Das Land erschien in jeder Beziehung günstig. Jasper Hobson erwartete ungeduldig den andern Tag, um die geographische Lage genau aufzunehmen und zu erfahren, ob er sich unter den von der Compagnie vorgeschriebenen Verhältnissen befinde.

»Nun, Lieutenant, sagte der Astronom, als sie ihre Umschau beendet hatten, ich dächte, das wäre ein herrliches Plätzchen, und hätte nie geglaubt, daß man über dem Polarkreise noch solch' ein Land antreffen könne.

– O, Herr Black, antwortete Jasper Hobson, hier finden sich sogar die schönsten Länder der Erde, und ich brenne darauf, die Länge und Breite des Unsrigen zu bestimmen.

– Vorzüglich die Breite, meinte der Astronom, der nur an seine zukünftige Sonnenfinsterniß dachte, und ich glaube, daß Ihre wackeren Gefährten nicht weniger ungeduldig sind, als Sie, Herr Hobson. Es gilt den doppelten Sold, wenn Sie sich oberhalb des siebenzigsten Breitengrades festsetzen!

– Doch, Sie selbst, Herr Black, fragte Mrs. Paulina Barnett, haben Sie nicht ein rein wissenschaftliches Interesse daran, diese Parallele zu überschreiten?

– Ohne Zweifel, Madame, erwiderte der Gelehrte, zu überschreiten wohl, aber nur nicht zu weit. Unseren unbedingt verläßlichen Berechnungen zufolge wird die Sonnenfinsterniß, mit deren Beobachtung ich betraut bin, nur für denjenigen Beobachter eine totale sein, der sich ein wenig über dem siebenzigsten Breitengrade befindet. Ich bin also ebenso ungeduldig, als unser Lieutenant, die Lage des Cap Bathurst aufzunehmen.

– Soviel ich aber weiß, Herr Black, erwiderte die Reisende, soll jene Sonnenfinsterniß erst am 18. Juli stattfinden.

– Ganz recht, Madame, am 18. Juli 1860.

– Und wir schreiben erst den 5. Juli 1859! Mit dem Ereignisse hat es demnach noch über ein Jahr Zeit.

– Zugestanden, Madame, sagte der Astronom. Doch wenn ich erst nächstes Jahr abgereist wäre, gestehen Sie auch zu, daß ich dann hätte Gefahr laufen können, zu spät einzutreffen?

– Dem ist wirklich so, Herr Black, fiel Jasper Hobson ein, und Sie haben gut gethan, sich vorher aufzumachen. So sind Sie doch sicher, Ihre [114] Sonnenfinsterniß nicht zu verfehle, denn ich muß Ihnen gestehen, daß unsere Reise von Fort-Reliance bis Cap Bathurst unter sehr ausnahmsweise günstigen Verhältnissen verlaufen ist. Wir haben nur wenig Hindernisse, und folglich auch nur geringe Verzögerungen gehabt. Offen gestanden hatte ich vor Mitte August nicht darauf gerechnet, hier die Küste zu erreichen, und wäre die Verfinsterung am 18. Juli 1859, also in diesem Jahre eingetreten, so hätten Sie dieselbe recht leicht verfehlen können. Dazu wissen wir auch jetzt noch nicht, ob wir uns über dem siebenzigsten Breitengrade befinden.

– Mein lieber Lieutenant, sagte Thomas Black, ich bereue auch gar nicht, die Reise in Ihrer Gesellschaft zurückgelegt zu haben, und werde meine Sonnenfinsterniß geduldig bis nächstes Jahr erwarten. Die blonde Phöbe ist ja eine so hohe Dame, daß man ihr die Ehre, zu warten, schon anthun kann.«

Am anderen Tage, dem 6. Juli, hatten Jasper Hobson und Thomas Black kurz vor Mittag alle Anstalten getroffen, eine genaue Aufnahme des Cap Bathurst nach seiner geographischen Länge und Breite vorzunehmen. Die Sonne glänzte hell genug, um ihre Peripherie genau abzuvisiren. Uebrigens hatte sie zu dieser Jahreszeit ihre größte Höhe über dem Horizonte erreicht, und ihre Culmination bei Durchschreitung des Meridianes mußte die Aufgabe der Beobachter wesentlich erleichtern.

Schon am Abend vorher und am Morgen hatten der Lieutenant und der Astronom, mittels Aufnahme verschiedener Höhen und Berechnung der Stundenwinkel, die Länge des Ortes genau gefunden. Seine Lage bezüglich der Höhe aber war es, welche Jasper Hobson vorzüglich interessirte. Der Meridian des Cap Bathurst war ja von geringerer Bedeutung, wenn es nur über dem siebenzigsten Breitengrade lag.

Der Mittag rückte heran. Alle Mitglieder des Detachements umringten die mit ihren Sextanten versehenen Beobachter. Die braven Leute erwarteten das Resultat der Höhenmessung mit erklärlicher Ungeduld. Für sie handelte es sich darum, ob das Ziel der Reise erreicht oder noch ein neuer, den Absichten der Compagnie entsprechender Küstenpunkt aufzusuchen sei.

Die letztere Alternative hätte auf ein befriedigendes Resultat übrigens wenig Aussicht geboten. Nach den allerdings nicht ganz zuverlässigen Karten der amerikanischen Küste dieser Gegenden zog sich jene westlich von Cap [115] Bathurst wieder unter den siebenzigsten Grad zurück, und überschritt diesen erst im russischen Amerika von Neuem, auf dem sich niederzulassen die Engländer ja kein Recht hatten. Jasper Hobson hatte sich also nach Einsichtnahme der Karten der Polarländer mit gutem Grunde nach Cap Bathurst gewendet. Dieses Cap streckt sich wie eine Spitze über den siebenzigsten Breitengrad hinaus, eine Höhe, welche zwischen dem hundertsten und dem hundertundfünfzigsten Meridian kein zum Festlande und zum britischen Amerika gehöriges Vorgebirge wieder erreicht. Es blieb demnach nur zu bestimmen, ob Cap Bathurst die auf den Landkarten verzeichnete Lage wirklich habe.

Hierin gipfelte also die wichtige Frage, welche Thomas Black's und des Lieutenants genaue Aufnahmen lösen sollten.

Die Sonne näherte sich jetzt ihrem Culminationspunkte. Die beiden Beobachter richteten die Fernrohre ihrer Sextanten nach dem noch immer aufsteigenden Tagesgestirn. Mittels daran schief stehender Spiegel wurde die Sonne scheinbar an den Horizont versetzt, und der Augenblick, in dem der untere Rand ihres Bildes eben diesen berührte, war dann derselbe, an welchem sie den höchsten Punkt ihres Tagesbogens erreichte, oder in dem sie, mit anderen Worten, die Mittagslinie des Ortes passirte.

Alle sahen zu und beobachteten ein tiefes Schweigen.

»Mittag! rief bald Jasper Hobson.

– Mittag!« erscholl es auch in demselben Augenblicke von Thomas Black.

Die Instrumente wurden herabgesenkt. Der Lieutenant und der Astronom lasen auf dem graduirten Limbus den Werth des Winkels ab, den sie erhalten hatten, und machten sich sogleich daran, ihre Beobachtungen niederzuschreiben.

Wenige Minuten später erhob sich Lieutenant Hobson und wandte sich an seine Begleiter.

»Meine Freunde, sagte er, von diesem Tage, dem 6. Juli, an, erhöht die Compagnie, die sich durch mich verpflichtet, Euren Sold auf das Doppelte.

– Hurrah! Hurrah! Hurrah der Compagnie!« riefen die würdigen Gefährten des Lieutenant Hobson wie aus einem Munde.

Cap Bathurst und das angrenzende Landgebiet befand sich wirklich oberhalb des siebenzigsten Breitengrades.

[116] Wir geben hier auf eine Secunde genau die geographische Lage, welche später von so großer Bedeutung werden sollte, an. Die Stelle des neuen Forts lag unter:

127°36'12'' östlicher Länge von Greenwich, und 70°44'37'' nördlicher Breite.

An demselben Abend sahen die kühnen Pionniere, welche fern von der bewohnten Welt, mehr als achthundert Meilen von Fort-Reliance, lagerten, die Sonne den nördlichen Horizont streifen, ohne daß ihre Scheibe im Geringsten untertauchte.

Zum ersten Male leuchtete die Mitternachtssonne ihren Augen.

13. Capitel
Dreizehntes Capitel
Fort-Esperance.

Die Oertlichkeit des Forts war also nun endgiltig festgestellt. Keine andere, als diese natürliche im Rücken des Cap Bathurst und an dem Ostende der Lagune sich ausdehnende Ebene konnte dazu geeigneter erscheinen. Jasper Hobson beschloß in Folge dessen den Bau des Hauptgebäudes sofort in Angriff zu nehmen. Inzwischen mußte sich Jeder helfen, so gut es eben anging, und man verwendete auch die Schlitten auf sehr sinnreiche Weise zu Zwecken der provisorischen Niederlassung.

Der Lieutenant rechnete übrigens, Dank der Geschicklichkeit seiner Leute, darauf, daß mindestens das Hauptgebäude nach Verlauf eines Monates fertig gestellt sein werde. Es mußte groß genug angelegt werden, um vorläufig alle neunzehn Mitglieder des Detachements aufzunehmen. Später, und noch vor Eintritt der strengen Kälte, sollten dann die gemeinschaftlichen Wohnräume für die Soldaten, so wie die zur Aufspeicherung der Felle und Pelzwaaren bestimmten Magazine errichtet werden. Vor Ende September war indessen an die Vollendung aller dieser Baulichkeiten nicht zu denken. Nach [117] diesem Monate aber mußten die längeren Nächte, das schlechte Wetter und der eintretende Winterfrost zur Einstellung jeder Arbeit zwingen.

Von den zehn durch Kapitän Craventy ausgewählten Soldaten waren Zwei, Marbre und Sabine, Jäger von Fach. Die acht Anderen wußten mit der Axt eben so gut umzugehen, als mit der Muskete. Wie die Seeleute waren sie zu Allem geschickt und mit Allem bekannt. Vor der Hand sollten sie mehr als Werkleute, denn als Soldaten Verwendung finden, da es sich erst um die Errichtung eines Forts handelte, welchem ja kein feindlicher Angriff drohte. Petersen, Belcher, Raë, Garry, Pond, Hope und Kellet bildeten eine Gesellschaft geschickter und eifriger Zimmerleute unter Führung Mac Nap's, eines Schottländers aus Stirling, der in der Construction von Häusern und auch von Schiffen sehr erfahren war. Werkzeuge, wie Beile, Queräxte, Lochsägen, Hebel, Hohlbeile, Armsägen, Schlägel, Hämmer, Meißel u.s.w., waren in Ueberfluß zur Hand. Einer jener Leute, Raë, eigentlich von Fach ein Schmied, konnte selbst mit Hilfe einer Feldschmiede allerlei Bolzen, Zapfen, Anker, Schrauben und Muttern, und was sonst nothwendig wurde, anfertigen. Ein Maurer war allerdings nicht vorhanden, aber auch nicht von Nöthen, da alle Factoreigebäude des Nordens nur aus Holz hergestellt werden. An Bäumen dazu fehlte es in der Umgebung des Cap Bathurst nicht, wohl aber fand man, wie schon erwähnt, nirgends einen Felsen, oder auch nur einen Kiesel am Strande, sondern nichts weiter, als Erde und Sand. Dafür war das Ufer mit zahllosen zweischaligen Muscheln, welche die Brandung angespült hatte, sowie mit Meerpflanzen und Zoophyten übersäet, deren Letztere meist aus See-Igeln und See-Sternen bestanden. In seiner Masse baute sich der Landvorsprung aber aus loser Erde auf, welche von einigen Vegetabilien nur mühsam zusammen gehalten wurde.

An diesem Nachmittage wählten Jasper Hobson und Meister Mac Nap noch den Platz am Fuße des Caps aus, welchen das Hauptgebäude einnehmen sollte. Von ihm aus beherrschte der Blick die Lagune und bis auf zehn bis zwölf Meilen das Land im Westen. Rechts erhob sich da stufenweise das steilere Ufer, welches aber in der Entfernung von vier Meilen im Dunste verschwand; links dagegen dehnten sich ungeheure Ebenen, wüste Steppen aus, welche im Winter von den übereisten Oberflächen der Lagune und des Oceanes wohl kaum zu unterscheiden sein mochten.

Nachdem man über den Platz einig geworden war, grenzten Jasper [118] Hobson und Mac Nap den Umriß des Hauses mittels einer Schnur ab Man entwarf jenes als längliches Viereck, dessen lange Seiten sechzig und dessen schmale dreißig Fuß maßen. Die Façade sollte vier Oeffnungen, drei Fenster und eine Thür nach der einem späteren inneren Hofe und dem Vorgebirge zugekehrten Seite, und vier Fenster nach der Lagunenseite zu, erhalten. Die Thür wurde der Wohnlichkeit halber, statt in die Mitte der Hinterwand, an der linken Ecke projectirt. Man bezweckte hierdurch vorzüglich, daß die Außentemperatur nicht so leicht bis zu den am entgegengesetzten Hausende gelegenen Wohnräumen eindringen könne.

Die erste Abtheilung bildete eine Art Vorraum, welcher mit doppelter Thüre gegen die Unbilden der Witterung geschützt werden sollte; – eine zweite diente nur als Küche, um alle beim Kochen entstehenden Dämpfe und alle Feuchtigkeit von den speciell zu Wohnungen bestimmten Räumen fern zu halten; – eine dritte umfaßte einen geräumigeren Saal zum Zwecke der täglich gemeinschaftlich einzunehmenden Mahlzeiten; – eine vierte Abtheilung endlich sollte, wie der oberste Raum eines Schiffes in Cabinen, so in Einzelkammern zerlegt werden. Das war der einfache, zwischen den beiden Baumeistern vereinbarte Plan.

Die Soldaten mußten vorläufig mit dem großen Saale und einem darin herzustellenden breiten Feldbette vorlieb nehmen. Für den Lieutenant und Thomas Black, Mrs. Paulina Barnett mit Madge und endlich für Mrs. Joliffe, Mrs. Mac Nap und Mrs. Raë waren die Kammern der vierten Abtheilung vorgesehen. Im Grunde genommen würde man zwar »etwas über einander hocken«, aber diese Verhältnisse konnten ja nicht von langer Dauer sein, und sobald die Soldatenwohnungen hergestellt wären, sollte das Hauptgebäude für den Lieutenant, Thomas Black und Mrs. Paulina nebst ihrer unzertrennlichen Madge reservirt bleiben.


Absteckung des zukünftigen Wohnhauses. (S. 119.)

Dann erschien es thunlich, die vierte Abtheilung nur in drei Einzelwohnungen zu theilen und die provisorischen Cabinen wieder zu entfernen, denn »allen Ecken den Krieg zu erklären« ist ein Hauptgrundsatz, der bei einer Ueberwinterung nie aus den Augen gelassen werden darf. Winkel und Ecken sind immer Sammelpunkte für das Eis; Zwischenwände verhindern die so nothwendige Luftcirculation, und die Feuchtigkeit, welche sich in Form von Schnee niederschlägt, macht die Zimmer unbewohnbar und ungesund, und ruft bei Denen, welche sich darin aufhalten, leicht die schwersten [119] Störungen hervor. So richten auch Seefahrer, wenn sie im Eise zu überwintern gezwungen sind, im Innern ihrer Schiffe gemeinsame Säle ein, welche von der ganzen Besatzung, von Officieren und Soldaten untereinander, bewohnt werden. Aus leicht begreiflichen Gründen mußte Jasper Hobson indeß von dieser Regel abweichen.

Man sieht aus obiger anticipirten Beschreibung einer Wohnung, welche noch gar nicht vorhanden war, daß das Hauptgebäude des Forts nur aus einem Erdgeschosse mit geräumigem, und, um den Wasserabfluß zu begünstigen, [120] steil abgewalmtem Dache bestand. Der Schnee konnte noch immer darauf liegen bleiben und hatte, wenn er sich da aufhäufte, den doppelten Nutzen, die Wohnung sowohl dicht abzuschließen, als auch in ihrem Inneren eine mehr gleich bleibende Temperatur zu erhalten. Der Schnee ist ja seiner Natur nach ein sehr schlechter Leiter der Wärme; er verwehrt dieser freilich den Zugang, aber auch, – und das ist während eines arktischen Winters weit wichtiger – das Entweichen.


Beim Transport des Bauholzes. (S. 122.)

Ueber das Dach hinaus sollte der Zimmermann zwei Feueressen, eine von der Küche, die andere von dem Stubenofen aus, führen. Der Letztere hatte nämlich die Einzelkammern mit zu erwärmen. Das Ganze [121] stellte dann gewiß kein Prachtwerk der Architektur dar, aber das Hans befand sich doch in dem für seine Bewohnbarkeit günstigsten Zustande. Was war denn auch mehr zu verlangen? Uebrigens mußte dieses Gebäude beim Dämmerungsdunkel und mitten in den Schneestürmen, halb im Eise eingesargt, weiß von oben bis unten, und mit seinem grauschwarzen, vom Winde in Drehungen hinweggeführten Rauche doch einen fremdartig düstern und traurigen, der Erinnerung eines Malers würdigen Anblick gewähren.

Der Plan zu dem neuen Hause war also festgestellt; es galt nur noch ihn auszuführen, was Meister Mac Nap's und seiner Leute Sache war. Doch während die Zimmerleute arbeiteten, gingen auch die Jäger, welche für frischen Proviant zu sorgen hatten, nicht müßig. Ueberhaupt fehlte es für Niemand an Beschäftigung.

Mac Nap suchte zunächst passende Baustämme aus. Auf den Hügeln fand er den schottischen sehr ähnliche Kiefern in großer Menge. Diese Bäume waren nur mittelgroß, doch zu dem zu errichtenden Hause sehr geeignet. Denn in solchen roh hergestellten Wohnungen bestehen Außenwände und Dach, Scheidewände und Fußboden, kurz Alles aus Balken und Planken.

Selbstverständlich verlangt eine derartige Construction keine besondere Meisterschaft, und konnte Mac Nap, ohne der Solidität derselben Eintrag zu thun, sehr kurz und bündig verfahren.

Er wählte also möglichst gerade Stämme aus, die man einen Fuß über dem Erdboden fällte. Nachdem sie alle zwanzig Fuß lang gleichmäßig zugeschnitten waren, wurden sie nur an den Enden, wegen der zur Verbindung dienenden Zapfen und Zapfenlöcher, mit der Axt bearbeitet. Diese Zurichtung beanspruchte nur wenige Tage, dann wurden gegen hundert solcher Stämme durch die Hunde nach dem für das Hauptgebäude bestimmten Platze herangeschleift.

Letzterer war vorher sorgfältig wagrecht geebnet worden, wobei man den aus Sand und fetterer Erde bestehenden Boden tüchtig festrammte. Das kurze Gras und die mageren Gesträuche, welche ihn früher theilweise bedeckten, wurden an Ort und Stelle niedergebrannt, und erzielte man durch [122] die sich bildende Aschenlage auch noch den Vortheil einer dichten, für Feuchtigkeit undurchdringlichen Zwischenlage. So erlangte Mac Nap einen reinen und trockenen Baugrund, auf dem er die untersten Balkenlagen bequem und sicher anbringen konnte.

Dann wurden an den Ecken des Hauses und an den Enden der späteren Zwischenwände die Hauptpfeiler, welche zum Tragen der ganzen Construction bestimmt waren, eingetrieben. Diese hatte man, um der Fäulniß besser zu widerstehen, äußerlich leicht verkohlt. Auf den Seitenflächen ausgesalzt, dienten sie zur Aufnahme der die eigentliche Mauer bildenden Längsbalken, in welchem die nöthigen Thür- und Fensteröffnungen wohlberechnet ausgespart waren. Die Deckbalken hatten wiederum Zapfen, welche in die Zapfenlöcher der Grundpfeiler eingepaßt waren, so daß die Gesammtconstruction einen recht soliden Zusammenhang bekam; auch bildeten sie mit den etwas hervorragenden Theilen den Sims der beiden Façaden, auf welchem sich der ein wenig überhängende Dachstuhl, so wie man ihn von Schweizerhäusern her kennt, aufstützte. Die Balken des Daches ruhten auf diesem Sims, die des Fußbodens auf der Aschenlage.

Natürlich lagen die Stämme der äußeren und inneren Mauern im Allgemeinen nur auf einander. Doch hatte sie der Schmied Raë da und dort der sichereren Verbindung halber theils noch durch Schrauben, theils durch lange eiserne Bolzen verbunden. Bei jenem Aufeinanderliegen mußten offenbar noch Ritzen und Oeffnungen bleiben, welche luftdicht zu verschließen waren.

Mac Nap bediente sich dazu mit bestem Erfolge des Kalfaterns, wodurch man ja die Schiffe so vollkommen dichtet, wie es durch ein bloßes Ausfugen nie zu erreichen wäre. An Stelle des zum Kalfatern gebräuchlichen Hanfes benutzte man hier gewisse Moosarten, welche auf dem östlichen Abhange des Cap Bathurst überreichlich vorkamen. Dieses Moos wurde nun zuerst mittels des Kalfatereisens eingetrieben, jede Fuge aber darüber noch mit Fichtenharz, das sich im Ueberfluß vorfand, ausgegossen. Mauern und Decken schlossen hierdurch vollkommen luft- und wasserdicht, und daneben bot ihre Stärke hinreichende Garantie gegen die Winterstürme und den strengen Frost.

Die Thür und die Fenster, welche die Mauerfläche unterbrachen, wurden roh, aber haltbar hergestellt. Als Scheiben dienten in den kleinen Fenstern freilich nur solche hornartige, gelbliche, halb durchsichtige Platten, welche [123] man aus getrocknetem Fischleime gewinnt; doch man mußte wohl damit vorlieb nehmen.

Während der besseren Jahreszeit wurden jene Fenster, der nöthigen Lüftung des Hauses wegen, so wie so offen gehalten werden; während der schlechten aber, wenn in der arktischen Nacht auch der Himmel kein Licht spendete, machte es sich nothwendig, sie immer hermetisch mit dichten, eisenbeschlagenen Klappen zu verschließen, denen man den nöthigen Widerstand gegen die Gewalt des Sturmes zutrauen durfte.

Der innere Ausbau des Hauses wurde bald vollendet. Eine zweite Thür hinter der äußeren in der als Vorraum dienenden Abtheilung gestattete den Ein-und den Austretenden, den Uebergang zwischen der inneren und äußeren Temperatur durch eine dazwischen liegende zu vermitteln. So konnte auch der Wind, selbst wenn er noch so eisig oder mit Feuchtigkeit beladen war, nicht gleich bis zu den Wohnräumen dringen. Uebrigens wurden die Luftpumpen, welche man von Fort-Reliance mitgeführt hatte, sammt dazugehörigem Reservoir, in Stand gesetzt, um die Luft im Innern nach Bedürfniß zu erneuern, wenn der gar zu strenge Frost das Oeffnen der Thür oder eines Fensters unthunlich machen sollte. Die eine dieser Pumpen diente dazu, die durch deletäre Stoffe verdorbene Luft nach außen abzuführen, während die andere reine Luft von außen in das Reservoir einsaugte, von dem aus diese, nach Bedürfniß erwärmt, in die Einzelräume vertheilt werden konnte. Lieutenant Hobson widmete dieser Einrichtung alle Aufmerksamkeit, da man von ihr im Nothfalle große Dienste erwartete.

Das Hauptstück der Küche bildete ein großer gußeiserner Kochofen, den man in Stücke zerlegt von Fort-Reliance aus mitgenommen hatte. Der Schmied Raë vermochte ihn ohne viele Mühe wieder aufzustellen. Mehr Zeit und Ueberlegung erforderte aber die Anlage der Rauchfänge von der Kochmaschine sowohl, als auch von dem Ofen im Saale aus. Blechrohre waren dazu nicht wohl anwendbar, insofern diese den Stürmen zur Zeit der Tag- und Nachtgleiche nicht gewachsen waren; jedenfalls machten sich widerstandsfähigere Materialien hierzu erforderlich. Nach mehreren mißlungenen Bohrversuchen entschied sich Jasper Hobson dahin, ein anderes Material als Holz zu verwenden. Wären Steine zur Hand gewesen, so konnte wohl kaum von großer Schwierigkeit die Rede sein. Aber, wie erwähnt, fehlten diese sonderbarer Weise ganz und gar in der Umgebung des Cap Bathurst. Wie [124] zum Ersatz fanden sich dagegen jene auch schon erwähnten Muscheln im Sande des flachen Ufers zu Millionen.

»Wohlan, sagte Lieutenant Hobson zu Meister Mac Nap, unsere Rauchfänge werden wir also aus Muscheln bauen.

– Aus Muscheln? rief erstaunt der Zimmermann.

– Ja wohl, Mac Nap, wiederholte Jasper Hobson, aus Muscheln, d.h. aus zerstückelten, gebrannten und in Kalk verwandelten Schalen. Aus diesem Kalk formen wir Täfelchen und vermauern sie dann wie gewöhnliche Bausteine.

– Nun, meinetwegen; also aus Muscheln!« stimmte der Zimmermann ein.

Lieutenant Hobson's Idee war wirklich gut und wurde sofort zur Ausführung gebracht. Das Ufer erwies sich mit einer unerschöpflichen Menge dieser Schalthiere übersäet, welche zum Theil das Kalkgestein der unteren Schichten der Tertiärformation, den sogenannten Muschelkalk, bilden. Mac Nap ließ also einige Tonnen voll sammeln und eine Art Brennofen errichten, in welchem die Kohlensäure, die in jenen mit Kalk gebunden erscheint, ausgetrieben werden sollte. So gewann man einen zum Zweck des Mauerns ganz geeigneten Kalk.

Das Brennen desselben nahm etwa zwölf Stunden in Anspruch. Es hieße übertreiben, wollte man behaupten, daß Jasper Hobson und Mac Nap durch jenes etwas urwüchsige Verfahren einen schönen, fetten, von fremden Körpern freien Kalk, der sich leicht in Wasser löscht, viel Bindekraft hat und auch mit größeren Mengen Wasser und Sand einen festen Mörtel bildet, erzielt hätten. Doch war er mindestens von solcher Beschaffenheit, daß er zu Tafeln verarbeitet und zum Essenbau verwendet werden konnte. Binnen wenigen Tagen erhoben sich also zwei conische Rauchfänge über dem Dachstuhl, deren Stärke sie auch gegen die heftigsten Windstöße sicherte.

Mrs. Paulina Barnett beglückwünschte den Lieutenant, so wie den Zimmermann Mac Nap, das schwierige Werk so gut und in so kurzer Zeit durchgeführt zu haben.

»Vorausgesetzt, daß Ihre Kamine nicht rauchen! setzte sie schelmisch hinzu.

– Sie werden rauchen, Madame, entgegnete philosophisch Jasper Hobson, sie sollen rauchen, verlassen Sie sich darauf. Es rauchen ja alle Essen!«

Im Zeitraume eines Monats wurde das große Werk vollständig zu Ende [125] gebracht. Am 6. August sollte die Einweihung des Hauses stattfinden. Während aber Mac Nap mit seinen Leuten unausgesetzt arbeitete, hatten Sergeant Long, Corporal Joliffe – Mrs. Joliffe stand dem Departement der Küche vor –, und die beiden Jäger Marbre und Sabine unter Anführung Jasper Hobson's die weiteren Umgebungen des Cap Bathurst durchstreift. Zu ihrer Befriedigung hatten sie von dem Ueberflusse an Pelzthieren und Geflügel Kenntniß genommen. Eigentliche Jagden waren zwar noch nicht angestellt worden, da vorläufig die Auskundschaftung des Terrains mehr in Betracht kam; dennoch singen sie dabei einige Rennthierpärchen lebend ein, welche man zu zähmen beschloß. Diese Thiere sollten sich vermehren und Milch liefern. Man brachte sie also baldigst innerhalb einer Umzäunung unter, welche ein halbes hundert Schritte weit vom Hause ab errichtet wurde. Mac Nap's Frau verstand sich, als Indianerin von Geburt, auf die Behandlung jener Thiere, und demnach wurde ihr die specielle Fürsorge um dieselben übertragen.

Mrs. Paulina Barnett, und Madge natürlich mit ihr, wollte sich auch ihren Beitrag an der inneren Einrichtung nicht nehmen lassen, und bald machte sich der Einfluß dieser intelligenten und guten Frau bei einer Menge Einzelheiten, welche Jasper Hobson und sei nen Leuten wahrscheinlich nie in den Sinn gekommen wären, recht angenehm fühlbar.

Nach Durchwanderung des Terrains im Umkreise einiger Meilen erkannte der Lieutenant, daß dasselbe eine ausgedehnte Halbinsel von etwa hundertundfünfzig Quadratmeilen bilde. Eine höchstens vier Meilen breite Landenge heftete dieselbe an das Festland Amerikas und erstreckte sich vom hintersten Theile der Washburn-Bai im Osten bis zu einer entsprechenden Ausbuchtung der entgegengesetzten Seite. Die Begrenzung dieser Halbinsel, welche der Lieutenant »Halbinsel Victoria« taufte, war also sehr deutlich erkennbar.

Jasper Hobson wünschte hierauf auch kennen zu lernen, was die Lagune und das Meer hier wohl zu bieten vermöchten.

Auch damit konnte er recht zufrieden sein. Das nur seichte, aber sehr fischreiche Wasser der Lagune enthielt Seeforellen, Hechte und andere Süßwasserfische in großer Menge; in dem kleinen Flusse tummelten sich Lachse und wimmelnde Haufen von Weißfischen und Stinten. Das Meer erschien an der Küste minder bevölkert, als die Lagune. Von Zeit zu Zeit sah man aber in der Ferne große Spritzfische, Wale und Pottfische, welche vor der [126] Harpune der Walfischjäger aus der Behrings-Straße entflohen sein mochten, vorüberziehen, und erschien es deshalb nicht unmöglich, daß auch einmal ein solcher Seeriese auf der Küste stranden könne. Es war dies wohl der einzige Weg, auf welchem die Colonisten des Cap Bathurst sich eines solchen bemächtigen konnten. Die westliche Seite der Küste zeigte sich zur Zeit von zahlreichen Robbenfamilien belebt; Jasper Hobson empfahl aber seinen Leuten, jetzt nicht unnützer Weise auf diese Jagd zu machen. Später werde man sehen, ob sich das als vortheilhaft empfehle.

Am 6. August also nahmen die Colonisten des Cap Bathurst von ihrer neuen Wohnung Besitz. Vorher gaben sie ihr, nach allgemeiner Besprechung darüber, einstimmig einen Namen von guter Vorbedeutung.

Man nannte diese Wohnung, oder vielmehr dieses Fort – für jetzt den am weitesten vorgeschobenen Posten auf dem amerikanischen Festlande – Fort-Esperance.

Wenn aber dieser Name auch auf den neuesten Karten der arktischen Gegenden nicht glänzt, so hat das darin seinen Grund, daß zum Nachtheil der modernen Kartographie dieser Ansiedelung in nächster Zukunft ein schreckliches Loos bestimmt war.

14. Capitel
Vierzehntes Capitel.
Einige Ausflüge.

Die Einrichtung der neuen Wohnung war bald vollendet. Das in dem Hauptsaale aufgeschlagene Feldbett harrte nur noch seiner Schläfer. Mac Nap hatte einen großen, schweren Tisch mit starken Füßen gebaut, der wohl nie unter der Last der aufgetragenen Speisen, und wäre diese noch so groß gewesen, seufzen konnte. Um diesen Tisch herum waren am Boden befestigte Bänke angebracht, welche also den Namen »Meubles«, der ja nur beweglichen Hausgeräthen zukommt, nicht eigentlich verdienten. Einige Sessel und ein Paar große Schränke vervollständigten die Zimmerausstattung.

[127] Auch das Zimmer im Hintergrunde war nun beziehbar. Dicke Scheidewände theilten dasselbe in sechs Cabinen, von denen zwei durch die letzten Fenster der Vorder- und der Rückenfaçade erleuchtet wurden. Das Mobiliar jeder Cabine bestand nur aus einem Tisch und einem Bett. Mrs. Paulina Barnett und Madge bezogen diejenige Abtheilung, welche eine directe Aussicht auf den See bot. Die andere erleuchtete, nach dem Hofe gelegene Cabine hatte Jasper Hobson Thomas Black angeboten, welcher sofort von ihr Besitz nahm. Er selbst begnügte sich, in der Erwartung, daß seine Leute ja in ferneren Neubauten untergebracht werden sollten, mit einer Art halbdunklen Zelle, welche sich nach dem Hauptsaale zu öffnete und durch ein kleines, rundes, durch die Scheidewand gebrochenes Fenster nothdürftig Licht erhielt. Mrs. Joliffe, Mrs. Mac Nap und Mrs. Raë nahmen mit ihren Männern die übrigen Räumlichkeiten ein. Es wäre ja grausam gewesen, diese wohlgeordneten Hausstände zu zerreißen.

Uebrigens sollte die Colonie in nicht zu ferner Zeit um ein Mitglied vermehrt werden, und Meister Mac Nap stellte eines Tages die vorläufige Anfrage an Mrs. Paulina Barnett, ob sie ihm die Ehre erweisen werde, gegen Ende des Jahres bei ihm Gevatter zu stehen, was die Dame mit großer Befriedigung zusagte.

Die Schlitten wurden nun vollends entladen und das Bettzeug in die entsprechenden Räume gebracht. Auf dem Dachboden, zu welchem man mittels einer im Vorraum befindlichen Treppe gelangte, legte man alle Geräthe, Proviant und Schießbedarf, deren man nicht augenblicklich benöthigte, vorläufig nieder. Die Winterbekleidungen, nebst Stiefeln und Reiseröcken, fanden, um vor jeder Feuchtigkeit geschützt zu sein, in den großen Schränken Platz.

Nach Beendigung dieser ersten Arbeiten beschäftigte sich der Lieutenant mit der zukünftigen Heizung des Hauses. Von den bewaldeten Hügeln ließ er demnach einen großen Vorrath an Brennmaterial anfahren, da er wohl wußte, daß es während einiger Wochen ganz unmöglich sein werde, sich in's Freie zu begeben.


Mrs. Paulina Barnett auf der Jagd. (S. 131.)

Er dachte sogar daran, aus der Anwesenheit der Robben an der Küste insofern Nutzen zu ziehen, als er aus ihnen einen hinreichenden Vorrath an Oel zu gewinnen hoffte, da man der Polarkälte oft mit den durchgreifendsten Mitteln entgegen zu treten gezwungen ist. Auf seinen Befehl und unter seiner Leitung construirte man im Hause zwei Condensatoren [128] für die Feuchtigkeit im Innern, Apparate, welche von dem Eise, das sich während des Winters in ihnen ansammelt, leicht befreit werden können.

Diese gewiß sehr ernste Frage der Heizung des Hauses beschäftigte Lieutenant Hobson auf das Lebhafteste.

»Madame, wandte er sich manchmal an die Reisende, ich bin ein Kind des Polarlandes, ich habe einige Erfahrung nach dieser Seite und manche Berichte über Durchwinterungen wiederholt gelesen – man kann nie vorsichtig [129] genug sein, wenn es sich darum handelt, die kalte Jahreszeit in diesen Gegenden zu verbringen. Man muß Alles vorhersehen; eine Vergeßlichkeit, oft eine einzige, kann bei einer Ueberwinterung zur unheilvollsten Katastrophe führen.

– Ich glaube Ihnen, Herr Hobson, erwiderte Mrs. Paulina Barnett, und sehe wohl, daß die Kälte an Ihnen einen unversöhnlichen Gegner haben wird. Erscheint Ihnen aber die Nahrungsfrage nicht mindestens ebenso wichtig?

– Ganz gewiß, Madame, und ich rechne auch darauf, daß das Land uns mit der nöthigen Reserve versorgt. So sollen binnen wenigen Tagen, wenn wir erst etwas wohnlicher eingerichtet sind, Jagden angestellt werden, um uns mit Proviant zu versehen. Bezüglich der Pelzthiere werden wir noch etwas verziehen müssen, bevor sich die Magazine der Compagnie füllen, da jetzt auch nicht die geeignete Zeit ist, Zobel, Hermelins, Füchse und andere Pelzthiere zu jagen. Diese haben heute ihren Winterpelz noch nicht, und ihre Felle würden fünfundzwanzig Procent minder werth sein, wenn man sie jetzt einsammelte. Nein; vorläufig begnügen wir uns damit, die Speisekammern des Fort-Esperance zu füllen. Rennthiere, Elenns, Wapitis, wenn solche bis in diese Gegenden herausgekommen sind, sollen allein das Ziel unserer Jäger sein. Zwanzig Personen und ein Schock Hunde zu ernähren ist schon der Mühe, der Ueberlegung werth!«

Man ersieht hieraus, daß der Lieutenant ein ordnungsliebender Mann war. Er wollte in Allem Methode haben, und wenn seine Genossen ihn einsichtig unterstützten, hoffte er seine schwierige Aufgabe glücklich zu Ende zu führen.

Das Wetter blieb zu dieser Jahreszeit fast unveränderlich schön. Vor fünf Wochen war der Eintritt von Schnee noch nicht zu erwarten. Jasper Hobson ließ also nach Vollendung des Hauptgebäudes rüstig weiter zimmern und einen geräumigen Stall zur Unterbringung der Hunde errichten. Dieses »Dog-house« wurde am Fuße des Vorgebirges, an dessen Abhang angelehnt, und etwa vierzig Fuß zur Rechten des Hauses erbaut. Die Soldatenwohnungen sollten jenem Stalle gegenüber, links vom Hause hergestellt werden, während das Pulvermagazin innerhalb der Umplankung vor dasselbe zu stehen kommen sollte.

Diese Umplankung beschloß Jasper Hobson in Folge vielleicht etwas [130] übertriebener Vorsicht, noch vor dem Winter zu vollenden. Tüchtige, aus zugespitzten Pfählen bestehende, tief eingerammte Palissaden sollten die Factorei ebenso gegen Angriffe durch Thiere, wie gegen einen solchen durch Menschen schützen, im Fall sich feindliche Indianer oder Andere zeigten. Der Lieutenant konnte die Spuren nicht vergessen, denen er kaum zweihundert Meilen von Fort-Esperance begegnet war. Er kannte das Ungestüm solcher nomadisirenden Jäger, und hielt es für besser, auf jeden Fall gegen einen Handstreich gesichert zu sein. Die Umwallung wurde also abgesteckt, und unterließ Mac Nap nicht, an den beiden vorderen Winkeln, welche das Ufer der Lagune deckten, zwei Wartthürme aus Holz zum Schutze der Wachhabenden zu erbauen.

Mit ein wenig Fleiß – und seine wackeren Werkleute arbeiteten ohne Unterlaß – war es wohl möglich, diese Schutzbauten noch vor dem Winter zu Ende zu führen.

Während dieser Zeit veranstaltete Jasper Hobson mehrere Jagden. Die Expedition auf die Robben verschob er noch einige Tage, und stellte vielmehr den großen Wiederkäuern nach, deren getrocknetes und conservirtes Fleisch die Versorgung des Forts während der schlechten Jahreszeit sichern sollte.

So durchstreiften also Sabine und Marbre, vom 8. August ab, manchmal vom Lieutenant und Sergeant Long begleitet, tagtäglich in einem Umkreise von mehreren Meilen das Land. Nicht selten schloß sich ihnen auch die unermüdliche Mrs. Paulina Barnett an, handhabte ihr Gewehr mit allem Geschick, und stand nach keiner Seite hinter ihren Jagdgenossen zurück.

Diese Ausflüge während des ganzen Monats August waren sehr ergiebig, und der Proviantvorrath auf dem Hausboden nahm sichtlich zu. Freilich war Sabine und Marbre auch keine in diesen Gebieten anwendbare Jägerlist, vorzüglich auch in Bezug auf die außerordentlich scheuen Rennthiere, unbekannt. Welche Mühe verwandten sie darauf, jenen hinter den Wind zu kommen, um nicht durch den so scharfen Geruchssinn dieser Thiere vorzeitig entdeckt zu werden. Manchmal lockten sie dieselben dadurch heran, daß sie über den Zwergbirken irgend ein schönes Geweih, eine Trophäe früherer Jagden, hin und her bewegten, worauf sich die Rennthiere – oder vielmehr die »Caribous«, um ihnen ihren indianischen Namen wieder zu ertheilen – den Jägern getäuscht näherten, und in bequemer Schußweite sicher erlegt [131] wurden. Manchmal verrieth auch ein sogenannter »Angeber«, eine Marbre und Sabine wohlbekannte, taubengroße Art Tageule, das Versteck der Caribous. Er lockte die Jäger durch einen scharfen Schrei, ähnlich dem eines Kindes, heran, und rechtfertigte also den Namen eines »Anzeigers«, den ihm die Indianer gaben. Wohl fünfzig solcher Thiere wurden erlegt. Ihr in lange Streifen zerlegtes Fleisch lieferte eine ansehnliche Menge Proviant, und ihre lohgar gemachten Häute sollten zur Ausbesserung des Schuhwerks dienen.

Die Caribous lieferten aber nicht den einzigen Zuwachs der Nahrungsvorräthe. Polarhasen, welche sich in diesen Gebieten stark zu vermehren schienen, hatten daran beträchtlichen Antheil. Sie erschienen weniger flüchtig, als ihre europäischen Stammverwandten, und kamen leicht zum Schusse. Es waren große, langohrige Nagethiere mit braunen Augen und einem weißen, dem Flaum der Schwäne ähnlichen Pelze. Die Jäger erbeuteten eine große Zahl solcher Thiere, deren Fleisch besonders schmackhaft ist. Hundertweise wurden sie geräuchert, ohne die zu zählen, welche sich unter den Händen der geschickten Mrs. Joliffe in ganz köstliche Pasteten verwandelten.

Während aber auf diese Weise die Hilfsquellen für die Zukunft geschaffen wurden, vernachlässigte man auch das Tagesbedürfniß nicht. Viele solcher Polarhasen kamen frisch gebraten auf den Tisch, und die Jäger, so wie Mac Nap's Zimmerleute waren nicht dazu angethan, ein saftiges und wohlschmeckendes Stück Wildpret zu verachten. In Mrs. Joliffe's Laboratorium unterlagen jene Nagethiere den verschiedensten culinarischen Combinationen; die geschickte Frau übertraf sich zur großen Freude des Corporals selbst, welcher gern Lobsprüche, mit denen auch Niemand karg war, für sie einheimste.

Einige Wasservögel gewährten dazwischen eine sehr angenehme Abwechselung. Ohne von den Enten zu reden, welche die Lagunenufer bevölkerten, sind hierbei noch einige Vogelarten zu erwähnen, welche an Stellen, wo sich einige magere Weiden angesiedelt hatten, in zahlreichen Gesellschaften vorkamen. Es waren das gewisse Rebhühnerarten, für welche es an fachwissenschaftlichen Namen keineswegs fehlte. Als Mrs. Paulina Barnett zum ersten Male an Sabine die Frage stellte, welches der Name dieser Vögel sei, antwortete der Jäger:

[132] »Madame, die Indianer nennen sie ›Weiden-Tetras‹, für uns andere Jäger aus Europa aber sind es einfach ›Auerhähne‹.«

Wirklich hätte man weiße Rebhühner mit großen, an der Schwanzspitze schwarz gesprenkelten Federn zu sehen geglaubt. Sie bildeten ein vorzügliches Wild, das nur schnell an hellem und lebhaftem Feuer gebraten werden mußte.

Neben diesen verschiedenen Sorten Wildpret lieferten auch die Gewässer des Sees und des kleinen Flusses recht reichliche Gaben. Niemand verstand sich besser auf das Fischen, als der ruhige, friedliche Sergeant Long. Ob er die Fische nun sich an seinem Köder festbeißen, oder auch seine Schnur mit leeren Haken durch das Wasser streifen ließ, – Niemand konnte an Geschick oder Geduld mit ihm wetteifern, höchstens Mrs. Barnett's Begleiterin, die getreue Madge. Ganze Stunden saßen diese beiden Schüler des berühmten Isaac Walton 1, die Schnur in der Hand, schweigend neben einander und beobachteten ihre Spule; glücklicher Weise »blieb die Fluth niemals aus«, und Lagune oder Fluß lieferten täglich wahre Prachtexemplare aus der Familie der Lachse.

Während der Ausflüge, welche bis Ende August fast täglich unternommen wurden, hatten die Jäger auch nicht selten Begegnungen mit gefährlicheren Thieren. Nicht ohne Besorgniß überzeugte sich Jasper Hobson, daß Bären auf diesem Theile des Gebietes sehr zahlreich waren. Kaum verging ein Tag, an dem nicht eine Meldung über die Anwesenheit einiger dieser furchtbaren Raubthiere einlief, und mancher Flintenschuß galt diesen gefährlichen Besuchern. Bald war es eine Bande jener braunen Bären, welche im ganzen Gebiete des Verwünschten Landes so häufig sind, bald eine Familie ungeheuer großer Polarbären, von denen der erste Frost dem Cap Bathurst wohl noch eine beträchtlichere Menge zuführen mußte. Wirklich erzählen die Berichte über Durchwinterungen, daß Forscher oder Walfänger fast Tag für Tag von diesem Raubgesindel belästigt wurden.

Marbre und Sabine sahen auch zu wiederholten Malen ganze Banden von Wölfen, welche aber bei Annäherung der Jäger wie eine abfließende Woge davonflohen. »Bellen« hörte man sie vorzüglich, wenn sie Rennthiere oder Wapitis aufgespürt hatten. Es waren das große, graue, drei Fuß hohe [133] Wölfe mit langen Schwänzen, deren Felle mit Annäherung des Winters erbleichten. Dieses wenig bevölkerte Gebiet bot ihnen leicht ihre Nahrung, so daß sie hier überhand nahmen. Häufiger begegnete man auch an buschigeren Stellen Löchern mit mehreren Eingängen, in welchen diese Thiere, ähnlich den Füchsen, sich unter der Erde verkrochen. Zu dieser Zeit des üppigen Futters flohen sie die Jäger, sobald sie diese gewahr wurden, mit aller ihrer Race eigenthümlichen Feigheit. In der Zeit des Hungers aber konnten sie durch ihre Anzahl wohl furchtbar werden, und da ihre Erdbaue hier waren, mußte man daraus schließen, daß sie diese Gegend auch im Winter nicht verlassen würden.

Eines Tages brachten die Jäger nach Fort-Espe rance ein grundhäßliches Thier ein, welches weder Mrs. Paulina Barnett, noch der Astronom Thomas Black bisher zu Gesicht bekommen hatten. Dieses Thier war ein dem amerikanischen Vielfraß sehr ähnlicher Plattsüßter, ein abschreckendes Raubthier mit untersetztem Körper, kurzen, durch furchtbare Krallen bewehrten Beinen und gewaltigen Kinnladen, seine Augen waren lauernd und wild, und das Rückgrat geschmeidig, wie überhaupt bei dem Katzengeschlechte.

»Was ist das für ein gräuliches Thier? fragte Mrs. Paulina Barnett.

– Madame, erwiderte Sabine, der mit Vorliebe etwas dogmatische Antworten gab, ein Schotte würde Ihnen sagen, daß es ein ›Quickhatch‹ sei; bei einem Indianer wäre es ein ›Ockelcoo-haw-gew‹; bei einem Canadier ein ›Carcajon ...‹

– Und bei Euch Anderen, fiel Mrs. Barnett ein, ist es ...

– Ein ›Vielfraß‹, Madame«, erwiderte Sabine, offenbar selbstbefriedigt von seiner lehrreichen, gebildeten Antwort.

In der That ist Vielfraß die richtige zoologische Bezeichnung für diesen eigenthümlichen Vierfüßler, einen gefährlichen Nachtstreicher, der in hohlen Bäumen oder Felsenlöchern rastet, Biber, Moschuskatzen und andere Nagethiere eifrig verfolgt und ein erklärter Feind der Füchse und Wölfe ist, denen er sogar ihre Beute noch streitig zu machen wagt. Uebrigens ist er ein sehr listiges, muskelstarkes Thier von scharfem Geruchsinne, das sich auch in den höchsten Breiten vorfindet, und dessen kurzhaariges, schwarzes Winterfell in der Ausfuhr der Compagnie nicht die untergeordnetste Rolle spielt.

Bei den Ausflügen schenkte man aber auch der Pflanzenwelt dieselbe [134] Aufmerksamkeit wie der Thierwelt. Die Pflanzen waren natürlich nicht so reich an Arten als die Thiere, da sie nicht wie diese die Fähigkeit besitzen, während der schlechten Jahreszeit ein milderes Klima aufzusuchen. Fichten und Tannen wuchsen noch am meisten auf den Hügeln, welche das östliche Ufer der Lagune bekränzten. Jasper Hobson bemerkte auch einige »Tacamahacs«, eine Art Balsam-Pappeln von großer Höhe, deren Blätter bei der ersten Entfaltung von gelber, bei voller Entwickelung von grünlicher Farbe sind. Doch diese Bäume waren selten, ebenso wie einige schwindsüchtige Lärchenbäume, welchen die schräg auffallenden Sonnenstrahlen kaum das Leben fristeten. Gewisse Schwarztannen gediehen besser, vorzüglich in den gegen die Nordwinde geschützten Bodensenkungen. Ueber das Vorkommen dieses Baumes war große Freude, denn seine Sprossen verwendet man bei der Herstellung eines geschätzten, in Nordamerika unter dem Namen »Pine-ale« oder »Pine-porter« bekannten Bieres. Man verschaffte sich einen reichlichen Vorrath solcher Sprossen, der in dem Speisegewölbe des Fort-Esperance geborgen wurde.

Die weiteren Pflanzen bestanden aus Zwergbirken, niedrige, kaum zwei Fuß hohe Gesträuche, welche den kalten Klimaten eigenthümlich sind, und aus Zwergwachholderbüschen, die ein zur Heizung sehr taugliches Holz liefern.

Sonst waren Nährpflanzen, welche auf diesem geizigen Boden wild gewachsen wären, sehr selten. Mrs. Joliffe, die sich für die »positive« Botanik stark interessirte, konnte nur zwei Pflanzen finden, welche sie der Verwendung in ihrer Küche würdig erachtete.

Die eine, eine Wurzelzwiebel, welche schwer aufzufinden war, da ihre Blätter mit Eintritt der Blüthe sehr schnell abfallen, wurde als der gemeine Lauch erkannt. Derselbe lieferte eine reichliche Ernte an Zwiebeln von Eigröße, die als Gemüse genossen wurden.

Die andere Pflanze, im ganzen Norden Amerikas unter dem Namen »Labradorthee« bekannt, wuchs in großer Menge zwischen den Weidengebüschen und anderem Gesträuche am Ufer der Lagune und war das Lieblingsfutter der Polarhasen.

Dieser Thee bildet, mit siedendem Wasser aufgegossen und mit wenig Brandy oder Gin versetzt, ein vortreffliches Getränk, und gestattete jene im [135] Vorrath angesammelte Pflanze an dem vorhandenen chinesischen Thee wesentlich zu sparen.


Sergeant Long und Madge beim Fischfange. (S. 133.)

Um aber einem Mangel an pflanzlicher Nahrung zu entgehen, hatte Jasper Hobson eine reichliche Menge Samenkörner zur Aussaat in passender Jahreszeit mitgebracht, hierunter vorzüglich auch Sauerampher und Löffelkraut, deren antiscorbutische Eigenschaften man unter jenen Breiten sehr hoch zu schätzen weiß. Wählte man ein gegen die schneidendsten Winde geschütztes [136] Terrain, welche ebenso wie eine Flamme alle Vegetation scheinbar verbrennen, so durfte man wohl auf das Aufkeimen dieser Körner im nächsten Sommer rechnen.


Auszug zum Robbenschlag. (S. 141.)

Uebrigens war die Apotheke des neuen Forts mit Mitteln gegen den Scorbut reichlich versehen. Die Compagnie hatte einige Kisten Citronen und Limoniensaft geliefert, deren eine Polar-Expedition niemals entbehren kann. Der Vorrath hieran, wie der anderer Artikel, mußte aber weise [137] geschont werden, da anhaltendes schlechtes Wetter die Verbindung des Fort-Esperance mit den Factoreien im Süden auf lange Zeit unterbrechen konnte.

Fußnoten

1 Verfasser einer in England sehr geschätzten Anleitung zur Angelfischerei.

15. Capitel
Fünfzehntes Capitel.
Fünfzehn Meilen von Cap Bathurst.

Die ersten Septembertage waren herangekommen. In drei Wochen mußte, selbst unter den günstigsten Verhältnissen, die rauhe Jahreszeit zur Einstellung jeder Arbeit nöthigen. Man mußte also eilen. Glücklicher Weise waren die neuen Bauten schnell aufgeführt worden. Meister Mac Nap hatte mit seinen Leuten wahre Wunder der Arbeit vollbracht. Das »Dog-house« wartete nur noch des letzten Hammerschlages, und die Palissade umschloß das Fort fast vollkommen in der vorgezeichneten Linie. Man war jetzt dabei, das Thor anzufertigen, welches den Zugang zum inneren Hofe bildete. Die aus zugespitzten, fünfzehnfüßigen Pfählen bestehende Umplankung bildete an der Vorderseite eine Art Halbmond oder »Katze«. Zur Vollendung des Vertheidigungssystemes sollte aber auch der Gipfel des Cap Bathurst, welcher die Position beherrschte, befestigt werden. Man sieht hieraus, daß Lieutenant Hobson neben dem System der fortlaufenden Umwallung auch das der detachirten Forts anwandte, womit ein großer Fortschritt in der Kunst Vauban's und Cormontaigne's bezeichnet ist. In Erwartung dieser Krönung des Caps gewährte aber auch schon die Palissade allein hinreichenden Schutz gegen einen »Tatzenstreich«, wo nicht gegen einen Handstreich.

Den 4. September bestimmte Jasper Hobson zur Jagd auf die Amphibien des Ufers, denn es wurde allgemach nöthig, sich vor Eintritt der schlechteren Jahreszeit mit dem nöthigen Heiz- und Leuchtmaterial zu versorgen.

Das Lager der Robben war etwa fünfzehn Meilen weit entfernt.

Jasper Hobson schlug Mrs. Paulina Barnett vor, den Zug zu begleiten, was diese gern annahm. Hatte auch das beabsichtigte Gemetzel für sie nichts [138] besonders Anziehendes, so reizte doch die Aussicht, das Land zu sehen, die Umgebung des Cap Bathurst und vorzüglich diejenigen Theile, welche unmittelbar an die steile Küste grenzten, kennen zu lernen, ihre lebhafte Neugierde.

Als Begleitung bestimmte Lieutenant Hobson den Sergeant Long und die Soldaten Petersen, Hope und Kellet.

Um acht Uhr Morgens brach man auf. Zwei mit je sechs Hunden bespannte Schlitten folgten der kleinen Gesellschaft, um die Körper der erlegten Amphibien zum Fort zurückzubefördern.

Da die Schlitten jetzt leer waren, so benutzten sie die Theilnehmer der Expedition für sich selbst. Das Wetter war schön, doch dämpften die niedrigen Nebel des Horizontes die Strahlen der Sonne, deren gelbliche Scheibe zu dieser Zeit des Jahres während der Nacht schon einige Stunden lang unterging.

Der Küstenstrich westlich von Cap Bathurst zeigte eine vollkommen ebene Oberfläche, welche das Niveau des Polarmeeres nur um einige Meter überragte. Diese Eigenthümlichkeit des Erdbodens erregte aus folgenden Gründen Jasper Hobson's Aufmerksamkeit:

In den arktischen Meeren ist die tägliche Fluth eine sehr hohe, wenigstens nach der allgemeinen Annahme. Viele Seefahrer, welche darauf Acht hatten, wie Parry, Franklin, die beiden Roß, Mac Clure und Mac Clintock, haben das Meer zur Zeit der Syzygien (d.i. des Neu- oder des Vollmondes) zwanzig bis fünfundzwanzig Fuß über den gewöhnlichen Wasserspiegel steigen sehen. War diese Beobachtung richtig – und es lag kein Grund vor, die Wahrheitsliebe jener Beobachter in Zweifel zu ziehen, – so mußte sich Lieutenant Hobson nothwendiger Weise fragen, woher es käme, daß der unter dem Einflusse der Anziehungskraft des Mondes anschwellende Ocean dieses kaum über das Meer hervorragende Ufer nicht überfluthete, da sich keinerlei Hinderniß, keine Düne und keine Bodenerhebung der Ausbreitung des Wassers widersetzte; wie es zuginge, daß die Hochfluth nicht das ganze Gebiet bis zum fernsten Horizonte überschwemmte, und keine Vermischung zwischen den Wassern des Binnensees und des Eismeeres stattfand. Es lag deutlich auf der Hand, daß ein solches Ereigniß weder in der Gegenwart eintrat, noch jemals früher eingetreten war.

Jasper Hobson konnte eine dahin zielende Bemerkung nicht unterdrücken, [139] was seine Begleiterin zu dem Ausspruche veranlaßte, daß Ebbe und Fluth im Arktischen Ocean trotz der gegentheiligen Berichte doch eben nicht bemerkbar sein würden.

»Im Gegentheil, Madame, erwiderte Jasper Hobson, die Berichte aller Seefahrer stimmen in dem Punkte überein, daß Ebbe und Fluth in den Polarmeeren sehr ausgesprochen auftreten, und es ist gar nicht anzunehmen, daß alle diese Beobachtungen falsch wären.

– Dann, Herr Hobson, erwiderte Mrs. Paulina Barnett, erklären Sie mir gefälligst, warum die Fluthen des Oceans dieses Land, welches sich kaum zehn Fuß über den niederen Wasserstand erhebt, nicht bedecken?

– Ja, Madame, entgegnete Jasper Hobson, diese Thatsache nicht erklären zu können ist ja eben der Grund meiner Verlegenheit. Seit einem Monat nach unserer Ankunft auf diesem Küstenpunkte habe ich mich mehr als einmal überzeugt, daß das Meer sich unter gewöhnlichen Verhältnissen kaum um einen Fuß hob, und ich möchte fast behaupten, daß die Ni veau-Differenz in vierzehn Tagen, am 22. September, zur Zeit der Tag- und Nachtgleiche, das heißt eben dann, wenn diese Erscheinung ihr Maximum erreichen muß, an den Ufern des Cap Bathurst nicht ein und einen halben Fuß übersteigen wird. Uebrigens werden wir das ja selbst sehen.

– Aber die Erklärung, Herr Hobson, wo bleibt die Erklärung dafür, da es eine solche doch für Alles in der Welt geben muß?

– Nun, Madame, antwortete der Lieutenant, sie kann nur in einer der beiden folgenden Erwägungen gesucht werden. Entweder haben die Seefahrer ungenau beobachtet, was man bei Leuten wie Parry, Franklin, den Roß und Anderen nicht voraussetzen kann, oder die Gezeiten sind speciell für diese Stelle der amerikanischen Küste gleich Null, vielleicht aus denselben Gründen, welche sie in gewissen abgeschlossenen Meeren, wie z.B. dem Mittelländischen und anderen, unmerkbar machen, bei welchen die nahe aneinander rückenden Festlandsufer und die Enge der Durchlässe dem Wasser des Atlantischen Oceans nicht hinreichend Zutritt geben.

– So nehmen wir also die letztere Hypothese an, Herr Hobson, sagte Mrs. Paulina Barnett.

– Wir müssen wohl, bestätigte der Lieutenant durch eine Neigung des Kopfes, trotzdem sie mich noch nicht befriedigt; ich habe hierbei immer die[140] Empfindung einer Eigenheit der Natur, von der ich mir nicht klare Rechenschaft geben kann.«

Um neun Uhr waren die beiden Schlitten, welche stets dem sandigen und vollkommen ebenen Ufer gefolgt waren, an der gewöhnlich von den Robben besuchten Bucht angekommen. Man ließ die Bespannung zurück, um die Thiere, welche man auf dem Ufer überraschen mußte, nicht zu erschrecken.

Wie verschieden war aber dieses Gebiet von demjenigen, welches Cap Bathurst unmittelbar begrenzte!

Bei der Haltestelle der Jäger verrieth das Küstengebiet, das am Saume vielfach ausgehöhlt und gleichsam angenagt war, auch in seiner ganzen Ausdehnung sonderbare, schroffe Erhebungen aufwies, deutlich seinen plutonischen Ursprung, der von den Sedimentschichten, welche die Umgebungen des Cap Bathurst kennzeichneten, sehr wesentlich abwich.

Diese Landstriche waren in Zeiten der zoologischen Geburtsarbeit durch Feuer, nicht durch Wasser entstanden. Das Gestein, welches Cap Bathurst ganz abging – nebenbei gesagt, eine ebenso unerklärliche Sonderbarkeit, wie das Fehlen der Ebbe und Fluth, – trat hier in der Form erratischer Blöcke, d.h. beträchtlicher, tief in den Erdboden versenkter Felsstücke, auf. Ueberall hin lagen auf schwärzlichem Sande und seinblasiger Lava Kiesel umhergestreut, welche zu den thonigen Silicaten, die man unter dem Collectivnamen der Feldspathe zusammenfaßt, gehören und deren Vorhandensein die vulkanische Entstehungsursache dieses Küstenstrichs unwiderleglich darthut. Auf Letzterem glitzerten auch unzählige Labradoriten, Kieseldiamanten mit lebhaften, zwischen blau, roth und grün wechselnden Lichtreflexen; ferner da und dort Bimsteine und Obsidiane. Im Hintergrunde erhob sich das steile Gestade bis zweihundert Fuß über die Oberfläche des Meeres.

Jasper Hobson beschloß, diese Höhenpunkte zu besteigen, um sich einen Ueberblick über das ganze Land im Osten zu verschaffen. Er hatte genügend Zeit dazu, denn die Stunde der Robbenjagd war noch nicht gekommen. Bis jetzt sah man nur einige Pärchen jener Amphibien, welche sich auf dem Ufer gütlich thaten, während es sich empfahl, erst die Ansammlung einer größeren Anzahl abzuwarten, um sie während ihrer Siesta, oder vielmehr während des Schlummers, welcher bei allen Meersäugethiere in Folge der Bestrahlung durch die Sonne eintritt, zu überraschen. Lieutenant Hobson sah übrigens auch, daß diese Amphibien nicht, wie seine Leute ausgesagt hatten, eigentliche[141] Robben waren. Sie gehörten wohl zu der Familie der Flossenfüßler, aber es waren sogenannte See-Pferde und See-Kühe, welche in den zoologischen Systemen die Unterart der Walrosse bilden, sowie an den langen von oben nach unten verlaufenden und zur Vertheidigung dienenden Spitzzähnen erkennbar sind.

Die Jäger umgingen also die kleine, von jenen Thieren scheinbar bevorzugte Bai, der sie den Namen »Walroß-Bai« gaben, und bestiegen die Erhöhungen am Ufer. Petersen, Hope und Kellet blieben auf einem kleinen Vorgebirge zurück, um die Amphibien im Auge zu behalten, während Mrs. Paulina Barnett, Jasper Hobson und der Sergeant den hundertundfünfzig bis zweihundert Fuß über seine Umgebungen emporragenden Gipfel erstiegen. Ihre drei Begleiter mußten sie fortwährend in Sicht behalten, da diese ein verabredetes Zeichen geben sollten, sobald sich die Walrosse in genügender Menge angesammelt hätten.

Binnen einer Viertelstunde hatten die drei den höchsten Punkt erreicht. Von hier aus konnten sie die ganze Landschaft, welche sich rund umher entfaltete, überschauen.

Zu ihren Füßen dehnte sich das unendliche Meer, das sich nach Norden zu im Horizonte verlor. Kein Land, keine Scholle, kein Eisberg war in Sicht. Der Ocean war gewiß auch über Sehweite hinaus offen, und das Eismeer unter diesem Breitengrade allem Anscheine nach bis zur Behrings-Straße hin fahrbar. Während des Sommers konnten demnach die Schiffe der Compagnie Cap Bathurst von Nordwesten her leicht anlaufen.

Nach Westen hin entdeckte Jasper Hobson eine bisher ganz unbekannte Gegend, welche ihm das Vorkommen der vulkanischen Trümmer, mit denen das Ufer vollkommen übersäet war, genügend erklärte.

In einer Entfernung von etwa zehn Meilen ragten feuerspeiende Berge mit kegelförmigen Gipfeln in die Luft, die man von Cap Bathurst, der eben hier befindlichen Uferhöhen wegen, nicht wahrnehmen konnte. Sie starrten in allerhand Richtungen zum Himmel empor, so als ob eine zitternde Hand ihre Umrisse ausgeschnitten hätte. Nach eingehender Betrachtung wies sie Jasper Hobson dann, mit der Hand auf sie hinzeigend, dem Sergeanten und der Mrs. Paulina Barnett, wandte sich aber, ohne ein Wort über dieselben zu sagen, nach der entgegengesetzten Seite.

Im Osten erstreckte sich jener lange Ufersaum hin, welcher ohne Unregelmäßigkeiten [142] oder Terrainbewegungen bis nach Cap Bathurst verlief. Mit guten Ferngläsern versehene Beobachter hätten wohl Fort-Esperance erkennen und den bläulichen Rauch sehen müssen, der zu dieser Stunde aus Mrs. Joliffe's Küchenesse aufwirbelte.

Im Rücken bot das Territorium zwei sehr streng geschiedene Bilder. Im Osten und im Süden das einer ungeheuren Ebene, welche das Cap mehrere hundert Quadratmeilen groß umschloß, wogegen das Hinterland der Gegend des steilen Gestades, von der Walroß-Bai bis zu den Vulkangruppen hin, furchtbar zerrissen erschien und deutlich zeigte, daß es seinen Ursprung früheren vulkanischen Ausbrüchen verdankte.

Der Lieutenant betrachtete den so auffallenden Unterschied zwischen den beiden Theilen des Landes, der ihm doch als etwas »Fremdartiges« auffiel.

»Glauben Sie, Herr Hobson, fragte da Sergeant Long, daß jene Berge, welche den Horizont im Westen abschließen, wirklich Vulkane sind?

– Ohne Zweifel, Sergeant, erwiderte Jasper Hobson. Eben diese haben die Bimsteine, die Obsidiane und die zahllosen Labradoriten bis hierher geschleudert, und wir würden keine drei Meilen weit zu gehen haben, um auf Lava und Asche zu treten.

– Und setzen Sie voraus, Herr Lieutenant, daß jene noch thätige Vulkane sind, fragte der Sergeant weiter.

– Das vermag ich nicht zu entscheiden.

– Augenblicklich bemerkt man gerade keine Rauchsäule an ihrem Gipfel.

– Das ist noch kein Beweis, Sergeant Long; haben Sie etwa immer die Pfeife im Munde?

– Nein, Herr Hobson.

– Nun, sehen Sie, ganz eben so verhält es sich mit den Vulkanen, sie rauchen auch nicht immerfort.

– Das begreife ich, Herr Hobson, antwortete Sergeant Long, was ich aber nicht begreife, das ist das Vorkommen der Vulkane in den Polarländern überhaupt.

– Sie sind da auch nicht allzu zahlreich, bemerkte Mrs. Barnett.


Rundschau über die Umgebungen der Walroß-Bai. (S. 142.)

– Nein, Madame, bestätigte der Lieutenant, und doch kennt man eine gewisse Anzahl: auf der Insel Johann-Mayen, auf den Aleuten, in Kamtschatka, im russischen Amerika und in Island; auf der südlichen Halbkugel aber in [143] Feuerland. Diese Vulkane stellen nur die Rauchfänge der gewaltigen Centralwerkstätte des Innern vor, in der sich die chemischen Vorgänge in der Erdkugel vollziehen, und ich glaube, daß der Schöpfer aller Dinge diese Abzugscanäle überall da errichtet hat, wo sie nothwendig waren.


Eine überlistete Walroßfamilie. (S. 146.)

– Gewiß, Herr Hobson, antwortete der Sergeant, aber am Pole, in diesem eisigen Klima! ...

– Und was thut das, Sergeant, ob am Pole oder am Aequator! Ich [144] möchte sogar behaupten, daß die Sicherheitsventile am Pole noch weit nothwendiger wären, als an jedem anderen Punkte der Erde.

– Und weshalb das? fragte der Sergeant, der über diese Ansicht höchlichst erstaunt war.

– Weil zur Zeit, als diese Ventile sich unter dem Druck der Gase des Erdinnern öffneten, das vorwiegend an solchen Stellen geschehen mußte, an welchen die Erdrinde die geringste Stärke hatte, und in Folge der Abplattung [145] an den Polen wird es wahrscheinlich, daß ... Doch, da sehe ich Kellet's Signal, sagte der Lieutenant, indem er seine Beweisführung unterbrach. Haben Sie Lust, uns zu begleiten, Madame?

– Ich möchte Sie lieber hier erwarten, Herr Hobson, entgegnete die Reisende. Jenes Gemetzel unter den Walrossen hat für mich nichts Verlockendes.

– Ich widerstreite dem nicht, Madame, antwortete Jasper Hobson, und wenn es Ihnen beliebt, uns in einer Stunde wieder zu treffen, so werden wir uns vereinigt auf den Rückweg zum Fort begeben.«

Mrs. Paulina Barnett blieb also allein auf der Anhöhe zurück und betrachtete das an Abwechselung so reiche Panorama, welches sich vor ihren Blicken entrollte.

Eine Viertelstunde später langten Jasper Hobson und der Sergeant an dem Ufer an.

Walrosse waren jetzt in großer Menge da und konnte man deren wohl hundert zählen. Einige derselben krochen mit Hilfe ihrer kurzen, handförmigen Füße auf dem Sande hin, der größere Theil lag aber zu Familien vereinigt im Schlafe. Ein oder zwei sehr große, wohl drei Meter lange, aber mit wenig dichtem Pelze versehene und fast röthlich aussehende Thiere schienen für die ganze Heerde Wache zu stehen.

Die Jäger durften nur mit äußerster Vorsicht herankommen, benutzten Felsstücke und Unebenheiten des Bodens als Deckung und suchten einige Haufen Walrosse zu umstellen und ihnen den Rückzug nach dem Meere abzuschneiden, da diese Thiere auf dem Lande sehr schwerfällig, langsam und ungeschickt sind. Sie bewegen sich auf diesem nur in kurzen Sprüngen oder indem sie durch Krümmung des Rückgrats, ähnlich gewissen Raupenarten, kriechen. Im Wasser, ihrem Lebenselemente, aber werden sie zu flinken Fischen und furchtbaren Schwimmern, welche die sie verfolgenden Schaluppen nicht selten in Gefahr bringen.

Jene großen Exemplare schienen mißtrauisch zu werden und eine nahende Gefahr zu wittern. Sie hoben die Köpfe in die Höhe und sahen sich nach allen Seiten um. Aber bevor sie noch Zeit zu einem Warnungssignale hatten, stürzten Jasper Hobson und Kellet von der einen, Petersen, Hope und der Sergeant von der anderen Seite hervor und erlegten durch ihre Kugeln fünf Walrosse, denen sie mit den Messern vollends den Garaus [146] machten, während die übrige Heerde sich so schnell als möglich in's Meer stürzte.

Der Sieg war leicht gewesen. Die fünf Amphibien waren von ansehnlicher Größe. Das wenn auch etwas gekörnte Elfenbein ihrer Hauer schien doch von erster Sorte zu sein; Lieutenant Hobson freute sich aber weit mehr über ihren großen und fetten Körper, weil dieser eine beträchtliche Menge Oel zu liefern versprach. Man beeilte sich, sie auf die Schlitten zu verladen, und hatten die Hunde an ihnen auch eine hinreichende Last.

Eine Stunde war verflossen. Mrs. Paulina Barnett schloß sich ihren Gefährten wieder an, und Alle begaben sich längs des Ufers auf den Weg nach Fort-Esperance.

Natürlich ging man jetzt, da die Schlitten vollkommen beladen waren, zu Fuß. Es waren nur zehn Meilen, jedoch in gerader Linie, zurückzulegen. Nun sagt aber ein englisches Sprichwort: »Nichts ist so lang als ein Weg, der gar keine Ecken macht«, und dieses Sprichwort hat vollkommen Recht.

Um die Langeweile des Weges hinweg zu täuschen plauderten die Wanderer wohl von Dem und Jenem. Mrs. Paulina Barnett mischte sich häufig in das Gespräch und zog aus den Specialkenntnissen der wackeren Jäger für sich manche Belehrung. Alles in Allem kam man aber nicht allzu rasch vorwärts. Die Fleischmassen waren für die Hunde eine tüchtige Last, und die Schlitten glitten nicht zum Besten. Auf fester Schneefläche hätten die Hunde die Entfernung zwischen der Walroß-Bai und Fort-Esperance mit Bequemlichkeit in noch nicht zwei Stunden zurückgelegt.

Mehrere Male mußte Lieutenant Hobson Halt machen lassen, um die Thiere, deren Kräfte zu Ende gingen, verschnaufen zu lassen. Das veranlaßte den Sergeant Long zu dem Ausspruche:

»In unserem Interesse hätten die Walrosse auch eine dem Fort näher gelegene Lagerstätte auswählen können.

– Sie würden keine geeignete Stelle dazu gefunden haben, antwortete Lieutenant Hobson kopfschüttelnd.

– Und warum das, Herr Hobson? fragte Mrs. Paulina Barnett, erstaunt über diese Antwort.

– Weil diese Amphibien nur die sanft abfallenden Küsten besuchen, auf denen sie kriechend das Meer verlassen können.

– Aber das Ufer des Caps? ...

[147] – Das Ufer des Caps, erwiderte Jasper Hobson, ist steil wie eine Festungsmauer, und zeigt nirgendswo eine schiefe Ebene. Es erscheint wie lothrecht abgeschnitten. Das, Madame, ist wiederum eine für jetzt unerklärliche Eigenthümlichkeit dieser Landstrecke, und wollten unsere Leute an seinem Gestade fischen, so müßten ihre Schnuren, um bis zum Grunde zu reichen, wohl dreihundert Faden lang sein! Woher diese Bildung stamme? – Ich weiß es nicht, doch verleitet mich die Thatsache zu der Annahme, daß vielleicht vor vielen Jahrhunderten einst ein Theil des Continentes durch vulkanische Kräfte abgerissen wurde und im arktischen Oceane untergegangen sein mag!«

16. Capitel
Sechzehntes Capitel.
Zwei Schüsse.

Die erste Hälfte des Monats September war verflossen.

Wäre Fort-Esperance am Pole selbst gelegen gewesen, d.h. also noch um zwanzig Grad nördlicher, so würde es am 21. desselben Monats die Polarnacht schon mit ihren Schatten umhüllt haben. Ueber diesem siebenzigsten Breitengrade aber zog die Sonne wohl noch einen Monat lang ihre Kreise über dem Horizonte. Nichts desto weniger sank die Temperatur schon sehr fühlbar, und in der Nacht fiel das Thermometer gelegentlich bis auf - 1° C. Da und dort bildete sich junges Eis, das freilich die Sonnenstrahlen während des Tages wieder schmolzen. Manchmal mischte sich ein kurzes Schneegestöber unter die Regenschauer und die Windstöße. Offenbar war die schlechte Jahreszeit nahe.

Die Bewohner der Factorei konnten dieser jedoch sorglos entgegen sehen. Der aufgespeicherte Proviant versprach die ganze Zeit über, und wohl noch länger, auszureichen. Der Vorrath an trockenem Wildpret hatte wesentlich zugenommen, auch waren noch weiter gegen zwanzig Walrosse erlegt worden. Mac Nap hatte auch Zeit gefunden, einen wohlverwahrten Stall für die [148] Rennthiere, welche man im Fort hielt, und einen geräumigen Schuppen zur Aufnahme des Heizmateriales zu errichten.

Der Winter, das will sagen: die Nacht, der Schnee, das Eis, die Kälte konnten nun kommen; man war auf Alles vorbereitet.

Nach Sicherung der späteren Bedürfnisse der Bewohner des Forts faßte Jasper Hobson aber auch die Interessen der Compagnie in's Auge. Es war die Zeit gekommen, während der die Thiere, welche ihr Winterfell wieder bekommen haben, die schätzbarste Beute sind. Jetzt konnte man sie durch Pulver und Blei erlegen, während später, wenn sich die Schneedecke gleichmäßig ausgebreitet hatte, Schlingen und Fallen aufgestellt werden sollten. Jasper Hobson organisirte also förmliche Jagdzüge.

Die Concurrenz von Seiten der Indianer war in diesen hohen Breiten kaum zu fürchten, da diese gewöhnlichen Lieferanten der Factoreien meist nur südlichere Gebiete durchstreifen. Lieutenant Jasper Hobson, Marbre, Sabine und zwei bis drei ihrer Genossen sollten also für die Compagnie jagen, und es ist einleuchtend, daß es ihnen nicht an Arbeit fehlte.

An einem Arme des kleinen Baches, etwa sechs Meilen südlich vom Fort, war ein Bibervolk bemerkt worden. Nach diesem Punkte richtete Jasper Hobson seinen ersten Ausflug.

Früher, als es die Hutmacher noch vielfach verwendeten, galt das Kilogramm Biberhaare bis zu vierhundert Franken; seitdem der Verbrauch dieses Flaumenhaares aber abgenommen hat, ist zwar auch der Preis gesunken, aber dennoch an den Rauchwaaren-Märkten ein ziemlich hoher, da diese unerbittlich und unvernünftig verfolgte Nagerfamilie dem Verschwinden nahe zu sein scheint.

Die Jäger begaben sich also nach dem bezeichneten Orte an den Fluß.

Der Lieutenant rief Mrs. Paulina Barnett's Bewunderung hervor, als er ihr die sinnreichen Anlagen zeigte, welche diese Thiere behufs Errichtung ihrer halb unter dem Wasser erbauten Stadt getroffen hatten. Gegen hundert Biber bewohnten pärchenweise in der Nachbarschaft des Wasserlaufes ausgehöhlte Löcher, hatten aber schon den Bau ihrer Winterwohnungen begonnen, an denen sie fleißig arbeiteten.

Quer durch das schnelllaufende Wasser, welches tief genug war, um nicht vollkommen auszufrieren, hatten die Biber einen gegen die Strömung hin etwas ausgebogenen Damm erbaut; er bestand zunächst aus lothrecht [149] und nahe an einander gestellten Pfählen, welche in wagerechter Richtung von biegsamen Baumästen umschlungen und verbunden waren. Das Ganze bedeckte eine thonige Erde, welche die Füße der Nager erst geknetet hatten, wie mit einem Cemente.

Hierauf war der Thon mit Hilfe der breiten ovalen, horizontal abgeplatteten und schuppigen Schwänze zu einzelnen Werkstücken geformt und damit das ganze Zimmerwerk des Dammes gleichmäßig gedichtet worden.

»Dieser Damm, Madame, sagte Jasper Hobson, hat den Zweck, das Flüßchen immer bei unverändertem Wasserstande zu erhalten und gestattet er den Baumeistern der Biber, stromaufwärts ihre rundlichen Wohnungen, deren oberste Theile sie dort wahrnehmen, zu errichten. Diese Bauten sind sehr solid construirt; ihre aus Holz und Thon hergestellten Wände haben eine Stärke von zwei Fuß, und bieten als Eingang nur eine unterhalb des Wasserspiegels gelegene Oeffnung, was Jeden, der heraus oder hinein will, allerdings zum Tauchen nöthigt, aber auch die Sicherheit der Biberfamilie erhöht. Bei Zerstörung eines solchen Baues findet man ihn aus zwei Stockwerken bestehend, einem unteren, welches als Vorrathsraum dient und den Winterproviant an Zweigen, Wurzeln und Rinden enthält, und einem oberen, welches das Wasser nicht erreicht und in dem der Eigenthümer mit seinem kleinen Hausstande lebt.

– Ich sehe aber keines dieser klugen und fleißigen Thiere, sagte Mrs. Paulina Barnett. Sollte die Ansiedelung schon wieder verlassen sein?

– Nein, Madame, erwiderte Lieutenant Hobson, jetzt ruhen die Arbeiter im Schlafe aus, denn sie sind nur in der Nacht thätig und wir werden sie in ihren Höhlen überraschen!«

Wirklich verursachte der Fang dieser Nagethiere keinerlei Schwierigkeit. Binnen einer Stunde hatte man wohl hundert Stück erbeutet, und darunter Einige, deren Fell vollkommen schwarz war, von sehr hohem Handelswerthe. Die Anderen hatten auch einen seidenweichen, langhaarigen, glänzenden Pelz, der aber eine rothbraune Nuance zeigte, und unter diesem einen seinen, dichten, silbergrauen Flaum. Die Biberfelle wurden in das Magazin gebracht und unter dem Namen »Parchemins« oder »junge Biber«, je nach ihrem Werthe, registrirt.

Während des ganzen Septembers und bis Mitte October wurden derartige Jagdzüge wiederholt und lieferten diese immer sehr günstige Resultate.

[150] Dachse wurden nur in geringer Menge gefangen. Man stellte ihnen wegen ihrer Haut, welche zur Garnitur der Pferdekummete dient, und wegen der Haare nach, die man zu Bürsten und Pinseln verarbeitet. Diese Raubthiere – denn sie sind wirklich kleinen Bären gleich – gehören zu der Nordamerika eigenthümlichen Abart der Vielfraß-Dachse.

Andere zum Geschlechte der Nagethiere gehörige und dem Biber an Intelligenz sehr nahe stehende Arten erreichten in den Magazinen der Factorei eine sehr hohe Ziffer. Es waren das z.B. die einen Fuß langen Bisamratten mit sehr entwickeltem Schwanze, deren Pelz ziemlich geschätzt ist.

Eine Katzenart, welche auch dann und wann vorkam, machte die Anwendung der Feuerwaffen nöthig. Es waren das gelenkige, lebhafte Thiere mit hellröthlichem, schwarz gesprenkeltem Haar, welche selbst den Rennthieren gefährlich werden, kurz Luchse, die sich sehr wacker vertheidigen. Aber weder Marbre noch Sabine standen ihnen zum ersten Male gegenüber, und sie erlegten auch gegen sechzig dieser Thiere.

Eben so erbeutete man einige wenige Vielfraße mit sehr schönen Pelzfellen.

Hermeline zeigten sich nur selten. Diese eben so wie die Iltisse zum Mardergeschlechte gehörigen Thiere hatten ihr schönes Winterfell, welches bis auf ein kleines schwarzes Fleckchen an der Schwanzspitze ganz weiß ist, noch nicht wieder. Ihr Haar war äußerlich noch gelblich grau und röthlich darunter. Jasper Hobson hatte seinen Leuten also anempfohlen, jenes Wild für jetzt zu schonen. Man mußte warten und die Felle nach Marbre's Ausdruck »reif« werden, d.h. durch die Winterkälte bleichen lassen. Iltisse, deren Jagd wegen des unangenehmen Geruches, den sie um sich verbreiten, sehr lästig ist, erlegte manent weder durch Umstellung der hohlen Bäume, welche ihnen als Zuflucht dienten, oder durch Flintenschüsse, wenn sie in den Aesten umher sprangen.

Die Zobelmarder waren der Gegenstand einer ganz speciellen Jagd. Es ist bekannt, wie sehr das Fell dieser Raubthiere geschätzt ist, wenn es auch im Preise etwas gegen den eigentlichen Zobel, dessen Pelz im Winter von schwärzlicher Farbe ist, zurücksteht. Dieser eigentliche Zobel tritt aber nur im nördlichen Europa und Asien, bis nach Kamtschatka hin, auf und wird von den Sibiriern lebhaft gejagt. An der amerikanischen Küste des Eismeeres [151] begegnet man anderen Marderarten, deren Fell immerhin von hohem Werthe ist, wie der »Wison« und der »Pékan«, welche auch den Namen »canadische Marder« führen.

Während des Monates September sollten diese der Factorei nur wenige Pelzfelle liefern. Diese sehr munteren und lebhaften Thiere haben einen langen und biegsamen Körper, der ihnen auch den Namen »Vermiformes« (d.i. wurmförmige) erworben hat. Wirklich können sie sich auch strecken wie ein Wurm, und folglich durch die engsten Oeffnungen schlüpfen, weshalb sie den Nachstellungen der Jäger natürlich leicht entgehen. Während des Winters fängt man sie leichter in Fallen und Schlingen, und Marbre und Sabine erwarteten schon ungeduldig den geeigneten Augenblick, wieder zu »Trappern« (Fallenstellern) zu werden. Sie waren fest überzeugt, daß die Magazine der Compagnie bei der Rückkehr des Frühlings mit diesen gesuchten Fellen reichlich versehen sein sollten.

Zur Vervollständigung des Verzeichnisses derjenigen Pelzwaaren, welche sich in Fort-Esperance durch jene Jagden anhäuften, verdienen auch die blauen und die Silber-Füchse eine Erwähnung, da sie an den russischen sowohl, wie an den englischen Märkten als die allerkostbarsten Pelzwaaren betrachtet werden.

Allen steht der blaue Fuchs, bekannt unter dem zoologischen Namen »Isatis«, voran. Dieses hübsche Thier hat eine schwarze Schnauze, sonst aber aschfarbene, fast dunkelblonde Behaarung, sieht indeß nirgends blau aus, wie man nach seinem Namen vermuthen sollte. Sein langes, dichtes und festes Haar ist wirklich bewundernswerth und besitzt alle die Eigenschaften, welche die Schönheit eines Pelzes ausmachen: Weichheit, Festigkeit und Länge, Dichtheit und schöne Färbung. Der blaue Fuchs ist der unbestrittene König der Pelzthiere; sein Pelz gilt den sechsfachen Preis jedes anderen, und ein Pelzmantel des Kaisers von Rußland, der ganz aus Halsstücken des blauen Fuchses besteht, welche man für die hochfeinsten Theile des Felles hält, wurde auf der Londoner Weltausstellung von 1851 zu 3400 Pfund Sterling 1 geschätzt.


Ein streitiger Fall. (S. 154.)

Einige solcher Füchse waren in der Umgebung von Cap Bathurst erschienen, doch von den Jägern nicht erlangt worden, denn diese Raubthiere sind sehr [152] listig, flink und schwer zu fangen, dagegen gelang es, ein Dutzend Silberfüchse zu erlegen, deren prachtvoll schwarzes Haar weiße Spitzen hat. Obgleich das Fell der Letzteren dem der blauen Füchse an Werth nicht gleichkommt, so ist es dennoch ein kostbarer Balg, der an den Märkten Rußlands und Englands einen hohen Preis erzielt.

Der eine dieser Silberfüchse war ein vorzügliches Exemplar, der den gemeinen Fuchs an Größe überragte. Seine Ohren, Schultern und der [153] Schwanz waren rauchschwarz, aber das seine Ende seines Schwanzes und die Spitzen der Haare um die Augen silberweiß.

Die besonderen Umstände, unter welchen dieser Fuchs getödtet wurde, verdienen eine eingehende Schilderung, denn sie rechtfertigten gewisse Befürchtungen Jasper Hobson's eben so, wie die Vertheidigungsmaßregeln, welche zu treffen er für nöthig erachtet hatte.

Am 24. September früh hatten zwei Schlitten Mrs. Paulina Barnett, den Lieutenant, Sergeant Long, Sabine und Marbre nach der Walroß-Bai gebracht. In der Mitte von Felsen, zwischen denen wenige magere Gesträuche sproßten, hatten einige Leute des Detachements Tags vorher Spuren von Füchsen entdeckt, die es unzweifelhaft machten, daß Letztere in der Nähe umherschweiften. Die Jäger, deren Lust einmal gereizt war, drängten daher, die Fährte wieder aufzusuchen, welche ihnen eine so kostbare Beute versprach und in der That auch lieferte. Zwei Stunden nach ihrer Ankunft lag ein schöner Silberfuchs todt auf dem Boden.

Da wurden noch zwei bis drei andere Exemplare bemerkt, was die Jäger veranlaßte, sich zu theilen. Während Sabine und Marbre den Spuren des einen nachgingen, suchten der Lieutenant, Sergeant Long und Mrs. Paulina Barnett einem anderen schönen Thiere, welches sich hinter Felsstücken zu verbergen suchte, den Rückweg abzuschneiden.

Es bedurfte gegenüber diesem Fuchse, der sich schlau zu decken und keinen Körpertheil einer Kugel auszusetzen wußte, der Aufbietung der größten List.

Eine halbe Stunde währte schon diese resultatlose Verfolgung. Drei Seiten waren indessen dem Thiere abgesperrt und das Meer verschloß die vierte. Jenes mochte das Mißliche seiner Lage einsehen und beschloß derselben durch einen glücklichen Sprung zu entgehen, der dem Jäger keine andere Wahl, als die, ihn im Fluge zu schießen, übrig ließ.

Der Fuchs sprang also auf einen Felsblock, doch Jasper Hobson lauerte ihm schon auf, und in dem Augenblicke, da das Thier wie ein Schatten vorüber flog, begrüßte er es mit seiner Kugel.

Fast zu derselben Zeit donnerte ein zweiter Schuß, und der tödtlich getroffene Fuchs sank zu Boden.

»Hurrah! Hurrah! rief Jasper Hobson, der ist mein!

– Und mein!« antwortete ein Fremder, der, als Jasper Hobson eben die Hand nach dem Thiere ausstreckte, seinen Fuß darauf setzte.

[154] Erstaunt wich Jasper Hobson zurück. Er hatte den zweiten Schuß aus Sergeant Long's Gewehr gekommen geglaubt, und jetzt stand er vor einem vollkommen fremden Jägersmann, dessen Büchsenlauf noch rauchte.

Die beiden Rivalen maßen sich mit den Augen.

Mrs. Paulina Barnett und ihr Begleiter kamen hinzu, auch Sabine und Marbre fanden sich eiligst ein, während ein Dutzend Menschen vom Ufer her auf den Fremdling zukamen, der sich höflich vor der Reisenden verneigte.

Jener war ein hochgewachsener Mann, der vollständige Typus jener »Canada-Reisenden«, deren Concurrenz Jasper Hobson vor Allem fürchtete. Der Jäger trug noch ganz jenes traditionelle Costüm, welches Washington Irving, der amerikanische Romanschriftsteller, genau beschrieben hat: eine in Mantelform übergeschlagene Decke, ein baumwollenes Hemd mit bunten Streifen, weite kurze Tuchhosen, Gamaschen aus Leder und Schuhe aus Damsell, einen bunten Gürtel, welcher das Waidmesser, Tabaksbeutel nebst Pfeife, und einige Lagergeräthschaften barg, mit einem Worte, eine halb civilisirte und halb wilde Kleidung. Vier seiner Begleiter waren so wie er, nur minder elegant, ausgerüstet, die acht Anderen, welche als Bedeckung dienten, gehörten zu den Chippeway-Indianern.

Jasper Hobson konnte sich nicht täuschen; er hatte einen Franzosen, mindestens einen Abkommen der canadischen Franzosen, vielleicht den Agenten einer amerikanischen Compagnie vor sich, welcher die Errichtung der neuen Factorei zu beobachten entsendet war.

»Dieser Fuchs gehört mir, mein Herr, sagte Jasper Hobson nach einigen Augenblicken des Schweigens, während deren er und sein Gegner sich Auge in Auge gegenüber gestanden hatten.

– Er gehört Ihnen, falls Sie ihn getroffen haben, antwortete der Unbekannte in gutem Englisch, aber mit einem leichten fremden Accente.

– Sie irren sich, mein Herr, entgegnete Jasper Hobson lebhafter. Selbst für den Fall, daß ihn Ihre Kugel und nicht die meinige getödtet hätte!«

Ein verächtliches Lächeln antwortete dieser Behauptung, welche die ganze Anmaßung der Hudsons-Bai-Compagnie über die Territorien vom Atlantischen bis zum Stillen Oceane wiederspiegelte.

»Sie betrachten also, fuhr der Fremdling fort, während er sich gefällig [155] auf die Mündung seines Gewehres stützte, die Hudsons-Bai-Compagnie als vollkommene Herrin über die Gebiete des nördlichen Amerikas?

– Ohne Zweifel, erwiderte Lieutenant Hobson, und wenn Sie, mein Herr, wie ich voraussetze, etwa einer amerikanischen Gesellschaft angehören ...

– Der Pelzwaaren-Gesellschaft von St. Louis, bekannte der Jäger mit einer Verneigung.

– Ich meine, dann sollten Sie, fuhr der Lieutenant fort, sich doch veranlaßt fühlen, die Acte aufzuweisen, welche Ihnen in irgend einem Theile dieses Gebietes ein Jagdrecht zugesteht.

– Acten! Privilegien! sagte verächtlich der Canadier, das sind Worte aus dem altersschwachen Europa, welche in Amerika einen schlechten Klang haben.

– Sie sind auch nicht auf amerikanischem, sondern auf englischem Grund und Boden! belehrte ihn Jasper Hobson mit Stolz.

– Herr Lieutenant, antwortete der Jäger, der nun auch seinerseits etwas wärmer wurde, jetzt ist wohl nicht der geeignete Zeitpunkt, über diese Frage zu debattiren. Die Ansprüche Englands im Allgemeinen und die der Hudsons-Bai-Compagnie im Besonderen, welche bezüglich dieser Jagdgebiete geltend gemacht werden, sind uns schon seit langer Zeit bekannt; doch denke ich, der Tag soll nicht mehr fern sein, wo die Ereignisse diese Sachlage ändern sollen, und Amerika von der Magelhaens-Straße bis zum Nordpole wirklich amerikanisch sein wird.

– Das glaube ich nicht, erwiderte trocken der Lieutenant.

– Wie dem auch sei, mein Herr, entgegnete unbeirrt der Canadier, ich schlage Ihnen vor, die internationale Seite der Frage nicht zu betonen. Was sich die Compagnie auch anmaße, so liegt es doch auf der Hand, daß die nördlichsten Theile des Continentes dem zugehören, der sie besetzt, und vor Allem gilt das vom Küstengebiete. Sie haben bei Cap Bathurst eine Factorei gegründet; gut, so werden wir nicht in Ihrem Gebiete jagen; Ihrerseits erwarte ich aber auch, daß Sie unsere Grenzen respectiren, wenn die Pelzwaaren-Gesellschaft von St. Louis an einer anderen Stelle der Nordküste eine Factorei errichtet haben wird.«

Jasper Hobson's Stirne faltete sich. Der Lieutenant erkannte es zu klar, daß die Hudsons-Bai-Compagnie in nächster Zukunft gefährliche Rivalen bis hinauf an die nördliche Küste haben, daß man ihre Ansprüche auf den [156] ganzen Norden Amerikas nicht anerkennen, und mancher Kugelwechsel zwischen den Concurrenten stattfinden werde. Aber auch er konnte sich der Einsicht nicht verschließen, daß jetzt nicht der geeignete Augenblick sei, die Privilegienfrage zu discutiren, und sah es nicht ungern, daß der im Uebrigen höfliche Jäger die Rede wieder auf etwas Anderes lenkte.

»Was nun die Angelegenheit betrifft, welche uns entzweit, sagte der Canada-Reisende, so ist diese doch nur von sehr untergeordneter Bedeutung, und ich denke, wir schlichten sie nach Waidmanns-Brauch. Ihr und mein Gewehr haben sicher verschiedenes Caliber, und unsere Kugeln werden leicht wieder zu erkennen sein. Der Fuchs gehöre also Demjenigen, der ihn wirklich getödtet hat.«

Der Vorschlag war gerecht. Die Frage nach dem Eigenthumsrechte an dem Thiere konnte auf diese Weise mit Gewißheit entschieden werden.

Der Cadaver des Fuchses wurde also untersucht. Er hatte von den zwei Jägern auch zwei Kugeln bekommen. Die eine saß ihm in der Seite, die andere in der Brust. Die Kugel des Canadiers war diese Zweite.

»Das Thier gehört Ihnen, mein Herr«, sagte Jasper Hobson, der seine Enttäuschung, sich eines so kostbaren Balges durch fremde Hand beraubt zu sehen, nur schlecht verhehlte.

Der Reisende nahm den Fuchs auf; doch als man schon glaubte, daß er ihn über die Schulter werfen und davon gehen werde, schritt er mit einer weltmännischen Verneigung auf Mrs. Paulina Barnett zu.

»Die Damen lieben ja schönes Pelzwerk, sagte er. Wüßten sie, mit welchen Mühen, ja manchmal, mit welchen Gefahren man dieses zuerst erlangt, sie würden wohl nicht immer eine solche Sehnsucht darnach haben! Doch, sie lieben es einmal! Erlauben Sie mir also, Madame, Ihnen dieses Stück zur Erinnerung an unser Zusammentreffen zu überreichen.«

Mrs. Paulina Barnett zögerte, das Geschenk anzunehmen, der canadische Jäger hatte das kostbare Fell aber mit solcher Verbindlichkeit und so gutherzig angeboten, daß es beleidigend für ihn gewesen wäre, es abzuschlagen.

Die Reisende nahm es also mit einem Danke gegen den Fremdling an.

Dieser verneigte sich noch einmal vor Mrs. Paulina Barnett, grüßte die Engländer und verschwand, gefolgt von seinen Begleitern, hinter den Uferfelsen.

[157] Der Lieutenant begab sich mit den Seinigen auf den Rückweg nach Fort-Esperance. Jasper Hobson wanderte aber in Gedanken vertieft dahin. Die Lage des durch seine Mühen gegründeten Etablissements war nun einer rivalisirenden Gesellschaft bekannt, und diese Begegnung mit dem Canada-Reisenden ließ ihn für die Zukunft die größten Schwierigkeiten vorhersehen.

Fußnoten

1 34,000 Oesterr. S.-Gulden = 68,000 Reichsmark.

17. Capitel
Siebenzehntes Capitel.
Die Annäherung des Winters.

Man schrieb den 21. September. Die Sonne stand im Herbst-Aequinoctium, das heißt, Tag und Nacht waren auf der ganzen Erdkugel von gleicher Dauer. Die Abwechselung zwischen Licht und Finsterniß hatte den Insassen des Fort-Esperance, welche während der Stunden der Dunkelheit natürlich besser schliefen, zu großer Befriedigung gedient. Das Auge ruht dabei aus und stärkt sich wieder, vorzüglich, wenn einige Monate ununterbrochenen Sonnenlichtes es hartnäckig ermüdet hatten.

Es ist bekannt, daß die Fluth zur Zeit der Tag- und Nachtgleiche eine besonders hohe ist, da sich Sonne und Mond dabei in Conjunction befinden und die Summe ihres Einflusses die Intensität jener Erscheinung erhöht. Es war das also eine Veranlassung, die Fluth an der Küste des Cap Bathurst mit möglichster Sorgsamkeit zu beobachten. Einige Tage vorher hatte Jasper Hobson deshalb verschiedene Merkzeichen, eine Art Seehöhenmesser, angebracht, um den Unterschied zwischen dem niedrigsten und dem höchsten Wasserstande genau kennen zu lernen. Auch dieses Mal fand er es, trotz aller Angaben früherer Beobachter, bestätigt, daß der Einfluß der Sonne und des Mondes sich an diesem Theile des Eismeeres kaum bemerkbar machte. Die Fluth war eben annähernd gleich Null, – was den Berichten so vieler anderer Seefahrer widersprach.

[158] »Hier liegt etwas vor, was nicht natürlich ist!« sagte sich dabei der Lieutenant Hobson.

Er wußte in der That nicht, was er davon zu halten habe. Da ihn aber andere Sorgen in Anspruch nahmen, beschäftigte er sich mit der Erklärung dieser Eigenthümlichkeit nicht allzulange.

Am 29. September trat in dem Zustande der Atmosphäre eine wesentliche Veränderung ein. Das Thermometer fiel auf 5° unter Null. Der Himmel war mit Dünsten erfüllt, welche sich auch bald als Schnee niederschlugen. Die schlechte Jahreszeit rückte heran.

Mrs. Joliffe beschäftigte sich, bevor der Schnee den Boden bedeckte, mit ihren Sämereien. Es stand zu hoffen, daß die nicht überempfindlichen Sauerampher- und Löffelkrautsamen, wenn sie durch die Schneedecke geschützt waren, der Rauhigkeit des Klimas widerstehen und im Frühlinge hervorknospen würden. Ein hinter dem ansteigenden Cap gelegenes Terrain von mehreren Ackern war vorher zugerichtet worden, und wurde nun in den letzten Tagen des Septembers besäet.

Jasper Hobson wollte nicht die strenge Kälte abwarten, um seine Gefährten die Winterkleidung wie der anlegen zu lassen. Alle eilten auch, sich entsprechend zu bekleiden, und trugen nun Wolle auf dem bloßen Körper, Ueberzieher von Damhirschfell, Beinkleider von Robbenhaut, Pelzmützen, und für Wasser undurchlässige Stiefeln. Gleichzeitig machten auch die Wohnräume so zu sagen Wintertoilette. Die Holzwände wurden nämlich mit Pelzfellen überdeckt, um zu verhindern, daß sich bei zufälligen Temperatur-Erniedrigungen Eisschichten an ihrer Oberfläche ablagerten. Meister Raë setzte zu derselben Zeit die Condensatoren in Stand, welche den in der Luft verbreiteten Wasserdampf aufnehmen und zweimal wöchentlich entleert werden sollten. Das Feuer im Ofen wurde nach den Schwankungen der Luftwärme so regulirt, daß das Thermometer in den Wohnräumen immer + 10° Celsius zeigte. Bald mußte das Haus ja auch mit einer dicken Schneelage bedeckt sein, welche gegen jeden Verlust der Wärme seines Innern schützte. Mit diesen Hilfsmitteln hoffte man den beiden furchtbarsten Feinden der Ueberwinternden, der Kälte und der Feuchtigkeit, siegreich entgegen zu treten.

Am 2. October war die Thermometersäule noch weiter gesunken, und der erste dauernde Schnee umhüllte die ganze Umgebung des Cap Bathurst. Die leichte Brise veranlaßte keinen eigentlichen in den Polarländern so bekannten [159] Schneewirbel, denen die Engländer den Namen »Drifts« gegeben haben.


Jägergalanterie. (S. 157.)

Ein weißer gleichmäßig gelagerter Teppich breitete sich bald über das Cap, die Umzäunung des Forts und das Küstenland. Nur die Gewässer des Sees und des Meeres waren noch nicht in Banden geschlagen, und stachen durch ihre graue, trübe, fast schmutzige Farbe grell gegen alles Andere ab. Am nördlichen Horizonte aber gewahrte man schon die ersten Eisberge, welche sich scharf am Himmel abzeichneten. Es bildeten diese noch keine eigentliche [160] Schollenwand, aber die Natur häufte langsam das Material zusammen, welches die Kälte bald zu einer unübersteiglichen Schranke verlöthen sollte.


In der Zauberpracht des Polarwinters. (S. 162.)

Uebrigens währte es nicht lange, bis das »junge Eis« die Oberfläche des Meeres und des Sees fest überzog. Die Lagune kam zuerst an die Reihe. Da und dort wurden ausgedehnte weißlich-graue Stellen auf ihr sichtbar, die Vorzeichen des baldigen Gefrierens, das durch die Ruhe der Atmosphäre sehr begünstigt wurde. Und als sich das Thermometer eine [161] Nacht über auf - 9° Celsius gehalten hatte, zeigte der See am anderen Tage eine Eisfläche, welche auch die wählerischsten Schlittschuhläufer der Serpentine 1 befriedigt hätte. Am fernen Horizonte nahm der Himmel nun eine eigenthümliche Färbung an, der die Walfänger die Bezeichnung »Blink« gegeben haben, und welche von dem Wiederschein der Eisfelder herrühren soll. Bald fror auch das Meer auf ungeheure Strecken hinaus zu, nachdem sich durch einzeln angeschobene Schollen ein weites Eisfeld längs der Küste gebildet hatte. Es bot dieses freilich nicht eine Spiegeloberfläche, wie das Eis des Sees, da es bei seiner Entstehung durch die Wellenbewegung gestört worden war. Da und dort schwankten einzelne Schollen noch auf und ab, schwimmende Eisblöcke, welche unter dem Namen »Drift-ices« bekannt sind, und an manchen Stellen ragten verschieden geformte und manchmal sehr steile Erhöhungen hervor, welche ihre Bildung dem allseitigen Drucke verdanken und die die Walfänger »Hummocks« (Spitzhügel) benennen.

Schon nach wenigen Tagen hatte sich der Anblick des Cap Bathurst und seiner Umgebung vollkommen verändert. Mit fortwährender Bewunderung verfolgte Mrs. Paulina Barnett dieses ihr so neue Schauspiel. Mit welchen Mühen und Anstrengungen hatte sie sich doch die Betrachtung desselben erkauft! Es giebt aber auch nichts Erhabeneres, als diesen Eintritt der kalten Jahreszeit, diese Besitznahme der Polarländer durch den Winterfrost. Kein Aussichtspunkt, kein Landschaftsbild, wie sie sich der Erinnerung der Mrs. Paulina Barnett bis hierher eingeprägt hatten, war wieder zu erkennen. Die Gegend erschien wie umgewandelt. Ein neues Land, mit dem Stempel der großartigsten Trauer, erzeugte sich vor ihren Blicken. Die Einzelheiten gingen unter, so daß der Schnee der Landschaft nur ihre gröberen Linien übrig ließ, und auch diese waren durch die Dunstmassen nur unklar sichtbar. Das Ganze war aber doch ein Schmuck, der dem früheren mit magischer Schnelligkeit folgte. Da war kein Meer zu sehen, wo früher der weite Ocean sich dehnte; kein Erdboden mit wechselnden Farben, sondern ein gleichmäßiger, blendender Teppich. Keine Wälder von verschiedenen Bäumen, sondern ein Gewirr ihrer blätterlosen Silhouetten, welche der Rauchfrost sein überzog. Keine strahlende Sonne gab es mehr, sondern an ihrer Stelle eine bleiche Scheibe, welche sich durch den Nebel schleppte und kaum während [162] einiger Stunden des Tages einen sehr gedrückten Bogen beschrieb. Auch der Meereshorizont, der sich sonst so scharf vom Himmel abhob, war verschwunden; dagegen bildete eine launenhaft unterbrochene Kette von Eisbergen jene unübersteigliche Schollenschranke, welche die Natur zwischen dem Nordpole und den kühnen Reisenden, die nach ihm zu gelangen trachten, aufgethürmt hat.

Welchen Stoff für Gespräche, welche Fülle von Beobachtungen dieser Wechsel der Außenwelt bot, wird man sich leicht vorstellen können. Nur Thomas Black blieb allein von den Reizen dieses Schauspiels ungerührt. Was konnte man auch Anderes von dem so sehr beschäftigten Astronomen erwarten, der bis jetzt bei dem Personal der Colonie in der That kaum mitzählte. Der verschlossene Gelehrte lebte ja nur in der Beobachtung der Himmelserscheinungen und erging sich einzig in den Azurstraßen des Firmamentes; er verließ manchmal einen Stern, aber blos, um sich schnell nach einem anderen zu begeben. Und eben jetzt verschleierte sich ihm der Himmel, die Sternbilder verschwanden seinem Auge, jetzt wälzte sich ein undurchdringlicher Nebel zwischen ihm und dem Zenithe hin! O, wie wüthend er darüber war! Dennoch beruhigte er sich bei Jasper Hobson's tröstlicher Versicherung, daß binnen Kurzem schöne, frosthelle Nächte, welche zu astronomischen Beobachtungen besonders günstig wären, eintreten müßten, und dazu Nordlichter, Mondhöfe, Nebenmonde und andere Erscheinungen, welche den Polarländern eigenthümlich sind, seine astronomische Bewunderung hervorrufen sollten.

Inzwischen war die Temperatur noch recht erträglich. Es blieb auch windstill, und vorzüglich ist es ja die bewegte Luft, welche die Empfindung des Frostes so sehr steigert. Einige Tage setzte man demnach die Jagden noch fort. Weitere Mengen von Pelzfellen häuften sich in den Magazinen der Factorei an, weitere Proviantvorräthe in der Speisekammer. Rebhühner und Schneegänse flohen nach milderen Gegenden, kamen dabei zu Hunderten vorüber, und lieferten eine frische, gesunde Fleischkost.

Auch Polarhasen, welche nun den Winterpelz trugen, gab es jetzt. Etwa hundert dieser schmackhaften Nagethiere vergrößerten die Reserven des Forts.

Dazu erschienen große Züge sogenannter »Pfeifer-Schwäne«, eine im nördlichen Amerika vorkommende schöne Abart, von welcher die Jäger einige Paare tödteten. Es waren prächtige, vier bis fünf Fuß lange Thiere, mit weißem Gefieder, aber kupferfarben am Kopfe und oberen Theile des Halses.

[163] Im Begriff, in einer gastlicheren Zone die zu ihrer Nahrung nöthigen Wasserpflanzen und Insecten zu suchen, flogen sie auffallend schnell, denn auf dem Wasser und in der Luft sind sie gleichmäßig in ihrem Elemente. Andere Schwäne, sogenannte »Trompeter- Schwäne«, deren Schrei dem Tone eines Signalhornes ähnelt, wurden ebenfalls in großen Schwärmen bemerkt. Weiß wie die Pfeifer, hatten sie auch ungefähr deren Gestalt, aber schwarze Schnäbel und Schwimmfüße. Weder Marbre, noch Sabine waren so glücklich, einen dieser Trompeter zu erlegen, sie riefen ihnen aber ein sehr bezeichnendes »Auf Wiedersehen!« zu. Mit den ersten Frühlingswinden kommen diese Vögel nämlich in der Regel wieder und werden dann mit Leichtigkeit gefangen. Wegen ihrer Haut, ihrer Federn und ihres Flaums wird ihnen von Jägern und Indianern eifrig nachgestellt, und in ergiebigen Jahren versenden die Factoreien diese Schwäne zu Zehntausenden nach den Märkten der alten Welt, wo sie mit einer halben Guinee das Stück bezahlt werden.

Bei diesen nur wenige Stunden dauernden und zudem oft von schlechter Witterung unterbrochenen Ausflügen begegnete man auch nicht selten ganzen Banden von Wölfen. Es war nicht nöthig, deshalb weit zu gehen, da diese vom Hunger getrieben nahe genug an die Factorei herankamen. Sie besitzen einen sehr seinen Geruch und wurden von den Ausdünstungen der Küche angelockt, so daß man während der Nacht oft ihr schauerliches Geheul hörte. Wenn diese Raubthiere vereinzelt auch nicht gerade gefährlich sind, so können sie es doch durch ihre große Anzahl werden, was die Jäger nöthigte, die Umplankung des Forts niemals unbewaffnet zu überschreiten.

Auch die Bären wurden jetzt angriffslustiger. Es verging kein Tag, ohne daß sich nicht einige dieser Thiere zeigten. In der Nacht streiften sie wohl bis an die Palissadenwand heran, so daß verschiedene angeschossen wurden, deren blutige Spur dann auf dem Schnee zu finden war. Bis zum 10. October hatte aber noch keiner sein warmes und kostbares Pelzfell in den Händen der Jäger gelassen; übrigens erlaubte Jasper Hobson seinen Leuten jetzt auch noch nicht, diese gefährlichen Gesellen anzugreifen. Er hielt es für besser, ihnen gegenüber die Defensive zu bewahren, da zu erwarten stand, daß sie später der Hunger treiben werde, Fort-Esperance vielleicht unmittelbar anzugreifen. Dann wollte man ihnen natürlich gegenübertreten und sich auf jeden Fall den nöthigen Vorrath einsammeln.

[164] Einige Tage lang hielt sich das Wetter trocken und kalt. Der Schnee bot eine harte Oberfläche, welche das Gehen darauf leicht gestattete.

Man unternahm deshalb auch einige Ausflüge nach der Küste und dem Gebiete im Süden des Forts. Der Lieutenant wünschte zu erfahren, ob von den Agenten der Pelzwaaren-Gesellschaft in St. Louis, im Fall sie sein Territorium verlassen hätten, Spuren zu finden wären; doch war alles Nachsuchen vergeblich. Wahrscheinlich waren die Amerikaner nach einem südlicher gelegenen Fort abgezogen, um dort den Winter zu verbringen.

Die schönen Tage währten aber nicht allzu lange und in der ersten Woche des Novembers fiel, bei gleichzeitigem Umspringen des Windes nach Süden und merkbarem Steigen der Temperatur, außerordentlich reichlich Schnee. Tagtäglich mußten die Zugänge zum Hause mühsam gereinigt und je ein Gang nach dem Thore, dem Schuppen, dem Rennthier- und dem Hundestalle freigelegt werden. Ausflüge wurden nun seltener und waren nur unter Anwendung der sogenannten Schneeschuhe auszuführen.

Wenn die Schneedecke nämlich durch die Kälte erhärtet ist, trägt sie ja das Gewicht eines Menschen ganz sicher, und bietet dem Fuße einen festen Stützpunkt. Das Gehen ist im Allgemeinen also dadurch nicht behindert. Ist dieser Schnee aber weich, so vermöchte Niemand einen Schritt über denselben zu thun, ohne bis zum Knie einzusinken; dann eben machen die Indianer von jenen Schneeschlittschuhen Gebrauch.

Lieutenant Hobson und seine Leute waren in der Anwendung dieser »Snow-shoes« vollkommen geübt und erreichten auf dem mürben Schnee wohl die Schnelligkeit eines Schlittschuhläufers. Auch Mrs. Paulina Barnett hatte sich ja schon an dieses seltsame Schuhwerk gewöhnt, und wetteiferte bald an Geschwindigkeit mit ihren Gefährten. Derartige schnelle Spaziergänge wurden sowohl auf dem Eise des Sees, als auch an der Küste unternommen. Einige Meilen weit konnte man sich sogar auf die feste Oberfläche des Oceans hinauswagen, denn dessen Eis hatte schon eine Dicke von mehreren Fußen. Eine solche Excursion war freilich der holprigen Eisfläche wegen etwas anstrengender, denn allenthalben traf man auf über einander geschobene Schollen, mußte Spitzhügel umkreisen und hatte weiterhin die Kette von Eisbergen oder vielmehr die Schollenmauer, welche durch ihren wohl fünfhundert Fuß hohen Kamm ein unübersteigliches Hinderniß darstellte, vor sich. Diese malerisch über einander gehäuften Eisberge boten einen prächtigen Anblick.

[165] An einer Stelle glaubte man wohl die weißen Ruinen einer Stadt mit ihren Monumenten, Säulenhallen und niedergelegten Wällen vor sich zu haben; an einer anderen aber eine vulkanische Landschaft, eine Anhäufung von Eisschollen, welche ganze Bergketten mit überragenden Gipfeln, Widerlagern und Thälern, kurz, eine ganze Schweiz aus Eis bildeten! Einige spät wegziehende Vogelarten, wie die Sturmvögel und Wasserscheerer, belebten noch diese Einöde mit ihrem durchdringenden Geschrei. Große weiße Bären trotteten zwischen den Spitzhügeln, bei deren blendender Weiße sie schwer zu unterscheiden waren, umher.

Neue Eindrücke und Aufregungen fehlten der Reisenden wahrlich nicht. Die treue Madge theilte sie stets an ihrer Seite. Wie unendlich fern waren die Beiden jetzt von den Tropenzonen Indiens oder Australiens!

Mehrere Ausflüge wurden auf dem übereisten Oceane unternommen, dessen dicke Kruste ganze Artillerieparks, selbst die schwersten Denkmale getragen hätte. Bald aber erwiesen sie sich so mühselig, daß man sie endgiltig aufgeben mußte. Die Temperatur sank nämlich beträchtlich, und die kleinste Arbeit, die geringste Anstrengung verursachte Jedermann eine fast betäubende Lähmung. Auch die Augen litten jetzt von der intensiven Weiße des Schnees, und war die Rückstrahlung von derselben, welche die Ursache von so häufiger Blindheit bei den Eskimos ist, auf keinen Fall lange zu ertragen. Zudem beurtheilte man, in Folge einer eigenthümlichen Erscheinung, welche ihre Erklärung in der Brechung der Lichtstrahlen findet, Entfernungen und Tiefen nicht mehr richtig. Ost war eine Entfernung von fünf bis sechs Fuß zwischen zwei Eisstücken, die das Auge trotzdem nur auf zwei Fuß schätzte. In Folge dieser optischen Täuschung kam man auch sehr häufig und oft sehr empfindlich zum Fallen.

Am 14. October zeigte das Thermometer - 16° Celsius, eine Temperatur, welche deshalb sehr rauh war, weil sie ein starker Wind begleitete. Die Luft stach, wie mit Nadeln. Wer außerhalb des Hauses zu verweilen wagte, lief immer Gefahr, schnell den oder jenen Körpertheil zu erfrieren, wenn er die Blutcirculation in demselben durch Frictionen mit Schnee nicht eiligst wieder herzustellen suchte. Mehrere Insassen des Forts, z.B. Garry, Belcher und Hope, machten diese üble Erfahrung, kamen aber durch rechtzeitige Hilfe noch ohne dauernden Nachtheil davon.

Selbstverständlich wurde unter solchen Verhältnissen jede Handarbeit im [166] Freien unmöglich. Dazu waren die Tage in dieser Jahreszeit außerordentlich kurz; nur einige Stunden lang verweilte die Sonne über dem Horizonte, auf welche dann eine lange dauernde Dämmerung folgte. Die eigentliche Ueberwinterung, das heißt, die Beschränkung auf den geschlossenen Raum, nahte nun heran. Schon hatten die letzten Polarvögel das düsterer werdende Küstengebiet verlassen. Nur wenige Pärchen gefleckter Falken hielten noch aus, denen die Indianer auch den Namen »Wintergäste« beigelegt haben, weil sie in den Eisregionen bis zum Eintritt der eigentlichen Polarnacht ausharren. Aber auch diese mußten bald verschwinden.

Lieutenant Hobson betrieb also die Vollendung der noch nöthigen Arbeiten, das heißt, das Aufstellen von Fallen und Schlingen, mit welchen Cap Bathurst den Winter über umgeben werden sollte.

Diese Fallen bestanden im Wesentlichen aus sehr schweren Bohlenwänden, welche durch drei in Form einer 4 aufgestellte und leicht umzustoßende Holzstücke gehalten wurden. Sie waren also den Fallen, wie sie die Vogelsteller in den Feldern anwenden, ganz ähnlich, nur in vergrößertem Maßstabe ausgeführt. Das Ende des horizontalen Holzstückes trug als Köder ein Stück Wildpret, und mußte jedes mittelgroße Thier, wie ein Fuchs oder Zobelmarder, das nur mit der Tatze daran rührte, unfehlbar erschlagen werden. Ganz so sind die Fallen beschaffen, welche die berühmten Jäger, deren abenteuerliches Leben Cooper so dichterisch schildert, oft auf einem Raum von mehreren Meilen verstreut aufstellen. Rund um Fort-Esperance brachte man gegen dreißig solcher Fallen an, welche in kurzen Zwischenräumen untersucht werden sollten.

Am 12. November vermehrte sich die Colonie um ein neues Mitglied. Mrs. Mac Nap gab einem tüchtigen, wohlgestalteten Jungen das Leben, den der Meister Zimmermann stolz umherzeigte. Mrs. Paulina Barnett wurde die Pathe des kleinen Bürschchens, dem man die Vornamen »Michael Esperance« gab. Die Taufceremonie verlief mit möglichster Feierlichkeit, und zu Ehren des kleinen Wesens, das oberhalb des siebenzigsten Breitengrades das Licht der Welt erblickt hatte, wurde der ganze Tag als Festtag begangen.

Wenige Tage später, am 20. November, blieb die Sonne zum ersten Male ganz unter dem Horizonte, um nun erst nach zwei Monaten wiederzukehren. Die Polarnacht hatte ihren Anfang genommen.


Festliche Taufe. (S. 167.)
[167]
Fußnoten

1 Ein kleiner Fluß im Hyde-Park zu London.

18. Capitel
Achtzehntes Capitel.
Die Polarnacht.

Diese lange Winternacht führte sich mit einem heftigen Sturme ein. Die Kälte war vielleicht etwas minder lebhaft, aber die Atmosphäre ungemein feucht.


Zeitvertreib im dunklen Winter. (S. 171.)

Trotz aller Vorsichtsmaßregeln drang letztere in das Haus ein und jeden Morgen enthielten die Condensatoren einige Pfund Eis.

[168] Draußen wirbelte ein furchtbares Gestöber. Der Schnee fiel nicht mehr vertical, sondern nahezu horizontal. Jasper Hobson mußte das Oeffnen der Thüre vollständig untersagen, da zu befürchten war, daß der Vorraum sich sofort anfüllen möchte. Die Ueberwinterer waren nun in der That Gefangene.

Die Fensterläden wurden möglichst luftdicht verschlossen. Stets waren also die Lampen in Brand und beleuchteten die langen Stunden dieser nicht dem Schlafe gewidmeten Nacht.

[169] Wenn aber auch außerhalb des Hauses Dunkelheit herrschte, so war an die Stelle des Schweigens in dieser hohen Breite das Getöse des Sturmes getreten. Der Wind, welcher zwischen dem Hause und der Ufererhöhung hindurch fegte, erzeugte einen langen, klagenden Ton. Wenn er sich an das Wohnhaus stieß, erzitterte dieses in seinen Grundpfeilern, so daß es ihm ohne die Solidität seiner Construction schwerlich hätte Widerstand leisten können. Zum Glück brach der sich ringsum anhäufende Schnee die Gewalt seiner Stöße. Mac Nap fürchtete nur für die Rauchfänge, deren äußerer aus Kalkziegeln errichteter Theil dem Drucke leicht nachgeben könnte. Indeß auch diese widerstanden, nur mußte man ihre vom Schnee verstopften Mündungen öfter reinigen.

Mitten durch das Pfeifen des Sturmes ließ sich dann und wann auch ein eigenthümliches Krachen hören, über das Mrs. Paulina Barnett sich keine Rechenschaft geben konnte. Dasselbe rührte von dem Sturze von Eisbergen her, dessen Geräusch das Echo vervielfältigte und es dem Donner ähnlich wiedergab. Unaufhörlich drang auch eine Art Knattern, von der Verschiebung des Eisfeldes, welche die Bergstürze veranlaßten, herrührend, an das Ohr. Wohl mußte man an das Wüthen der Elemente in diesen rauhen Klimaten schon gewöhnt sein, um sich dabei nicht bedrückt und geängstigt zu fühlen. Bei Lieutenant Hobson und seinen Leuten war das schon der Fall; Mrs. Paulina Barnett und Madge härteten sich allmälig dagegen ab. Sie hatten bei ihren Reisen auch schon jene furchtbaren Stürme mit erlebt, welche über zwanzig Meilen in der Stunde durchrasen und einen Vierundzwanzigpfünder von der Stelle rücken. Hier am Cap Bathurst aber wurde ein solches Naturereigniß durch die Nacht und den Schnee noch grauenvoller. Wenn dieser Wind das Haus auch nicht zertrümmerte, so begrub er es doch, und die Befürchtung lag nicht fern, daß zwölf Stunden Sturm hinreichen würden, die ganze Ansiedelung unter einer gleichmäßigen Schneedecke einzusargen.

Während dieser Gefangenschaft kam nun das Leben im Inneren in seine Gleise. Alle die wackeren Leute verstanden sich unter einander, und dieses Zusammenleben in so engem Raume gab demnach zu keiner Belästigung oder Klage Veranlassung. Sie hatten sich ja übrigens von Fort-Reliance und Fort-Entreprise her gewöhnt, unter solchen Verhältnissen zu leben. Mrs.

[170] Paulina Barnett verwunderte sich also nicht besonders, zu sehen, wie leicht Alle zu leiten und zu behandeln waren.

Die Arbeit auf der einen, Lectüre und Spiele auf der anderen Seite nahmen jeden Augenblick in Anspruch. Die Arbeit bestand in der Anfertigung und Ausbesserung von Kleidungsstücken, der Instandhaltung der Waffen, der Verfertigung von Schuhwerk, der Abfassung des von Jasper Hobson geführten Tagebuches, welches auch die kleinsten Vorkommnisse des Winteraufenthaltes, aber auch über das Wetter, die Temperatur, die Windrichtung, die Erscheinung der in den Polargegenden so häufigen Meteore u.s.w. berichtete. Sie bestand aber auch in der Instandhaltung des Hauses selbst, der Reinigung der Zimmer, der täglichen Besichtigung der aufgespeicherten Pelzwaaren, denen die Feuchtigkeit Schaden bringen konnte; ferner in der Ueberwachung der Feuer und des Zuges in den Oefen und endlich in der unausgesetzten Jagd nach jeder Spur von Feuchtigkeit, welche sich in den Ecken ansammelte. Einem Jeden war, entsprechend den Vorschriften eines in dem großen Saale angehefteten Reglements, bei dieser Arbeit sein Theil zugewiesen. Ohne über die Maßen angestrengt zu sein, hatten die Bewohner des Forts doch stets Etwas zu thun. Während dieser Zeit zerlegte Thomas Black seine Instrumente und schraubte sie wieder zusammen, oder prüfte seine astronomischen Berechnungen; fast immer in seiner Cabine eingeschlossen, schimpfte er höchstens auf den Sturm, der ihm jede nächtliche Beobachtung raubte. Von den drei verheirateten Frauen hatte Mrs. Mac Nap mit ihrem lustig gedeihenden Säuglinge alle Hände voll zu thun, während Mrs. Joliffe mit Unterstützung der Mrs. Raë und dem unvermeidlichen »Topfgucker« von Corporal die Küchengeschäfte besorgte.

Zu gewissen Stunden, Sonntags aber den ganzen Tag über, erging man sich vereinigt in verschiedenen Zerstreuungen. Diese bestanden vor Allem in Lectüre. Die Bibel und einige Reisewerke bildeten allerdings die ganze Bibliothek des Forts, aber auch dieses Wenige genügte den wackeren Leuten. Für gewöhnlich las Mrs. Paulina Barnett zum großen Vergnügen ihrer Zuhörer vor. Die biblischen Geschichten, so wie die Reiseberichte gewannen einen ganz besonderen Reiz, wenn sie mit ihrer volltönenden, sicheren Stimme einige Capitel aus dem heiligen Buche vortrug. Die sinnbildlichen Persönlichkeiten die Helden der Legende belebten sich und traten überzeugend vor die Augen. Mit großer Befriedigung sahen Alle stets die Stunde heran [171] kommen, in der die liebenswürdige Frau ihr Buch zur Hand nehmen sollte. Sie war wirklich die Seele dieser kleinen Welt, belehrte sich und Andere, fragte um Rath und theilte solchen aus und blieb immer und überall zu einem gewünschten Dienste bereit. Sie vereinigte alle Liebe und Güte des Weibes in sich, verband sie aber mit der geistigen Energie des Mannes. Dieses Doppelwesen hatte in den Augen der rauhen Soldaten einen doppelten Werth. Sie waren ganz vernarrt in sie und hätten nicht gezaudert, ihr Leben für sie zu lassen. Es verdient auch Erwähnung, daß Mrs. Paulina Barnett die allgemeine Lebensweise in Allem theilte, sich nicht in ihrer Cabine abschloß, sondern mitten unter ihren Gefährten arbeitete und durch ihre Reden und Fragen Jedermann in die allgemeine Unterhaltung hineinzog. Nichts feierte also in Fort-Esperance, weder Hände, noch Zungen. Man arbeitete, plauderte und, was das Wichtigste ist, man befand sich wohl dabei. Bei guter Laune und vortrefflicher Gesundheit wurde man der Langeweile während dieser Einsperrung Meister.

Der Sturm schien sich gar nicht legen zu wollen. Drei Tage lang waren die Ueberwinternden schon einzig auf das Haus beschränkt, und immer noch währte das Schneetreiben mit unverminderter Heftigkeit fort. Jasper Hobson wurde unruhig. Die mit Kohlensäure überladene Atmosphäre des Hausinneren mußte nothwendig einmal erneuert werden, denn schon brannten die Lampen in der ungesunden Luft nur trübe. Man gedachte also die Luftpumpen in Betrieb zu setzen. Die Rohre fanden sich aber, wie es ja zu erwarten stand, durch Eis verstopft und functionirten nicht; sie waren auch nur für den Gebrauch in dem Falle bestimmt, daß das Haus nicht unter solchen Unmassen von Schnee vergraben lag. Jetzt war guter Rath theuer. Lieutenant Hobson berieth mit Sergeant Long die Sachlage und beschloß, am 23. November eines der Fenster der Vorderseite, welches in dem Vorraume angebracht war, zu öffnen, da der Sturmwind dort noch am wenigsten anschlug.

Es war das keine so leichte Arbeit. Der Fensterflügel schlug zwar bald nach innen auf, der Laden aber, der von hart gewordenen Eisstücken gehalten wurde, trotzte jeder Anstrengung, so daß er endlich aus den Angeln gehoben werden mußte. Hierauf griff man die Schneeschicht mit Schaufeln und Hacken an. Sie war mindestens zehn Fuß dick, machte also die Aushöhlung [172] einer Art Laufgrabens nöthig, durch welchen dann die freie Luft eindringen konnte.

Jasper Hobson, der Sergeant, einige Soldaten und selbst Mrs. Paulina Barnett wagten sich durch diesen Gang, durch welchen der Sturmwind mit ganz absonderlicher Wuth pfiff, nicht ohne große Mühe hinaus.

Welchen Anblick bot ihnen das Cap Bathurst und die nächst liegende Ebene! Es war jetzt zwar Mittagszeit, doch färbte kaum ein schwaches Dämmerlicht den südlichen Horizont. Die Kälte zeigte sich nicht so heftig, als man es hätte glauben sollen, und las man am Thermometer nur 9° unter dem Gefrierpunkte ab.

Das Schneegestöber setzte sich aber noch immer mit ganz unvergleichbarer Heftigkeit fort, und der Lieutenant, seine Leute und die Reisende wären bestimmt umgeworfen worden, hätte ihnen nicht die Schneelage, in welche sie bis zum halben Körper eingesunken waren, gegen das Ungestüm des Windes den nöthigen Halt verliehen. Zu sprechen vermochten sie nicht; ja bei dem Entgegenschlagen der Flocken, das sie halb blind machte, kaum etwas zu sehen. In weniger als einer halben Stunde wären sie wohl vollkommen überschneit gewesen. Alles rings um sie war weiß; die Umplankung überhäufelt; das Dach des Hauses verschwamm mit seinen Mauern unter einer gleichen Oberfläche, und ohne die bläulichen Rauchsäulen, welche aus den beiden Essen hinauswirbelten, hätte kein Fremder an dieser Stelle das Vorhandensein eines bewohnten Hauses auch nur geahnt.

Unter solchen Umständen war »der Spaziergang« natürlich nur sehr kurz, dennoch hatte sich die Reisende einen schnellen Ueberblick der trostlosen Scene verschafft. Nur halb hatte sie zwar diesen schneegepeitschten Polarhimmel und den arktischen Sturm in seinem ganzen Schrecken sehen können, und dennoch nahm sie bei der Rückkehr in's Haus eine unauslöschliche Erinnerung daran mit.

Die Luft im Hause war schon in wenigen Augenblicken erneuert gewesen, und die schädlichen Dünste verschwanden unter dem Einflusse der reinen belebenden Atmosphäre. Lieutenant Hobson und seine Begleiter beeilten sich, wieder Schutz zu suchen. Das Fenster wurde wieder geschlossen, doch sorgte man im Interesse der Ventilation für die tägliche Reinigung seiner Oeffnung.

Auf diese Weise verfloß die ganze Woche. Glücklicher Weise hatten [173] Rennthiere und Hunde hinreichendes Futter, so daß es unnöthig war, nach ihnen zu sehen. Acht Tage lang blieb die kleine Gesellschaft eingeschlossen. Für Leute, welche an die frische Luft gewöhnt sind, wie für Soldaten und Jäger, ist das eine sehr lange Zeit. Am Ende verlor auch das Vorlesen seinen Reiz, und das »Cribbage« 1 drohte langweilig zu werden. Immer legte man sich mit der heimlichen Hoffnung nieder, am anderen Tage den Sturm austoben zu hören, immer sah man sich getäuscht. Fortwährend lagerte sich der Schnee vor den Scheiben des Fensters ab und heulte der Wind, fortwährend krachte es mit Donnergepolter in den Eisbergen und schlug der Rauch in die Wohnräume zurück, welche unausgesetzt von Husten wiederhallten – kurz der Sturm legte sich nicht nur nicht, sondern schien sich gar nicht wieder legen zu wollen.

Am 28. November endlich zeigte das in dem großen Saale angebrachte Anerold-Barometer eine nahe Veränderung in dem Zustande der Atmosphäre an und stieg ganz bemerklich. Zu derselben Zeit fiel das außerhalb angebrachte Thermometer auch plötzlich auf 20° Celsius unter Null. Das waren untrügliche Erscheinungen. Und wirklich konnten die Bewohner von Fort-Esperance am 29. November aus der draußen herrschenden Ruhe das Ende des Unwetters bemerken.

Schnell suchte nun Jedermann hinaus zu gelangen. Die Gefangenschaft hatte lange genug gedauert. Die Thüre war nicht gangbar. Man mußte durch das Fenster klettern und es von den angehäuften Schneewehen reinigen. Jetzt galt es aber keine weiche Schneelage zu durchbrechen; im Gegentheil hatte die strenge Kälte die ganze Masse erhärtet, so daß sie nur durch Spitzhacken beseitigt werden konnte.

Das war das Werk einer halben Stunde, und bald befanden sich alle Wintergenossen, mit Ausnahme der Mrs. Mac Nap, welche noch nicht aufstand, in dem inneren Hofraume.

Die zwar strenge Kälte erschien, da der Wind sich gelegt hatte, ganz erträglich. Dennoch mußte man beim Verlassen einer geheizten Wohnung einigermaßen vorsichtig sein, um sich einem Temperaturunterschiede von vollen dreißig Graden ohne Nachtheil aussetzen zu können.

Es war acht Uhr Morgens. Vom Zenith, in dem der Polarstern leuchtete, [174] bis zum Horizonte hinab glänzten die Sternbilder in prachtvoller Klarheit. Man hätte wohl geglaubt, Millionen zählen zu können, obgleich für das unbewaffnete Auge an der ganzen Himmelskugel nur etwa 5000 deutlich unterscheidbar sind. Thomas Black gab seiner Bewunderung unverhohlen Ausdruck. Er jauchzte nach dem sternenbesäeten Firmament empor, welches kein Dunst, kein Wölkchen verhüllte. Nie breitete sich wohl ein schönerer Himmel vor dem Auge eines Astronomen aus!

Während Thomas Black in Verzückung schwelgte und gegen die Zustände auf der Erde ganz ohne Theilnahme war, begaben sich die Anderen bis nach der befestigten Umwallung hin. Zwar hatte die Schneelage die Festigkeit des Felsens, sie war aber so glatt, daß so Mancher deshalb hinfiel.

Der Hof des Forts war selbstverständlich ganz ausgefüllt. Nur das Dach des Hauses trat etwas über die weiße, vom Winde ganz horizontal abgewehte Masse hinaus. Von der Palissade ragte nur noch das Ende der Pfähle hervor und in diesem Zustande würde sie auch dem ungelenkigsten Thiere kein Hinderniß gewesen sein. Was war aber dagegen zu thun? An das Wegschaffen einer zehn Fuß dicken und harten Schneelage von einer so großen Fläche war nicht zu denken. Höchstens konnte man versuchen, die äußere Fläche frei zu legen, indem man einen Graben um dieselbe zog, dessen Gegenböschung noch zum weiteren Schutze der Palissade diente. Jetzt war der Winter aber erst im Beginnen und man mußte fürchten, daß ein wiederholter Sturm den Graben in wenigen Stunden zuschütten würde.

Als der Lieutenant die Werke besichtigte, welche dem Hauptgebäude jetzt keine weitere Deckung boten, bis einst der Sonnenstrahl diese Schneekruste schmolz, rief Mrs. Joliffe:

»Und unsere Hunde! Unsere Rennthiere!«

In der That war es nöthig, sich nun einmal um diese Thiere zu bekümmern. Das »Dog-House« und der Stall, beide niedriger als das Wohnhaus, mußten wohl vollständig überweht sein und vielleicht gar der nöthigen Luft entbehrt haben. Man eilte also, die Einen nach dem Hunde-, die Anderen nach dem Rennthierstalle, sah aber bald jede Befürchtung zerstreut. Die Eismauer, welche jetzt die nördliche Ecke des Hauses mit der Uferhöhe verband, hatte die beiden Baulichkeiten so weit geschützt, daß der Schnee um sie her nur vier Fuß hoch lag. Die in den Wänden angebrachten [175] »Lichter« waren also nicht verstopft. Man traf die Thiere ganz munter an, und sobald der Stall geöffnet wurde, sprangen die Hunde freudig bellend im Hofe umher.


Nach achttägiger Einsperrung. (S. 176.)

Nun wurde die Kälte aber doch empfindlicher, und nach einstündiger Promenade sehnte sich Jeder nach dem wohlthuenden Ofen zurück, der im großen Saale prasselte. Draußen war ja überhaupt Nichts zu thun. Die Fallen, welche sechs Fuß tief unter dem Schnee lagen, konnten für jetzt nicht [176] nachgesehen werden. Man kehrte demnach zurück. Das Fenster ward wieder geschlossen und da die Zeit des Mittagessens heran gekommen war, suchten Alle ihren Platz am Tische.

Natürlich kam das Gespräch auf die plötzliche Kälte, welche die dicke Schneeschicht so schnell fest gemacht hatte. Hierin lag der bedauerliche Umstand, daß die Sicherheit des Forts bis zu einem gewissen Punkte in Frage gestellt war.

»Aber, Herr Hobson, fragte Mrs. Paulina Barnett, dürfen wir nicht noch auf einige Tage Thauwetter rechnen, welche dieses ganze Schnee-Eis wieder in Wasser verwandeln?

– Nein, Madame, antwortete der Lieutenant. Thauwetter zu dieser Jahreszeit ist nicht wahrscheinlich. Ich glaube vielmehr, daß die Kälte bald zunehmen wird, und es ist zu bedauern, daß wir diesen Schnee nicht, als er noch weich war, fortschaffen konnten.

– Wie? Sie glauben, daß die Temperatur noch beträchtlich herabgehen werde?

– Ohne Zweifel, Madame. Was wollen denn zwanzig Grad unter dem Gefrierpunkte in so hoher Breite bedeuten?

– Wie würde sich aber das gestalten, wenn wir am Pole selbst wären, fragte die Reisende.

– Der Pol, Madame, ist höchst wahrscheinlich nicht der kälteste Punkt der Erdkugel, da alle Seefahrer dort ein freies Meer voraussetzen. Die niedrigste Mitteltemperatur scheint vielmehr, in Folge gewisser geographischer und hydrographischer Einflüsse, an einem unter 95° der Länge und 70° nördlicher Breite gelegenen Punkte, das wäre also an der Küste von Nord-Georgia, zu herrschen. Dort soll die Mitteltemperatur des Jahres 19° Celsius unter dem Gefrierpunkte betragen. Es ist dieser Punkt auch unter dem Namen des ›Kältepols‹ allgemein bekannt.

– Von diesem Punkte, Herr Hobson, erwiderte die Reisende, sind wir aber um acht Längengrade entfernt.

– Gewiß, antwortete der Lieutenant, und ich hoffe auch, daß wir am Cap Bathurst nicht ebenso hart daran kommen werden, wie es in Nord-Georgia der Fall sein müßte. Von dem Kältepole spreche ich Ihnen aber, um einer Verwechselung mit dem wirklichen Pole vorzubeugen, wenn es sich um das Herabgehen der Luftwärme handelt. Merken Sie sich übrigens, daß [177] auch an anderen Punkten der Erdkugel oft eine sehr bedeutende Kälte beobachtet worden ist, nur war diese dann nie so anhaltend.

– Und wo, Herr Hobson? fragte Mrs. Paulina Barnett. Ich versichere Ihnen, daß mich gerade jetzt die Kälte ganz besonders interessirt.

– So weit ich mich entsinne, antwortete Lieutenant Hobson, haben Polar-Seefahrer bestätigt, daß die Temperatur auf der Insel Melville, bis auf - 51° und bis - 53° Celsius am Port Felix herabgegangen ist.

– Liegen diese Insel Melville und der Port Felix nicht unter noch höherer Breite, als Cap Bathurst?

– Gewiß, Madame, aber bis zu einer gewissen Grenzlinie ist die Breitenlage ohne erheblichen Einfluß. Es genügt schon die Zusammenwirkung gewisser atmosphärischer Verhältnisse, um sehr heftige Kälte zu erzeugen. Trügt mich mein Gedächtniß nicht, so beobachteten wir im Jahre 1845 ... Sergeant Long, waren Sie jener Zeit nicht in Fort-Reliance?

– Zu Befehl, Herr Lieutenant, antwortete Long.

– Nun hatten wir im Januar eben dieses Jahres nicht eine ganz außergewöhnliche Kälte?

– Ja wohl, bestätigte der Sergeant, ich erinnere mich mit Bestimmtheit, daß das Thermometer 50°,7 unter Null zeigte.

– Was? rief Mrs. Paulina Barnett, über fünfzig Grad Kälte und das bei Fort-Reliance an dem großen Sklaven-See?

– So ist es, Madame, fuhr der Lieutenant fort, und nur bei einer Breite von fünfundsechzig Graden, in derselben Polhöhe, wie etwa Christiania oder St. Petersburg.

– Dann, Herr Hobson, werden wir auf Alles gefaßt sein müssen.

– Gewiß, wenn man in diesen arktischen Ländern den Winter zubringt, auf Alles!«

Am 29. und 30. November nahm der Frost nicht ab, und mußte man in den Oefen fortwährend ein tüchtiges Feuer unterhalten, sonst würde sich die Luftfeuchtigkeit in Ecken und Winkeln bald in Form von Eis abgelagert haben. Brennmaterial war jedoch in Ueberfluß vorhanden, und man schonte es deshalb auch nicht. Trotz der strengen Kälte im Freien wurde die Wärme im Inneren stets auf + 10° Celsius gehalten.

Ungeachtet der so niedrigen Temperatur wollte Thomas Black, den der klare Himmel verlockte, Sternbeobachtungen vornehmen. Er hoffte von den[178] glänzenden Gestirnen, die um den Zenith kreisten, den oder jenen in zwei aufzulösen; doch mußte er auf jede Beobachtung verzichten. Die Instrumente »brannten« ihm in den Händen.

Brennen ist das einzige Wort, welches die durch einen metallischen und so starker Kälte ausgesetzten Körper hervorgebrachte Empfindung verdeutlichen kann. Im physikalischen Sinne ist die Erscheinung auch ganz die nämliche, der Eindruck ist derselbe, ob ein brennender Körper der Haut plötzlich hohe Wärmegrade zuführt, oder ein eiskalter Körper sie ihr eben so schnell entführt. Der würdige Gelehrte erkannte das recht handgreiflich, als die Haut seiner Finger an dem metallenen Rohre hängen blieb. Sofort stellte er dann seine Beobachtungen ein.

Der Himmel entschädigte ihn aber reichlich durch das unbeschreiblich schöne Schauspiel seiner prachtvollsten Erscheinungen, erst der Paraselene und dann eines glühenden Nordlichtes.

Die Paraselene oder der Mondhof bildet rings um den Mond einen weißen, röthlich-bleich geränderten Kreis. Dieser Lichtabschnitt, welcher von der Brechung der Lichtstrahlen durch kleine, in der Atmosphäre schwebende Eiskrystalle herrührt, zeigte einen Durchmesser von etwa fünfundvierzig Graden. In der Mitte dieses Kranzes leuchtete das Gestirn der Nacht im lebhaftesten Glanze.

Fünfzehn Stunden später flammte über dem nördlichen Horizonte ein prächtiges Nordlicht auf, welches einen Bogen von mehr als hundert geographischen Graden einnahm. Der Gipfel des Bogens schien über dem magnetischen Meridiane zu stehen, auch war das Meteor, wie es dann und wann beobachtet wird, mit allen Farben des Prismas, unter welchen sich die rothe allerdings besonders geltend machte, geschmückt. An gewissen Stellen des Himmels erschienen die Sterne wie in Blut getaucht. Von der Nebelschicht, welche am Horizonte lagerte und den Kern der Erscheinung ausmachte, schossen manchmal Gluthstrahlen aus, die zum Theil den Zenith überschritten und den Mond erbleichen ließen, wenn er unter diese elektrischen Wellen tauchte. Diese Strahlenbündel erzitterten, als ob ein Luftstrom ihre Moleküle bewegte. Keine Beschreibung vermöchte die unerhörte Pracht dieses »Glorienscheines« wieder zu geben, welcher den Nordpol der Erde in vollem Glanze umrahmte. Dann verlöschte nach etwa einer halben Stunde, ohne daß es sich verkleinert oder concentrirt hätte, ja ohne eine auch nur theilweise [179] Verminderung seines Lichtscheines, das glänzende Meteor ganz plötzlich, als habe eine unsichtbare Hand die Elektricitätsquellen, von denen es sich nährte, mit einem Schlage verschlossen.

Für Thomas Black war es die höchste Zeit. Noch kurze fünf Minuten, und der eifrige Astronom wäre auf der Stelle angefroren.

Fußnoten

1 Ein in England sehr verbreitetes Kartenspiel.

19. Capitel
Neunzehntes Capitel
Ein Besuch in der Nachbarschaft.

Am 2. December erfolgte ein Abschlag der Kälte. Die Erscheinung des Mondhofes war ein Zeichen, welches ein Meteorolog nicht hätte mißverstehen können. Sie verrieth das Vorhandensein einer gewissen Menge Feuchtigkeit in der Luft, und wirklich fiel die Barometersäule auch zu der nämlichen Zeit, als sich die Thermometersäule bis auf - 9° Celsius hob.

In gemäßigten Zonen wäre diese Kälte noch für sehr streng gehalten worden; Leute, wie die unserigen, ertrugen sie sehr bequem. Dazu war der Luftkreis ruhig. Da Lieutenant Hobson die Beobachtung gemacht hatte, daß die oberen Schneeschichten wieder mürber geworden waren, so ordnete er die Reinigung der äußeren Wand der Umplankung an. Mac Nap und seine Werkleute griffen die Arbeit muthig an und führten sie auch binnen wenigen Tagen glücklich zu Ende. Zu gleicher Zeit legte man auch die vom Schnee überdeckten Fallen wieder frei und stellte sie von Neuem auf.

Zahlreiche Spuren wiesen darauf hin, daß Pelzthiere sich in der Umgebung des Forts ansammelten, und da ihnen der Erdboden kein Futter lieferte, so mußten sie durch die Lockspeisen der Fallen leicht gefangen werden.

Auf den Rath des Jägers Marbre errichtete man auch eine Rennthiergrube nach Art der Eskimos. Diese besteht aus einem zehn Fuß im Durchmesser haltenden und zwölf Fuß tiefen Loche. Eine schaukelartig angebrachte Planke, welche sich durch ihr eigenes Gewicht wieder aufrichtet, lag darüber [180] hin. Ließ sich das Thier von den am Ende der Planke hingestreuten Kräutern verlocken, so stürzte es sicher in die Grube, aus der es nicht wieder heraus kam.

Man sieht, daß sich diese Falle durch Anwendung der Schaukel selbstthätig wieder einstellte und daß sich auf diese Weise mehrere Rennthiere nach einander fangen konnten. Bei Errichtung seiner Falle fürchtete Marbre keine andere Schwierigkeit, als die, einen sehr harten Boden aufgraben zu müssen; aber er – und Jasper Hobson nicht minder – war höchlichst erstaunt, daß seine Hacke nach Beseitigung einer vier bis fünf Fuß messenden Erd- und Sandschicht wieder eine felsenfeste Schneelage antraf, welche von beträchtlicher Stärke zu sein schien.

»Nothwendiger Weise, sagte der Lieutenant nach Betrachtung dieses Ergebnisses, muß dieser Küstenstrich, wahrscheinlich vor sehr vielen Jahren, einer ganz außerordentlichen Kälte ausgesetzt gewesen sein, und das auch eine sehr lange Zeit hindurch. Später hat dann Sand und Erde diese Eisschicht, welche höchst wahrscheinlich auf einem Bette von Granit ruht, überdeckt.

– Das mag sein, Herr Lieutenant, antwortete der Jäger, für unsere Fallgrube ist es aber gar nicht schädlich. Im Gegentheil werden die Rennthiere darin eine sehr glatte Wand ohne jeden Anhaltepunkt vorfinden.«

Marbre hatte Recht, und die Zukunft bestätigte seine Voraussicht.

Als Sabine und er am 5. December nach der Grube gegangen waren, hörten sie ein dumpfes Brummen daraus hervor kommen. Sie hielten an.

»Das ist aber kein Rennthierschrei, sagte Marbre; das Thier, welches sich da drinnen gefangen hat, könnte ich wohl nennen.

– Ein Bär? fragte Sabine.

– Ja, nickte Marbre, dessen Augen freudig erglänzten.

– Nun, meinte Sabine, bei solchem Tausche werden wir nichts einbüßen. Ein Beefsteak vom Bären ist wohl so viel werth, wie ein solches vom Rennthier, und das Fell haben wir obendrein! Vorwärts denn!«

Die beiden Jäger waren bewaffnet. Sie luden noch eine Kugel auf ihre schon mit Hagel geladenen Gewehre, und begaben sich nach der Grube. Die Schaukel war wieder an richtiger Stelle, aber der Köder war verschwunden, und wahrscheinlich mit in die Grube hinabgefallen. Das Brummen wurde lauter; ohne Zweifel rührte es von einem Bären her. In einer Ecke der [181] Grube hockte eine gigantische Masse, ein wahres Pack von weißem Pelze das in dem Dunkel kaum zu erkennen war, aber in dessen Mitte zwei funkelnde Augen leuchteten. Die Wände der Grube erschienen von Tatzenschlägen zerkratzt, und hätte sich der Bär, wenn sie nur aus Erde bestanden, gewiß einen Ausweg in's Freie verschafft. Auf dieser gleitenden Fläche aber vermochten seine Tatzen nicht zu haften, und wenn er sein Gefängniß sich auch ein wenig erweitert hatte, so hatte er mindestens nicht daraus entweichen können.

Jetzt bot es also keine Schwierigkeit, sich des Riesen zu bemächtigen. Von zwei Kugel getroffen, sank er auf dem Grunde der Grube zusammen, und bestand das größte Stück Arbeit darin, ihn heraus zu ziehen. Die beiden Jäger kehrten nach der Factorei zurück, um sich Unterstützung zu holen. Etwa zehn ihrer Genossen folgten ihnen mit Stricken belastet nach der Grube, aus der das große Thier auch dann nur mühsam herauf zu bringen war. Es war ein riesiges Exemplar von sechs Fuß Höhe und mindestens sechshundert Pfund Gewicht, das eine ungeheure Stärke besessen haben mußte. Durch seinen platten Kopf, den länglichen Körper, die kurzen und wenig eingebogenen Krallen, die seine Schnauze und das vollkommen weiße Fell gehörte es zu der Unterart der sogenannten Weißen Bären. Die eßbaren Theile des Kolosses wurden in Mrs. Joliffe's Hände sorgfältig abgeliefert, und figurirten bei der Mahlzeit an diesem Tage als hauptsächlichstes Fleischgericht.

In der folgenden Woche lieferten die Fallen noch so manchen Fang. Man erbeutete gegen zwanzig Zobelmarder, deren Winterfell jetzt am schönsten war, jedoch nur zwei bis drei Füchse. Diese schlauen Thiere witterten wohl die ausgelegten Köder, gewöhnlich aber höhlten sie den Erdboden unter und neben der Falle auf, gelangten auf diese Weise zur Lockspeise und wußten sich dann unter der über ihnen zugeschlagenen Falle wegzustehlen. Sabine brachte diese Erfahrung ganz außer sich, und der Jäger erklärte eine solche Ausflucht für »ganz unwürdig eines anständigen Fuchses!«

Am 10. December war der Wind nach Südwesten umgesprungen; wieder fiel Schnee, aber nicht in großen Flocken. Es war ein seiner, nicht sehr reichlicher Schnee, der sich aber sofort zu Eis umwandelte, gleichzeitig auch eine tüchtige Kälte, und diese bei steifem Winde kaum zu ertragen. Man mußte sich demnach von Neuem kaserniren und die Stubenarbeiten wieder vornehmen [182] Der Vorsicht halber vertheilte Jasper Hobson an seine Leute Kalkpastillen und Citronensaft, da die anhaltende feuchte Kälte deren Gebrauch räthlich erscheinen ließ. Uebrigens war bisher noch bei keinem Inwohner von Fort-Esperance nur ein einziges Zeichen von Scorbut aufgetreten. Dank den getroffenen hygienischen Vorsichtsmaßregeln erlitt die allgemeine Gesundheit keinerlei Störung.

Jetzt war es tiefe Polarnacht. Das Winter-Solstitium rückte heran, das heißt, die Zeit, in der das Tagesgestirn am tiefsten unter den Horizont der nördlichen Erdhälfte taucht. Bei dieser mitternächtlichen Dunkelheit färbte sich zu Mittag der südliche Horizont nur mit etwas helleren Farbentönen. Das ganze Gebiet machte vollkommen den Eindruck tiefster Trauer, als es die Schatten so allseitig umrahmten.

Einige Tage verbrachte man in der gemeinschaftlichen Wohnung. Wegen eines Ueberfalls durch wilde Thiere war Jasper Hobson beruhigter, seitdem die Außenseite der Umplankung von Schnee gereinigt war. Ein Glück war es auch zu nennen, denn oft ließ sich bis in das Haus hinein ein dumpfes Brummen vernehmen, über dessen Natur man gar nicht in Zweifel sein konnte. Ein unwillkommener Besuch indianischer oder canadischer Jäger war zu dieser Jahreszeit nicht zu erwarten.

Da trug sich ein Ereigniß zu, eine Unterbrechung der langen und langweiligen Durchwinterung, welches bewies, daß diese Einöden selbst im tiefsten Winter von Menschen nicht ganz verlassen sind. Auf der Jagd nach Walrossen und sich mit Lagerstätten unter dem Schnee begnügend, durchstreiften menschliche Wesen diesen Küstenstrich.


Ein Polarbär aus der Rennthierfalle. (S. 182.)

Sie gehörten zur Race der »rohen Fisch-Esser« 1, welche sich im ganzen Norden Amerikas auf sehr verschiedenen Punkten vorfinden, wenigstens in der ganzen Breite von der Bassins-Bai bis nach der Beh rings-Straße, während der Sklaven-See etwa ihre Grenze im Süden darstellt.

Am Morgen des 14. Decembers, oder vielmehr um neun Uhr Vormittags, als Sergeant Long von einem Ausflug nach der Küste heimkam, schloß er seinen dem Lieutenant abgestatteten Bericht mit den Worten, daß, wenn seine Augen ihn nicht getäuscht haben sollten, ein nomadisirender Stamm etwa [183] vier Meilen von dem Fort entfernt, nahe einem kleinen Cap, welches die Küste dort bildete, sein Lager aufgeschlagen haben müsse.

»Und was für Nomaden sind es? fragte Jasper Hobson.

– Entweder Menschen oder – Walrosse, antwortete der Sergeant, denn ein Mittelglied dazwischen giebt es doch nicht.«

Der wackere Sergeant würde wohl nicht wenig erstaunt gewesen sein, hätte man ihm mitgetheilt, daß gewisse Naturforscher allerdings jenes ihm [184] unbekannte »Mittelglied« angenommen haben. Denn wirklich betrachten einige Gelehrte, mehr oder weniger im Scherz, die Eskimos »als eine zwischen dem Menschen und dem Seekalbe rangirende Race.«

Lieutenant Hobson, Mrs. Paulina Barnett, Madge und einige Andere machten sich sofort auf, die Anwesenheit dieser Besucher sicherer zu ergründen. In warmer Verhüllung, und gegen plötzlich eintretenden härteren Frost wohl geschützt, mit Flinten und Aexten bewaffnet und mit Pelzstiefeln versehen, da [185] sie damit bequem über die Eiskruste des Schnees gehen konnten, verließen sie das äußere Thor und folgten dem Ufer, dessen Linie jetzt durch angeschobene Schollen nicht überall klar erkennbar war.


Wie Eskimos aus ihrem Hause treten. (S. 186.)

Der Mond, welcher zur Zeit im letzten Viertel stand, warf durch die Dünste am Himmel nur ein unsicheres Licht über das Eisfeld. Nach einer Stunde Wegs glaubte der Lieutenant schon annehmen zu müssen, daß sein Sergeant sich getäuscht, oder wirklich nur Walrosse gesehen habe, die durch die Oeffnungen, welche sie sich im Eise stets offen zu erhalten wissen, schon wieder in ihr Element zurückgekehrt seien.

Der Sergeant wies aber auf einen graublauen aus einer conischen Erhöhung noch einige hundert Schritte von ihnen aufsteigenden Rauch und sagte ganz gelassen:

»Da ist auch Rauch von den Walrossen!«

In demselben Augenblicke verließen einige lebende Wesen auf dem Schnee kriechend die Hütte. Es waren Eskimos; ob aber Männer oder Frauen, das hätte nur ein Stammesgenosse sagen können, so wenig unterschieden sie sich in der Kleidung.

Und in Wahrheit glaubte man, ohne damit im Geringsten der Anschauung oben erwähnter Naturforscher beizutreten, zottige, behaarte Amphibien vor sich zu haben. Jene waren ihrer sechs, vier größere und zwei kleine, breitschulterig, aber von geringer Größe, mit platter Nase, die Augen unter buschigen Brauen versteckt, mit großem Munde, dicken Lippen, langem, schwarzem, ungeordnetem Haare und bartlosem Gesicht. Als Kleidung trugen sie einen runden Ueberrock aus Walroßsell, Kapuzen, Stiefeln und Fausthandschuhe aus dem nämlichen Stoffe. Diese halbwilden Wesen näherten sich den Europäern und sahen sie schweigend an.

»Versteht Niemand die Sprache der Eskimos?« fragte Jasper Hobson seine Begleiter.

Niemand kannte dieses Idiom, aber plötzlich ließ sich eine Stimme vernehmen, welche eine Begrüßung in englischer Sprache darbrachte.

»Welcome! Welcome!« erklang es von einem Eskimo, oder, wie man bald erfuhr, von einer Eskimodin, welche auf Mrs. Paulina Barnett zuging und diese auch durch eine Handbewegung grüßte.

Die erstaunte Reisende erwiderte einige Worte, welche die Eingeborene [186] leicht zu verstehen schien, weshalb man die Familie einlud, den Europäern nach dem Fort zu folgen.

Die Eskimos schienen einander durch Blicke zu fragen; nach einigen Augenblicken des Zögerns begleiteten sie aber in geschlossener Gruppe den Lieutenant.

Als man an der Umplankung ankam, rief die Eingeborene beim Anblick des Hauses, dessen Vorhandensein sie gar nicht vermuthet hatte:

»House! House! Snow-house?« (Haus! Haus! Schneehaus?)

Zu dieser Frage war sie wohl nicht unberechtigt, denn die Wohnung verschwand jetzt fast vollständig unter der weißen Masse, welche die Erde bedeckte. Man gab ihr zu verstehen, daß es sich um ein hölzernes Haus handele. Die Eskimodin sprach hierauf einige Worte zu ihren Genossen, welche mit einem Zeichen der Zustimmung antworteten. Alle traten nun durch das äußere Thor ein, und in kurzer Zeit waren sie in den großen Saal eingeführt.

Erst als sie dort die Kapuzen zurückschlugen, konnte man die Geschlechter unterscheiden. Es waren zwei Männer von vierzig bis fünfzig Jahren, mit rothgelbem Teint, spitzigen Zähnen und hervortretenden Backenknochen, was ihnen eine entfernte Aehnlichkeit mit Raubthieren verlieh. Zwei Frauen in jugendlicherem Alter trugen die Haare geflochten und mit Zähnen und Krallen des Polarbären verziert. Endlich waren zwei fünf- bis sechsjährige Kinder dabei, arme Wesen, aber mit munterem Gesichtsausdruck, welche Alles mit großen Augen anstaunten.

»Da man annehmen muß, begann Jasper Hobson, daß die Eskimos immer Hunger haben, so denke ich, wird ihnen ein Stück Wildpret nicht unwillkommen sein.«

Corporal Joliffe schaffte also einige Stücken Rennthierfleisch herbei, auf welche sich die armen Menschen mit wahrhaft thierischer Begierde stürzten.

Nur die junge, der englischen Sprache etwas mächtige Eingeborene zeigte eine gewisse Zurückhaltung, und hatte die Augen immer auf Mrs. Paulina Barnett und die anderen Frauen der Factorei geheftet. Als sie dann Mrs. Mac Nap's kleines Kind bemerkte, das diese auf den Armen trug, erhob sie sich, lief zu diesem hin, flüsterte ihm mit schmeichelnder Stimme zu, und herzte es auf die artigste Weise.

Sie schien überhaupt, wenn sie nicht über ihren Gefährten stand, [187] civilisirter zu sein als diese; man bemerkte es vorzüglich, als sie bei einem leichten Hustenanfall, ganz entsprechend den Grundregeln gesellschaftlicher Bildung, die Hand vor den Mund hielt.

Es entging das auch Niemandem. Mrs. Paulina Barnett, welche sich unter Anwendung der gebräuchlichsten englischen Worte mit der jungen Eskimofrau unterhielt, erfuhr bald, daß dieselbe früher ein Jahr lang bei dem dänischen Gouverneur in Uppernawik, dessen Gattin eine geborene Engländerin war, in Diensten gestanden hatte. Später hatte sie Grönland wieder verlassen, um ihrer Familie in die Jagdgebiete zu folgen. Die beiden Männer waren ihre Brüder. Die andere Frau war mit Einem derselben verheiratet, also ihre Schwägerin; dieser gehörten auch die beiden Kinder. Alle kamen von der an der Ostküste des britischen Amerika liegenden Insel Melbourne und waren auf dem Wege nach der Barrow-Spitze, im Westen gelegen und zu Nord-Georgia im russischen Amerika gehörig, wo auch ihr Stamm wohnte. Sie erstaunten nicht wenig, am Cap Bathurst eine Factorei errichtet zu finden. Die beiden Eskimos schüttelten sogar mit dem Kopfe, als sie das Etablissement sahen. Mißbilligten sie den Bau eines Forts an diesem Küstenpunkte? Fanden sie die Oertlichkeit nicht gut gewählt? Trotz seiner Geduld gelang es Lieutenant Hobson nicht, Jene zur Kundgebung ihrer Ansicht hierüber zu veranlassen, oder mindestens verstand er ihre Antworten nicht.

Die junge Eskimodin, welche Kalumah hieß, schien sich der Mrs. Paulina Barnett schnell freundschaftlich anzuschließen. Ungeachtet ihres geselligen Wesens sehnte sie sich jedoch nicht nach ihrer bei dem Gouverneur von Uppernawik inne gehabten Stellung zurück, sondern schien sehr ihrer Familie anzuhängen.

Nachdem sie sich gestärkt und eine halbe Pinte Branntwein, von dem auch die Kinder einige Schlucke bekamen, redlich unter einander getheilt hatten, nahmen die Eskimos von ihren Wirthen Abschied. Bevor sie aber weggingen, lud die junge Eingeborene die Reisende ein, sie in ihrer Schneehütte zu besuchen. Mrs. Paulina Barnett versprach, wenn die Witterung nicht zu ungünstig wäre, am folgenden Tage zu kommen.

Wirklich begab sich am anderen Tage Mrs. Paulina in Begleitung von Madge, dem Lieutenant Hobson und einigen – nicht wegen jener armen Leute, aber für den Fall, daß etwa Bären an der Küste herumlungern[188] sollten, – bewaffneten Soldaten nach dem Cap Eskimo, welchen Namen man der Stelle, an der sich das Lager der Eingeborenen befand, zugetheilt hatte.

Kalumah lief ihrer Freundin vom Tage vorher entgegen und wies ihr mit einer gewissen Selbstbefriedigung ihre Hütte. Diese bestand aus einem umfangreichen Kegel aus Schnee, hatte am obersten Punkte eine enge Oeffnung, die zum Austritte des Rauches diente, und in diesem Schneehaufen hatten die Eskimos ihre vorübergehende Wohnung ausgehöhlt. Die »Snowhouses«, welche sie mit großer Geschwindigkeit herzustellen verstehen, heißen in der Landessprache »Igloo«. Dem Klima sind sie ganz vorzüglich angepaßt und ihre Bewohner ertragen darin, selbst ohne Feuer und ohne zu viel davon zu leiden, eine Kälte von 40° unter Null. Den Sommer über lagern die Eskimos unter Zelten aus Rennthier- oder Robbenfellen, welche den Namen »Tubic« führen.

In diese Hütte einzudringen, war keine so leichte Arbeit. Einen Eingang besaß sie nur dicht am Erdboden, durch welchen man, wie durch einen drei bis vier Fuß langen Gang, dessen Länge die Dicke der Wände darstellte, kriechend schlüpfen mußte. Doch eine Reisende von Profession, die ein Diplom der Königlichen Geographischen Gesellschaft besaß, konnte das nicht aufhalten. Gefolgt von Madge schob sich Mrs. Paulina Barnett hinter der jungen Eingeborenen her in den engen Schlauch. Lieutenant Hobson und seine Leute verzichteten auf diesen Besuch.

Auch Mrs. Paulina Barnett kam bald zu dem Einsehen, daß es noch nicht die schwierigste Aufgabe war, in diese Schneehütte zu gelangen, sondern erst, darin zu verweilen. Die Atmosphäre, welche durch einen offenen Herd, auf dem Walroßtheile verbrannt wurden, erwärmt, und von den Ausdünstungen einer rußenden Thranlampe ebenso, wie durch die der Kleider und des die Hauptnahrungsmittel bildenden Amphibienfleisches erfüllt wurde, – diese Atmosphäre war wirklich erstickend. Madge konnte sich nicht darin aufhalten und kroch sogleich wieder hinaus. Mrs. Paulina Barnett bewies, um die junge Eingeborene nicht zu kränken, einen ganz übermenschlichen Muth und verlängerte ihren Besuch bis auf fünf Minuten, – fünf Ewigkeiten für sie! Anwesend waren die beiden Kinder und deren Mutter, während die Männer vier bis fünf Meilen weit zur Walroßjagd ausgezogen waren.

[189] Als Mrs. Paulina Barnett einmal aus der Hütte wieder heraus war, sog sie die kalte Außenluft, welche ihr erst wieder Farbe gab, mit einer wahren Wollust ein.

»Nun, Madame, fragte sie der Lieutenant, was sagen Sie von diesen Eskimo-Wohnungen?

– Daß der Luftwechsel darin Etwas zu wünschen läßt«, erwiderte einfach die Reisende.

Acht Tage lang blieb jene interessante Familie an der nämlichen Stelle wohnen. Von je vierundzwanzig Stunden verbrachten die beiden Eskimos zwölf mit der Jagd auf Walrosse. Sie lauerten jenen Amphibien mit einer ihnen ganz eigenthümlichen Geduld am Rande der Oeffnungen, durch welche jene öfters auftauchen, um Athem zu schöpfen, auf. Zeigte sich nun ein Walroß, so wurde ihm eine Schlinge um die Brustflossen geworfen, mittels welcher die beiden Eingeborenen das Thier mit großer Mühe auf das Eis herausbugsirten und es mit Axthieben tödteten. Eigentlich war das Verfahren mehr ein Fischfang, als eine Jagd zu nennen. Das größte Vergnügen bestand dann darin, das Blut dieser Amphibien zu trinken, was die Eskimos mit größter Vorliebe thun.

Trotz der Kälte kam Kalumah tagtäglich nach Fort-Esperance. Sie fand ein großes Vergnügen daran, die einzelnen Räume zu durchlaufen, oder sah der Nadelarbeit zu und folgte Mrs. Joliffe's Thätigkeit in der Küche bis in's Einzelnste. Von jedem Gegenstande wollte sie den englischen Namen wissen und plauderte ganze Stunden lang mit Mrs. Paulina Barnett, wenn man »plaudern« einen Gedankenaustausch nennen kann, für den die Worte auf beiden Seiten nur mühsam gefunden wurden. Wenn die Reisende laut vorlas, hörte ihr Kalumah mit größter Aufmerksamkeit zu, obwohl sie gewiß kaum eine Sylbe davon verstand.

Kalumah sang auch mit weicher Stimme Lieder mit eigenthümlichem Rhythmus, Lieder, aus denen man die Kälte und das Eis, die ganze Melancholie des Nordens herausfühlte. Mrs. Paulina Barnett hatte sich die Mühe genommen, eine dieser grönländischen »Sagas« zu übersetzen, eine treffende Probe hochnordischer Poesie, welcher eine traurige Melodie, die von Pausen unterbrochen und in wunderlichen Intervallen fortgesetzt wurde, einen unbeschreibbaren Reiz verlieh. Wir geben hier eine möglichst getreue deutsche Uebertragung aus dem Album der Reisenden.

[190] Grönländisches Lied.
Am Himmel ist Nacht!
Kaum streift ein schwacher Sonnenstrahl
Das Erdenthal!
Nur ich halte Wacht,
In meinem Herzen allzumal
Des Zweifels Qual.
Das schöne Kind verlacht mein zärtliches Liebeslied-
Ob denn ein Eisberg wohl ihr Herzchen überzieht?
Du Engelsgestalt,
Von Deiner Lieb leb' ich hier,
Berauscht von ihr.
Des Sturmes Gewalt
Trotzt' ich um einen Blick von Dir,
O, send' ihn mir!
Mein heißer Kuß schmilzt nicht mit seiner Liebesgluth
Den Schnee, der kalt und dicht auf Deinem Herzen ruht!
O gieb, daß geschwind
Auch Deine Seele endlich sich
Anschließ' an mich.
Und morgen, mein Kind,
Wenn meine Hand nach Deiner schlich,
Dann schenk' mir Dich.
Die Sonne glänzt gewiß viel schöner Dir als Braut,
Hat nur die Lieb' einmal Dein Herzchen aufgethaut!

Am 20. December kam die Eskimo-Familie nach Fort-Esperance, um von dessen Bewohnern Abschied zu nehmen. Kalumah hatte sich an die Reisende sehr innig angeschlossen, und diese hätte sie gerne bei sich behalten; die junge Eingeborene brachte es aber nicht über sich, die Ihrigen zu verlassen; doch versprach sie, im Laufe des kommenden Sommers nach Fort-Es perance zurück zu kehren.

Der Abschied war rührend. Sie ließ Mrs. Paulina Barnett einen kupfernen Ring zum Andenken, und erhielt dafür ein Halsband von schwarzem Gagath, mit dem sie sich auf der Stelle schmückte.


Beim Abschied der fremden Gäste. (S. 188.)

Jasper [191] Hobson ließ die armen Leute nicht ohne einen tüchtigen Vorrath von Lebensmitteln, den man auf ihre Schlitten lud, davongehen, und nach einigen Dankesworten Kalumah's verschwand die interessante Familie auf ihrem Zuge nach Westen in dem dicken Nebel der Küste.


»Das ist noch schöner, als ein Nordlicht!« (S. 195.)
[192]
Fußnoten

1 Uebersetzung des Wortes Eskimo.

20. Capitel
Zwanzigstes Capitel.
Das Quecksilber gefriert.

Noch einige Tage begünstigte das trockene und ruhige Wetter die Jäger; vom Fort entfernten sie sich aber niemals weit. Der Ueberfluß an Wild gestattete ihnen übrigens auch, sich mit einem beschränkten Raume zu begnügen.

[193] Lieutenant Hobson konnte sich also nur Glück wünschen, sein Etablissement an einer so günstigen Stelle des Landes begründet zu haben. Die Trapper erbeuteten eine große Anzahl Pelzthiere aller Art. Sabine und Marbre tödteten eine beträchtliche Menge Polarhasen. Einige zwanzig hungerige Wölfe wurden geschossen. Diese Raubthiere waren sehr angriffslustig und zu Heerden vereinigt erfüllte ihr Bellen die Luft in der Umgebung des Forts. Auf der Seite des Eisfeldes passirten zwischen den Spitzhügeln häufig große Bären, deren Annäherung sorgsam überwacht wurde.

Am 25. December mußte wiederum jeder Ausflug aufgegeben werden. Der Wind sprang nach Norden um, und die Kälte wurde äußerst heftig; man konnte nicht in der freien Luft verweilen, ohne Gefahr zu laufen, sofort zu erfrieren. Das Thermometer fiel bis auf -28° Celsius. Wie ein Kartätschenhagel blies der Wind. Bevor sich aber Alle verkrochen, trug Jasper Hobson Sorge, daß den Zugthieren genügend Futter zu Theil wurde, um einige Wochen damit auszudauern.

Der 25. December war ja Weihnachten, dieses den Engländern so theure häusliche Fest. Es wurde mit aller religiösen Andacht gefeiert. Die Ueberwinternden dankten der Vorsehung, daß dieselbe sie bis hierher bewahrt hatte; dann fanden sich die Werkleute, nachdem sie den ganzen Christtag gefeiert hatten, zu einem splendiden Mahle zusammen, bei dem auch zwei gewaltige Puddings nicht fehlten.

Am Abend dampfte ein Punsch mitten zwischen den Gläsern. Die Lampen wurden verlöscht, und der nur durch die bleichen Flammen des Branntweins erhellte Saal gewann ein phantastisches Ansehen. Schon bei den zitternden Reflexen wurden alle diese braven Soldaten munter, was durch die Vertilgung des heißen Gebräues nur noch zunehmen sollte.

Darauf wurden die Flammen kleiner, sprangen noch wie bläuliche Irrlichter um das nationale Gebäck herum, und verloschen endlich.

Da, o Wunder, trotzdem daß die Lampen noch nicht wieder angezündet waren, wurde doch der Saal nicht dunkel. Ein lebhaftes Licht drang durch die Fenster, welches vorher zu sehen nur die Lampen verhindert hatten. Erschrocken sprangen Alle auf und sahen sich an.

»Eine Feuersbrunst!« riefen Einige.

Wenn das Haus aber nicht selbst brannte, so konnte in der Nachbarschaft des Cap Bathurst keine Feuersbrunst ausbrechen.

[194] Der Lieutenant stürzte an das Fenster und erkannte bald die Ursache des Wiederscheins; sie bestand in einer vulkanischen Eruption.

In der That stand westlich von dem steilen Ufer, jenseits der Walroß-Bai, der Horizont in Flammen. Den Gipfel der feuerspeienden Berge, welche etwa fünfundzwanzig Meilen von Cap Bathurst entfernt waren, konnte man allerdings nicht erkennen, die Flammengarbe aber, welche zu bedeutender Höhe aufstieg, erhellte die ganze Umgegend mit ihren Farbenreflexen.

»Das ist noch schöner als ein Nordlicht!« rief Mrs. Paulina Barnett.

Thomas Black widersprach dem; wie konnte ein Erdenphänomen schöner als eine Himmelserscheinung sein!

Doch anstatt dieses Thema zu besprechen, verließen Alle, trotz der heftigen Kälte und des scharfen Nordostwindes, den Saal, um das Schauspiel dieser funkensprühenden Flammengarbe zu bewundern, die sich glänzend von dem dunkeln Himmel abhob.

Hätten Jasper Hobson und seine männlichen und weiblichen Begleiter nicht Mund und Ohren dick in Pelze verhüllt gehabt, so hätten sie das dumpfe Geräusch hören müssen, das von der Eruption ausging, und hätten einander den Eindruck mittheilen können, den dieses wahrhaft erhabene Schauspiel auf sie machte. Aber so, wie sie vermummt waren, konnten sie weder hören, noch reden, und mußten sich mit dem Sehen begnügen. Und welch' imposanter Anblick bot sich da ihren Augen! Welche Erinnerung ihrem Geiste! Zwischen der tiefen Dunkelheit des Firmamentes und dem ungeheuren weißen Schneeteppich brachte das Aufleuchten der vulkanischen Flammen Effecte hervor, welche keine Feder und kein Pinsel zu schildern vermögen. Bis über den Zenith hinaus erstreckte sich der helle Wiederschein, der nach und nach alle Sterne verlöschte. Der weiße Erdboden war dabei in goldene Tinten gekleidet. Die Spitzhügel des Eisfeldes und, weiter rückwärts, die ungeheuren Eisberge, warfen, wie ebenso viele glänzende Spiegel, die verschiedensten Lichter zurück. An allen Ecken und Kanten brachen und spiegelten sich diese Lichtbündel, und die verschieden geneigten Flächen sendeten sie mit lebhafterem Glanze und in neuen Farben weiter. Es war ein wahrhaft magischer Strahlenkampf; man hätte eine ungeheure Eisdecoration aus einer Feerie vor sich zu haben geglaubt, die eigens für dieses Fest des Lichtes hergestellt wäre.

[195] Bald zwang die Kälte die Zuschauer freilich, in ihre warmen Wohnräume zurück zu kehren, und manche Nase mußte dieses Vergnügen theuer bezahlen, das die Augen bei einer solchen Temperatur nur sehr zum Nachtheil jener genossen hatten.

In den folgenden Tagen verdoppelte sich die Kälte. Es war zu befürchten, daß das Quecksilberthermometer nicht mehr ausreichen werde, die Grade derselben anzugeben, so daß man zu einem Alkoholthermometer würde greifen müssen. Wirklich ging die Quecksilbersäule in der Nacht vom 28. zum 29. December bis auf - 37° herunter.

Fast wurden die Oefen durch Feuermaterial erstickt, und doch gelang es nicht, die Temperatur im Innern über - 7° zu erhöhen. Bis in die Zimmer herein litt man von der Kälte, und in einem Umkreise von zehn Fuß um den Ofen war von Wärme überhaupt nichts mehr zu fühlen. Den besten Platz räumte man dem kleinen Kinde ein, dessen Wiege von Denen, welche sich nach und nach dem Feuerherde näherten, in Gang gehalten wurde. Fenster oder Thüren zu öffnen, wurde ein für alle Mal verboten, denn der in dem Saale aufgehäufte Dampf hätte sich dabei sofort in Schnee verwandelt. Der menschliche Athem brachte in dem Vorraume schon einen ähnlichen Effect hervor. Von allen Seiten hörte man ein kurzes Krachen, welches Personen, die an die Erscheinungen dieser Klimate nicht gewöhnt waren, erschreckte, und von den Baumstämmen, die die Wände des Hauses bildeten, herrührte, indem sie unter dem Einflusse der Kälte sprangen. Die Vorräthe an Liqueuren, Branntwein und Gin, welche auf dem Boden untergebracht waren, mußten in den allgemeinen Saal herunter geholt werden, denn aller Weingeist dieser Flüssigkeiten concentrirte sich am Grunde der Flaschen in Form eines Kernes. Das aus Tannensprossen hergestellte Bier zersprengte beim Gefrieren die Gefäße. Alle festen Körper widerstanden dem Einfluß der Wärme, als wären sie versteinert. Selbst das Holz brannte nur schwer, und Jasper Hobson mußte deshalb eine ansehnliche Menge Walroßfett opfern, um eine lebhaftere Verbrennung zu erzielen. Zum Glück zogen die Kamine sehr gut und verhinderten das Uebertreten irgend welchen schlechten Geruches in's Innere. Draußen aber mußte sich Fort-Esperance schon weithin durch den scharfen, unangenehmen Geruch des Rauches verrathen, und verdiente unter die gesundheitswidrigen Etablissements gezählt zu werden.

[196] Als bemerkenswerthes Symptom stellte sich in dieser ungeheuren Kälte bei Jedermann ein brennender Durst ein. Um diesen zu löschen mußte man aber alle Flüssigkeiten erst am Feuer aufthauen, denn in ihrer Form als Eis waren sie nicht zu vertragen. Eine andere Erscheinung, gegen welche Lieutenant Hobson sei nen Genossen anzukämpfen empfahl, war eine sonderbare Schlafsucht, deren Einige nicht Herr zu werden vermochten. Mrs. Paulina Barnett, die immer munter war, wirkte durch ihre Rathschläge, ihre Unterhaltung, ihr Ab- und Zugehen, durch das eigene Beispiel, und ermuthigte alle Uebrigen. Oefter las sie aus einem Reisewerke vor oder sang einige alte englische Lieder, die von Allen im Chore wiederholt wurden. Diese Gesänge weckten wohl oder übel die Eingeschlafenen wieder, welche dann auch ihrerseits bald mit einstimmten. So verrannen die langen Tage unter vollständiger Einschließung, und wenn Jasper Hobson durch die Scheiben nach dem außerhalb angebrachten Thermometer sah, fand er nur, daß die Kälte noch immer zunahm. Am 31. December war das Quecksilber in der Kugel des Instrumentes vollständig gefroren. Es war demnach eine Temperatur von mehr als 42° unter Null.

Am anderen Tage, am 1. Januar 1860, brachte Lieutenant Jasper Hobson der Mrs. Paulina Barnett seine Glückwünchse zum neuen Jahre dar und sprach ihr seine Anerkennung über den Muth und den guten Humor aus, mit welchen sie sich allen Strapazen unterzog. Dieselben Glückwünsche richtete er auch an den Astronomen, welcher aber in dem Neujahrstage Nichts als den Wechsel der Jahreszahl 1859 gegen 1860 sah, d.h. des Jahres, in welchem seine hochwichtige Sonnenfinsterniß stattfinden sollte. Zwischen allen Mitgliedern dieser kleinen Colonie, welche bis jetzt noch so einig und, Gott sei Dank, auch so vollkommen gesund geblieben waren, wurden herzliche Wünsche ausgetauscht. Hatten sich bei Einzelnen auch einige Vorzeichen von Scorbut gezeigt, so waren diese doch immer der rechtzeitigen Anwendung von Limoniensaft und Kalkpastillen gewichen.

Immerhin durfte man sich nicht zu zeitig freuen! Die schlechte Jahreszeit sollte ja noch drei Monate währen. Die Sonne mußte zwar bald wieder über dem Horizonte erscheinen, aber damit war nicht gesagt, daß auch die Kälte nun auch ihr Maximum erreicht haben müsse, und gewöhnlich tritt sogar in allen hochnördlichen Gegenden die stärkste Temperatur-Erniedrigung erst im Februar ein. Jedenfalls nahm die Kälte in den ersten Tagen des [197] neuen Jahres nicht ab, und am 6. Januar zeigte das vor dem Fenster des Vorzimmers angebrachte Thermometer eine Kälte von 52° an. Noch einige Grade, und die im Jahre 1835 in Fort-Reliance beobachteten Temperatur-Minima waren erreicht, wenn nicht überschritten!

Die andauernde Kälte von solcher Heftigkeit beunruhigte Jasper Hobson mehr und mehr. Er fürchtete, daß die Pelzthiere gezwungen sein möchten, im Süden ein minder strenges Klima aufzusuchen, was seinen Absichten bezüglich der Jagden im kommen den Frühlinge sehr entgegen gewesen wäre.

Außerdem vernahm er durch die Erdschichten hindurch öfter ein dumpfes Rollen, das offenbar mit der vulkanischen Eruption zusammen hing. Der nördliche Horizont erschien fortwährend von dem Feuer aus der Erde erleuchtet, und gewiß vollzog sich jetzt in diesen Gegenden der Erdkugel eine furchtbare plutonische Arbeit. Konnte diese Nachbarschaft eines Vulkanes nicht für die neue Factorei gefährlich sein? Das ging Lieutenant Hobson immer durch den Kopf, wenn er dieses unterirdische Grollen vernahm, doch behielt er jene zunächst noch grundlosen Befürchtungen für sich.

Selbstverständlich dachte bei so enormer Kälte Niemand daran, das Haus zu verlassen. Hunde und Rennthiere waren reichlich versorgt; diese an ein langes Fasten während der Winterszeit gewöhnten Thiere nahmen auch seitens ihrer Herren keine Dienste in Anspruch. Es war also gar kein Grund vorhanden, sich der Strenge der Atmosphäre auszusetzen, und wohl schon genug, eine Temperatur auszuhalten, welche auch die Verbrennung von Holz und Fett kaum erträglich machte. Aller Vorsicht ungeachtet sammelte sich endlich doch Feuchtigkeit in dem gar nicht gelüfteten Raume an und schlug sich an den Balken als glänzende, von Tag zu Tag an Stärke zunehmende Schicht nieder. Die Condensatoren waren verstopft, und einer derselben sprang sogar unter dem Drucke des gefrierenden Wassers.

Unter solchen Verhältnissen dachte Lieutenant Hobson gar nicht daran, das Brennmaterial zu schonen. Er verschwendete es sogar, um die Temperatur etwas zu heben, welche, sobald die Feuer sich nur ein wenig minderten, bis auf - 9° herab ging. Alle Wachthabenden, welche sich von Stunde zu Stunde ablösten, hatten Befehl, wirklich zu wachen und die Feuer gut zu unterhalten.

»Das Holz wird uns bald ausgehen, sagte da eines Tages Sergeant Long zum Lieutenant.

[198] – Was? Uns ausgehen? rief Jasper Hobson.

– Ich will sagen, daß der Vorrath im Hause sich bald erschöpfen könnte, und daß wir uns aus dem Schuppen werden mit neuem versehen müssen. Ich weiß aber aus Erfahrung, daß man, wenn man sich bei dieser Kälte an die Luft wagt, auch das Leben auf das Spiel setzt.

– Ja, erwiderte der Lieutenant, es ist ein Fehler, den wir begangen haben, den Schuppen nicht im Anschluß an das Haus zu bauen. Ich bemerke das jetzt etwas spät und durfte es eigentlich, wenn wir über dem siebenzigsten Breitengrade überwintern wollten, nicht vergessen. Indeß, was geschehen ist, ist geschehen. Sagen Sie mir, Long, wie viel Holz haben wir noch im Hause?

– Höchstens so viel, um die Oefen noch zwei bis drei Tage heizen zu können, antwortete der Sergeant.

– Hoffen wir, versetzte Lieutenant Jasper Hobson, daß sich die Temperatur bis dahin ermäßigt hat, und daß wir ohne Gefahr über den Hof gehen können.

– Daran zweifle ich, Herr Lieutenant, sagte Sergeant Long, den Kopf schüttelnd. Der Himmel ist klar, der Wind hält sich nördlich, und ich würde mich nicht wundern, wenn diese Kälte noch vierzehn Tage, d.h. bis zum Neumond anhielte.

– Nun, mein wackerer Long, entgegnete der Lieutenant, vor Kälte werden wir nicht umkommen, und wird es nöthig, sich ihr auszusetzen ...

– So wird es geschehen, Herr Lieutenant«, schloß Sergeant Long. Jasper Hobson drückte dem Sergeanten, dessen Ergebung ihm bekannt war, die Hand.

Man konnte glauben, daß Jasper Hobson und Sergeant Long übertrieben, als sie die plötzliche Einwirkung einer solchen Kälte für hinreichend ansahen, den Tod zu veranlassen. Doch stand ihnen, die an das herbe Polarklima gewöhnt waren, eine lange Erfahrung zur Seite. Sie hatten kräftige Menschen, die sich unter ähnlichen Umständen hinaus gewagt hatten, wie vom Schlage getroffen niederstürzen sehen; der Athem war ihnen ausgegangen und man hatte sie todt gefunden. Diese Thatsachen sind, so unglaublich sie scheinen, bei verschiedenen Durchwinterungen bestätigt worden. Gelegentlich ihrer Reise an der Küste der Hudsons-Bai im Jahre 1746 haben William Moor und Smith mehrere Fälle der Art erlebt, und einige ihrer Begleiter, [199] die von der Kälte wie vom Blitze getroffen waren, dabei verloren. Unbestreitbar heißt es sich einem plötzlichen Tode aussetzen, wenn man einer Temperatur trotzen will, deren Intensität die Quecksilbersäule nicht mehr zu messen vermag.

So war die beunruhigende Lage der Insassen des Fort-Esperance, als ein unerwarteter Zufall diese noch verschlimmern sollte.

21. Capitel
Einundzwanzigstes Capitel.
Die großen Polarbären.

Das einzige der vier Fenster, welches nach dem Hofe ging und dessen Läden man nicht geschlossen hatte, war dasjenige, welches sich am Ende des Vorraumes befand. Um aber durch die mit einer dicken Eiskruste bedeckten Scheiben sehen zu können, mußte man dieselben vorher mit siedendem Wasser abwaschen. Das wurde auch auf des Lieutenants Befehl mehrere Male des Tages vorgenommen, und wenn man dann die Umgebung des Cap Bathurst in's Auge faßte, beobachtete man auch gleichzeitig den Zustand des Himmels und den Stand des draußen angebrachten Thermometers.

Am 6. Januar, gegen elf Uhr Morgens, rief da der Soldat Kellet, der gerade mit der Beobachtung betraut war, schnell den Sergeanten und zeigte auf unerkennbare Massen, die sich im Schatten durcheinander bewegten.

Sergeant Long, der sich dem Fenster genähert hatte, sagte einfach:

»Das sind Bären!«

Wirklich waren ein halbes Dutzend solcher Thiere in den mit Palissaden umschlossenen Raum eingebrochen und drangen, von dem Geruche des Rauches angelockt, gegen das Haus vor.


Die Belagerer auf dem Dache. (S. 203.)

Jasper Hobson gab, sobald er von der Anwesenheit dieser furchtbaren Raubthiere unterrichtet war, den Befehl, das Fenster des Vorzimmers von Innen zu verbarrikadiren. Es bot dieses den einzig gangbaren Zugang, [200] und war nur diese Oeffnung verschlossen, so schien es unmöglich, daß die Bären bis in das Haus dringen könnten. Das Fenster wurde demnach mit dicken Balken, die der Zimmermann Mac Nap nach Möglichkeit einpaßte, so verschlossen, daß eine enge Oeffnung blieb, durch welche man das Benehmen der unbequemen Gäste zu beobachten vermochte.

»Nun, sagte der Meister Zimmermann, sollen die Herren ohne unsere Erlaubniß nicht eintreten. Wir haben also Zeit, Kriegsrath zu halten.

[201] – Nicht wahr, Herr Hobson, meinte Mrs. Paulina Barnett, nun wird unserer Ueberwinterung Nichts gefehlt haben; nach dem Froste die Bären!

– Nein, nicht ›nach‹, antwortete Lieutenant Hobson, sondern, was viel mehr in's Gewicht fällt, ›während‹ des Frostes, und das eines Frostes, der uns einen Ausfall unmöglich macht. Ich weiß wirklich kaum, wie wir uns von diesen Bestien befreien sollen.

– Ich denke, sie sollen die Geduld verlieren, entgegnete die Reisende, und dann werden sie wieder davon gehen, wie sie gekommen sind.«

Jasper Hobson schüttelte den Kopf, als ob er nicht ganz überzeugt sei.

»Sie kennen diese Thiere nicht, Madame, erwiderte er. Der strenge Winter hat sie hungerig gemacht, und wenn man sie nicht dazu zwingt, werden sie den Platz nicht räumen.

– Sind Sie darüber unruhig, Herr Hobson? fragte Mrs. Paulina Barnett.

– Ja und nein, antwortete Lieutenant Hobson, ich weiß wohl, daß diese Bären nicht bis in das Haus kommen werden, aber ich weiß auch nicht, wie wir hinaus kommen sollen, wenn das einmal nöthig würde!«

Jasper Hobson kehrte wieder zum Fenster zurück. Unterdessen hatte Mrs. Paulina Barnett und die anderen Frauen den Sergeant Long umringt und lauschten dem braven Soldaten, der die »Frage von den Bären« wie ein Mann von Erfahrung abhandelte. Ost hatte Sergeant Long mit diesem Gesindel, dem man häufig selbst in südlicheren Gebieten begegnet, zu thun gehabt, aber immer unter Bedingungen, die es gestatteten, dasselbe mit Aussicht auf Erfolg anzugreifen; hier aber waren die Belagerten blokirt und überdies verhinderte der Frost jeden Ausfall.

Den ganzen Tag lang überwachte man aufmerksam das Hin- und Herlaufen der Bären. Von Zeit zu Zeit kam Einer oder der Andere näher an das Fenster, so daß sein dumpfes, zorniges Brummen zu hören war.

Lieutenant Hobson und der Sergeant hielten Rath und beschlossen, daß man, wenn die Bären den Platz nicht verlassen sollten, einige Schießscharten in den Mauern des Hauses anbringen wollte, um sie mit Flintenschüssen zu vertreiben. Doch kam man auch überein, ein bis zwei Tage zu warten, denn Lieutenant Hobson scheute sich, zwischen der freien Luft und der schon so niedrigen des Zimmers eine directe Verbindung herzustellen.

[202] Das Walroßfett, welches man in die Oefen einführte, war schon zu so festen Stücken gefroren, daß man es mit der Axt zerkleinern mußte.

Der Tag verlief ohne weitere Zufälle. Die Bären kamen und gingen, liefen rund um das Haus, versuchten aber keinen directen Angriff. Man wachte die ganze Nacht, und gegen vier Uhr Morgens konnte man glauben, daß die Angreifer den Hof verlassen hätten, wenigstens zeigten sie sich nirgends. Um sieben Uhr hatte sich Marbre nach dem Boden verfügt, um einige Provisionen zu holen, kam aber sogleich zurück, da die Bären auf dem Dache des Hauses umher marschirten.

Jasper Hobson, der Sergeant, Mac Nap und zwei oder drei andere Soldaten ergriffen ihre Waffen und stürzten auf die Treppe im Vorraume, die mittels einer Fallthüre mit dem Boden in Verbindung stand. In diesem Bodenraume war aber eine derartige Kälte, daß Lieutenant Hobson und seine Genossen schon nach wenig Minuten den Lauf ihrer Flinten nicht mehr mit der Hand anfassen konnten. Die durch ihre Respiration erzeugte feuchte Luft fiel rings um sie als Schnee nieder.

Marbre hatte sich nicht getäuscht, die Bären hatten das Dach des Hauses erstiegen. Man hörte sie laufen und brummen. Manchmal schlugen sie mit den Tatzen durch die Eiskruste und kratzten an den Planken des Daches, dessen Durchbrechen man bei der Kraft dieser Thiere wohl befürchten mußte.

Der Lieutenant und seine Leute, welche die unerträgliche Kälte fast betäubte, stiegen wieder hinab. Jasper Hobson berichtete die Sachlage.

»Augenblicklich, sagte er, sind die Bären auf dem Dache. Das ist ein böser Umstand. Dennoch haben wir deshalb noch Nichts für uns zu fürchten. Denn in die Zimmer werden die Thiere nicht eindringen können. Zu fürchten ist jedoch, daß sie in den Dachboden gelangen und die Felle auffressen, welche dort aufgespeichert sind. Diese Waaren gehören aber der Compagnie, und unsere Pflicht ist, sie unversehrt zu erhalten. Ich erwarte also von Euch, meine Freunde, daß Ihr mir helft, dieselben in Sicherheit zu bringen.«

Sofort theilten sich alle Begleiter des Lieutenants in kleine Trupps, die Einen im Saale, die Anderen in der Küche, in dem Vorzimmer, auf der Treppe, und zwei oder drei, die sich ablösten – denn unausgesetzt hätte Niemand diese Arbeit ertragen –, trotzten der Kälte des Bodenraumes, und [203] in weniger als einer Stunde waren die gesammten Pelzwaaren in dem Saale selbst untergebracht.

Während dieser Operation setzten die Bären ihre Versuche fort und suchten die Dachsparren abzuheben. An einigen Stellen sah man, wie sich die Bretter unter ihrer Last bogen. Meister Mac Nap war sehr unruhig darüber. Bei der Construction des Daches hatte er auf eine solche Belastung freilich nicht gerechnet, und er fürchtete, daß es dieselbe nicht aushalten würde. Der Tag verging indessen, ohne daß die Angreifer in den Bodenraum eingedrungen wären. Aber ein nicht minder furchtbarer Feind drang nach und nach in die Räume ein – die Kälte. Die Feuer in den Oefen ließen nach. Der Vorrath an Brennmaterial war fast erschöpft. Noch vor Verlauf von zwölf Stunden mußte das letzte Stückchen Holz verzehrt sein und der Ofen verlöschen.

Das war aber gleich mit dem Tode, dem furchtbarsten, dem Tode durch den Frost. Schon umringten die armen Menschen, dicht an einander gedrückt, den erkaltenden Ofen und fühlten, wie auch ihre eigene Wärme allmälig verschwand. Und doch beklagten sie sich nicht. Selbst die Frauen ertrugen diese Qualen wie Helden. Krampfhaft drückte Mrs. Mac Nap ihr kleines Kind an die kalte Brust. Einige der Soldaten schliefen, oder träumten vielmehr in düsterer Betäubung, die kein Schlaf zu nennen war.

Um drei Uhr Morgens sah Jasper Hobson nach dem im Inneren des großen Saales an der Mauer und zehn Fuß vom Ofen angebrachten Thermometer – dieser zeigte 20° unter Null.

Der Lieutenant preßte seine Hände vor die Stirn und blickte auf seine Begleiter, welche eine gedrängte und schweigende Gruppe bildeten; so verharrte er einige Augenblicke unbeweglich. Der halb niedergeschlagene Dunst seines Athems umgab ihn mit einer weißen Wolke.

Da legte sich eine Hand auf seine Schulter; schnell wendete er sich um. Mrs. Paulina Barnett stand vor ihm.

»Etwas muß nun geschehen, Herr Lieutenant, sagte die energische Frau, ohne uns zu wehren, können wir so nicht sterben!

– Ja, antwortete der Lieutenant, der auch in sich die moralische Energie wieder erwachen fühlte, Etwas muß nun geschehen!«

Der Lieutenant rief den Sergeant Long, Mac Nap und Raë, den Schmied, d.h. die muthigsten Männer seiner Gesellschaft. Begleitet von [204] Mrs. Paulina Barnett begaben sie sich nach dem Fenster, und dort befragten sie durch die mit siedendem Wasser abgewaschenen Scheiben das draußen befindliche Thermometer.

»Vierzig Grad unter Null, rief Hobson. – Meine Freunde, jetzt haben wir nur zwischen zwei Wegen zu wählen: entweder wir setzen unser Leben daran, um neues Brennmaterial zu holen, oder wir verbrennen die Bänke, Bettstellen, Scheidewände, überhaupt Alles, was aus diesem Hause unsere Oefen ernähren kann. Das ist aber ein äußerstes Hilfsmittel, denn die Kälte kann noch länger andauern, und jetzt läßt noch Nichts einen Witterungswechsel voraussehen.

– Wir wagen das Erstere!« antwortete Sergeant Long.

Seine beiden Kameraden waren derselben Meinung.

Kein weiteres Wort wurde gewechselt, und Jedermann machte sich demgemäß an's Werk.

Um das Leben Derjenigen, welche sich für das Allgemeine anfopferten, möglichst zu schützen, beschloß man folgende Maßregeln zu ergreifen:

Der Schuppen, welcher das Holz enthielt, befand sich etwa fünfzig Fuß hinter dem Hauptgebäude zur Linken. Einer der Männer sollte diesen Schuppen im Laufen zu erreichen suchen. Um seinen Leib sollte ein langer Strick geschlungen werden, an dem noch ein anderer angeschlossen war, dessen Ende von den Händen seiner Genossen gehalten wurde. War er einmal in dem Schuppen angekommen, so sollte er auf einen der in dem Schuppen untergebrachten Schlitten eine Ladung Holz werfen, dann das Ende des einen Strickes an das Vordertheil des Schlittens befestigen, um diesen bis an das Haus heran ziehen zu können, während er das andere Ende an dem Hintertheil anbrachte, um das Gefährt an demselben wieder nach dem Schuppen zurück zu ziehen. Damit wäre eine Verbindung zwischen Haus und Schuppen hergestellt gewesen, mittelst der man ohne große Gefahr genügend Holzvorräthe heranlootsen konnte. Ein Zug an dem einen oder dem anderen Ende des Seiles sollte anzeigen, ob der Schlitten entweder in der Remise beladen, oder in dem Hause entladen wäre.

Der Plan war ganz klug erdacht, doch an zwei Umständen konnte er scheitern. Einmal konnte die von Eis verstopfte Thüre des Schuppens zu schwierig zu öffnen sein, und dann war auch zu befürchten, daß die Bären das Dach verlassen und im Hofe umher streifen könnten.

[205] Sergeant Long, Mac Nap und Raë erboten sich alle Drei zu dem Wagstück. Der Sergeant bemerkte aber, daß seine beiden Kameraden verheiratet wären, und bestand darauf, persönlich den Versuch zu machen. Zu dem Lieutenant, der auch das Abenteuer bestehen wollte, sagte Mrs. Barnett:

»Herr Jasper, Sie sind unser Chef, Ihr Leben ist uns nöthig und Sie haben kein Recht, es auf das Spiel zu setzen. Herr Jasper, lassen Sie den Sergeant Long gewähren.«

Jasper Hobson begriff die Pflichten, welche die Sachlage ihm auferlegte, und zur Entscheidung zwischen den Anderen berufen, entschied er für Sergeant Long. Mrs. Paulina Barnett drückte dem braven Long die Hand.

Die anderen Bewohner des Forts schenkten, da sie eingeschlafen oder halb erstarrt waren, dem Versuche, den man eben zu machen im Begriff war, keinerlei Aufmerksamkeit.

Zwei lange Seile wurden zurecht gemacht, das eine wickelte der Sergeant um seinen Körper, über die dicken Pelze, mit welchen er bekleidet war und in denen er einen Werth von mehreren tausend Pfund Sterling auf dem Rücken trug. Das andere befestigte er an den Gürtel, an dem auch ein Seitengewehr und ein Revolver hing. Bevor er sich an sein Wagniß begab, trank er noch ein halbes Maaß Branntwein, was er »einen guten Schluck Brennmaterial zu sich nehmen« nannte.

Jasper Hobson, Long, Raë und Mac Nap verließen hierauf den allgemeinen Saal. Sie gingen durch die Küche, deren Ofen ebenfalls dem Verlöschen nahe war, und gelangten in den Corridor. Von dort aus öffnete Raë die Fallthüre zum Bodenraume und überzeugte sich, daß die Bären noch immer auf dem Dache waren. Jetzt galt es also zu handeln.

Die innere Thüre des Vorraumes wurde geöffnet. Jasper Hobson und seine Genossen fühlten, wie ihnen trotz der dicken Pelze die Kälte bis in's Mark drang. Dann stießen sie die äußere Thüre, welche direct nach dem Hofe führte, auf – dem Ersticken nahe taumelten sie einige Schritte zurück. Sofort condensirte sich der im Vorzimmer noch befindliche Wasserdunst, und seiner Schnee fiel rings an den Wänden nieder.

Draußen war das Wetter außerordentlich trocken und die Sterne blitzten in ungewöhnlichem Glanze.

Ohne einen Augenblick zu zaudern begab sich Sergeant Long in die Dunkelheit hinaus und zog im Laufen das eine Ende des Seiles mit, dessen [206] anderes in den Händen seiner Gefährten verblieb. Hierauf wurde die äußere Thüre gegen das Simswerk zurück geschlagen und Jasper Hobson trat einstweilen mit den Uebrigen in den Gang zurück, dessen zweite Thüre sie möglichst hermetisch verschlossen. Dann warteten sie. Kam Long nicht schon in den ersten Minuten zurück, so durften sie annehmen, daß sein Vorhaben geglückt sei, daß er in den Schuppen gelangt und dort die erste Ladung Holz zurecht mache. Zehn Minuten durften hierzu wohl hinreichen, wenn ihm sonst gelungen war, die Thüre des Magazins zu öffnen.

Die Männer zogen sich also abwartend vor der Kälte möglichst zurück, während Raë den Bodenraum und die Bären im Auge behielt. Bei der finsteren Nacht war zu hoffen, daß Letzteren der schnell über den Hof eilende Sergeant entronnen wäre.

Zehn Minuten nach Long's Weggang traten Jasper Hobson, Mac Nap und Raë wieder in den Vorraum zwischen den beiden Thüren, um das Signal, den Schlitten heranzuziehen, zu erwarten.

Noch fünf Minuten verstrichen; das Seil, dessen Ende sie in der Hand hielten, blieb unbeweglich. Wer malt sich ihre Angst aus! Schon seit einer Viertelstunde war der Sergeant hinaus gegangen, eine Zeit, die mehr als hinreichend war, den Schlitten einmal zu beladen, und noch hatte er kein Zeichen gegeben.

Noch einige Augenblicke wartete Jasper Hobson, da holte er das Ende des Seiles heran und bedeutete seine Leute, mit daran zu ziehen.

War die Holzladung noch immer nicht fertig, so würde der Sergeant schon ihrem Zuge Widerstand zu leisten wissen.

Beim kräftigen Anziehen bewegte sich ein schwerer Gegenstand gleitend über den Boden. In wenig Augenblicken kam derselbe bis zur äußeren Thür ... es war der Körper des Sergeanten, den sie am Gürtel herangezogen hatten. Der unglückliche Long hatte den Schuppen gar nicht erreicht, sondern war unterwegs wie vom Blitz getroffen zusammengestürzt. Da er gegen zwanzig Minuten dieser wahrhaft unerträglichen Temperatur ausgesetzt gewesen war, mußte man fürchten, nur seinen Leichnam gerettet zu haben.

Mac Nap und Raë stießen einen Schrei des Entsetzens aus und schleppten den Körper in den Corridor; als aber der Lieutenant eben die äußere Thüre wieder schließen wollte, fühlte er, wie sie mächtig zurückgestoßen wurde. Zugleich ließ sich ein schreckliches Brummen vernehmen.


Sergeant Long vor dem Verlassen des Hauses. (S. 206.)

»Zu Hilfe!« rief Jasper Hobson.

Mac Nap und Raë eilten zu ihm hin; noch eine andere Person kam ihnen zuvor, das war Mrs. Paulina Barnett, welche ihre Kräfte mit denen des Lieutenants vereinigte, um die Thüre zu schließen. Das schreckli [207] che Thier legte sich aber mit der ganzen Wucht seines Körpers dagegen, drückte sie langsam zurück und wäre offenbar in den Gang eingedrungen ...


Wie Mrs. Barnett einen ungebetenen Gast empfängt. (S. 208.)

Da ergriff Mrs. Paulina Barnett eine der Pistolen, welche in Jasper [208] Hobson's Gürtel staken, wartete kaltblütig den Augenblick ab, bis sich der Kopf des Thieres zwischen Thür und Pfoste zeigte, und schoß demselben geschickt in den schon geöffneten Rachen.

Der Bär fiel rückwärts nieder; die Thüre wurde schnell geschlossen und durch Barrikaden bestens verwahrt.

Sofort wurde jetzt der Körper des Sergeanten nach dem Saale geschafft und dort nahe dem Ofen hingestreckt. Doch schon verloschen die letzten [209] Kohlen! Wie sollte man nun den Bedauernswerthen zum Leben zurückrufen, von dem kein Anzeichen mehr vorhanden zu sein schien?

»Ich, ich werde gehen, rief da der Schmied Raë, ich hole Holz, oder ...

– Ja, Raë, ließ sich da eine Stimme neben ihm vernehmen, wir gehen zusammen!«

Die muthige Frau war es, welche also sprach.

»Nein, meine Freunde, nein! fiel da Jasper Hobson ein, Ihr entgingt weder der Kälte, noch den Bären. Jetzt wollen wir Alles verbrennen, was hier brennen kann, und dann helfe uns Gott!«

Sofort machten sich die armen halb Erfrorenen, mit der Axt in der Hand, alle an's Werk, um Tische und Bänke, Zwischenwände und alles nur Mögliche zu demoliren, zu zerbrechen und in Stücke zu zerschlagen. Bald loderte denn auch in dem Stuben- und dem Küchenofen ein lustiges Feuer, welches durch eine Zugabe von Walroßfett noch lebhafter gemacht wurde. Die Temperatur des Raumes stieg dabei etwa um ein Dutzend Grade.

Jetzt verwendete man auch jede Sorgfalt auf Long, der mit warmem Branntwein gerieben wurde, wodurch der Blutumlauf in ihm sich langsam wieder herstellte. Die weißlichen Frostflecken, welche sein Körper da und dort zeigte, verschwanden allmälig; der unglückliche Long hatte aber grausam gelitten, und so verliefen mehrere Stunden, ehe er wieder Worte finden konnte. Er wurde in ein warmes Bett gelegt, an dem Mrs. Paulina Barnett und Madge bis zum anderen Tage wachten.

Inzwischen suchten Jasper Hobson, Mac Nap und Raë nach einem Mittel, sich aus der immer bedenklicheren Situation zu ziehen. Es lag auf der Hand, daß das neue aus dem Hause selbst gewonnene Brennmaterial höchstens in zwei Tagen zu Ende gehen würde. Was sollte dann, wenn die Kälte im Gleichen fortdauerte, aus Allen werden? Seit achtundvierzig Stunden war zwar Sturmwind, doch keine Witterungsänderung hatte sich damit vollzogen. Mit eisigem Hauche pfiff der Nordwind über das Land. Das Barometer stand immer auf »schön und trocken«, und aus diesem Erdboden, der ja nur ein ungeheures Eisfeld darstellte, konnten keine Wasserdünste aufsteigen. Es war demnach zu befürchten, daß die Kälte unverändert fortdauern werde. Was war aber dann zu thun? Sollte man einen weiteren Versuch wagen, bis zu der Holzkammer zu dringen, was dann, [210] nachdem die Bären einmal aufmerksam gemacht waren, nur um so schwieriger sein mußte. Konnte man den Thieren im freien Felde entgegen treten? Nein, das wäre ein thörichtes Unternehmen gewesen, welches den Untergang Aller im Gefolge gehabt hätte.

Vorläufig war wenigstens die Zimmertemperatur erträglicher geworden. Mrs. Joliffe servirte an demselben Morgen ein Frühstück von warmem Fleisch und Thee. Heißer Grog wurde auch nicht geschont, und auch der brave Sergeant Long konnte seinen Theil davon verzehren. Die wohlthuende Wärme, welche die Oefen ausstrahlten, belebte gleichzeitig den gesunkenen Muth dieser Armen. Sie erwarteten nur Jasper Hobson's Befehl, die Bären anzugreifen. Der Lieutenant aber, dem die Kräfte zu ungleich erschienen, wollte seine Leute nicht auf's Spiel setzen. Der Tag schien ohne weitere Zwischenfälle verlaufen zu wollen, als sich gegen drei Uhr Nachmittags in dem Dachwerk des Hauses ein furchtbares Geräusch vernehmen ließ.

»Da sind sie!« riefen zwei oder drei Soldaten, die sich schnellstens mit Aexten und Pistolen bewaffneten.

Offenbar hatten sich die Bären, nach der Beseitigung eines Dachbalkens, den Zugang nach dem Bodenraum erzwungen.

»Niemand verläßt seinen Platz! sprach der Lieutenant mit ruhiger Stimme. – Raë, die Fallthüre!«

Der Schmied verfügte sich in den Gang, erstieg die Treppe und befestigte die Fallthüre so gut als möglich.

Ueber der Decke entstand jetzt ein schreckliches Lärmen, auch drohte diese unter der Last der Bären einzubrechen. Es war ein fortwährendes Tatzenschlagen, Brummen und Kratzen.

Aenderte dieser feindliche Einfall nun die Sachlage? Wurde das Uebel dadurch vergrößert oder nicht? Jasper Hobson berieth hierüber mit einigen Anderen Die Mehrzahl war der Meinung, daß ihre Lage sich hiermit verbessert habe. Waren die Bären, was fast vorauszusetzen war, alle in dem Bodenraum, so konnte man sie darin vielleicht angreifen, ohne befürchten zu müssen, daß die Kämpfer von der Kälte überwunden oder ihnen die Waffen aus der Hand gerissen würden. Die Gefahr eines Angriffs auf diese Bestien, Mann gegen Mann, war gewiß nicht zu unterschätzen, doch schien es keine physische Unmöglichkeit, einen solchen zu versuchen.

[211] Es blieb jetzt nur noch zu entscheiden, ob man den Angreifern an dem Orte, wo sie sich jetzt befanden, zu Leibe gehen sollte oder nicht. Dieses Vorhaben war um so gefährlicher, da die Soldaten die enge Fallthüre nur immer einzeln passiren konnten.

Es leuchtet hiernach ein, warum Jasper Hobson mit dem Angriff zögerte. Nach der Meinung des Sergeanten und aller Anderen, deren Muth doch außer allem Zweifel war, empfahl es sich, noch zu warten. Vielleicht brachte ein unvorhergesehener Zufall ihnen noch mehr Aussicht auf Erfolg, da es fast unmöglich war, daß die Bären die Deckbalken, welche doch weit fester waren als die Dachsparren, aus der Lage bringen könnten. Dann war es ihnen auch unmöglich, bis in die Zimmer des Erdgeschosses zu gelangen.

Man wartete also. Der Tag verstrich, doch konnte in der Nacht Niemand vor Aufregung und Lärmen der Bären schlafen.

Am anderen Tage um neun Uhr aber trat ein neues Ereigniß ein, welches Jasper Hobson zum sofortigen Handeln zwang.

Die Essen des Ofens und des Küchenherdes gingen bekanntlich durch die ganze Höhe des Dachbodens hindurch. Diese von Kalkstein gebauten und nur unvollkommen gemauerten Rohre konnten einen bedeutenden Seitendruck offenbar nicht aushalten. Nun begannen die Bären aber, ob durch directen Angriff auf dieselben, oder nur dadurch, daß sie sich der Wärme wegen daran lehnten, das Mauerwerk nach und nach zu zerstören. Man konnte im Inneren die Steinbrocken herunterfallen hören, und bald zog weder der Stuben-noch der Küchenofen mehr.

Dieses schlimmste Unglück hätte sicher weniger energische Leute ganz zur Verzweiflung gebracht. Es sollte noch ärger kommen. Denn gleichzeitig mit dem Nachlassen des Feuers verbreitete sich ein schwarzer, scharfer und ekelerregender Rauch, der von dem verbrannten Holz und Fett herrührte, in dem ganzen Hause. Die Essen waren auch schon unterhalb der Decke entzwei gegangen. In wenig Minuten wurde dieser Rauch so dicht, daß die Lampen verloschen. Jasper Hobson war nun in die Nothwendigkeit versetzt, das Haus zu räumen, wenn er nicht in dieser irrespirablen Atmosphäre ersticken wollte. Aus dem Hause gehen, hieß aber so viel, wie vor Frost umkommen. Da schrieen auch die Frauen einige Male ängstlich auf.

»Meine Freunde, rief der Lieutenant, eine Axt ergreifend, – auf die Bären!«

[212] Es gab keinen anderen Ausweg; die Thiere mußten ausgerottet werden. Alle ohne Ausnahme eilten nach dem Corridor; Jasper Hobson an der Spitze drangen sie die Treppe hinaus. Die Fallthüre wurde gehoben. Durch den schwarzen Qualm blitzten die Flintenschüsse. Geschrei und Brummen mischten sich; man schlug sich mitten in der tiefsten Dunkelheit.

Plötzlich ab er ließ sich da ein schreckliches Rollen hören, und heftige Stöße erschütterten den Boden. Das Haus neigte sich, als ob es aus seinen Grundpfeilern gerissen wäre. Die Balken der Wand wichen von einander, und die Bären flohen, erschrocken wie die Schafe, eiligst durch die Finsterniß.

22. Capitel
Zweiundzwanzigstes Capitel.
Während fünf Monaten.

Ein heftiges Erdbeben hatte diesen Theil des amerikanischen Festlandes erschüttert. Solche Stöße konnten bei dem vulkanischen Boden nicht gerade selten sein. Der Zusammenhang zwischen derartigen Ereignissen und den Eruptionen ist ja mehr als einmal nachgewiesen worden.

Jasper Hobson war sich über das, was vorging, völlig klar. Er wartete mit peinlichster Unruhe. Ein Riß im Erdboden konnte ihn mit seiner ganzen Gesellschaft verschlingen. Aber es blieb bei dem einzigen Stoße, der mehr eine Rückwirkung zu sein schien, als ein directer Stoß. Er hatte das Haus nur nach der Seite des Sees zu geneigt und seine Wände zerklüftet. Dann wurde die Erde wieder fest und unbeweglich.

Jetzt galt es, das Nothwendigste in's Auge zu fassen. Das Haus war wenigstens noch in bewohnbarem Zustande.

Die durch die Verschiebung der Balken entstandenen Oeffnungen verstopfte man nach Kräften, und auch die Essen der Feuerungen wurden wohl oder übel ausgebessert.

[213] Die Wunden, welche einige Soldaten bei dem Kampfe mit den Bären davongetragen hatten, waren zum Glück nicht von Bedeutung und erforderten nur einen einfachen Verband.

So verbrachten diese armen Leute zwei schreckliche Tage, und verbrannten die Bettstellen und das Holz der Scheidewände. In dieser Zeit nahm Mac Nap mit seinen Leuten die dringendsten Reparaturen des Innern vor. Die Grundstämme, welche tief in die Erde eingetrieben waren, standen noch fest, und der ganze Bau war noch haltbar. Offenbar hatte aber die Erderschütterung eine Veränderung in der Oberfläche des Erdbodens hervorgerufen. Jasper Hobson hätte davon gern Kenntniß genommen, da sie bis auf einen gewissen Punkt die Sicherheit der Factorei in Frage stellen konnte. Die unerbittliche Kälte machte aber ein Verlassen des Hauses absolut unmöglich.

Zum Glück traten jetzt einige Erscheinungen an den Tag, welche eine bevorstehende Witterungsänderung ankündigten. Durch die Fenster konnte man wahrnehmen, daß der Glanz der Sterne abnahm. Am 11. Januar fiel das Barometer um einige Linien. In der Luft sammelten sich Dünste an, deren Verdichtung mit einem Steigen der Temperatur verbunden sein mußte.

Wirklich sprang der Wind am 12. Januar nach Südwest um, und dann und wann trat Schneefall ein. Fast plötzlich stieg das Thermometer vor dem Fenster auf - 9°. Für die so grausam geprüften Ueberwinternden war das eine Frühlingstemperatur.

Um elf Uhr Morgens drängte sich denn auch an diesem Tage Alles in's Freie. Man hätte Gefangene vor sich zu sehen geglaubt, denen die Freiheit wieder geschenkt war.

In Befürchtung gefährlicher Begegnungen wurde es aber unbedingt verboten, die Umzäunung zu überschreiten.

In dieser Jahreszeit war zwar die Sonne noch nicht wieder erschienen, sie streifte aber so nahe an dem Horizonte hin, um wenigstens eine länger dauernde Dämmerung hervor zu bringen. Bis auf einen Umkreis von zwei Meilen waren die Umgebungen erkennbar. Jasper Hobson's erster Blick galt der Gestalt des Erdbodens, welchen die Erschütterung verändert haben mußte.

Wirklich zeigte sich da und dort ein anderer Anblick. Das Vorgebirge, [214] in welches Cap Bathurst auslief, war theilweise seines Gipfels beraubt, und große Stücke des seitlichen Ufers waren herabgestürzt. Die volle Masse des Caps schien sich auch gegen den See hin geneigt zu haben, wobei das ganze Plateau, auf dem die Wohnung stand, eine Lagenveränderung erlitten hatte. Im Allgemeinen hatte sich der Erdboden nach Westen hin gesenkt und nach Osten gehoben. Die veränderte Neigung des Erdbodens mußte aber die wichtige Folge haben, daß die Gewässer des Sees und des Paulina-Flusses, wenn sie zum Thauen kamen, eine neue Richtung einschlugen und einen Theil des Landes im Westen überschwemmten. Die Strömung mußte sich ein neues Bett bahnen, was auch auf den an der Mündung befindlichen natürlichen Hafen nicht ohne Rückwirkung bleiben konnte. Ebenso erschienen die Hügel des östlichen Ufers merklich gesenkt. Wie es mit dem Uferlande im Westen stand, konnte man der Entfernung wegen nicht sogleich beurtheilen. Die hauptsächlichsten durch das Erdbeben hervorgebrachten Veränderungen bestanden also Alles in Allem in Folgendem: Bis auf die Entfernung von vier bis fünf Meilen war die frühere ebene Oberfläche insofern verändert, als sich eine Neigung von Osten nach Westen zu gebildet hatte.

»Nun, mein Herr Hobson, sagte da lächelnd die Reisende, sie hatten die Freundlichkeit, dem Flusse und dem Hafen meinen Namen beizulegen, und nun giebt es keinen Paulina-Fluß und keinen Barnett-Hafen mehr. Sie müssen gestehen, daß ich nicht viel Glück habe.

– Wirklich, Madame, erwiderte der Lieutenant, wenn auch der Fluß dahin wäre, so ist doch der See, hoffe ich, der nämliche geblieben, und wenn Sie erlauben, nennen wir ihn dessenungeachtet den Barnett-See. Ich hoffe, daß dieser Ihnen treu bleiben soll!«

Mr. und Mrs. Joliffe hatten sich, sobald sie das Haus verließen, der Eine nach dem Hunde, die Andere nach dem Rennthierstalle begeben. Die Hunde hatten durch die lange Einschließung wenig gelitten und sprangen lustig im inneren Hofe herum. Ein Rennthier schien seit wenig Tagen verendet; die anderen fanden sich trotzdem, daß sie etwas abgemagert waren, ganz wohl erhalten.


Im Kampf mit den Eisbären. (S. 213.)

»Da sehen Sie, Madame, sagte der Lieutenant zu Mrs. Paulina Barnett welche Jasper Hobson begleitete, da haben wir uns nun aus der Schlinge gezogen, und besser, als zu erwarten war.


Das Wohnhaus nach dem Erdbeben. (S. 218.)

– Ich habe niemals verzweifelt, Herr Hobson, entgegnete die Reisende. Männer, wie Ihre Leute und Sie, werden sich nie von den Zufällen einer Ueberwin [215] terung besiegen lassen.

– Seitdem ich in den Polargegenden lebe, Madame, fuhr Lieutenant Hobson fort, habe ich niemals eine solche Kälte kennen gelernt, und frei heraus gesagt, wenn sie noch einige Tage eben so angehalten hätte, wären wir wohl allesammt erfroren gewesen.

[216] – Dann kam wohl das Erdbeben zu ganz gelegener Zeit, um die verwünschten Bären zu vertreiben, und hat vielleicht mehr dazu beigetragen, die außergewöhnliche Kälte zu vermindern?

– Das ist möglich, Madame, sehr möglich, entgegnete der Lieutenant. Alle diese Naturerscheinungen stehen in gewissen Wechselbeziehungen zu einander, aber ich gestehe Ihnen, daß mich die vulkanische Natur des Bodens hier beunruhigt. Unseres Etablissements wegen bedaure ich die Nachbarschaft [217] jenes thätigen Vulkanes. Wenn die Lavaströme auch nicht bis hierher dringen können, so sind die Erdstöße demselben doch gefährlich. Sie sehen ja das Bild, das unser Haus jetzt darbietet.

– Das lassen Sie ausbessern, Herr Hobson, sobald die gute Jahreszeit wieder eintritt, antwortete Mrs. Paulina Barnett, und Sie werden aus der Erfahrung Nutzen ziehen, um es noch sicherer herzustellen.

– Gewiß, Madame, doch so wie es jetzt ist und doch auch noch einige Monate bleiben muß, dürfte es Ihnen nicht mehr genügende Bequemlichkeit bieten.

– Mir? Herr Hobson, antwortete lächelnd Mrs. Paulina Barnett, mir? Einer Reisenden? Ich stelle mir einfach vor, daß ich die Cabine eines auf der Seite liegenden Schiffes bewohne, und von dem Augenblicke an, da Ihr Haus weder stampft noch rollt, habe ich von der Seekrankheit Nichts zu befürchten.

– Bravo! Madame, versetzte Jasper Hobson, ich lerne Ihren Charakter täglich mehr schätzen. Er ist ja von Allen anerkannt. Doch Ihr moralischer Muth und Ihr liebenswürdiger Humor hat sehr dazu beigetragen, mir und meinen Leuten die harten Prüfungen ertragen zu helfen, und ich sage Ihnen in meinem und im Namen meiner Leute herzlichen Dank dafür.

– Ich versichere Ihnen, Herr Hobson, daß Sie übertreiben ...

– O nein, gewiß nicht, und was ich Ihnen hier gesagt, würden Alle gern bereit sein, zu wiederholen. Doch erlauben Sie mir eine Frage. Es ist Ihnen bekannt, daß Kapitän Craventy uns kommenden Juni einen Provianttransport senden wollte, der bei der Rückkehr unsere Vorräthe an Pelzen nach Fort-Reliance mitnehmen sollte. Möglicher Weise benutzt unser Freund Thomas Black nach Beobachtung der Sonnenfinsterniß diese Gelegenheit, um mit dem Detachement zurückzukehren. Darf ich Sie fragen, Madame, ob es auch in Ihrer Absicht läge, ihn zu begleiten?

– Aber, Herr Hobson, wollen Sie mich zurück senden? fragte lächelnd die Reisende.

– O, Madame ...!

– Nun wohl, ›mein Herr Lieutenant‹, fuhr Mrs. Paulina Barnett fort, und bot Jasper Hobson die Hand, ich ersuche Sie um die Erlaubniß, noch einen Winter in Fort-Esperance zubringen zu dürfen. Nächstes Jahr kommt dann vielleicht ein Schiff der Compagnie nach Cap Bathurst, und [218] das würde ich gern, da ich auf dem Landwege gekommen bin, zu meiner Rückreise durch die Behrings-Straße benutzen.«

Der Lieutenant war entzückt über diesen Entschluß seiner Begleiterin. Er hatte ihn gemuthmaßt und schätzte ihn hoch. Es band ihn eine tiefe Sympathie an diese muthige Frau, die ihn ihrerseits für einen guten und braven Mann hielt. In Wahrheit hätte weder der Eine noch die Andere die Scheidung ohne Leidwesen kommen sehen. Wer wußte überdies, ob ihnen der Himmel nicht noch schwere Prüfungen aufbewahrt hatte, welche zum Wohle Aller ihres gemeinschaftlichen Einflusses bedurften?

Am 20. Januar erschien die Sonne zum ersten Male wieder, und endete damit die Polarnacht. Sie blieb freilich nur wenige Augenblicke über dem Horizonte und wurde von dem freudigen Hurrah der Ueberwinternden begrüßt. Von diesem Zeitpunkte an mußte nun der Tag stetig zunehmen.

Während des Monats Februar und bis zum 15. März folgte sich gute und schlechte Witterung noch sehr schroff. Bei gutem Wetter war es sehr kalt, bei schlechtem gab es ungeheuren Schnee. Bei jenem machte die Kälte den Jägern jeden Ausfall unmöglich, und bei letzterem zwangen sie die Schneestürme, das Haus zu hüten. Nur bei mittlerer Witterung waren also gewisse Arbeiten im Freien vorzunehmen, doch war keine größere Excursion zu wagen. Ueberdies lag kein Grund vor, sich weit vom Fort zu entfernen, da die Fallen einen guten Ertrag lieferten. Gegen Ende des Winters ließen sich Marder, Füchse, Hermeline, Vielfraße und andere kostbare Pelzthiere in Menge fangen, so daß die Fallensteller nicht zu feiern hatten, wenn sie sich auch nur in der Umgebung des Cap Bathurst aufhielten.

Eine einzige größere Excursion, welche im März nach der Walroß-Bai unternommen wurde, zeigte, daß die seitlich abfallenden Ufer sich durch die Erderschütterung wesentlich geändert und zwar merklich gesenkt hatten. Die feuerspeienden Berge, welche nur einen leichten Rauch ausstießen, schienen sich vorläufig beruhigt zu haben.

Am 20. März signalisirten die Jäger die ersten Schwäne, welche von Süden auswandernd unter lautem Geschrei nach Norden zogen. Ebenso erschienen einige Schneeammern und Winterfalken. Noch immer aber deckte ein ungeheurer weißer Teppich den Boden, und gelang es der Sonne nicht, die feste Oberfläche des Meeres und des Sees zu schmelzen.

[219] Erst anfangs April trat Thauwetter ein. Mit furchtbarem Krachen, welches kräftigen Artilleriesalven ähnlich war, sprang das Eis, wodurch an dem seitlichen Ufer tiefe, plötzliche und weitgehende Aenderungen eintraten. Mehr als ein durch fortwährende Stöße erschütterter Eisberg, dessen Grund theilweise abgeschmolzen war, donnerte, wenn er durch Verschiebung seines Schwerpunktes das Uebergewicht bekam, herunter, wodurch das Eisfeld gewaltsam aufgebrochen wurde.

Um diese Zeit war die mittlere Temperatur 0° Celsius. Auch das Eis des Baches verlor sich nun allmälig und seine von den Polarströmen entführte Eisbank an der Küste verschwand in den Dünsten des Horizontes. Am 15. April war das Meer offen, und gewiß hätte jetzt ein durch die Behrings-Straße längs der amerikanischen Küste gehendes Fahrzeug das Cap Bathurst erreichen können.

Zu gleicher Zeit mit dem Arktischen Ocean entkleidete sich auch der Barnett-See seines Eispanzers zur großen Befriedigung der zahllosen Schwärme von Enten und anderen Wasservögeln, die seine Ufer bevölkerten.

So wie es Lieutenant Hobson aber vorausgesehen hatte, war der Umfang des Sees durch die abgeänderte Bodenneigung sehr vermindert. Derjenige Theil des Seeufers, welcher im Osten von den bewaldeten Hügeln begrenzt gewesen war, hatte sich weit zurückgezogen. Jasper Hobson schätzte das Zurückweichen des Wassers von seinem östlichen Ufer auf ungefähr hundertundfünfzig Fuß.

An der entgegengesetzten Seite mußte sich das Gewässer um ebenso viel nach Westen ausgedehnt haben, und wenn ihm kein natürliches Hinderniß entgegenstand, das Land überschwemmen.

Jedenfalls durfte man sich Glück wünschen, daß die Bodensenkung in der Richtung von Osten nach Westen verlief, denn wenn das Gegentheil der Fall gewesen wäre, würde die Factorei rettungslos überfluthet gewesen sein.

Der kleine Bach freilich versiegte sofort, nachdem er aufgethaut war. Sein Wasser strömte, so zu sagen, nach der Quelle zurück, indem der Boden sich dorthin, von Norden nach Süden zu, gesenkt hatte.

»Da wäre also, sagte Jasper Hobson, ein Fluß von den Karten der Polarländer zu streichen. Hätten wir nur diesen Wasserlauf gehabt, um unser nöthiges Süßwasser zu gewinnen, so dürften wir jetzt in peinlicher [220] Verlegenheit sein. Zum Glück verblieb uns der Barnett-See, und ich hoffe, daß unsere Trinker keinen Durst leiden sollen.

– Ja wohl, der See, antwortete der Sergeant Long, aber ist denn sein Wasser auch trinkbar geblieben?«

Jasper Hobson blickte seinen Sergeanten scharf an und zog die Augenbrauen zusammen. Auf den Gedanken war er noch nicht gekommen, daß ein Spalt im Boden die Verbindung zwischen dem Meere und der Lagune hergestellt haben könne. Es wäre das ein Unglück gewesen, das unzweifelhaft den Untergang und die Aufgabe der neuen Factorei nach sich gezogen hätte.

Eiligst liefen der Lieutenant und Sergeant Long nach dem See – sein Wasser war noch süß!

In den ersten Tagen des Mai, als der Boden sich da und dort von Schnee befreite, begann er unter dem Einfluß der Sonnenstrahlen ein wenig zu grünen. Einige Moose und Gräser wagten sich schüchtern mit ihren Spitzen aus der Erde. Der von Mrs. Joliffe gesäete Sauerampher und das Löffelkraut gingen nun auch auf. Die Schneedecke hatte diese Gewächse gegen die Rauhigkeit des Winters geschützt, aber jetzt wurde es nothwendig, sie gegen die Schnäbel der Vögel und die Zähne der Nagethiere zu vertheidigen. Diese wichtige Arbeit wurde dem würdigen Corporal übertragen, der sich derselben mit der Gewissenhaftigkeit und dem Ernste eines Gliedermannes im Suppenteller annahm. Die langen Tage waren zurückgekehrt; die Jagd wurde wieder aufgenommen.

Lieutenant Hobson wollte den Vorrath an Pelzfellen vermehren, welche die Agenten von Fort-Reliance in wenig Tagen übernehmen sollten. Marbre, Sabine und andere Jäger begaben sich an ihr Geschäft. Ihre Excursionen waren weder weitgehend noch anstrengend, und kaum entfernten sie sich mehr als zwei Meilen vom Cap Bathurst.

Nie hatten sie ein so wildreiches Territorium gesehen, so daß sie eben so erstaunt als befriedigt waren. Marder, Elennthiere, Hafen, canadische Rennthiere, Füchse und Hermeline liefen ihnen geradezu vor die Gewehre.

Zu ihrem Leidwesen machten sie nur die eine Beobachtung, daß Bären, fast wie ihnen zum Hohne, sich gar nicht sehen ließen. Man hätte meinen können, daß die Angreifer bei ihrer Flucht alle Uebrigen mit fortgerissen hätten. Vielleicht hatte auch das Erdbeben diese Thiere, welche ganz besonders [221] sein organisirt, gewissermaßen sehr »nervös« sind, wenn man das überhaupt von einem Vierfüßler sagen kann, mehr als andere erschreckt.

Der Mai war sehr regnerisch, doch fiel dazwischen hinein gelegentlich noch Schnee; seine Mitteltemperatur erreichte + 5° Celsius. Auch Nebel waren sehr häufig und oft so dicht, daß es unklug gewesen wäre, sich vom Fort zu entfernen. Petersen und Kellet verursachten deshalb, als sie einmal achtundvierzig Stunden lang abwesend waren, ihren Gefährten ziemliche Unruhe. Ein Fehler in der Richtung, den sie auch gar nicht mehr auszugleichen vermochten, hatte sie nach Süden geführt, als sie sich in der Nähe der Walroß-Bai glaubten. Ganz erschöpft und halb todt vor Hunger kamen sie endlich zurück.

Der Juni rückte heran, mit ihm das schöne Wetter und manchmal eine recht merkbare Wärme. Die Winterkleidung wurde abgelegt. Man arbeitete tapfer an dem Hause, welches vollständig wieder ausgebaut werden mußte. Gleichzeitig ließ Jasper Hobson in der südlichen Ecke des Hofes ein großes Magazin errichten. Die Umgegend erwies sich so wildreich, daß ein solches ganz am Platze war. Ihre Vorräthe an Pelzen waren so beträchtlich geworden, daß sich deren Unterbringung in einem besonderen Speicher nöthig machte.

Von Tag zu Tag erwartete nun Jasper Hobson das Detachement, welches ihm Kapitän Craventy zusenden sollte, denn der neuen Factorei begannen schon verschiedene Gegenstände zu fehlen. So war z.B. die Munition zu erneuern. Hatte das Detachement Fort-Reliance in den ersten Tagen des Mai verlassen, so mußte es gegen Mitte Juni Cap Bathurst erreichen. Man erinnere sich hierbei, daß das der zwischen Kapitän Craventy und seinem Lieutenant verabredete Punkt war. Da Jasper Hobson nun das neue Fort an diesem Cap selbst errichtet hatte, so konnten ihn die nach ihm entsendeten Agenten nicht verfehlen.

Vom 15. Juni ab ließ der Lieutenant also die Umgebung des Caps genauer beobachten. Auf dem Gipfel eines Uferfelsens war die englische Flagge, um weithin sichtbar zu sein, aufgepflanzt worden. Ueberdies durfte man annehmen, daß der Proviantzug ungefähr denselben Weg einschlagen würde, wie vorher der Lieutenant. Dieser Weg war der sicherste, wenn nicht der kürzeste, da das zu dieser Zeit eisfreie Meer eine leicht zu verfolgende Küste bot.

[222] Der Juni verging aber in fruchtlosem Warten. Jasper Hobson wurde einigermaßen unruhig, vorzüglich wenn sich die dichten Nebel wieder weithin über das Land lagern sollten. Er fürchtete dann auch für die Agenten in dieser Wüstenei, denen jene andauernden Dunstmassen ernsthafte Hindernisse bereiten mußten.

Ost unterhielt sich Jasper Hobson mit Mrs. Paulina Barnett, dem Sergeanten, Mac Nap und Raë über diesen Gegenstand. Auch der Astronom Thomas Black verhehlte seine Befürchtungen nicht, denn wenn die Sonnenfinsterniß vorüber war, rechnete er stark darauf, mit dem Detachement zurückzukehren. Kam letzteres überhaupt nicht an, so war er zu einer zweiten Ueberwinterung, und damit zu einer ihm gar nicht erfreulichen Aussicht verdammt. Der wackere Gelehrte hatte, wenn seine Absicht erreicht war, nur noch den Wunsch, sich auf den Heimweg zu begeben. Doch wenn er Jasper Hobson auch seine Besorgniß mittheilte, so wußte dieser doch vorläufig noch nicht, was er darauf erwidern sollte.

Auch am 4. Juli war noch Niemand angekommen; entweder waren also die Agenten von Fort-Reliance gar nicht abgereist, oder sie hatten sich unterwegs verirrt, und unglücklicher Weise hatte diese letztere Hypothese die größte Wahrscheinlichkeit für sich. Jasper Hobson kannte ja Kapitän Craventy, und setzte gar keinen Zweifel darein, daß der Zug Fort-Reliance zur bestimmten Zeit verlassen habe.

Seine lebhafte Unruhe ist also leicht begreiflich! Die gute Jahreszeit ging vorüber, noch zwei Monate, und der arktische Winter, d.h. die rauhen Winde, die Schneewirbel und die langen Nächte lagerten sich von Neuem über diesen Theil des Festlandes.

Lieutenant Hobson war aber nicht der Mann, um in einer solchen Ungewißheit zu verbleiben. Ein Beschluß mußte gefaßt werden, und so kam er denn, nach Berathung mit seinen Gefährten, zu folgendem, dem der Astronom natürlich von Herzen beistimmte:

Man schrieb den 5. Juli. In vierzehn Tagen, – nämlich am 18. Juli –, sollte die Sonnenfinsterniß stattfinden. Tags nachher konnte Thomas Black das Fort schon verlassen. Wären also bis dahin die Agenten noch immer nicht eingetroffen, so sollte ein aus mehreren Leuten und vier bis fünf Schlitten bestehender Zug von der Factorei nach dem Sklaven-See abgehen. Mit diesem sollte ein großer Theil der kostbarsten Pelzwaaren [223] weggeschickt werden, und nach höchstens sechs Wochen, d.h. gegen Ende August, konnte er in Fort-Reliance eintreffen.


Berstende Eisberge. (S. 220.)

Nach dieser Entscheidung wurde Thomas Black wieder der vollkommen von seiner Sache eingenommene Mensch und erwartete nur noch den Augenblick, in dem der Mond, wenn er sich genau zwischen das Tagesgestirn und »ihn« stellte, die Sonnenscheibe total verfinstern würde.


Die Entscheidung einer Lebensfrage. (S. 221.)
[224]
23. Capitel
Dreiundzwanzigstes Capitel
Die Sonnenfinsterniß vom 18. Juli 1860.

Leider zerstreuten sich die Nebel nicht. Die Sonne war nur wie durch einen dichten Dunstvorhang sichtbar, was dem Astronomen angesichts seiner Sonnenfinsterniß sehr zu Herzen ging. Ost war der Nebel so dicht, daß [225] man vom Hofe des Forts aus kaum den Gipfel des Cap Bathurst wahrnehmen konnte.

Lieutenant Hobson's Unruhe stieg von Tage zu Tage. Er war nicht mehr in Zweifel, daß der von Fort-Reliance entsendete Zug sich in den verlassenen Gegenden verirrt habe. Unbestimmte Befürchtungen und traurige Ahnungen quälten seinen Geist, und dieser so energische Mann sah jetzt der Zukunft mit wahrer Angst entgegen. Warum, wußte er im Grunde nicht zu sagen. Alles glückte ihm ja vortrefflich, und trotz des überstandenen rauhen Winters erfreute sich die kleine Colonie der besten Gesundheit. Keine Uneinigkeit herrschte unter seinen Leuten, welche sich alle ihrer Aufgabe mit lobenswerthem Eifer hingaben. Die Umgegend war voll Wild, die Beute an Pelzfellen überreich, und die Compagnie konnte mit den von ihrem Agenten erzielten Erfolgen gewiß zufrieden sein. Selbst angenommen, daß Fort-Esperance nicht mit neuem Proviant versehen wurde, bot ja das Land so ergiebige Hilfsquellen, daß einer zweiten Ueberwinterung ohne große Besorgniß entgegen zu sehen war. Weshalb fehlte also dem Lieutenant Hobson das Zutrauen?

Mehr als einmal kam er mit Mrs. Paulina Barnett hierüber in's Gespräch. Die Reisende suchte ihn durch Vorführung der oben dargelegten Gründe zu beruhigen. Als sie jetzt mit ihm am Ufer spazieren ging, trat sie mit ganz besonderem Eifer für Cap Bathurst und die mit so großer Mühe gegründete Factorei ein.

»Ja, Madame, Sie haben Recht, erwiderte Jasper Hobson, aber seiner Ahnungen ist man nicht immer Herr. Ich bin gewiß kein Schwarzseher. Hundert Mal in meinem Leben habe ich mich als Soldat in den kritischsten Lagen befunden, ohne daß es mich nur gerührt hätte. Jetzt zum ersten Male ängstigt mich die Zukunft! Hätte ich eine bestimmte Gefahr vor mir – ich würde sie nicht fürchten. Aber eine unklare, unbestimmte, die ich nur vorausfühlen kann ...

– Aber welche Gefahr, fragte Mrs. Paulina Barnett, und was fürchten Sie, die Menschen, die Thiere oder die Elemente?

– Die Thiere? Keineswegs, antwortete der Lieutenant, sie haben vielmehr die Jäger des Cap Bathurst zu fürchten. Die Menschen? Nein. Diese Gegenden werden kaum von Eskimos besucht, und Indianer verirren sich nur selten hierher ...

[226] – Und dazu bemerke ich Ihnen, Herr Hobson, setzte Mrs. Paulina Barnett hinzu, daß diese Canadier, deren Besuch Sie in der guten Jahreszeit in gewisser Hinsicht zu fürchten gehabt hätten, nicht ein Mal gekommen sind ...

– Was ich sehr bedauere, Madame!

– Wie? Sie bedauern diese Concurrenten der Compagnie, welche ihr doch stets feindlich gegenüber stehen?

– Madame, entgegnete der Lieutenant, ich bedauere sie und bedauere sie auch nicht. Es ist das etwas schwierig zu erklären. Wollen Sie beachten, daß von Fort-Reliance eine Sendung ankommen sollte und das doch nicht geschehen ist. Dasselbe ist mit den Agenten der Pelzwaaren-Compagnie von St. Louis der Fall, welche wohl hierher kommen konnten, aber nicht gekommen sind. Nicht einmal ein einziger Eskimo hat in diesem Sommer den Küstenstrich besucht ...

– Und daraus schließen Sie, Herr Hobson? ...

– Daß man nach Cap Bathurst und Fort-Esperance nicht ›so leicht‹ gelangen könne, Madame, als es mir wünschenswerth wäre.«

Die Reisende blickte Lieutenant Hobson an, dessen Stirn sehr sorgenvoll erschien, und der das Wort »leicht« so auffallend betont hatte.

»Nun, Lieutenant Hobson, sagte sie, da Sie weder von Seiten der Thiere, noch von der der Menschen etwas befürchten, muß ich glauben, daß es die Elemente sind ...

– Madame, fiel Lieutenant Hobson ein, ich weiß nicht, ob meine Sinne befangen sind und meine Nerven mich blind machen; mir erscheint aber dieses Land im Grunde sonderbar. Kannte ich es vorher besser, ich glaube nicht, daß ich mich daselbst niedergelassen hätte. Einige Eigenthümlichkeiten, die mir unerklärlich geblieben sind, habe ich Ihnen schon mitgetheilt, wie das vollkommene Fehlen von Steinen auf dem ganzen Gebiete und das so glatt abgeschnittene Küstengebiet. Die Urformation dieses Winkels des Festlandes ist mir nicht ganz klar. Wohl weiß ich, daß die Nachbarschaft eines Vulkanes gewisse Erscheinungen im Gefolge haben kann ... Sie erinnern sich z.B., was ich Ihnen in Bezug auf Ebbe und Fluth gesagt habe –

– Vollkommen, Herr Hobson.

– Da, wo das Meer nach den Untersuchungen Derjenigen, welche diese Gebiete zuerst durchforscht haben, fünfzehn bis zwanzig Fuß hoch steigen sollte, steigt es in Wirklichkeit kaum einen Fuß!

[227] – Ja wohl, erwiderte Mrs. Paulina Barnett, das erklärten Sie aber als eine Folge der sonderbaren Configuration des Landes, der Enge der Meerstraßen ...

– Ich versuchte es zu erklären, das ist richtiger, antwortete Lieutenant Hobson; gestern aber habe ich eine noch weit unerklärbarere Erscheinung beobachtet, eine Erscheinung, welche wohl auch die größten Gelehrten nicht zu deuten vermöchten.«

Mrs. Barnett sah Jasper Hobson an.

»Und diese wäre ...? fragte sie.

– Vorgestern, Madame, war Vollmond, und die Fluth hätte in Folge dessen sehr hoch sein müssen. Nun, und gerade da hat sich das Meer nicht nur nicht um einen Fuß, nein, es hat sich ›gar nicht‹ gehoben.

– Dann haben Sie sich wohl getäuscht, bemerkte die Reisende dem Lieutenant.

– Ich habe mich nicht getäuscht und die Beobachtung auch selbst angestellt. Vorgestern, am 4. Juli, war die Fluth gleich Null an der Küste des Cap Bathurst, bestimmt gleich Null.

– Und was schließen Sie daraus, Herr Hobson? fragte Mrs. Paulina Barnett.

– Daraus schließe ich, Madame, erwiderte der Lieutenant, entweder, daß die Naturgesetze sich verändert haben, oder daß dieses Land sich unter ganz besonderen Verhältnissen befindet ... oder vielmehr, ich schließe noch gar nichts – ich erkläre es nicht – aber ich bin darüber unruhig.«

Mrs. Paulina Barnett drang nicht weiter in Lieutenant Hobson. Offenbar war dieses vollkommene Ausbleiben der Fluth unerklärlich, unnatürlich, so wie es unnatürlich wäre, wenn die Sonne zu Mittag nicht im Meridian erschiene.

Wenn die Erderschütterung die Formation des Küstenlandes und der arktischen Länder überhaupt nicht geändert hatte ... doch diese Hypothese genügte einem strengen Beobachter terrestrischer Erscheinungen nicht.

Daß der Lieutenant sich bezüglich seiner Beobachtung getäuscht habe, war auch nicht wohl anzunehmen, und noch an demselben Tage – am 6. Juli – constatirten Mrs. Paulina Barnett und er durch am Ufer angebrachte Marken, daß die Fluth, welche seit einem Jahre immer um einen Fuß zu steigen pflegte, jetzt Null, vollständig Null war!

[228] Ueber diese Beobachtung versprach man sich zu schweigen. Lieutenant Hobson hatte auch guten Grund, seine Leute auf keine Weise zu beunruhigen. Ost aber konnten sie ihn allein, schweigsam und unbeweglich sehen, wie er von der Spitze des Caps das jetzt noch offene Meer betrachtete, das vor seinen Blicken lag.

Im Juli mußte nun die Jagd auf Pelzthiere aufgegeben werden. Marder, Füchse und andere Thiere hatten schon ihre Winterfelle verloren. Man verfolgte also nur eßbares Wild, wie canadische Rennthiere, Polarhasen und andere, welche, wie Mrs. Paulina Barnett selbst bemerkte, sich sonderbarer Weise in der Umgebung des Cap Bathurst sichtbarlich vermehrten, während die Schüsse der Jäger sie doch vielmehr daraus hätten vertreiben sollen.

Am 15. Juli hatte sich noch nichts an der Sachlage geändert.

Von Fort-Reliance war keine Nachricht eingetroffen; die erwartete Sendung erschien nicht. Jasper Hobson beschloß also, sein Vorhaben auszuführen und zum Kapitän Craventy zu senden, statt dieser zu ihm.

Natürlich konnte der Führer dieses kleinen Detachements kein Anderer sein, als Sergeant Long, der sich jedoch von dem Lieutenant nicht gern trennen wollte. Es handelte sich hierbei in der That um eine lange Abwesenheit, denn nach Fort-Esperance konnte man vor dem nächsten Sommer nicht zurückkehren, was also einer Trennung von mindestens acht Monaten gleich kam. Mac Nap oder Raë hätten zwar den Sergeanten ersetzen können, doch diese beiden wackeren Soldaten waren verheiratet. Ueberdies war der eine als Zimmermann, der andere als Schmied in der Factorei, welche Beider Dienste nicht entbehren konnte, nothwendig.

Das waren die Gründe, welche bei Lieutenant Hobson den Ausschlag gaben und denen Sergeant Long sich »militärisch« fügte. Die vier Soldaten, welche ihn begleiten sollten, und sich auch dazu bereit erklärten, waren Belcher, Pond, Petersen und Kellet.

Vier Schlitten nebst der nöthigen Bespannung an Hunden wurden für die Reisenden bestimmt. Außer Lebensmitteln sollten sie Pelze, welche man unter den kostbarsten, wie Füchse, Hermeline, Zobelmarder, Schwäne, Luchse, Bisams und Vielfraße, auswählte, mitnehmen.

Die Abfahrt wurde auf den 19. Juli, den Tag nach der Sonnenfinsterniß, festgesetzt. Selbstverständlich sollte Thomas Black den Sergeant [229] Long begleiten und einer der Schlitten zum Transport seiner Person und der Instrumente dienen.

Es verdient erwähnt zu werden, daß der würdige Gelehrte während der Tage, die der von ihm so ungeduldig erwarteten Erscheinung vorhergingen, ganz unglücklich war. Der Wechsel zwischen gutem und schlechtem Wetter, die Häufigkeit der Dünste, die bald mit Regenwolken, bald mit feuchtem Nebel erfüllte Atmosphäre, der unsichere Wind, welcher sich auf keinem Punkte des Horizontes fixirte, Alles beunruhigte ihn mit vollem Rechte. Er aß nicht mehr, er schlief nicht mehr, kaum lebte er noch! Wenn der Himmel während der wenigen Minuten, welche die Finsterniß andauern sollte, bedeckt war, wenn das Gestirn der Nacht und das des Tages sich hinter einem dicken Schleier verbargen, wenn er, Thomas Black, der zu diesem Zwecke hergesendet war, weder den Lichtkranz, noch die röthlichen Protuberanzen beobachten konnte, – welche Enttäuschung! Und so viel unnütze Strapazen, so viel vergeblich bestandene Gefahren!

»So weit hierher gekommen, um den Mond zu sehen, rief er in fast weinerlich komischem Tone, und nun ihn nicht zu sehen!«

Nein, diesen Gedanken konnte er nicht fassen! Sobald es dunkel wurde, bestieg der würdige Gelehrte den Gipfel des Caps, um nach dem Himmel zu blicken. Er hatte nicht einmal den Trost, den silbernen Trabanten zu beobachten. In drei Tagen sollte Neumond sein, und in Folge dessen begleitete er die Sonne bei ihrem Wege um die Erde sehr nahe, so daß er in ihren Strahlen verschwand.

Ost schüttete Thomas Black sein Herz gegen Mrs. Paulina Barnett aus. Die mitfühlende Frau konnte nicht umhin, ihn zu beklagen, und eines Tages beruhigte sie ihn nach Möglichkeit durch die Versicherung, daß das Barometer eine gewisse Neigung zum Steigen zeige, und rief ihm in's Gedächtniß, daß sie sich ja in der schönen Jahreszeit befänden.

»In der schönen Jahreszeit! rief Thomas Black achselzuckend; giebt es in einem solchen Lande eine schöne Jahreszeit?

– Nun, Herr Black, antwortete die Dame, wenn Ihnen diese Finsterniß am letzten Ende entgehen sollte, wird es ja wohl noch andere geben. Gewiß ist die am 18. Juli nicht die letzte in diesem Jahrhundert!

– Nein, Madame, erwiderte der Astronom, nein. Außer dieser werden wir noch fünf totale Sonnenfinsternisse bis zum Jahre 1900 haben. Die [230] erste am 31. December 1861, welche für den Atlantischen Ocean, das Mittelmeer und die Wüste Sahara total sein wird; die zweite am 22. December 1870, total für die Azoren, das südliche Spanien, Sicilien und die Türkei; eine dritte am 19. August 1887, total für Nordost-Deutschland, das südliche Rußland und Mittel-Asien; eine vierte am 9. August 1896, welche in Grönland, Lappland und Sibirien sichtbar ist, und endlich im Jahre 1900, am 28. Mai, eine fünfte, welche für die Vereinigten Staaten, Spanien, Algier und Egypten total sein wird.

– Nun denn, Herr Black, versetzte Mrs. Paulina Barnett, wenn Sie also die Finsterniß vom 18. Juli 1860 versehen sollten, werden Sie sich mit der vom 31. December 1861 zu trösten wissen; das sind ja nur siebenzehn Monate!

– Ich würde mich nicht nur siebenzehn Monate trösten müssen, Madame, entgegnete der Astronom, sondern müßte sechsunddreißig Jahre warten.

– Und warum das?

– Weil von allen diesen Verfinsterungen nur eine, die vom 9. August 1896, für Gegenden in so hoher Breite, wie Lappland, Sibirien oder Grönland, total sein wird.


Lieutenant Hobson in geheimer Sorge. (S. 229.)

– Welches Interesse haben Sie aber daran, eine Beobachtung nur unter einem so hohen Breitengrade anzustellen? fragte Mrs. Paulina Barnett.

– Welchs Interesse, Madame! fuhr Thomas Black auf, ein wissenschaftliches Interesse von allerhöchster Wichtigkeit. Finsternisse sind bis jetzt nur selten in den dem Pole nahe liegenden Ländern beobachtet worden, da, wo die Sonne, indem sie sich nur wenig über den Horizont erhebt, scheinbar eine Scheibe von großem Durchmesser zeigt. Dasselbe ist mit dem Monde der Fall, der sie überdeckt, und so ist es möglich, daß das Studium des Strahlenkranzes und der Protuberanzen unter diesen Verhältnissen ein weit ergiebigeres wäre. Aus diesem Grunde, Madame, bin ich selbst über den siebenzigsten Breitengrad hinausgekommen. Aehnliche Verhältnisse werden aber erst im Jahre 1896 wiederkehren. Können Sie mir nun versichern, daß ich zu der Zeit noch leben werde?«

Auf diese Beweisführung gab es allerdings keine Antwort. Thomas Black blieb also fortdauernd sehr unglücklich, denn die Unbeständigkeit der Witterung drohte ihm einen garstigen Streich zu spielen.

[231] Am 16. Juli war es sehr schön. Am anderen Tage aber gerade im Gegentheil bedeckt und sehr nebliges Wetter. Thomas Black war an diesem Tage wirklich krank. Der fieberhafte Zustand, in dem er sich schon seit einigen Tagen befand, drohte in eine wirkliche Krankheit überzugehen. Vergebens versuchten Mrs. Paulina Barnett und Jasper Hobson ihn zu trösten. Sergeant Long und alle die Uebrigen konnten gar nicht begreifen, daß man »aus lauter Liebe zum Mond« so unausstehlich sein könne.


Das große Ereigniß des 18. Juli. (S. 235.)

Endlich brach der große Tag, der 18. Juli, an. Nach den Angaben der Ephemeriden sollte die totale Verfinsterung vier Minuten und siebenunddreißig Secunden dauern, das heißt, von elf Uhr dreiundvierzig Minuten und fünfzehn Secunden bis elf Uhr siebenundvierzig Minuten und zweiundfünfzig Secunden Vormittags.

[232]

»Was verlange ich denn Großes, rief der bedauernswerthe Astronom, der seine Haare zerwühlte, ich verlange einzig und allein ein kleines Eckchen [233] Himmel rein von allen Wolken, nur das kleine Fleckchen, an dem die Verfinsterung vor sich gehen soll; und wie lange denn? Nur kurze vier Minuten! Nachher mag es schneien, donnern, mögen die Elemente sich entfesseln, ich werde mich so wenig darum kümmern, wie ein Specht um ein Chronometer!«

Thomas Black hatte wirklich einigen Grund zum Verzweifeln. Allem Anschein nach sollte aus der Beobachtung nichts werden. Bei Tagesanbruch war der Himmel dick von Nebel bedeckt. Im Süden stiegen große Wolken auf, und zwar gerade an derjenigen Stelle, an der die Verfinsterung stattfinden sollte. Ohne Zweifel hatte aber der Gott der Astronomen mit dem armen Thomas Black Mitleid, denn gegen acht Uhr erhob sich eine frische Brise aus Norden und fegte das ganze Firmament rein!

O, welche Ausrufe des Dankes quollen da aus der Brust des würdigen Gelehrten! Rein war der Himmel; hell glänzte die Sonne, in Erwartung, daß der Mond, der jetzt vor ihren Strahlen noch nicht sichtbar war, sie nach und nach verlöschen sollte.

Sofort wurden Thomas Black's Instrumente geholt und auf dem Gipfel des Vorgebirges aufgestellt. Dann richtete sie der Astronom nach der südlichen Himmelsgegend und verharrte in Erwartung. Seine ganze gewohnte Geduld hatte er jetzt wieder gefunden, sein ganzes, für die Beobachtung so nöthiges kaltes Blut. Was hatte er nun noch zu fürchten? Wenn der Himmel ihm nicht auf den Kopf fiel, Nichts. Um neun Uhr war nicht eine Wolke, noch ein Nebelstreifen weder am Horizonte noch am Zenith! Nie konnte eine astronomische Beobachtung unter günstigeren Umständen beginnen!

Jasper Hobson und alle seine Leute, Mrs. Paulina Barnett und alle ihre Gefährtinnen wollten der Operation beiwohnen. Die ganze Colonie war auf Cap Bathurst versammelt und umringte den Astronomen. Langsam stieg die Sonne empor und beschrieb ihren sehr flachen Bogen über der ungeheuren Ebene, die sich nach Süden erstreckte. Kein Mensch sagte ein Wort. Man wartete mit einer gewissen feierlichen Sorge.

Gegen neun ein halb Uhr begann die Verfinsterung. Die Scheibe des Mondes berührte die der Sonne. Die Erstere sollte die Zweite aber nicht vor elf Uhr dreiundvierzig Minuten fünfzehn Secunden vollständig bedecken! Das war die in den Ephemeriden für die Sonnenfinsterniß berechnete Zeit, und Jedermann weiß, daß sich in diese Rechnungen kein Fehler einschleichen [234] kann, Rechnungen, welche von den Gelehrten aller Sternwarten der Welt aufgestellt, berichtigt und controlirt werden.

Thomas Black hatte in seinem Gepäck auch eine Anzahl geschwärzter Gläser mitgebracht; diese vertheilte er an seine Gefährten, welche so die Fortschritte der Erscheinung ohne Anstrengung der Augen verfolgen konnten.

Allmälig rückte die dunkle Mondscheibe vor. Schon nahmen die Gegenstände auf der Erde eine eigenthümliche Färbung an; auch die Atmosphäre hatte im Zenith ihre Farbe verändert. Um zehn ein viertel Uhr war die Hälfte der Sonnenscheibe verdunkelt. Einige frei umher laufende Hunde zeigten eine merkwürdige Unruhe und bellten manchmal ganz kläglich. Enten, welche unbeweglich am Seeufer saßen, erhoben ihr Nachtgeschrei und suchten sich einen zum Schlafen geeigneten Platz. Die Alten riefen die Jungen zusammen, welche sich unter ihren Fittigen verbargen. Für alle diese Thiere kam die Nacht herein und mit ihr die Stunde des Schlafes.

Um elf Uhr waren zwei Drittheile der Sonne bedeckt. Die Gegenstände nahmen eine weinrothe Färbung an. Noch herrschte ein gewisses Halbdunkel, welches aber bald während der vier Minuten der totalen Verfinsterung in ein vollkommenes übergehen sollte. Schon wurden einige Planeten, wie Mercur und Venus, sichtbar, ebenso wie gewisse Sternbilder, z.B. der Stier, der Orion und Andere. Die Dunkelheit nahm von Minute zu Minute zu.

Thomas Black folgte, das Auge an dem Ocular seines Fernrohres, unbeweglich und schweigend dem Fortschreiten der Erscheinung. Um elf drei viertel Uhr sollten die beiden Scheiben einander decken.

»Elf Uhr dreiundvierzig Minuten«, sagte Jasper Hobson, der den Secundenzeiger seines Chronometers genau im Auge hatte.

Thomas Black, der über sein Instrument geneigt war, rührte sich nicht. – Eine halbe Minute verfloß.

Thomas Black erhob sich mit weit aufgerissenen Augen. Dann postirte er sich noch eine halbe Minute vor sein Ocular und rief, indem er sich eine Secunde lang erhob:

»Aber sie nimmt ab! Sie nimmt ab. Der Mond, der Mond entflieht! Er verschwindet!«

In der That glitt die Mondscheibe über die Sonne, ohne diese vollkommen verdeckt zu haben. Nur zwei Drittheile der Sonnenscheibe waren verfinstert gewesen.

[235] Entsetzt war Thomas Black zurückgefallen. Die vier Minuten waren vorbei. Langsam wurde es wieder heller; der Lichtkranz hatte sich nicht gezeigt.

»Aber was in der Welt ist denn los? fragte Jasper Hobson.

– Was los ist! schrie der Astronom, daß die Verfinsterung keine vollständige, für diesen Punkt der Erdkugel keine totale gewesen ist. Verstehen Sie mich? Keine to–ta–le!

– Dann sind also Ihre Ephemeriden falsch!

– Falsch! O gehen Sie und sagen Sie das einem Anderen, Herr Lieutenant!

– Nun dann ... rief Jasper Hobson, dessen Gesicht sich plötzlich veränderte.

– Dann befinden wir uns nicht unter dem siebenzigsten Breitengrade, antwortete Thomas Black.

– Das wäre! rief Mrs. Paulina Barnett.

– Das werden wir sogleich erfahren, sagte der Astronom, aus dessen Augen Zorn und Verzweiflung blitzten. In wenig Minuten geht die Sonne durch den Meridian ... Meinen Sextanten! Schnell! Schnell!«

Einer der Soldaten lief nach dem Hause und brachte das verlangte Instrument.

Thomas Black visirte das Tagesgestirn, ließ es den Meridian passiren, dann senkte er seinen Sextanten und warf schnell einige Zahlen in sein Notizbuch.

»Wie hoch lag Cap Bathurst, fragte er, als wir vor einem Jahre hier ankamen und seine geographische Lage bestimmten?

– Unter 70°44'37''! antwortete Lieutenant Hobson.

– Nun wohl, mein Herr, jetzt liegt es unter 73°7' und 20''. Sie sehen, daß wir uns nicht im siebenzigsten Breitengrade befinden!

– Oder vielmehr, daß wir uns nicht mehr da befinden!« murmelte Jasper Hobson.

In seinem Geiste war es plötzlich hell geworden. Alle ihm bis jetzt unerklärlichen Erscheinungen wurden ihm nun klar! ...

Das Territorium des Cap Bathurst war seit Ankunft des Lieutenant Hobson um drei Grad nach Norden – – abgewichen.

[236]

2. Theil

1. Capitel
Erstes Capitel.
Ein schwimmendes Fort.

Das von Jasper Hobson an der Grenze des Polarmeeres gegründete Fort-Esperance war von seiner Stelle gewichen! Verdiente der muthige Agent der Compagnie deshalb einen Vorwurf? Nein, jeder Andere hätte sich dabei eben so getäuscht. Keine menschliche Vorsicht hätte vor einer solchen Zufälligkeit schützen können. Er hatte auf Felsen zu bauen geglaubt und hatte nur – auf Sand gebaut.

Dieser die Halbinsel Victoria bildende Theil des Landes, welchen die genauesten Karten des englischen Amerika an das Festland anfügten, hatte sich nun plötzlich davon getrennt. Im Grunde bestand diese Halbinsel nur aus einem ungeheuren Eisfelde von etwa hundertundfünfzig Quadratmeilen Oberfläche, dem allmälige Anschwemmungen nach und nach das Aussehen eines festen Landes, welchem weder die Vegetation, noch der Humus fehlte, ertheilt hatten. Seit undenklichen Jahrtausenden mit dem Ufer verbunden, hatte die Erderschütterung am 3. Januar seine Bande zerrissen, und aus der Halbinsel war eine Insel, aber seit drei Monaten eine umher schwimmende geworden, welche die Strömungen auf dem Arktischen Oceane hinwegführten.

[237] Ja, ein Eisfeld war es nur, das Fort-Esperance nebst seinen Bewohnern davontrug! Jasper Hobson hatte es sogleich begriffen, daß die Veränderung der beobachteten Breite nicht anders zu erklären war.

Der Isthmus, d.h. die Landzunge, welche die Halbinsel Victoria mit dem Continente verband, war offenbar durch die Kräfte unterirdischer Convulsionen in Folge der vor einigen Monaten stattgefundenen vulkanischen Eruption gebrochen. So lange dann der Winter noch anhielt und das Meer unter dem strengen Frost fest blieb, veranlaßte dieser Bruch keinerlei Aenderung in der geographischen Lage der Halbinsel. Als aber das Thauwetter kam und das Eis unter den Sonnenstrahlen zusammen schmolz, als die Schollen in das freie Meer hinaus getrieben wurden und hinter dem Horizonte verschwanden, als endlich das ganze Meer frei wurde, gerieth auch dieses ganze Gebiet, das auf eisigem Untergrunde lagerte, mit seinen Wäldern, seinen Küsten und seinem Vorgebirge, der Lagune im Inneren unter dem Einfluß einer unbekannten Strömung in Abweichung. So war es nun schon während einiger Monate dahin geschwommen, ohne daß die Ueberwinternden, die sich gelegentlich ihrer Jagden niemals weit von Fort-Esperance entfernten, es hätten bemerken können. Ein Merkzeichen war nicht vorhanden, da die dicken Dünste kaum einen Fernblick auf einige Meilen gestatteten, und hatte auch die Unbeweglichkeit des Bodens weder den Lieutenant Hobson, noch seine Genossen wahrnehmen lassen, daß sie aus Festlandbewohnern zu Insulanern geworden waren. Zu verwundern blieb es, daß sich die Lage der Insel hinsichtlich der Himmelsgegenden trotz ihrer Abweichung nicht geändert hatte, was jedenfalls auf ihre Ausdehnung und die Geradlinigkeit des Stromes, dem sie folgte, zurückzuführen war. Denn es liegt auf der Hand, daß ein Wechsel der Hauptpunkte des Cap Bathurst durch eine Drehung der Insel, wenn also etwa die Sonne oder der Mond an anderen Stellen als früher auf- oder untergegangen wären, von Thomas Black, Jasper Hobson, Mrs. Paulina Barnett oder irgend jemand Anderem bemerkt worden sein müßte. Aus irgend einem Grunde aber ging die Ortsveränderung parallel den Längengraden der Erde vor sich, und obgleich sie vielleicht eine schnelle sein mochte, wurde man sie doch nicht gewahr.

Obgleich Jasper Hobson den Muth, das kalte Blut und die moralische Energie seiner Begleiter durchaus nicht bezweifelte, zögerte er doch, ihnen die volle Wahrheit mitzutheilen. Ihnen über die jetzige Lage Aufklärung zu [238] geben, mußte ja immer noch Zeit sein, wenn man sich selbst erst ordentlich darüber klar geworden war. Zum Glück verstanden diese braven Männer, Soldaten und Werkleute, wenig von astronomischen Beobachtungen, noch von geographischer Länge und Breite, und aus der seit einigen Monaten stattgefundenen Lageveränderung der Insel konnten sie die ernsten Schlußfolgerungen nicht ziehen, welche Jasper Hobson so vollberechtigt in Unruhe versetzten.

Der Lieutenant raffte mit dem Entschlusse, so lange als möglich zu schweigen und eine Situation, welche er doch nicht zu ändern im Stande war, zu verheimlichen, alle seine Energie zusammen. Mit einer äußersten Anstrengung des Willens, welche aber Mrs. Barnett keineswegs entging, suchte er seiner selbst Herr zu werden und tröstete den unglücklichen Thomas Black, welcher sich klagend die Haare raufte, nach besten Kräften.

Der Astronom seinerseits ahnte den Vorgang, dessen Opfer er geworden war, noch keineswegs.

Da er nicht, wie der Lieutenant, die Eigenthümlichkeiten des Territoriums beobachtet hatte, kam er zu keinem Einsehen und grübelte über Nichts, als über das unselige Factum, daß an jenem Tage der Mond zur voraus berechneten Stunde die Sonne nicht vollkommen bedeckt habe. Welches war aber sein natürlicher Gedankengang? Daß die Ephemeriden zur Schande der Observatorien falsch seien, und daß diese so ersehnte Sonnenfinsterniß, seine, Thomas Black's Sonnenfinsterniß, zu deren Beobachtung er um den Preis so vieler Strapazen so weit hergekommen war, für diese Zone des Erd-Sphäroides unter dem siebenzigsten Parallelkreise überhaupt nicht »total« gewesen wäre? Nein! Das hätte er nie zugegeben! Niemals! Deshalb war auch seine Enttäuschung so groß und mußte es sein. Aber Thomas Black mußte doch bald die Wahrheit erfahren.

Jasper Hobson hatte indessen seine Leute glauben lassen, daß die nicht eingetroffene Sonnenfinsterniß nur den Astronomen interessire und ihnen selbst nichts angehe. Darauf hin hielt er sie zur Wiederaufnahme ihrer Beschäftigungen an. In dem Augenblicke aber, als sie den Gipfel des Cap Bathurst verlassen und nach der Factorei zurückkehren wollten, blieb Corporal Joliffe plötzlich stehen.

»Herr Lieutenant, sagte er, näher tretend und die Hand an der Mütze, dürfte ich eine Frage an Sie richten?

[239] – Gewiß, Corporal, antwortete Jasper Hobson, der nicht recht wußte, wohinaus sein Untergebener ziele; sprechen Sie!«

Der Corporal sprach aber nicht; er zauderte, so daß ihn seine kleine Frau mit dem Ellnbogen stieß.

»Nun, Herr Lieutenant, begann er zögernd, es handelt sich um diesen siebenzigsten Breitengrad. Habe ich recht verstanden, so befinden wir uns nicht an der Stelle, welche Sie annahmen ...«


»Beruhigen Sie sich, Corporal!« (S. 242.)

Der Lieutenant zog die Augenbrauen zusammen.

[240] »In der That, antwortete er ausweichend ... wir haben uns in unserer Rechnung getäuscht. Unsere erste Beobachtung ist falsch gewesen. Aber inwiefern kann Sie das beunruhigen?

– Ei, es handelte sich dabei um den Sold, erwiderte der Corporal, der eine sehr pfiffige Miene annahm. Sie wissen selbst, der uns von der Compagnie versprochene doppelte Sold ...«


Ein grimmiger Gelehrter. (S. 242.)

Jasper Hobson athmete auf. Seine Leute hatten wirklich, wie man sich [241] erinnern wird, für den Fall der Ueberschreitung des siebenzigsten Breitengrades ein Anrecht auf erhöhte Löhnung. Corporal Joliffe, der immer seinen Vortheil im Auge hatte, betrachtete die ganze Angelegenheit als eine Geld-frage, und konnte also befürchten, daß der ausgesetzte Preis noch nicht erworben sei.

»Beruhigen Sie sich, Corporal, antwortete lächelnd Jasper Hobson, und beruhigen Sie Ihre braven Kameraden. Unser wirklich unerklärbarer Irrthum gereicht Ihnen nicht zum Nachtheil. Wir befinden uns nicht unter, sondern über dem siebenzigsten Grade, und folglich bleibt Ihnen der doppelte Sold gesichert.

– Ich danke, Herr Lieutenant, sagte der Corporal, dessen Gesicht wieder freudig erglänzte, ich danke Ihnen. Es ist nicht darum, daß man am Gelde hinge, aber das verdammte Geld hängt uns so sehr an.«

Corporal Joliffe und seine Kameraden begaben sich hierauf wieder, ohne eine Ahnung der schrecklichen und sonderbaren Veränderung der Natur und der Lage des Gebietes, an ihre Arbeit. Auch Sergeant Long wollte eben nach der Factorei zurückkehren, als Jasper Hobson ihn aufhielt.

»Bleiben Sie, Sergeant Long!« rief er.

Der Unterofficier machte rechtsumkehrt und erwartete, was der Lieutenant ihm zu sagen habe.

Die einzigen jetzt noch auf dem Vorgebirge befindlichen Menschen waren Mrs. Paulina Barnett, Madge, Thomas Black, der Lieutenant und der Sergeant. Seit der Entdeckung gelegentlich der Sonnenfinsterniß hatte die Reisende noch kein Wort gesagt. Nur mit den Augen fragte sie Jasper Hobson, welcher ihr auszuweichen suchte. Das Gesicht der muthigen Frau zeigte aber mehr Erstaunen als Unruhe. Sah sie jetzt schon klar? War der Schleier vor ihren Augen ebenso schnell gefallen, wie vor denen Jasper Hobson's? Auf jeden Fall verhielt sie sich ruhig und stützte sich auf Madge, deren Arm sie umschlang.

Der Astronom lief immer hin und her; er konnte an keiner Stelle ausdauern; sein Haar war verwirrt; er schlug die Hände zusammen und ließ sie wieder sinken. Mancher Ausruf der Verzweiflung entrang sich seinen Lippen, und gegen die Sonne ballte er die Faust, während er ihr, ohne zu bedenken, wie er sich schaden könne, frei entgegen sah.

Nach einigen Minuten schien sich seine innere Aufregung zu legen. Er [242] bekam die Sprache wieder, und mit gekreuzten Armen, wuthflammenden Blicken und unheildrohender Stirn pflanzte er sich quer vor Lieutenant Hobson.

»Jetzt haben wir Zwei es mit einander zu thun, rief er, wir Zwei, Sie, Herr Agent der Hudsons-Bai-Compagnie!«

Diese Worte, deren Ton und seine Haltung sahen einer Herausforderung sehr ähnlich. Jasper Hobson wollte darauf kein Gewicht legen und begnügte sich, den armen Mann, dessen ungeheure Enttäuschung er sich wohl vorstellen konnte, ruhig anzusehen.

»Herr Hobson, fuhr Thomas Black mit schlecht verhehltem Zorne in seinem Tone fort, wollen Sie mir nun wohl sagen, was das Alles bedeutet? Ist das eine Mystification Ihrerseits? In dem Falle, mein Herr, würde sie ihre Wirkung auch noch weiter, als nur auf mich, äußern, und Sie dürften sie zu bereuen haben!

– Was wollen Sie damit sagen, Herr Black? fragte ganz gelassen Jasper Hobson.

– Ich will damit sagen, mein Herr, daß Sie sich verpflichtet hatten, Ihr Detachement an die Grenze des siebenzigsten Breitengrades zu führen ...

– Oder darüber hinaus, Herr, fügte Jasper Hobson hinzu.

– Darüber hinaus, Herr, schrie Thomas Black, was hatte ich denn darüber hinaus zu suchen? Um diese Finsterniß zu beobachten, durfte ich mich nicht aus dem kreisförmigen Schatten, der sie begrenzt, hinausbegeben, und der hier im britischen Amerika innerhalb des siebenzigsten Breitengrades liegt, jetzt sind wir aber drei Grade darüber hinaus!

– Ja wohl, Herr Black, erwiderte Jasper Hobson immer gelassen, wir haben uns getäuscht, das ist eben Alles!

– Das soll Alles sein! rief der Astronom, den die Gelassenheit des Lieutenants noch mehr erregte.

– Ich mache Sie überdies darauf aufmerksam, fuhr Jasper Hobson fort, daß, wenn ich mich täuschte, Sie, Herr Black, diesen meinen Irrthum getheilt haben, denn nach unserer Ankunft bei Cap Bathurst haben wir zusammen, Sie mit Ihrem Instrument, ich mit dem meinigen, die Breitenlage desselben bestimmt. Sie können mich also nicht für einen Beobachtungsfehler verantwortlich machen wollen, der Sie ebenso schwer trifft!«

Diese Antwort entriß Thomas Black alle Waffen, und trotz seiner [243] Erregung hatte er Nichts dawider vorzubringen. Es gab eben keine Entschuldigung!

War ein Fehler vorgekommen, so war er schuldig, er selbst auch. Was würde man aber im gelehrten Europa, auf dem Observatorium in Greenwich von einem Astronomen denken, der so ungeschickt war, sich bei einer Aufnahme der geographischen Breite zu täuschen? Ein Thomas Black beging einen Fehler von drei Graden bei Beobachtung der Sonnenhöhe, und das unter welchen Verhältnissen? Hier, wo die genaue Bestimmung der Parallele zur Beobachtung einer totalen Sonnenfinsterniß, welche erst nach langer, langer Zeit wiederkehrte, so besonders nöthig war! Thomas Black war von nun an ein entehrter Gelehrter!

»Aber wie in aller Welt, rief er endlich, und raufte sich von Neuem das Haar, wie habe ich mich nur so sehr irren können? Ich weiß also mit keinem Sextanten mehr umzugehen, ich verstehe keine Winkel zu berechnen – ich bin eben mit Blindheit geschlagen! Und wenn es so ist, ist es am Besten, mich überhaupt hier von dem Vorgebirge herabzustürzen ...

– Herr Black, fiel Jasper Hobson mit ernster Stimme ein, klagen Sie sich nicht an, Sie haben keinen Beobachtungsfehler begangen, und haben sich keinen Vorwurf zu machen!

– Also Sie allein ...

– Ich trage nicht mehr Schuld als Sie. Hören Sie mich freundlichst an, ich bitte Sie, und Sie auch, Madame, sagte er, sich an Mrs. Barnett wendend, Sie auch Madge, und auch Sie, Sergeant Long. Ich verlange von Ihnen Allen zunächst nur das Eine, die vollkommenste Geheimhaltung dessen, was ich Ihnen mittheilen werde. Es ist unnütz, die Genossen unseres Winterlagers zu erschrecken und zur Verzweiflung zu bringen.«

Die Zuhörer dieser Worte hatten sich dem Lieutenant genähert. Sie antworteten nicht, aber es erschien wie eine stillschweigende Uebereinkunft, die erwartete Mittheilung geheim zu halten.

»Meine Freunde, sagte Jasper Hobson, als wir vor nun einem Jahre an dieser Stelle des britischen Amerika anlangten, und die Lage des Cap Bathurst aufnahmen, befand es sich genau unter dem siebenzigsten Breitengrade, und wenn es diesen jetzt um drei Grade nach Norden zu überschritten hat, so liegt das daran, daß es von seiner Stelle – abgewichen ist.

[244] – Abgewichen? rief Thomas Black, das erzählen Sie Anderen, mein Herr! Seit wann weicht denn ein Cap ab?

– Und doch ist es an dem, entgegnete ernsthaft Lieutenant Hobson. Diese ganze Halbinsel Victoria ist nichts als eine Eisinsel. Das Erdbeben hat sie von der Küste losgerissen, und nun entführt sie eine der großen arktischen Strömungen ...

– Wohin? fragte Sergeant Long.

– Wohin es Gott gefällt!« antwortete Jasper Hobson.

Die Genossen des Lieutenants verharrten in tiefem Schweigen. Unwillkürlich wandten sich ihre Blicke nach Süden, über die weiten Ebenen hinaus, und nach der Seite des zerrissenen Isthmus hin; doch von der Stelle, die sie einnahmen, konnten sie, außer im Norden, den Meereshorizont nicht wahrnehmen, der sie jetzt von allen Seiten umschloß. Wäre Cap Bathurst um einige hundert Fuß höher über dem Meere gewesen, so hätte ihr Blick wohl den ganzen Umfang ihres Gebietes umfassen und ihnen beweisen können, daß es sich in eine Insel verwandelt hatte.

Wohl krampfte sich ihnen das Herz zusammen, wenn sie Fort-Esperance betrachteten und seine Bewohner, welche vom Lande weg in die offene See trieben und mit jenem ein Spiel der Winde und Wellen geworden waren.

»Auf diese Weise also, sagte da Mrs. Barnett, erklären sich alle die sonderbaren Erscheinungen, welche Sie auf diesem Lande bemerkten?

– Ja, Madame, diese Halbinsel, oder jetzt vielmehr Insel Victoria, welche wir für unerschütterlich fest betrachteten, ist nur ein ungeheures Eisfeld, welches Jahrhunderte lang an das amerikanische Festland geschmiedet war. Nach und nach wehte der Wind Sand und Erde darauf, und verstreute die Samen, aus denen der Wald und die Moose entstanden sind. Aus den Wolken stammte das süße Wasser der Lagune und des kleinen Baches. Die Vegetation hatte das Aussehen der Oberfläche verändert. Aber unter diesem See, unter der Erde, unter dem Sande und unter unseren Füßen erstreckt sich ein Eisboden, der vermöge seiner specifischen Leichtigkeit auf dem Meere schwimmt. Ja, ein Eisfeld ist es, das uns trägt und das uns davon führt, und daher kommt es auch, daß wir während unseres Aufenthaltes hier weder einen Kiesel, noch sonst einen Stein gefunden haben. Daher kommen diese schroff abfallenden Ufer, daher die seltsame Erscheinung, daß wir bei der Anlage von Rennthiergruben zehn Fuß unter dem [245] Erdboden auf Eis trafen, daher endlich die Unmerkbarkeit der Fluth an der Küste, weil das steigende und fallende Wasser die Insel gleichmäßig mit sich hob und senkte.

– Wahrlich, jetzt erklärt sich Alles, Herr Hobson, fiel Mrs. Paulina Barnett ein, und Ihre Ahnung hat Sie nicht getäuscht. Doch möchte ich Sie bezüglich der Fluth noch fragen, warum sie früher am Cap Bathurst noch leicht bemerkbar war, während sie doch jetzt ganz verschwunden ist?

– Ganz einfach, entgegnete der Lieutenant, weil sich die Halbinsel zur Zeit unserer Hierherkunft noch durch ihren biegsamen Isthmus an das Festland hielt. Sie leistete der Fluth eben dadurch einen gewissen Widerstand, und deshalb hob sich das Wasser an ihrer Nordküste noch um etwa zwei Fuß über den niedrigen Wasserstand, statt um zwanzig, wie es eigentlich hätte der Fall sein sollen. Von dem Augenblick aber, da das Erdbeben den vollständigen Bruch veranlaßte, und die nun völlig freie Halbinsel sich mit Ebbe und Fluth senken und heben konnte, wurde deren Einfluß gleich Null, was wir ja vor einigen Tagen bei Gelegenheit des Neumondes bestätigt gesehen haben.«

Mit wechselndem Interesse hatte Thomas Black trotz seiner erklärlichen Verzweiflung der Auseinandersetzung Jasper Hobson's gelauscht. Die Schlußfolgerungen des Lieutenants schienen ihm vollkommen richtig; aber wüthend darüber, daß solch ein seltener, unerwarteter, so »absurder« Vorgang, wie er ihn später nannte, gerade stattfinden mußte, um ihm die Beobachtung der Sonnenfinsterniß unmöglich zu machen, sprach er für jetzt kein Wort, sondern hörte düster und fast verschämt zu.

»Armer Herr Black, sagte da endlich Mrs. Barnett, man muß wohl zugestehen, daß kein Astronom seit Entstehung der Welt ein solches Mißgeschick erlebt hat!

– Auf jeden Fall, Madame, fiel Jasper Hobson ein, trifft uns keine Schuld an dem Unfall, und Niemandem ist deshalb ein Vorwurf zu machen. Die Natur hat es allein gethan, sie ist die einzig Schuldige. Die Erderschütterung hat das Band zerrissen, welches die Halbinsel an den Continent fesselte, und wir selbst sind von einer schwimmenden Insel entführt worden. Das erklärt auch, warum die Pelzthiere und andere, welche mit uns gefangen sind, in der Umgebung des Forts so zahlreich bleiben.

– Und warum wir, mischte sich Madge in das Gespräch, in der guten [246] Jahreszeit von dem Besuche aller Concurrenten verschont geblieben sind, deren Anwesenheit Sie, Herr Hobson, so besonders befürchteten.

– Und warum, fügte der Sergeant hinzu, das vom Kapitän Craventy entsendete Detachement nicht bei Cap Bathurst anlangen konnte.

– Und warum ich endlich, sagte noch Mrs. Paulina Barnett mit einem Seitenblick auf den Lieutenant, mindestens für dieses Jahr auf jede Rückkehr nach Europa verzichten muß.«

Diese letzte Bemerkung hatte die Reisende in einem Tone gemacht, welcher bewies, daß sie sich in ihr Schicksal mit weit größerer philosophischer Ruhe ergab, als man hätte erwarten sollen.

Sie schien sich ganz plötzlich in diese fremdartige Lage eingelebt zu haben, eine Lage, welche ihr mindestens eine Reihe interessanter Beobachtungen versprach. Und wenn sie verzweifelt gewesen wäre, wenn alle ihre Begleiter gejammert und sich gegenseitig beschuldigt hätten, konnten sie die Vergangenheit ungeschehen machen?

Konnten sie den Lauf der umherirrenden Insel aufhalten, oder sie auf irgend eine Weise wieder an das Festland heften? Nein! In Gottes Hand allein lag das Schicksal des Fort-Esperance; seinem Willen mußten sie sich fügen.

2. Capitel
Zweites Capitel
Wo man sich befand.

Jasper Hobson beeilte sich, mit der Karte in der Hand, die neue, den Agenten der Compagnie unvorhergesehen geschaffene Lage möglichst sorgfältig aufzunehmen. Um aber die Länge der Insel Victoria – denn dieser Name wurde beibehalten – zu bestimmen, so wie es mit der Breite schon geschehen war, mußte der andere Tag abgewartet werden. Zur Ausführung dieser Berechnung bedurfte man zwei Beobachtungen der Sonnenhöhe, in der Vormittags- und Nachmittagszeit, um die beiden Stundenwinkel messen zu können.

[247] Um zwei Uhr Nachmittags maßen Lieutenant Hobson und Thomas Black mittels der Sextanten die gerade Aufsteigung der Sonne über dem Horizonte.

Am anderen Tage wollten sie die Beobachtung um zehn Uhr Morgens fortsetzen, um aus den beiden Höhen die geographische Länge des von der Insel jetzt eingenommenen Punktes herzuleiten.

Die kleine Gesellschaft ging aber noch nicht sogleich zum Fort zurück, und das Gespräch zwischen Jasper Hobson, dem Astronomen, dem Sergeanten, Mrs. Paulina Barnett und Madge dauerte noch ziemlich lange Zeit fort. Die Letztere dachte an sich selbst gar nicht, sondern hatte sich vollkommen in den Willen der Vorsehung ergeben. Ihre Herrin, »ihre Tochter Paulina«, vermochte sie aber nicht ohne Besorgniß anzusehen, wenn sie an die Prüfungen, vielleicht die Gefahren dachte, welche die Zukunft ihr vorbehalten haben könne. Madge war wohl bereit, ihr Leben für Paulina zu lassen, aber würde dadurch Diejenige, welche sie mehr liebte, als Alles in der Welt, gerettet werden? Jedenfalls wußte sie, daß Mrs. Paulina Barnett nicht eine so schnell niederzubeugende Frau sei. Ihre unerschrockene Seele sah der kommenden Zeit furchtlos entgegen, und für jetzt hatte sie ja auch noch keinen Grund, zu verzagen.

Wirklich drohte den Insassen des Fort-Esperance keine unmittelbare Gefahr, im Gegentheil rief Alles den Glauben hervor, daß ihnen eine äußerste Katastrophe erspart bleiben werde, wenigstens sprach sich Jasper Hobson gegen seine Begleiter in dieser Weise aus.

Nur zwei Gefahren drohten der schwimmenden Insel.

Entweder wurde sie durch die Strömung bis nach jenen hohen Polarbreiten hingeführt, aus denen man nie wiederkehrt, –

Oder die Strömungen trieben sie nach Süden, vielleicht nach der Behringsstraße und von da aus in den Stillen Ocean.

Im ersteren Falle würden die Ueberwinternden, im Eise gefesselt und von einem unübersteiglichen Schollenwalle umschlossen, jeder Verbindung mit der Außenwelt beraubt sein, und durch Hunger und die Kälte der hochnördlichen Einöden umkommen.


Orientirung nach der Seekarte. (S. 253.)

Im anderen Falle mußte die Insel Victoria von der Strömung bis nach den wärmeren Gewässern des Stillen Oceans entführt werden, an [248] der Basis nach und nach zum Schmelzen kommen und sich unter den Füßen ihrer Bewohner allmälig senken.

Jede Hypothese stellte den Untergang Jasper Hobson's, aller seiner Gefährten und der um den Preis so vieler Strapazen errichteten Factorei in gleich gewisse Aussicht.

Aber mußte denn einer oder der andere Fall wirklich unbedingt eintreten? Nein; viel Wahrscheinlichkeit hatte das nicht.

[249] Die Jahreszeit war jetzt schon weit vorgeschritten. Vor Ablauf dreier Monate stand zu erwarten, daß das Meer unter dem ersten Polarfroste fest würde. Es versprach dann eine zusammenhängende Eisfläche, über welche hin man mittels Schlitten das nächstgelegene Land, entweder das russische Amerika, wenn sich die Insel östlich hielt, oder die Küste Asiens, im Falle sie nach Westen verschlagen wurde, zu erreichen hoffen konnte.

»Denn, fügte Jasper Hobson hinzu, wir sind nach keiner Seite hin unserer schwimmenden Insel Herr. Da das Aufspannen eines Segels, wie an einem Schiffe, unthunlich ist, vermögen wir auf ihre Richtung nicht im Geringsten einzuwirken, und gehen eben hin, wo sie uns gerade hinführt.«

Jasper Hobson's klarer und bestimmter Darlegung der Sachlage wurde ohne Widerspruch beigestimmt. Es war unzweifelhaft, daß der strenge Winterfrost die Insel Victoria an das unendliche Eisfeld anlöthen und diese weder nach Norden, noch nach Süden hin allzu weit abweichen würde. Einige hundert Meilen über das Eisfeld zurückzulegen, setzte aber muthige und entschlossene Männer, die an das Polarklima und weite Excursionen durch die arktischen Länder gewöhnt waren, nicht in große Verlegenheit. Zwar mußte Fort-Esperance, das Ziel aller ihrer Sorgen, aufgegeben und auf den Lohn so vieler glücklich durchgeführter Arbeiten verzichtet werden; doch was blieb denn Anderes übrig? Die auf beweglichem Boden aufgeführte Factorei konnte der Hudsons-Bai-Compagnie ja doch keine weiteren Dienste leisten und ihrem endlichen Untergange im Ocean über kurz oder lang nicht entgehen. Es galt also dieselbe zu verlassen, sobald es die Umstände gestatteten.

Die einzige bedenklichste Aussicht, auf welche Jasper Hobson immer und immer wieder zurückkam, war die, daß die Insel Victoria während der acht oder neun Wochen bis zur Erstarrung des Eismeeres zu weit nach Norden oder nach Süden hinweg geführt werden möchte, und wirklich kannte man aus den Berichten über Durchwinterungen Beispiele von Abweichungen, welche auf sehr weite Strecken hin stattfanden, ohne daß man ihnen Einhalt zu thun vermochte.

Alles hing demnach von den unbekannten Strömungen ab, welche von der Behringsstraße her ihren Ausgang nahmen, und es machte sich nöthig, ihre Richtungen nach den Karten des Eismeeres möglichst genau kennen zu lernen. Jasper Hobson, der eine solche Karte besaß, bat Mrs. Paulina [250] Barnett, Madge, den Astronomen und den Sergeanten, ihm in sein kleines Zimmer zu folgen; bevor sie jedoch Cap Bathurst verließen, legte er ihnen nochmals das tiefste Stillschweigen über die gegenwärtige Sachlage an's Herz.

»Ganz zum Verzweifeln ist unsere Lage keineswegs, setzte er noch hinzu, und folglich halte ich es für unzweckmäßig, unsere Gefährten überhaupt zu beunruhigen, da sie nicht so wie wir die guten und die schlechten Aussichten unserer Zukunft abzuwägen verstehen.

– Sollte es indessen, bemerkte Mrs. Paulina Barnett, nicht weise sein, von jetzt ab die Erbauung eines uns Allen Raum bietenden Fahrzeuges in die Hand zu nehmen, welches bei einer Ueberfahrt von einigen hundert Meilen die See zu halten im Stande wäre?

– Gewiß wäre es das, antwortete Jasper Hobson, und wir werden es nicht unterlassen. Einen Vorwand, diese Arbeit ohne Verzug aufzunehmen, werde ich leicht finden, und deshalb dem Meister Zimmermann sofort den nöthigen Befehl geben, an die Construction eines seefesten Schiffes zu gehen. Diesen Ausweg der Rückkehr verspare ich mir indessen nur für den schlimmsten Fall. Das Wichtigste wird es immer bleiben, nicht mehr auf der Insel zu sein, wenn die Verschiebung der Eismassen wieder beginnt, das heißt also, sie zu verlassen und das Festland wieder zu Fuße zu erreichen, sobald der Ocean im Winterfroste erstarrt ist.«

In der That war dieser Beschluß wohl der beste. Zur Erbauung eines Schiffes von dreißig bis fünfunddreißig Tonnen bedurfte es wenigstens der Zeit dreier Monate, dann aber konnte man von demselben keinen Gebrauch machen, da das Meer nicht mehr offen sein würde. Gelang es dagegen Lieutenant Hobson, seine kleine Colonie über das Eisfeld nach dem festen Lande zurück zu führen, so bildete das gewiß die einfachste und glücklichste Lösung des Knotens, denn die Einschiffung der ganzen Gesellschaft bei eintretendem Thauwetter blieb immerhin ein sehr gefährliches Unternehmen. Mit Recht betrachtete Jasper Hobson also das zu erbauende Fahrzeug nur als das letzte Hilfsmittel, und alle Uebrigen theilten seine Meinung. Ueberdies wiederholte man ihm, der offenbar der sachkundigste Beurtheiler der Frage war, das Versprechen der Geheimhaltung.

Wenig Minuten, nachdem sie Cap Bathurst verlassen hatten, umringten die beiden Frauen und die drei Männer in Fort-Esperance den Tisch des [251] großen Saales, in welchem sich deshalb Niemand befand, weil Alle mit verschiedenen Arbeiten im Freien beschäftigt waren.

Der Lieutenant brachte eine ausgezeichnete Karte der atmosphärischen und oceanischen Strömungen herbei und unterzog mit den Anderen denjenigen Theil des Eismeeres, der zwischen der Behrings-Straße und Cap Bathurst liegt, der eingehendsten Prüfung.

Vorzüglich sind es zwei Stromrichtungen, welche jene gefährlichen Seegegenden zwischen dem Polarkreise und der seit der kühnen Entdeckungsfahrt Mac Clure's sogenannten »nordwestlichen Durchfahrt« theilen, mindestens verzeichneten die hydrographischen Beobachtungen bisher keine weiteren.

Die eine nennt man den Kamtschatka-Strom. Nach seiner Entstehung in dem der Halbinsel dieses Namens benachbarten Meere folgt er der asiatischen Küste und dringt unter Berührung des Ostcaps, einer vorspringenden Spitze des Landes der Tchouktchis, durch die Behrings-Straße. Sechshundert Meilen oberhalb der Meerenge verändert sich seine Hauptrichtung von Süden nach Norden und wendet sich, etwa in dem Breitengrade, welcher der während der warmen Jahreszeit gewiß einige Monate lang passirbaren Durchfahrt Mac Clure's entspricht, direct nach Westen.

Ein anderer, der sogenannte Behrings-Strom, verläuft in gerade entgegengesetztem Sinne. Nachdem er höchstens hundert Meilen vom Ufer ab längs der amerikanischen Küste von Osten nach Westen gezogen ist, stößt er so zu sagen mit dem Kamtschatka-Strome an der Oeffnung der Meerenge zusammen, wendet sich dann unter Annäherung an das russische Amerika nach Süden und verschwindet im Behrings-Meere, getheilt durch den fast kreisförmigen Wall der Aleuten.

Diese Karte gewährte einen vollkommen getreuen Ueberblick über die nautischen Entdeckungen bis auf die neueste Zeit, und durfte man sich wohl auf sie verlassen.

Jasper Hobson sah sie sehr aufmerksam durch, bevor er sich aussprach. Dann strich er mit der Hand über die Stirn, so als wollte er ein unangenehmes Vorgefühl verscheuchen, und sprach:

»Hoffen wir, meine Freunde, daß unser Unstern die Insel nicht allzu weit ins offene Meer hinaustreibt, aus der sie Gefahr liefe, nie zurückzukehren.

– Und weshalb, Herr Hobson? fragte lebhaft Mrs. Paulina Barnett.

[252] – Weshalb, Madame? erwiderte der Lieutenant. Betrachten Sie diesen Theil des Arktischen Oceans, und Sie werden es leicht einsehen. Zwei uns gleich gefährliche Ströme laufen dort in entgegengesetztem Sinne. An dem Punkte, wo sie aufeinander treffen, würde die Insel in großer Entfernung von jedem Lande festgehalten werden. Genau an derselben Stelle würde sie den Winter über verbleiben, und bei Gelegenheit des wieder eintretenden Eisganges entweder dem Kamtschatka-Strome bis mitten in die verlassenen Gegenden im Nordwesten folgen, oder unter dem Einfluß des Behrings-Stromes in den Tiefen des Pacifischen Oceans versinken.

– Das wird nicht geschehen, Herr Lieutenant, sagte Madge mit glaubensinnigem Tone, Gott kann das nicht wollen.

– Ich habe nur, fiel Mrs. Paulina Barnett ein, bis jetzt keine Vorstellung davon, auf welchem Theile des Polarmeeres wir augenblicklich treiben, denn in der offenen See neben Cap Bathurst sehe ich nur jenen gefährlichen Kamtschatka-Strom, der unmittelbar nach Nordwesten führt. Liegt nicht die Befürchtung nahe, daß dieser uns schon ergriffen habe und wir nach dem Gebiete von Nord-Georgia zu geführt werden?

– Das glaube ich nicht, sagte Jasper Hobson nach einigen Augenblicken der Ueberlegung.

– Und warum nicht?

– Weil dieser Strom ein sehr rascher ist, Madame, und wir, wenn wir seit drei Monaten mit ihm gingen, irgend eine Küste hätten in Sicht bekommen müssen, was doch noch nicht der Fall gewesen ist.

– Wo befinden wir uns also nach Ihrer Ansicht? fragte die Reisende.

– Ohne Zweifel, antwortete ihr Jasper Hobson, zwischen dem Kamtschatka-Strome und dem Ufer, wahrscheinlich in einer Art großen Wirbels, der nahe der Küste vorhanden ist.

– Das kann nicht sein, Herr Hobson, entgegnete schnell Mrs. Paulina Barnett.

– Das kann nicht sein? wiederholte der Lieutenant, und aus welchem Grunde nicht, Madame?

– Weil die von einem Wirbel erfaßte, also in keiner bestimmten Richtung gehaltene Insel Victoria gewiß irgend welcher Drehungsbewegung unterlegen wäre. Da sich nun ihre Lage gegenüber den Himmelsgegenden nicht verändert hat, so ist auch jenes nicht der Fall gewesen.

[253] – Sie haben Recht, Madame, erwiderte Jasper Hobson, Sie sehen in diesen Dingen völlig klar und ich habe keine Einwendung gegen Ihre Beobachtung, vorausgesetzt, daß nicht ein unbekannter Strom, der auf dieser Karte noch nicht eingezeichnet wäre, existirt. Wirklich, diese Ungewißheit ist abscheulich. Ich wünschte, es wäre schon der morgende Tag, um über die Lage der Insel sicher aufgeklärt zu sein.

– Auch der morgende Tag wird kommen«, vertröstete ihn Madge.

Es galt jetzt also nur zu warten. Man ging auseinander, und Jeder nahm seine gewohnten Beschäftigungen wieder auf. Sergeant Long unterrichtete seine Leute, daß die für morgen angesetzte Abreise nach Fort-Reliance nicht stattfinden werde. Als Grund dafür gab er ihnen an, daß man nach genauerer Ueberlegung die Jahreszeit schon für so vorgeschritten erachten müsse, daß es unmöglich sei, die Factorei vor Eintritt der strengen Kälte zu erreichen; daß der Astronom sich der Vervollständigung seiner meteorologischen Beobachtungen wegen zu einer zweiten Ueberwinterung entschlossen habe und daß die frische Verproviantirung von Fort-Esperance nicht so unbedingt nöthig sei u.s.w. – Lauter Gründe, welche in den wackeren Leuten keinen Verdacht aufkommen ließen.

Den Jägern empfahl Lieutenant Hobson noch speciell, in Zukunft die Pelzthiere, mit denen er nun nichts anzufangen wußte, zu schonen und sich auf das eßbare Wild zu beschränken, um die Vorräthe der Factorei zu erneuern. Ebenso verbot er ihnen, sich weiter als zwei Meilen von dem Fort zu entfernen, da er nicht wollte, daß Marbre, Sabine oder die anderen Jäger plötzlich da angesichts eines Meeres stehen sollten, wo sich vor einigen Monaten der Isthmus, welcher die Halbinsel an das Festland kettete, befand. Das Verschwinden der schmalen Landzunge hätte ja über ihre Lage Licht verbreiten müssen.

Dieser Tag wollte für Jasper Hobson gar kein Ende nehmen. Mehrmals kehrte er, nur in Begleitung der Mrs. Paulina Barnett, nach dem Cap Bathurst zurück. Die Reisende, eine starke, abgehärtete Seele, war keineswegs entsetzt. Die Zukunft erschien ihr nicht im Geringsten furchtbar. Ja, sie scherzte sogar noch, indem sie zu Lieutenant Hobson sagte, diese umherirrende Insel sei vielleicht das einzig richtige Fahrzeug, um nach dem Nordpol zu gelangen! Warum sollte man bei einer günstigen Strömung nicht nach diesem unerreichbaren Punkte der Erdkugel vordringen können?

[254] Lieutenant Hobson schüttelte den Kopf, als er seiner Begleiterin ihre Theorie entwickeln hörte, aber seine Augen rissen sich nicht vom Horizonte los und suchten, ob nicht ein bekanntes oder unbekanntes Land in der Nähe erschiene. Himmel und Erde verschwammen aber unzertrennlich in einer ununterbrochenen Kreislinie, was Jasper Hobson in der Annahme bekräftigte, daß die Insel Victoria mehr, nach Westen, als nach irgend einer anderen Richtung hin abwiche.

»Haben Sie nicht die Absicht, Herr Hobson, fragte da Mrs. Paulina Barnett, unsere Insel, und zwar so bald als möglich, einmal zu umgehen?

– Gewiß, Madame, antwortete Lieutenant Hobson, sobald ich ihre Lage genau aufgenommen habe, wollte ich die Form und Ausdehnung derselben kennen zu lernen suchen. Es ist das ja eine unerläßliche Maßnahme, um die Veränderungen, welche die Zukunft herbeiführen wird, abschätzen zu können. Mit höchster Wahrscheinlichkeit aber hat sie sich von dem Isthmus selbst losgelöst und ist durch diesen Bruch die ganze Halbinsel zur vollständigen Insel geworden.

– Wir haben doch ein eigenthümliches Geschick, Herr Hobson, fuhr die Reisende fort. Andere kommen von ihrer Reise zurück und haben dem geographischen Contingente wohl einige neue Länder hinzugefügt, wir werden ihn dagegen vermindert haben, da wir diese vermeintliche Halbinsel Victoria von den Karten streichen lassen.«

Am anderen Tage, am 18. Juli, um zehn Uhr Morgens, ermittelte Jasper Hobson bei reinem Himmel genau die Sonnenhöhe. Durch Zusammenstellung dieses Resultates mit dem des vorigen Tages berechnete er die geographische Länge des Ortes.

Selbst während dieser Operation hatte sich der Astronom nicht blicken lassen; er schmollte wie ein großes Kind in seinem Zimmer, daß er dem wissenschaftlichen Leben geraubt sei.

Die Insel befand sich unter 157°37' östlicher Länge von Greenwich. Die am Tage vorher, d.h. die an dem nach der Sonnenfinsterniß nachgewiesene Breite war, wie erwähnt, 73°7'20''.

In Gegenwart der Mrs. Paulina Barnett und des Sergeant Long wurde der Punkt auf der Karte angemerkt.

Es war das ein Augenblick ängstlicher Erwartung, die übrigens folgendes Resultat ergab:


Ein grollender Einsiedler. (S. 255.)

Die schwimmende Insel hatte sich, wie Lieutenant Hobson vorausgesehen hatte, nach Westen gewendet, aber ein auf der Karte nicht verzeichneter und den Hydrographen dieser Küste unbekannter Strom führte sie [255] offenbar nach der Behrings-Straße zu. Alle von dem Lieutenant Hobson vorausgefühlten Gefahren blieben also zu befürchten, wenn die Insel Victoria nicht vor dem Winter wieder an eine Küste anlief.


Die Werst neben Cap Bathurst. (S. 259.)

»In welcher Entfernung vom amerikanischen Continente befinden wir uns [256] nun aber eigentlich? fragte die Reisende; das hat doch für jetzt das meiste Interesse.«

Mittels des Zirkels maß Jasper Hobson die geringste Meeresweite zwischen der Küste und dem dreiundsiebenzigsten Breitengrade auf der Karte.

»Wir sind thatsächlich mehr als zweihundertundfünfzig Meilen entfernt von jenem Theile des nördlichen Amerika, welcher die Barrow-Spitze bildet.

[257] – Dazu müßte man die Größe der Abweichung kennen, welcher die Insel gegenüber der früheren Lage des Cap Bathurst unterlegen hat, sagte Sergeant Long.

– Diese beträgt schlecht gerechnet siebenhundert Meilen, antwortete Jasper Hobson nach wiederholter Zuratheziehung der Karte.

– Und in welche Zeit ist der Anfang der Abweichung zu versetzen?

– Gewiß begann sie gegen Ende April, belehrte Lieutenant Hobson. Zu dieser Zeit lockerte sich das Eisfeld und wurde die von der Sonne nicht geschmolzene Scholle nach Norden weggeführt. Es ist also anzunehmen, daß sie durch einen der Küste nahezu parallelen Strom etwa seit drei Monaten nach Westen zu abweicht, was eine mittlere Geschwindigkeit von neun bis zehn Meilen täglich ergäbe.

– Ist das nicht eine sehr beträchtliche Schnelligkeit? fragte Mrs. Paulina Barnett.

– Ja wohl ist sie das, schloß Jasper Hobson, und Sie können selbst berechnen, wie weit wir in den bei den Monaten, während der das Meer noch eisfrei bleibt, verschlagen werden dürften!«

Der Lieutenant, Mrs. Paulina Barnett und Sergeant Long schwiegen einige Augenblicke. Unbeweglich hafteten ihre Augen auf der Karte jener Polarländer, welche dem Fuße des Menschen so hartnäckig jeden Eintritt verwehren und gegen welche sie selbst jetzt mit unwiderstehlicher Gewalt geführt wurden.

»In unserer jetzigen Lage haben wir also Nichts zu thun, Nichts zu versuchen? fragte die Reisende.

– Gar nichts, Madame, antwortete Lieutenant Hobson, wir müssen warten und können nur aus ganzem Herzen jenen arktischen Winter herbei sehnen, der im Allgemeinen und mit vollem Rechte von den Seefahrern so sehr gefürchtet wird, und der uns doch allein noch zu erretten vermag. Der Winter, Madame, ist das Eis, und das Eis ist der Anker unserer Hoffnung, der einzige, der dem Laufe unserer schwimmenden Insel ein Halt gebieten kann.«

[258]
3. Capitel
Drittes Capitel
Ein Gang um die Insel.

Von diesem Tage ab wurde beschlossen, die jedesmalige Lage, so wie es an Bord der Schiffe gebräuchlich ist, einzutragen, vorausgesetzt, daß der Zustand der Atmosphäre die Beobachtungen gestatte. War diese Insel Victoria denn im Grunde etwas Anderes, als ein Schiff, und zwar ein solches, welches ohne Segel und Steuer dem Zufall überlassen umherirrte?

Am anderen Tage constatirte Jasper Hobson nach Berechnung der geographischen Lage, daß die Insel ohne Veränderung der nördlichen Breite einige Meilen weiter nach Westen geführt worden war. Dem Zimmermann wurde nun Auftrag gegeben, unverzüglich an den Bau eines geräumigen Schiffes zu gehen. Jasper Hobson schützte dabei eine im nächsten Sommer zu unternehmende Entdeckungsreise längs der Küste bis zum russischen Amerika hin vor. Ohne weiter zu fragen, beschäftigte sich der Zimmermann mit der Auswahl der nöthigen Stämme und wählte als Werft eine seichte Uferstelle neben Cap Bathurst, um sein Bauwerk dereinst bequem in's Meer bringen zu können.

Lieutenant Hobson wollte an demselben Tage sein Vorhaben, das Territorium, auf welchem er jetzt sammt seinen Gefährten gefangen war, zu untersuchen, ausführen. Da in der Gesammtform dieser Insel, welche unter dem Einflusse der wechselnden Wassertemperatur stand, wesentliche Veränderungen eintreten konnten, erschien es von Wichtigkeit, deren jetzige Form, Oberfläche und selbst deren Dicke an gewissen Stellen genau festzustellen. Die Bruchstelle, das heißt also wahrscheinlich der Isthmus, sollte sorgfältig untersucht werden, da an diesem frischen Bruche vielleicht die geschichtete Lage von Eis und Erde zu erkennen war, welche den Boden der Insel bildete.

An eben diesem Tage verdüsterte sich indeß die Atmosphäre, und ein von dickem Nebel begleiteter Sturm brach noch am Nachmittage los. Bald entlud sich der Himmel und fiel der Regen in Strömen. Große Hagelkörner schlugen auf das Dach des Hauses nieder, und dann und wann ließ sich sogar ein entfernter Donner – eine in diesen Breiten sehr ungewöhnliche Erscheinung – hören.

[259] Lieutenant Hobson mußte seine Abreise verschieben und abwarten, bis der Aufruhr der Elemente sich gelegt hatte. Während des 20., 21. und 22. Juli trat aber in dem Zustande des Himmels keine Besserung ein. Bei dem heftigen Sturme donnerten die Wogen mit betäubendem Lärmen an die Küste. Flüssige Lawinen brachen sich mit solcher Gewalt am Cap Bathurst, daß man für dessen ohnehin sehr problematische Solidität fürchten mußte, insofern es sich ja überhaupt nur aus einer Anhäufung von Sand und Erde ohne sicheren Untergrund aufbaute. Wie waren die im offenen Meere diesem wüthenden Sturme ausgesetzten Schiffe zu beklagen? Auf der schwimmenden Insel fühlte man aber nichts von der Bewegung des Wassers, indem deren enorme Masse dem Zorne des Oceans widerstand.

In der Nacht vom 22. zum 23. Juli ließ der Sturm plötzlich nach. Eine steife, aus Nordosten wehende Brise verjagte die letzten am Horizonte aufgehäuften Dunstmassen. Das Barometer stieg um einige Linien, und die atmosphärischen Bedingungen schienen Lieutenant Hobson zum Antritt der kleinen Reise günstig.

Mrs. Paulina Barnett und der Sergeant sollten ihn bei dieser Erforschung begleiten. Eine Abwesenheit von ein bis zwei Tagen konnte den Bewohnern der Factorei nicht auffallen, und so versorgte man sich mit einer gewissen Menge gedörrten Fleisches, mit Schiffszwieback und einigen Flaschen Branntwein, wodurch die Reisetasche der Wanderer nicht allzu sehr belastet werden konnte. Noch waren die Tage sehr lang, und nur wenige Stunden über verschwand die Sonne unter dem Horizonte.

Ein Zusammenstoß mit gefährlichen Thieren hatte keine große Wahrscheinlichkeit für sich. Die Bären schienen, von ihrem Instinct geführt, die Insel Victoria zur Zeit, als sie noch eine Halbinsel bildete, verlassen zu haben. Aus Vorsicht bewaffneten sich aber Jasper Hobson, der Sergeant und selbst Mrs. Paulina Barnett mit Gewehren. Der Lieutenant und sein Unterofficier trugen außerdem eine Axt und das Schneemesser bei sich, ohne welches ein Reisender in Polarländern überhaupt niemals ausgeht.

Für die Zeit der Abwesenheit des Lieutenant Hobson ging das Commando des Forts dem Range nach auf Corporal Joliffe, d.h. auf seine kleine Frau über, und Jasper Hobson wußte auch, daß er sich auf diese verlassen konnte. Auf Thomas Black war nicht mehr zu zählen, selbst wenn er sich nur einem derartigen Zuge anschließen sollte, doch versprach er [260] wenigstens, während der Abwesenheit des Lieutenants das Meer im Norden zu beobachten und die Veränderungen zu notiren, die sich entweder in jenem oder in der Lage der Insel vollziehen könnten.

Vielfach hatte Mrs. Paulina Barnett versucht, den armen Gelehrten wieder zur Vernunft zu bringen, doch wollte dieser von Nichts hören. Er hielt sich nicht ohne Grund für mystificirt von der Natur, und konnte derselben diese Mystification niemals verzeihen.

Nach manchem beim Abschied gewechselten Händedrucke verließen Mrs. Paulina Barnett und ihre Begleiter das Fort, wandten sich nach Westen und folgten dem vom Cap Bathurst bis zum Cap Eskimo sich hinziehenden langen Küstenstriche.

Es war acht Uhr Morgens. Die schrägen Strahlen der Sonne belebten die Küste mit falbem Lichte. Die hohle See glättete sich mehr und mehr; alle vom Sturm vertriebenen Vögel, wie die Fettgänse, Wasserscheerer, Taucherhühner und Sturmvögel kehrten zu Tausenden zurück. Ganze Züge Enten flatterten nach den Ufern des Barnett-Sees, ohne zu ahnen, daß sie Mrs. Joliffe's Kochtopf gerade entgegen flogen. Einzelne Polarhasen, Zobelmarder, Bisamratten und Hermeline erhoben sich vor den Reisenden und entflohen, doch ohne zu große Eile.

Die Thiere schienen im Vorgefühle einer allgemeinen Gefahr die Gesellschaft der Menschen zu suchen.

»Sie wissen es recht gut, daß das Meer sie umschließt, sagte Jasper Hobson, und daß sie die Insel nicht verlassen können.

– Haben diese Nager, wie die Hafen und Andere, fragte Mrs. Paulina Barnett, nicht die Gewohnheit, vor Eintritt des Winters im Süden ein milderes Klima aufzusuchen?

– Ja, Madame, bestätigte Jasper Hobson, für dieses Mal werden sie aber, falls das Eis ihnen keinen Ausweg zu fliehen bietet, mit uns gefangen bleiben, und zum großen Theil durch Kälte und Hunger umkommen.

– Hoffentlich sollen jene Thiere, fügte Sergeant Long ein, uns noch durch die Nahrung, welche sie liefern, sehr nützlich sein und ist es ein wahres Glück für die Colonie, daß sie nicht darauf gekommen sind, vor dem Bruche des Isthmus zu entfliehen.

– Die Vögel werden uns aber zweifellos verlassen? fragte Mrs. Paulina Barnett.

[261] – Ja, Madame, erwiderte Jasper Hobson, alle diese Geflügelarten dürfte die erste Kälte vertreiben. Sie vermögen sehr weite Räume, ohne zu ermüden, zu durchfliegen, und werden, glücklicher als wir, das feste Land wieder erreichen können.

– Nun wohl, warum sollten wir uns ihrer nicht als Boten bedienen? warf da die Reisende ein.

– Das wäre ein Gedanke, sagte Jasper Hobson, ein prächtiger Gedanke. Einige hundert Vögel sind leicht zu fangen, an deren Hals wir ein Papier, welches das Geheimniß unserer Lage enthält, befestigen könnten. Schon im Jahre 1848 versuchte John Roß die Lage seiner Schiffe, Entreprise und Investigator, im Polarmeere den etwa Ueberlebenden von der Expedition Franklin's durch ein analoges Mittel bekannt zu geben. Er fing einmal einige hundert weiße Füchse in Fallen, versah diese mit einem Halsbande von Kupfer, auf dem die nöthigen Notizen eingravirt waren, und jagte sie dann nach allen Richtungen auseinander.

– Und vielleicht sind einige dieser Boten den Schiffbrüchigen in die Hände gefallen? fragte Mrs. Paulina Barnett.

– Vielleicht, antwortete Jasper Hobson, jedenfalls erinnere ich mich, daß einer dieser Füchse, damals schon ein altes Thier, von dem Kapitän Hatteras bei Gelegenheit seiner Entdeckungsreise gefangen wurde. Dieser Fuchs trug noch das halb durchgescheuerte Halsband unter seinem weißen Pelzfelle versteckt. Was wir nun mit Vierfüßlern nicht auszuführen im Stande sind, das werden wir mit Vögeln ausführen.«

Unter solchem Geplauder und dem Entwerfen verschiedener Projecte für die Zukunft verfolgten die Drei die Küste der Insel, an der sie zunächst keine Veränderung vorfanden. Ueberall dieselben sehr abschüssigen und mit Sand und Erde bedeckten Ufer; auch zeigte sich kein Sprung, welcher eine neuerliche Veränderung im Umfang der Insel hätte vermuthen lassen.

Es war wohl weit mehr zu befürchten, daß der ungeheure Eisblock, wenn er in wärmere Strömungen gerieth, an seiner Basis und folglich an Dickedurchmesser abnähme, eine Hypothese, die Jasper Hobson mit Recht beunruhigte.

Um elf Uhr Morgens hatten die Forscher die acht Meilen, welche Cap Bathurst vom Cap Eskimo trennten, zurückgelegt. An dieser Stelle fanden sie noch die Spuren des Lagers, das die Familie Kalumah's inne gehabt [262] hatte. Von dem Schneehause war natürlich nichts übrig, doch erinnerten die kalte Asche und die umherliegenden Robbenknochen noch an den Durchzug der Eskimos.

Mrs. Paulina Barnett, Jasper Hobson und der Sergeant machten an dieser Stelle Halt, wollten jedoch die kurzen Stunden der Nacht an der Walroß-Bai, die man einige Stunden später zu erreichen hoffte, verbringen. Sie frühstückten also auf einer leichten, mit magerem und dünnem Grase bedeckten Bodenerhebung. Vor ihren Augen entrollte sich der schöne, glatte Meereshorizont. Kein Segel, kein Eisberg belebte diese weite Wasserwüste.

»Würden Sie sehr erstaunt sein, Herr Hobson, fragte Mrs. Paulina Barnett, wenn sich ein Fahrzeug jetzt Ihren Blicken zeigte?

– Sehr erstaunt, nein, Madame, antwortete Lieutenant Hobson, aber ich gestehe, sehr erfreut würde ich sein. Während der guten Jahreszeit ist es nicht selten, daß Walfänger von der Behrings-Straße bis in diese Breiten vordringen, vorzüglich, seitdem der Arktische Ocean zum Fischbecken der Wale und Pottfische geworden ist. Wir schreiben jedoch den 23. Juli, und der Sommer ist schon weit vorgeschritten. Die ganze Fischerflotte ist jetzt ohne Zweifel am Kotzebue-Golfe, am Eingange der Meerenge versammelt. Die Walfänger mißtrauen, und das mit Recht, den Ueberraschungen des Polarmeeres. Sie fürchten das Eis und sind besorgt, etwa davon eingeschlossen zu werden. Gerade diese Eisberge aber, diese Eisströme und dieser Schollenwall, – die Gegenstände der Furcht aller Uebrigen, gerade diese wünschen wir mit größter Sehnsucht herbei. –

– Sie werden auch kommen, Herr Lieutenant, fiel Sergeant Long ein, nur Geduld; bevor zwei Monate in's Land sind, werden die Wellen des Meeres nicht mehr an das Cap Eskimo schlagen.

– Das Cap Eskimo! sagte lächelnd Mrs. Paulina Barnett, ist aber dieser Name, sind nicht alle die Benennungen, welche wir den Buchten und Spitzen der Halbinsel gegeben hatten, nun etwas verfrüht? Den Barnett-Hafen und den Paulina-Fluß haben wir schon eingebüßt, wer weiß, ob nicht auch Cap Eskimo und die Walroß-Bai an die Reihe kommen?

– Sie werden auch dahin gehen, Madame, antwortete Jasper Hobson, sowie nach ihnen die ganze Insel Victoria, da sie Nichts mehr an das Festland bindet, und ihr Untergang vom Schicksal vorausbestimmt ist. Dieses Ende erscheint unvermeidlich, und haben wir uns bezüglich der geographischen [263] Nomenclatur unnöthige Kosten verursacht. Zum Glück sind unsere Benennungen von der Königlichen Gesellschaft noch nicht angenommen worden, und der ehrenwerthe Roderick Murchison 1 wird deshalb keinen Namen aus seinen Karten zu streichen haben.


Frühstück auf der Wanderung. (S. 263.)

– Und doch einen einzigen! bemerkte der Sergeant.

[264] – Welchen? fragte Jasper Hobson.

– Das Cap Bathurst, erwiderte Jener.

– Wirklich, Sie haben Recht, Sergeant, Cap Bathurst ist nun aus der Polar-Kartographie zu löschen!«

Zwei Stunden hatten zum Ausruhen genügt. Um ein Uhr Mittags brach die kleine Gesellschaft wieder auf.


Neugierige Zuschauer. (S. 267.)

Als Jasper Hobson Cap Eskimo schon verlassen wollte, warf er einen [265] letzten Blick auf das umgebende Meer. Da aber Nichts seine Aufmerksamkeit zu fesseln vermochte, schloß er sich Mrs. Paulina Barnett, welche mit dem Sergeanten schon voraus war, an.

»Madame, begann er, Sie haben die Familie Eingeborener, welche wir eben hier früher antrafen, es war wohl kurz vor dem Ende des Winters, doch nicht vergessen?

– Nein, Herr Hobson, entgegnete die Reisende, der guten kleinen Kalumah erinnere ich mich noch heute recht gern. Sie versprach sogar, uns in Fort-Esperance wieder aufzusuchen, ein Versprechen, welches ihr nun zu halten unmöglich ist. Doch weshalb stellen Sie diese Frage an mich?

– Weil ich mich eines Umstandes entsinne, eines Umstandes, auf welchen ich damals kein besonderes Gewicht legte, der sich jetzt aber meiner Erinnerung aufdrängt.

– Und dieser wäre?

– Erinnern Sie sich eines gewissen unruhigen Erstaunens, welches die Eskimos an den Tag legten, als sie am Fuße des Cap Bathurst eine Factorei errichtet sahen?

– Vollkommen, Herr Hobson.

– Entsinnen Sie sich auch, daß ich mich gern verständlich zu machen suchte, um die Gedanken der Eingeborenen zu enträthseln, es aber leider nicht vermochte?

– Recht gut.

– Nun, sagte Lieutenant Hobson, jetzt wird mir ihr Kopfschütteln erklärlicher. Jene Eskimos kannten aus Ueberlieferungen, aus Erfahrung oder sonst welchem Grunde die Natur und den Ursprung der Halbinsel Victoria. Sie wußten, daß wir auf keinem festen Grunde gebaut hatten. Da die Sachen aber ohne Zweifel seit Jahrhunderten ebenso standen, ahnten sie auch keine drohende Gefahr und haben sich deshalb nicht deutlicher erklärt.

– Das kann wohl der Fall sein, Herr Hobson, antwortete Mrs. Paulina Barnett, gewiß war der Verdacht ihrer Genossen der Kalumah aber unbekannt, denn das arme Kind würde nicht angestanden haben, uns denselben mitzutheilen.«

Hierin stimmte auch Lieutenant Hobson der Ansicht Mrs. Paulina Barnett's vollkommen zu.

[266] »Man muß gestehen, sagte da der Sergeant, daß es ein rechtes Unglück ist, uns gerade zu der Zeit auf der Halbinsel anzusiedeln, als sie sich vom Continente losriß, um durch die Meere zu irren; denn lange, wahrscheinlich sehr lange Zeit wird dort Alles in gleichem Zustande gewesen sein, vielleicht Jahrhunderte hindurch!

– Sagen Sie tausend und abertausend Jahre, Sergeant Long, erwiderte Jasper Hobson, bedenken Sie nur, daß die Pflanzenerde, welche wir augenblicklich unter unseren Füßen haben, erst Zelle für Zelle durch den Wind hierher geführt werden mußte; daß dieser Sand Körnchen für Körnchen hierhergeflogen ist! Ueberdenken Sie den Zeitraum, der einst nöthig war, aus den Samen der Tannen, Birken und anderer Gewächse, Bäume und Sträucher entstehen und sich auch wieder vermehren zu lassen! Das Eis, auf dem wir wandeln, könnte wohl schon vor dem Auftreten des Menschen auf der Erde an den Continent gelöthet worden sein!

– Nun, rief Sergeant Long, dann konnte es auch noch ein paar Jahrhunderte warten, bevor es sich in's Weite aufmachte, dieses wunderliche Eis. Wie manche Unruhe, wie manche Gefahren vielleicht, wären uns erspart geblieben!«

Diese sehr richtige Reflexion des Sergeant Long beendete das Gespräch, und man setzte seinen Weg rüstig fort.

Vom Cap Eskimo bis zur Walroß-Bai verlief die Küste ziemlich genau von Norden nach Süden, etwa in der Richtung des hundertundsiebenundfünfzigsten Meridianes. Nach rückwärts sah man in einer Entfernung von vier bis fünf Meilen das spitze Ende der Lagune, welche im Strahle der Sonne widerglänzte, und etwas weiter die letzten bewaldeten Erhöhungen, deren Grün ihre Gewässer zierte. Mit rauschendem Flügelschlage zogen einige Pfeiferadler durch die Lüfte. Zahlreiche Pelzthiere, wie Marder, Wiesel und Hermeline, die in sandigen Aushöhlungen halb versteckt oder zwischen magerem Gebüsch verborgen waren, schauten die Reisenden an. Sie schienen zu wissen, daß sie nichts von deren Gewehren zu fürchten hatten. Auch einige Biber bemerkte Jasper Hobson, die in der Irre herumliefen und sich nicht auszufinden wußten, seit der kleine Fluß verschwunden war. Ohne Hütten zu ihrem Schutze und ohne Wasserlauf, um neue Dörfer daran zu errichten, stand es ihnen bevor, durch den Frost umzukommen, sobald die strenge Winterkälte eintrat. Ebenso erkannte Sergeant Long eine Bande [267] Wölfe, welche durch die Ebene stürmte. Man war demnach veranlaßt, zu glauben, daß eine ganze Menagerie der Pelzthiere auf der schwimmenden Insel gefangen sei, und mußten die Raubthiere, wenn der Winter ihren Hunger reizte und sie ihre Nahrung in wärmeren Klimaten doch nicht zu suchen vermochten, den Insassen des Fort-Esperance unzweifelhaft sehr gefährlich werden.

Nur die weißen Bären schienen der Fauna der Insel abzugehen – ein Umstand, über den man sich gewiß nicht zu beklagen hatte. Hinter einer Gruppe Birken glaubte zwar Sergeant Long eine weiße ungeheure Masse in langsamer Bewegung zu erblicken, kam aber, als er genauer nachsah, zu der Ueberzeugung, daß er sich getäuscht habe.

Dieser Theil der Küste, welcher an die Walroß-Bai grenzte, stieg nur sehr wenig über das Niveau des Meeres auf. Da und dort lag es fast in gleicher Ebene mit der Wasserfläche, und schäumend rollten die letzten Ausläufer der Wellen, wie über einen sanften Uferabhang, über ihre Oberfläche. Es schien zu befürchten, daß sich der Erdboden an diesem Theile der Insel schon seit einiger Zeit gesenkt habe; da man aber genaue Merkzeichen nicht besaß, war es unmöglich, eine Veränderung zu erkennen, oder deren Umfang abzuschätzen. –

Jasper Hobson bedauerte, nicht vor der Abweichung des Cap Bathurst solche Zeichen angebracht zu haben, die ihm gestattet hätten, die verschiedenen Senkungen und Vertiefungen der Küste zu messen. Er beschloß aber diese Maßregel sofort nach der Rückkehr auszuführen.

Es ist erklärlich, daß unsere drei Reisenden bei diesen Untersuchungen nicht allzu schnell vorwärts kamen. Ost hielt man an, prüfte den Boden, suchte nach, ob sich irgend wo ein Sprung an der Küste gebildet habe, und dabei drangen die Forscher manchmal eine halbe Meile weit in das Land ein. An gewissen Stellen gebrauchte Sergeant Long die Vorsicht, Weiden- und Birkenstöcke in den Boden zu stecken, welche für die Zukunft als Visirpunkte vorzüglich an den tiefer liegenden Theilen, deren Haltbarkeit zweifelhaft war, dienen sollten. Hier mußte es also leicht sein, spätere Veränderungen zu erkennen.

Inzwischen ging man vorwärts und gegen drei Uhr befand sich die Walroß-Bai nur noch etwa drei Meilen weit im Süden entfernt. Schon [268] von hier aus konnte Jasper Hobson die Mrs. Paulina Barnett auf die Veränderung aufmerksam machen, welche der Bruch des Isthmus, in der That ein Vorgang von tiefgehendstem Einfluß, hervorgerufen hatte.

Früher zeigte sich der südwestliche Horizont durch eine lange Linie rundlicher Erhöhungen abgeschlossen, die das Ufer der großen Bai Liverpool bildeten, – jetzt umrahmte das Wasser den endlosen Horizont. Das Festland war verschwunden. An der Stelle selbst, an der der Bruch stattgefunden hatte, endete die Insel Victoria mit einem schroffen Winkel. Ging man um diesen herum, so mußte das Meer, welches jetzt diese ganze Linie umspülte, die sonst als fester Boden zwischen der Walroß- und der Washburn-Bai lag, sichtbar werden.

Nicht ohne tiefe Bewegung betrachtete Mrs. Paulina Barnett den neuen Anblick; sie hatte ihn zwar erwartet, und doch klopfte ihr heftig das Herz. Suchend schweiften ihre Augen nach dem Lande, das jetzt am Horizonte fehlte, jenes Land, das nun über zweihundert Meilen hinter ihnen lag, und sie glaubte es zu fühlen, daß ihr Fuß nicht mehr auf amerikanischen Boden trat. Für empfindsame Seelen ist es wohl unnöthig, hierbei zu verweilen, doch verdient es erwähnt zu werden, daß Jasper Hobson und selbst der Sergeant die Gemüthsbewegung der Reisenden theilten. Alle beeilten ihre Schritte, um den scharfen Winkel ganz zu erreichen, der noch im Süden vor ihnen lag, und an dem sich der Erdboden etwas hob. Die Schicht von Erde und Sand war allda etwas stärker, was sich ja leicht aus der Nachbarschaft dieses Gebietstheiles und des wirklichen Festlandes erklärte. Die Dicke der Eiskruste und der Erdschichten an dieser Verbindungsstelle machte es auch verständlich, wie der Isthmus so lange hatte halten können, bis ein geologisches Ereigniß dessen Bruch herbeiführte. Das Erdbeben vom 8. Januar hatte den amerikanischen Continent nur wenig erschüttert, sein Stoß aber hingereicht, die Halbinsel, welche nun den Launen des Oceans preisgegeben war, abzubrechen.

Um vier Uhr endlich wurde der Winkel erreicht. Die von einer Ausbuchtung des festen Landes gebildete Walroß-Bai existirte nicht mehr. Sie war bei dem Continente verblieben.

»Meiner Treu, Madame, sagte ernsthaft Sergeant Long zu der Reisenden, es war gut, daß wir ihr nicht den Namen der ›Paulina Barnett's-Bai‹ gegeben hatten.

[269] – Ja wirklich, erwiderte die Dame, und ich fange an zu glauben, daß ich für geographische Nomenclatur eine unselige Pathin bin!«

Fußnoten

1 Der Zeit Präsident der Königlich Geographischen Gesellschaft.

4. Capitel
Viertes Capitel.
Ein Nachtlager.

Jasper Hobson hatte sich also bezüglich der Bruchstelle nicht getäuscht. Der Isthmus war durch die Stöße des Erdbebens getrennt worden. Westlich von der Insel zeigten sich keine Spuren des amerikanischen Festlandes, keine steilen Gestade, keine Vulkane mehr – allüberall nur Wasser!

Der jetzt durch die Südwestspitze der Insel gebildete Winkel ragte als scharf abgeschnittenes Cap hervor, welches, angenagt durch wärmere Gewässer und deren Anprall ausgesetzt, einer baldigen Zerstörung anheim fallen mußte.

Die Reisenden setzten ihren Weg längs der fast geraden und ziemlich genau von Westen nach Osten verlaufenden Bruchlinie fort. Die Fläche des Bruches selbst war so glatt, als rührte sie von einem schneidenden Werkzeuge her, und gestattete an manchen Stellen das Gefüge des Erdbodens zu erkennen. Das zur Hälfte aus Eis und zur Hälfte aus Erde und Sand bestehende Ufer tauchte gegen zehn Fuß hoch über das Wasser auf. An dem vollkommen steilen Abfalle verriethen mehrere ganz frische Stellen noch neuerliche Nachstürze. Sergeant Long wies sogar auf zwei bis drei kleine Eisschollen hin, welche eben in Auflösung begriffen waren. Durch die anbrandenden Wellen mußte das wärmere Wasser natürlich diesen Saum um so leichter benagen, da ihn die Zeit noch nicht, so wie die übrigen Küstenstriche, mit einer Art Mörtel aus Sand und Schnee bekleidet hatte; ein Umstand, der auch nicht zu besonderer Beruhigung diente.

Mrs. Paulina Barnett, Lieutenant Hobson und Sergeant Long wollten, bevor sie sich zur Ruhe begaben, die ganze südliche Kante der Insel untersuchen. Die Sonne, welche jetzt einen sehr verlängerten Bogen beschrieb, [270] konnte vor elf Uhr nicht untergehen, und fehlte es demnach nicht an Tageslicht. Langsam zog die glänzende Scheibe über den westlichen Himmel, deren schräge Strahlen riesenhafte Schattenbilder vor die Füße der Wanderer warfen. Diese selbst kamen manchmal in lebhaftes Gespräch, manchmal aber traten lange Pausen ein, während der sie das Meer überschauten oder ihre Zukunft bedachten.

Es lag in Jasper Hobson's Absicht, an der Washburn-Bai zu übernachten. An diesem Punkte rechnete er, wenn sich seine Voraussetzungen als richtig erwiesen, gegen achtzehn Meilen, das heißt die Hälfte der Rundreise, zurückgelegt zu haben. Wenn sich dann seine Begleiterin nach einigen Stunden der Ruhe von ihrer Anstrengung erholt hätte, gedachte er sich nach dem nördlichen Ufer zu wenden, und längs desselben nach Fort-Esperance zurückzukehren.

Bei der Besichtigung des neuen Ufers zwischen der Walroß- und der Washburn-Bai ereignete sich nichts Besonderes. Um sieben Uhr Abends war Jasper Hobson nach dem Punkte gelangt, den er zum Uebernachten ausersehen hatte. Auch an dieser Seite zeigte sich dieselbe Veränderung; von der Washburn-Bai war nur noch die eine flachbogige Seite übrig, welche die Küste der Insel bildete. Diese erstreckte sich ohne nennenswerthe Unterbrechung bis zu einem »Cap Michel« genannten Vorsprunge in einer Länge von sieben Meilen. Dieser Theil der Insel schien durch den Bruch des Isthmus in keiner Weise gelitten zu haben. Lustig grünten Fichten- und Birkengruppen etwas landeinwärts; auch Pelzthiere sah man in ziemlicher Menge über die Ebene dahin laufen.

Mrs. Paulina Barnett und ihre beiden Begleiter hielten an dieser Stelle an. Waren ihre Blicke auch nach Norden hin beschränkt, so umfaßten sie doch nach Süden zu die volle Hälfte des Gesichtskreises. Die Sonne beschrieb einen so flachen Kreis, daß ihre von dem höheren Ufer im Westen aufgefangenen Strahlen nicht bis zur Washburn-Bai dringen konnten. Noch war es aber nicht Nacht, nicht einmal Dämmerung, denn das Strahlengestirn war noch nicht untergegangen.

»Herr Lieutenant, begann da der Sergeant im ernsthaftesten Tone der Welt, wenn jetzt durch ein Wunder eine Glocke ertönte, welche Stunde würde sie nach Ihrer Meinung schlagen?


Sinnend am Ufer. (S. 274.)

– Die Stunde des Abendessens, Sergeant, entgegnete Jasper Hobson. Ich denke, Madame, Sie werden auch dieser Ansicht sein?

– Ganz und gar, bestätigte die Reisende; und da unser Tisch überall ist, wo wir uns niedersetzen, so [271] wollen wir es sofort thun. Hier befindet sich gleich ein freilich etwas abgenutzter Moosteppich, den die Vorsehung eigens für uns ausgebreitet zu haben scheint.«


»Aushalten!« (S. 276.)

Die Provianttasche ward also geöffnet. Getrocknetes Fleisch und eine [272] aus der Speisekammer der Mrs. Joliffe bezogene Hasenpastete bildeten nebst etwas Schiffszwieback die Speisekarte.

Eine Viertelstunde nach eingenommener Mahlzeit wandte sich Jasper Hobson noch einmal nach der südöstlichen Ecke der Insel zurück, während Mrs. Paulina Barnett am Fuße einer dürftigen, halb entästeten Tanne sitzen blieb, und der Sergeant sich mit der Einrichtung einer Lagerstätte für die Nacht beschäftigte[273] Lieutenant Hobson wollte die Structur des Eisfeldes, welches die Insel bildete, untersuchen, und wenn möglich die Entstehungsweise desselben erforschen. An einer durch Einsturz entstandenen abschüssigen Stelle konnte er bis zum Meeresniveau hinabgelangen und von diesem Punkte aus bequem die steile Ufermauer betrachten.

An dieser Stelle stieg der Erdboden kaum drei Fuß über das Wasser heraus. Sein oberer Theil bestand aus einer dünnen Schicht von Erde und Sand, untermischt mit Trümmern von Muschelschalen. Den unteren Theil bildete eine zusammenhängende, sehr harte, fast metallähnlich gewordene Eislage, welche also unmittelbar die Humusdecke der Insel trug.

Diese Eisschicht überragte die Wasserfläche kaum um einen Fuß. An der frischen Schnittfläche waren die Einzelschichten des Eisfeldes deutlich zu unterscheiden. Die ganz horizontalen Ablagerungen schienen darauf hinzudeuten, daß die auf einander folgenden Frostperioden, denen sie ihre Entstehung verdankten, ein völlig ruhiges Wasser betroffen hatten.

Bekanntlich gefrieren Flüssigkeiten zuerst an ihrer Oberfläche; dauert der Frost dann länger an, so wächst die erste feste Schale von oben nach unten weiter. So ist der Vorgang wenigstens bei still stehendem Wasser. Bei fließendem dagegen hat man beobachtet, daß sich zuerst in der Tiefe Eisschollen bilden, welche später zur Oberfläche aufsteigen.

Für dieses Eisfeld, die Unterlage der Insel Victoria, aber war es nicht zweifelhaft, daß es am Ufer des Festlandes aus ruhigem Wasser entstanden sei, und drängte sich die Annahme auf, daß dasselbe an seiner unteren Fläche wegschmelzen werde. Gelangte es also in wärmere Gewässer, so mußte die Eisinsel an Dicke abnehmen, ihre Oberfläche dem entsprechend aber dem Niveau des Meeres näher kommen.

Hierin lag die größte Gefahr.

Jasper Hobson hatte, wie erwähnt, beobachtet, daß die feste Unterlage der Insel, also der eigentliche Eisblock, die Wasserfläche nur um etwa einen Fuß überragte. Nun weiß man aber, daß eine Scholle höchstens zu vier Fünfteln in das Wasser einsinkt. Ein Eisfeld oder ein Eisberg hat demnach für jeden Fuß sichtbaren Durchmessers vier Fuß unter der Wasserfläche. Doch ist nicht zu übersehen, daß schwimmende Schollen je nach ihrer Bildung und Entstehungsweise eine verschiedene Dichtigkeit, also ein wechselndes specifisches Gewicht aufweisen. Solche aus Meerwasser nämlich sind poröser, [274] undurchsichtig, je nach der Richtung der Lichtstrahlen von blauer oder grüner Färbung, und leichter, als die aus Süßwasser entstandenen. Ihre Oberfläche steigt also etwas höher über das Meeresniveau empor. Gewiß bestand nun der Untergrund der Insel Victoria aus einer Salzwasserscholle.

Brachte Jasper Hobson auch das Gewicht der mineralischen und vegetabilischen Decke derselben in Anschlag, so gelangte er zu dem Schlusse, daß ihr Durchmesser unter dem Meere nur etwa vier bis fünf Fuß betragen könne. Das wechselnde Relief der Insel, ihre verschiedenen Bodensenkungen und Erhebungen, ging offenbar nur der erdig-sandigen Oberfläche derselben an, und machte die Annahme wahrscheinlich, daß die schwimmende Insel nirgends tiefer, als höchstens fünf Fuß, eintauche.

Diese Ueberzeugung weckte in Jasper Hobson sehr ernste Sorgen! Nur fünf Fuß! War es, ohne von der Auflösung zu reden, welcher die Insel aus verschiedenen Ursachen unterliegen konnte, nicht anzunehmen, daß der geringste Anprall hinreichen werde, sie durch und durch zu spalten? – Daß eine heftige Bewegung des Wassers, etwa durch einen Sturm oder nur durch einen einzelnen starken Windstoß, sie in einzelne Schollen zersprengen und ihrer völligen Auflösung entgegen führen könnte? Wie sehnlich wünschte Lieutenant Hobson den Winter, den Frost, das Erstarren des Quecksilbers in der Thermometerkugel jetzt herbei! Nur die furchtbare Kälte der Polarländer und des arktischen Winters konnte die Grundlage der Insel fester und stärker machen, und gleichzeitig eine Verbindung zwischen ihr und dem Continente wieder herstellen.

Lieutenant Hobson kam nach dem Halteplatze zurück. Sergeant Long war damit beschäftigt, ein Nachtlager herzurichten, da er nicht unter freiem Himmel campiren wollte, obgleich Mrs. Paulina Barnett sich dabei beruhigt hätte. Er theilte Jasper Hobson seine Absicht mit, im Erdboden ein für drei Personen genügendes Eishaus auszuhöhlen, das ihnen gegen die Nachtkälte vollkommen Schutz gewähren sollte.

»Im Lande der Eskimos, sagte er, ist Nichts klüger, als zu leben wie ein Eskimo.«

Jasper Hobson stimmte zu, empfahl ihm aber, nicht zu tief in den Eisboden, dessen Dicke nur fünf Fuß betragen könne, hinein zu graben.

Sergeant Long ging an die Arbeit. Mit Hilfe der Axt und des Schnee-messers hatte er bald das Erdreich bei Seite geschafft und eine Art Vorraum, [275] der direct auf die Eisschicht stieß, ausgehöhlt. Dann nahm er diese mürbe Masse in Angriff, auf der Sand und Erde wohl Jahrhunderte hindurch geruht hatten.

Es bedurfte kaum einer Stunde, um diese unterirdische Zufluchtsstätte, oder vielmehr diese Höhle mit Eiswänden, welche die Wärme sehr gut zusammenhielt und demnach für wenige Stunden der Nacht eine hinreichende Wohnlichkeit darbot, auszuschachten.

Während Sergeant Long wie eine Termite arbeitete, gesellte sich Hobson zu seiner Reisegefährtin und theilte ihr die Resultate seiner Beobachtung der physikalischen Beschaffenheit der Insel mit, wobei er ihr die ernsten Befürchtungen nicht verhehlte, die jene Prüfung in ihm erregt hatte. Bei der geringen Stärke des Eisfeldes mußten in nicht ferner Zeit Sprünge und Brüche entstehen, deren Stelle eben so wenig vorher zu sehen, als sie selbst zu verhindern waren. Jeden Augenblick konnte die umherirrende Insel durch Veränderung ihres specifischen Gesammtgewichtes tiefer einsinken oder sich in mehr oder weniger zahlreiche Inselchen von nothwendig ephemerer Existenz zertheilen. Er hielt es demnach für angezeigt, daß sich die Bewohner von Fort-Esperance so wenig als möglich von der Factorei entfernten, um auf einem Punkte vereinigt mindestens das gleiche Geschick zu theilen.

Hier wurde das Gespräch plötzlich durch einen Aufschrei unterbrochen.

Mrs. Paulina Barnett und der Lieutenant erhoben sich sofort und blickten forschend rund umher.

Niemand war zu sehen.

Das Hilferufen verdoppelte sich.

»Das ist der Sergeant! Der Sergeant!« sagte Jasper Hobson.

Eiligst begab er sich, Mrs. Barnett hinter ihm her, nach der Lagerstätte.

Kaum angelangt an der klaffenden Mündung des Eishauses gewahrte er den Sergeanten, der sich mit beiden Händen krampfhaft an seinem Messer hielt, das er in die Eiswand eingestoßen hatte, und mit lauter, aber völlig ruhiger Stimme um Hilfe rief.

Nur Kopf und Arme blieben noch von ihm sichtbar. Beim Aufhacken des Eises hatte der Boden plötzlich unter ihm nachgegeben, und er war bis an den Gürtel in's Wasser gesunken.

»Aushalten!« rief ihm Jasper Hobson zu.

Den Einschnitt hinabgleitend, gelangte er an den Rand der Oeffnung und [276] reichte dem Sergeanten die Hand, welcher mit Hilfe dieses sicheren Stützpunktes aus dem Loche heraus kam.

»Mein Gott, Sergeant Long! rief Mrs. Paulina Barnett, was ist Ihnen widerfahren?

– Ei, Madame, erwiderte Long, der sich wie ein nasser Pudel schüttelte, das Eis brach unter mir und half mir zu einem unfreiwilligen Bade.

– Dann haben Sie aber, fragte Jasper Hobson, meine Mahnung, nicht zu tief zu graben, außer Acht gelassen?

– Entschuldigen Sie, Herr Lieutenant. Sie sehen, daß ich kaum fünfzehn Zoll in den Eisboden hinein war. Es ist nur anzunehmen, daß sich unter mir eine Blase, eine Art Höhlung befand, denn das Eis lag nicht auf dem Wasser auf, und ich brach durch wie durch eine Zimmerdecke. Hätte ich mich nicht an meinem Messer halten können, so konnte ich einfältiger Weise unter die Insel gerathen, und das wäre doch etwas unangenehm gewesen; nicht wahr, Madame?

– Sehr unangenehm, wackerer Sergeant!« antwortete die Reisende und bot dem braven Manne die Hand.

Sergeant Long's abgegebene Erklärung war völlig richtig.

Aus irgend welchem Grunde, vielleicht in Folge der Entwickelung von Luft, bildete das Eis an dieser Stelle eine hohle Wölbung, und folglich hatte deren ohnehin nicht starke und durch das Schneemesser noch weiter geschwächte Decke unter dem Gewichte des Sergeanten nachgegeben.

Diese innere Gestaltung, welche sich gewiß an so manchen Punkten des Eisfeldes wiederholte, diente auch nicht zur besonderen Beruhigung. Wo war man nun sicher, den Fuß auf verläßlichen, festen Boden zu setzen? Konnte dieser nicht bei jeder Belastung einsinken? Nahm man noch hinzu, daß sich der grundlose Ocean unter jener dünnen Erd- und Sandkruste befand, welches noch so muthige Herz wäre dadurch nicht verzagt geworden?

Sergeant Long, der sich um das eben genommene Bad blutwenig kümmerte, wollte seine Mineurarbeiten an einer anderen Stelle frisch beginnen. Diesmal gab aber Mrs. Paulina Barnett ihre Zustimmung nicht, da es ihr nicht schwer ankam, eine Nacht ganz im Freien zuzubringen. Der Schutz des benachbarten Gehölzes würde ihr ebenso wie ihren Gefährten vollkommen genügen, und widersprach sie deshalb unbedingt der Wiederaufnahme einer so gefährlichen Arbeit. Sergeant Long mußte sich fügen und gehorchen.

[277] Die Lagerstätte wurde demnach um etwa hundert Fuß vom Ufer nach rückwärts an eine kleine Bodenerhebung verlegt, wo sich einige vereinzelte Gruppen von Fichten und Weiden, welche zusammen den Namen eines Gehölzes noch nicht verdienten, erhoben. Um zehn Uhr Abends, gerade als die Sonne den Horizont, unter dem sie für wenige Stunden verschwinden sollte, noch streifte, loderte knisternd ein Feuer von dürren Aesten empor.

Dem Sergeant Long bot dasselbe eine herrliche Gelegenheit, seine Füße zu trocknen, von der er eiligst Gebrauch machte. Jasper Hobson verplauderte mit ihm die Zeit, bis die Dunkelheit an Stelle des Tageslichtes trat. Von Zeit zu Zeit mischte sich auch Mrs. Paulina Barnett in das Gespräch und suchte den Lieutenant von seinen etwas düsteren Gedanken abzulenken. Diese schöne Nacht, am Zenith so sternenreich wie alle Polarnächte, erschien einer Besänftigung des Geistes besonders günstig. Leise murmelte der Wind in den Gipfeln und das Meer an der Küste schien zu schlafen. Kaum erhoben sich langgedehnte Wellen auf seiner Fläche und verliefen sich geräuschlos am Ufersaume der Insel. Kein Schrei eines Vogels war in den Lüften, kein Laut von irgend einem Thiere auf der Ebene hörbar. Nur die vom Harze genährten Flammen brachen prasselnd aus den Tannenstämmchen hervor, und dann und wann unterbrach das Gemurmel der Stimmen, welche im Luftzug verhallten, das Schweigen der Nacht, das dadurch nur erhabener erschien.

»Wer möchte glauben, sagte da Mrs. Paulina Barnett, daß wir jetzt auf weitem Meere entführt werden? Wahrlich, Herr Hobson, jetzt habe ich Mühe, mir das richtig vorzustellen, denn uns erscheint das Meer unbeweglich, und doch treibt es uns mit unwiderstehlicher Gewalt dahin!

– Ja, Madame, antwortete Jasper Hobson, wenn der Boden dieses Fahrzeuges verläßlich wäre, wenn der Kiel dem Schiffe nicht über kurz oder lang mangeln müßte, wenn seine Planken nicht drohten, sich heut oder morgen zu öffnen, und wenn ich endlich wüßte, wohin es mich trägt, – dann, gestehe ich Ihnen, wäre ich auch nicht böse, den Ocean in dieser Weise zu befahren.

– Wahrlich, Herr Hobson, fuhr die Reisende fort, giebt es denn eine angenehmere Fortbewegung, als die unserige? Wir bemerken ja gar Nichts davon, da unsere Insel mit der Meeresströmung genau dieselbe Schnelligkeit besitzt. Entspricht das nicht vollkommen den Verhältnissen des Luftballons [278] in der Höhe? Wie reizend müßte es sein, so mit seinem Hause, Garten, Parke, ja, mit dem ganzen Lande zu verreisen! Eine schwimmende Insel, darunter verstehe ich aber eine wirkliche Insel mit festem Grund und Boden, müßte doch das bequemste und herrlichste Fahrzeug abgeben, das nur zu erdenken wäre. Man berichtet von schwebenden Gärten; ei, warum soll man dereinst nicht schwimmende Parks herstellen, die uns nach jedem beliebigen Punkte der Erde dahintragen? Ihre Größe würde sie von dem Seegange ganz unabhängig und ihnen die Stürme unschädlich machen. Vielleicht wären bei günstigem Winde auch große Segel dabei zu benutzen. Welche Wunder der Vegetation entfalteten sich dann wohl vor den Blicken der Reisenden, wenn sie aus der gemäßigten Zone in die Tropenzone einträten! Sicher müßte man mit geschickten und über alle Meeresströmungen genau unterrichteten Lootsen sich in jeder beliebigen Breite erhalten und eines ewigen Frühlings erfreuen können!«

Jasper Hobson vermochte gegenüber diesen Traumbildern der enthusiastischen Mrs. Barnett ein Lächeln nicht zu unterdrücken. Die kühne Frau ließ ihren Gedanken so liebenswürdig freien Lauf und glich so sehr der Insel Victoria, welche sich weiter bewegte und es doch nicht verrieth. Gewiß konnte man sich nach Lage der Sachen über diese eigenthümliche Art, die Meere zu durchziehen, nicht beklagen, wenn man davon absah, daß die Insel in jedem Augenblicke zu schmelzen und zu versinken drohte.

Die Nacht verstrich. Nach wenigen Stunden der Ruhe frühstückte man zum allgemeinen Wohlgefallen. Ein lebhaftes Feuer von dürrem Gesträuch erwärmte und belebte auch die Füße der Schläfer wieder, welche durch die Nachtkälte etwas erstarrt gewesen waren.

Um sechs Uhr Morgens begaben sich Mrs. Paulina Barnett, Lieutenant Hobson und Sergeant Long wieder auf den Weg.

Vom Cap Michael bis zum vormaligen Barnett-Hafen verlief die Küste fast geradlinig von Süden nach Norden und in einer Länge von fast elf Meilen. Sie bot nichts Besonderes und schien durch den Bruch des Isthmus nicht gelitten zu haben. Ein wenig rückwärts von dem im Allgemeinen niedrigen und ebenen Ufer brachte Sergeant Long auf Jasper Hobson's Anordnung einige Merkzeichen an, um mit ihrer Hilfe spätere Veränderungen richtiger erkennen zu können.

Der Lieutenant wünschte Fort-Esperance noch den selben Abend wieder [279] zu erreichen; Mrs. Paulina Barnett ihrerseits drängte es, ihre Genossen, ihre Freunde wieder zu sehen, und unter den obwaltenden Verhältnissen empfahl es sich auch nicht, die Abwesenheit des Chefs der Factorei weiter auszudehnen.

Man ging also schneller, verfolgte eine schräge Linie und kam gegen Mittag schon um das kleine Vorgebirge herum, welches vordem den Barnett-Hafen gegen die Ostwinde deckte.

Von hier bis nach Fort-Esperance war es etwa noch acht Meilen weit. Vor vier Uhr Nachmittags wurde diese Strecke zurückgelegt, und begrüßten die Hurrahs des Corporal Joliffe die Heimkehr der Reisenden.

5. Capitel
Fünftes Capitel.
Vom 25. Juli bis zum 20. August.

Bei seiner Rückkehr in das Fort war es Jasper Hobson's erste Sorge, Thomas Black über den Zustand der Colonie zu befragen.

Seit vierundzwanzig Stunden hatte keine merkbare Veränderung stattgehabt, wohl aber befand sich die Insel, wie eine spätere Messung ergab, um einen Breitengrad südlicher und etwas westlicher, als vorher. Jetzt mochte sie in der Höhe des Eiscaps, einer kleinen Spitze von Nord-Georgia und zweihundert Meilen vom amerikanischen Festlande entfernt umherschwimmen. Die Schnelligkeit der Strömung schien hier etwas weniger groß zu sein, als in den östlicheren Theilen des Polarmeeres, doch trieb sie die Insel noch immer vorwärts, welche sich zu Jasper Hobson's Leidwesen der Behrings-Straße unaufhaltsam näherte. Jetzt schrieb man erst den 24. Juli und auch ein langsamer Strom reichte wohl hin, sie binnen einem Monate durch die Meerenge in die erwärmten Gewässer des Pacifischen Oceans zu führen, in dem sie sich auflösen mußte, wie ein Stück Zucker in einem Glase Wasser.

Mrs. Paulina Barnett theilte Madge das Ergebniß ihrer Rundfahrt um [280] die Insel mit, beschrieb ihr die streifige Lage der Schichten an der Bruchstelle des Isthmus, die auf fünf Fuß abgeschätzte Dicke des Eisfeldes unter Wasser, den Unfall Sergeant Long's nebst dessen unfreiwilligem Bade, und legte ihr alle die Gründe vor, welche jeden Augenblick den Bruch oder die Versenkung der Eisscholle veranlassen könnten.


Erster Exercierunterricht. (S. 282.)

Indessen herrschte das Gefühl der vollkommensten Sicherheit in der Factorei. Den wackeren Insassen derselben war nie ein Gedanke daran [281] gekommen, daß Fort-Esperance über einem Abgrunde schwebe und das Leben seiner Bewohner jede Minute in Gefahr sei. Allen ging es auf's Beste. Das Wetter war schön, das Klima gesund und stärkend, und Männer und Frauen wetteiferten in froher Laune und strotzender Lebensfülle. Der kleine Michael wurde nun ganz reizend; er versuchte in der Umgebung des Forts seine ersten Schritte, und der ganz in ihn vernarrte Corporal Joliffe wollte ihm gar schon die Handhabung eines Gewehres und die Elemente der Soldatenschule lehren. O, welchen Kriegsmann hätte er in seinem Sohne erzogen, wenn Mrs. Joliffe ihm nur einen solchen schenkte; doch dafür war nur geringe Aussicht, und bis jetzt wenigstens verweigerte der Himmel hartnäckig dem Ehepaar jenen Segen, um den es ihn tagtäglich anflehte.

Den Soldaten fehlte es nicht an Beschäftigung. Mac Nap, der Zimmermann, und seine Werkleute, Petersen, Belcher, Garry, Pond und Hope, arbeiteten eifrig an dem zu erbauenden Schiffe, – ein lange dauerndes, schwieriges Werk, welches leicht noch mehrere Monate beanspruchen konnte. Da die Benutzung des Fahrzeuges aber doch erst für kommenden Sommer nach eingetretenem Thauwetter in Aussicht genommen war, versäumte man daneben auch nicht die Befriedigung der specielleren Bedürfnisse der Factorei. Jasper Hobson ließ Alles geschehen, als wäre der Fortbestand seines Etablissements für ewige Zeit gesichert, und hielt seine Leute fortdauernd in Unkenntniß der Sachlage. Mehr als einmal wurde hierüber zwischen denjenigen, welche man gewissermaßen den »Generalstab« der Insel nennen konnte, verhandelt. Mrs. Paulina Barnett und Madge stimmten niemals der Ansicht des Lieutenants in diesem Punkte völlig bei, sondern meinten, daß ihre thatkräftigen und entschlossenen Gefährten keine Leute seien zum vorzeitigen Verzweifeln, und der Schlag sie nur um so unerwarteter treffen müsse, wenn die Gefahren der Situation ein weiteres Verhehlen derselben unmöglich machten. Nichtsdestoweniger bestand Jasper Hobson auf seinem Urtheile, und wurde vom Sergeant Long nur noch darin bekräftigt. Vielleicht hatten diese Beiden, denen bezüglich der Umstände und der Menschen die Erfahrung zur Seite stand, auch vollkommen Recht.

Die Arbeiten für die innere Einrichtung und die Vertheidigungsfähigkeit des Forts wurden ebenfalls fortgesetzt. Der durch neue Pfähle verstärkte und stellenweise erhöhte Palissadenkranz bildete eine sehr widerstandsfähige Umwallung; Mac Nap führte selbst eins seiner Lieblingsprojecte, welches [282] auch die Zustimmung seines Chefs fand, aus, indem er an den vorspringenden Winkeln, welche die Umzäunung nach dem See zu bildete, kleine, spitze Wachtthürmchen errichtete. Corporal Joliffe seufzte fast nach dem Augenblicke, daß er dorthin die Wache zur Ablösung führen werde, wodurch die ganze Anlage erst den für ihn so herzerquickenden Anblick zu bieten versprach.

Nach Vollendung der Außenwerke construirte Mac Nap, gewitzigt durch die Strenge des verflossenen Winters, einen neuen Holzschuppen an der Seite des Hauptgebäudes rechts, und zwar so, daß man ihn von Letzterem aus, ohne sich der freien Luft aussetzen zu müssen, erreichen konnte, um das Brennmaterial immer in der Nähe der Consumenten zu haben. An der linken Seite erbaute er einen großen zur Soldatenwohnung bestimmten Raum, um das Feldbett in dem allgemeinen Saale zu räumen, der ferner nur zu den Mahlzeiten, Spielen und Arbeiten dienen sollte. Die neue Wohnung bezogen von nun an die drei Ehepaare in abgesonderten Zimmern und die übrigen Soldaten. Dazu wurde hinter dem Hause ein besonderes Pelzmagazin errichtet, wodurch der ganze Bodenraum frei ward, dessen Dachsparren und Balken eiserne Klammern in den Stand setzten, jedem neuen Angriffe zu trotzen.

Auch eine Capelle aus Holz wollte Mac Nap noch herstellen. Ursprünglich in Jasper Hobson's Hauptplan mit aufgenommen, sollte sie die fertige Factorei noch vervollständigen, doch wurde ihr Bau bis zur nächsten Sommersaison vertagt.

Mit welcher Sorgfalt, welch' thätigem Eifer hätte Jasper Hobson unter anderen Verhältnissen alle Einzelheiten seines Etablissements verfolgt! Hätte er auf festem Grunde gebaut, wieviel Vergnügen hätte ihm dann das Aufwachsen dieser Häuser, Schuppen und Magazine gewährt! Und dazu noch das zukünftig ganz nutzlose Vorhaben, Cap Bathurst mit einem Werke zu krönen, welches die Sicherheit des Fort-Esperance so wesentlich erhöhen sollte! Das Fort-Esperance (Fort der Hoffnung)! Wie lastete jetzt dieser Name auf seinem Herzen! Cap Bathurst hatte ja für immer das amerikanische Festland verlassen, und Fort-Esperance hätte vielmehr Fort-Sans-Espoir (Fort ohne Hoffnung) heißen sollen!

Jene verschiedenen Arbeiten ließen keine Hand zum Feiern kommen. Der Bau des Schiffes schritt nach Vorschrift vorwärts. Nach Mac Nap's [283] Aufriß war es zu dreißig Tonnen Tragkraft berechnet und mußte geeignet werden, in der besseren Jahreszeit an zwanzig Passagiere wohl einige hundert Meilen weit zu führen. Der Zimmermann hatte glücklicher Weise einige krummgewachsene Bäume aufgefunden, welche zu den Rippen des Fahrzeuges verarbeitet wurden, und bald erhoben sich am Kiele der Vorder- und der Hintersteven auf der Werft am Fuße des Cap Bathurst.

Während die Zimmerleute mit Aexten, Sägen und Hohlbeilen arbeiteten, stellten die Jäger dem Tafelwilde, wie Rennthieren und Polarhasen, die in der Umgebung der Factorei in Menge vorkamen, eifrig nach. Der Lieutenant hatte Sabine und Marbre eingeschärft, sich niemals weit zu entfernen, wofür er ihnen als Grund angab, daß er vor vollkommener Fertigstellung der Factorei in der Umgebung keine Spuren zurückgelassen wissen wollte, welche irgend einen Feind herbeilocken könnten. In Wahrheit wollte Jasper Hobson freilich nur die Veränderungen, die die Halbinsel betroffen hatten, nicht bekannt werden lassen.

Eines Tages kam es sogar vor, daß Jasper Hobson, als Marbre die Frage an ihn gestellt hatte, ob es nicht Zeit sei, an der Walroß-Bai die Jagd auf jene Amphibien, die ein so vorzügliches Brennmaterial lieferten, wieder aufzunehmen, diesem lebhaft antwortete:

»Nein, das ist nutzlos, Marbre!«

Lieutenant Hobson wußte nur zu gut, daß die Walroß-Bai zweihundert Meilen im Süden zurückgeblieben war, und daß jene Thiere die Ufer der Insel nicht mehr besuchten.

Man darf indeß nicht glauben, daß er die Situation für ganz verzweifelt ansah. Davon war er weit entfernt, und hatte sich gegen Mrs. Paulina Barnett oder Sergeant Long mehrfach in diesem Sinne ausgesprochen. Er behauptete stets, daß die Insel so lange Widerstand leisten werde, bis der Winterfrost ihre Stärke wieder erhöhen und sie in seinem Laufe aufhalten müßte.

Nach seiner Umreisung der Insel hatte Jasper Hobson den Umfang seines neuen Gebietes genau gemessen. Derselbe betrug mehr als vierzig Meilen 1, die Oberfläche aber mindestens einhundertundvierzig Quadratmeilen. Zur Vergleichung diene die Angabe, daß die Insel Victoria etwas größer war, [284] als die Insel Helena, und etwa ebenso groß, als die Stadt Paris innerhalb der Befestigungslinie. Selbst wenn sie sich in mehrere Bruchstücke spaltete, konnten diese noch eine genügende Ausdehnung behalten, um eine Zeit lang bewohnbar zu sein.

Als Mrs. Paulina Barnett ihre Verwunderung über die Ausdehnung eines solchen Eisfeldes aussprach, führte ihr Lieutenant Hobson die Beobachtungen der Polarfahrer hierüber an. Nicht selten stießen Parry, Penny, Franklin und Andere bei ihren Reisen im Arktischen Oceane auf Eisschollen von hundert Meilen Länge und fünfzig Meilen Breite. Kapitän Kellet verließ sein Schiff auf einem Eisfelde von 3000 Quadratmeilen Oberfläche. Was war im Vergleich hiermit die Insel Victoria?

Immerhin konnte deren Größe hinreichend sein, um bis zum Winterfroste auszuhalten, bevor wärmere Strömungen ihre Grundlage schmolzen. Jasper Hobson setzte hierein gar keinen Zweifel und war nur tief betrübt über so viel nutzlose Bemühungen, so viel vergebliche Anstrengungen, so viele zerstörte Pläne, und darüber, daß sein der Erfüllung so naher Traum buchstäblich zu – Wasser werden sollte. Man sieht leicht ein, daß er für die eigentlichen Arbeiten kein besonderes Interesse haben konnte. Er ließ eben Alle gewähren, das war Alles!

Mrs. Paulina Barnett machte gute Miene zum bösen Spiele. Sie hielt ihre Begleiter ebenso zur Arbeit an, wie sie selbst daran theilnahm. Da sie die Sorge bemerkte, welche Mrs. Joliffe um ihre Sämereien hatte, stand sie ihr täglich rathend zur Seite. Sauerampher und Löffelkraut hatten eine reichliche Ernte ergeben, die man nicht zum kleinsten Theile dem Corporal verdankte, der mit der Ausdauer einer leibhaftigen Vogelscheuche das besäete Terrain gegen Tausende diebischer Schnäbel vertheidigte.

Die Zähmung der Rennthiere glückte vollkommen. Mehrere Weibchen warfen Junge, und der kleine Michael wurde zum Theil mit Rennthiermilch aufgezogen. Die ganze Heerde zählte nun gegen dreißig Köpfe. Die Thiere trieb man nach den Rasenflächen am Cap Bathurst auf die Weide, und sammelte auch einen Wintervorrath von kurzem, trockenem Grase an den Abhängen des Vorgebirges. Diese Rennthiere, welche gegen die Leute im Fort schon ganz zutraulich wurden, ließen sich übrigens leicht zähmen, liefen nicht aus der Umzäunung heraus, und manche von ihnen dienten beim Holztransport als Zugthiere vor den Schlitten.

[285] Daneben fing man in der Nachbarschaft der Factorei noch eine ziemliche Anzahl derselben in der halbwegs zwischen dem Fort und dem Barnett-Hafen angelegten Fallgrube.

Im vorigen Jahre war ebenda, wie erzählt, ein riesiger Bär gefangen worden, jetzt fand man sehr häufig Rennthiere darin. Das Fleisch derselben wurde gesalzen, getrocknet und als Nahrungsmittel aufbewahrt. Wohl zwanzig jener Wiederkäuer gingen in die Falle.

In Folge der Bodengestaltung wurde dieselbe aber eines Tages plötzlich außer Gebrauch gesetzt, und als Jäger Marbre am 5. August von der Visitation zurückkam, trat er an Jasper Hobson heran und sagte mit ganz eigenthümlichem Tone:

»Ich melde mich von der täglichen Visitation der Fallgrube zurück, Herr Lieutenant.

– Gut, Marbre, antwortete Jasper Hobson, Sie waren heute hoffentlich ebenso glücklich als gestern, und haben ein Paar Rennthiere darin vorgefunden?

– Nein, Herr Lieutenant ... das nicht ... entgegnete Marbre mit sichtbarer Verlegenheit.

– Wie? Ihre Falle hätte nicht den gewohnten Ertrag geliefert?

– Nein, und wenn heute ein Stück Wild hineingefallen wäre, müßte es sicherlich – ertrunken sein.

– Ertrunken? rief der Lieutenant und fixirte den Jäger mit unruhig forschendem Blicke.

– Ja, Herr Lieutenant, antwortete Marbre, der seinen Vorgesetzten aufmerksam im Auge behielt, die Grube ist voller Wasser.

– Ah, gut, fuhr Jasper Hobson in einem Tone fort, als lege er auf die Sache gar kein besonderes Gewicht, Sie wissen ja, daß die Grube zum Theil im Eise ausgebrochen war. Nun hat die Sonne die Wände abgeschmolzen, und dann ...

– Entschuldigen Sie, wenn ich unterbreche, Herr Lieutenant, fiel Marbre ein, jenes Wasser kann aber nicht von geschmolzenem Eise herrühren.

– Weshalb, nicht, Marbre?

– Weil es dann, wie Sie seiner Zeit erklärt haben, Süßwasser sein müßte; das Wasser in der Grube ist im Gegentheil aber salzig!«

[286] So sehr sich Jasper Hobson sonst beherrschte, so erbleichte er jetzt doch leicht und hatte keine Erwiderung.

»Im Uebrigen, fügte der Jäger hinzu, wollte ich eine Sondirung vornehmen, um die Höhe des Wasserstandes zu erfahren, doch zu meiner großen Verwunderung, ich gestehe es, konnte ich keinen Grund finden.

– Nun wohl, Marbre, sagte Jasper Hobson, was ist dabei groß zu verwundern? Zwischen der Fallgrube und dem Meere wird durch einen Bodenspalt eine Verbindung eingetreten sein; das kommt manchmal vor, selbst bei dem festesten Boden. Darum beunruhigen Sie sich also nicht, mein wackerer Jäger. Verzichten Sie vorläufig auf die Benutzung der Falle, und beschränken sich auf die Aufstellung von Schlingen in den Umgebungen des Forts.«

Marbre legte grüßend die Finger an die Stirn, drehte sich auf den Fersen um und verließ den Lieutenant, nicht ohne einen eigenthümlichen Blick auf seinen Chef zu werfen.

Nachdenklich verweilte Jasper Hobson einige Augenblicke. Es war das eine wichtige Neuigkeit, die er durch Marbre erfahren hatte. Offenbar war der Grund der Grube durch wärmeres Wasser geschmolzen, geborsten, und bildete nun die Oberfläche des Meeres den Grund der Fallgrube.

Jasper Hobson suchte den Sergeant Long auf, und machte ihm von dem Zufalle Mittheilung. Beide begaben sich unbemerkt von den Anderen nach der Uferstelle am Cap Bathurst, an der sie Marken angebracht hatten.

Sie sahen nach diesen.

Seit der letzten Beobachtung hatte sich das Niveau der Insel um sechs Zoll gesenkt!

»Wir gehen nach und nach unter, murmelte halblaut Sergeant Long; das Eisfeld schmilzt unter Wasser weg!

– O, der Winter! Der Winter!« rief Jasper Hobson, und stampfte den verwünschten Boden mit den Füßen.


Joliffe vertheidigt seine Anpflanzungen. (S. 285.)

Noch trat aber kein Vorzeichen der kalten Jahreszeit ein. Das Thermometer hielt sich im Mittel auf 15° über Null, und auch die wenigen Nachtstunden hindurch fiel das Quecksilber kaum um drei bis vier Grade.

Indessen wurden die Vorbereitungen für die zweite Durchwinterung eifrig fortgesetzt. Es mangelte ja an Nichts, und obgleich Fort-Esperance durch kein vom Kapitän Craventy entsendetes Detachement mit neuen Vorräthen [287] versorgt worden war, durfte man doch den langen Stunden der Polarnacht mit vollkommener Ruhe entgegen sehen. Nur die Munition erheischte einige Sparsamkeit. An Spirituosen, von welchen übrigens nur ein sehr beschränkter Gebrauch gemacht wurde, und an dem an Ort und Stelle nicht zu ersetzenden Schiffszwieback war noch ein tüchtiger Vorrath vorhanden. Dazu hatte man für das consumirte frische Wild und conservirte Fleisch hinlänglichen Ersatz und erhielt diese reichliche und gesunde Nahrung, in [288] Verbindung mit antiscorbutischer Pflanzenkost alle Mitglieder der kleinen Colonie bei bester Gesundheit.

In dem Walde, welcher die Ostseite der Lagune bekränzte, fällte man reichlich Holz für den Winterbedarf. Eine große Menge Weiden, Fichten und Tannen fielen unter dem Beile Mac Nap's, und die gezähmten Rennthiere schleiften sie nach dem Schuppen. Der Zimmermann schonte die Waldung nicht; er mußte der Ansicht sein, daß das Holz dieser Insel, welche [289] er noch für eine Halbinsel hielt, nie ausgehen könne, wozu ihn wohl der reiche Bestand an verschiedenen Baumarten in der Nachbarschaft des Cap Michael verleiten mochte.


»Wir gehen nach und nach unter!« (S. 287.)

Häufig war er ganz außer sich vor Freude und beglückwünschte den Lieutenant, dieses vom Himmel so gesegnete Gebiet erschlossen zu haben, auf dem das neue Etablissement zweifelsohne gedeihen müßte. Holz, Wild, Pelzthiere für die Magazine der Compagnie – Alles bot sich in Ueberfluß dar. Dazu eine Lagune zum Fischen, deren Ergebnisse die Tischfreuden durch angenehme Abwechselung erhöhten; Gras für die Hausthiere und »doppelter Sold für die Mannschaften«, hätte Corporal Joliffe sicher noch hinzugesetzt. War dieses Cap Bathurst also nicht ein bevorzugtes Stück Erde, dem kaum eine Gegend des Arktischen Continentes gleich kommen konnte? O gewiß, Lieutenant Hobson hatte eine glückliche Hand gehabt, und mußte der Vorsehung danken, ihn nach diesem Lande ohne Gleichen geführt zu haben.

Natürlich wurde in der kleinen Colonie die Herstellung der nöthigen Winterkleidung daneben nicht vernachlässigt. Das ganze weibliche Personal, auch Mrs. Joliffe, wenn sie aus der Küche abkommen konnte, arbeitete fleißig. Mrs. Paulina Barnett, welche ja wußte, daß man das Fort bald verlassen müsse, wollte für den Fall eines weiten Zuges bei strenger Winterkälte, über das Eis bis zum Festlande, Jedermann mit hinreichend schützender Kleidung versehen wissen. Voraussichtlich war in der langen Polarnacht einer furchtbaren Kälte Trotz zu bieten, und das viele Tage lang, wenn die Insel Victoria sich in großer Entfernung von der Küste festsetzte. Hunderte von Meilen unter solchen Verhältnissen zurückzulegen, stellten an Kleidung und Schuhwerk weitgehende Ansprüche. Die Reisende bemühte sich, nebst ihrer Madge, deshalb ernstlich um deren Vollendung. Das Pelzwerk, welches zu retten ja keinerlei Aussicht war, fand unter den verschiedensten Formen Verwendung. Man legte es z.B. doppelt, so daß die Kleidungsstücke innerlich und äußerlich eine Haarseite zeigten. Die Soldaten und deren Frauen mußten, wenn jene Zeit herankam, ebenso wie ihre Officiere, in den kostbarsten Pelzen einhergehen, um welche sie die reichsten Ladys und die verwöhntesten russischen Fürstinnen beneidet hätten.

Die Mrss. Raë, Mac Nap und Joliffe waren einigermaßen verwundert über diese Vergeudung der Schätze der Compagnie. Lieutenant Hobson's [290] Befehl lautete aber dahin, und ohnedem konnten ja die Zobelmarder, Wiesel, Bisamratten, Biber und Füchse jeder Zeit durch einige Flintenschüsse ersetzt werden. Als Mrs. Mac Nap überdies das kostbare Hermelinkleidchen sah, das Madge für ihr kleines Kind hergestellt hatte, erschien ihr die Sache gar nicht mehr so außerordentlich.

So enteilten die Tage bis Mitte August. Die Witterung war immer prächtig, und wenn auch dann und wann am Horizonte Nebel auftauchten, so sog die Sonne sie doch unverzüglich auf.

Tagtäglich bestimmte Lieutenant Hobson die Lage der Insel, entfernte sich aber immer weit genug, um von seinen Leuten nicht dabei bemerkt zu werden, da die so häufige Wiederholung dieser Beobachtung einen gewissen Verdacht nothwendig erregen mußte. Auch nahm er wiederholt verschiedene Theile der Insel in Augenschein, zum Glücke ohne wesentliche Veränderungen derselben zu bemerken.

Am 16. August befand sich die Insel Victoria unter 167°27' der Länge und 70°49' nördlicher Breite. Sie war seit einiger Zeit demnach wieder nach Süden zurückgegangen, doch ohne eine Annäherung an die Küste, welche hier auch selbst bogenförmig zurückwich, und deshalb immer noch gegen zweihundert Meilen nach Südosten entfernt blieb.

Den von der Insel seit dem Bruche des Isthmus oder genauer seit der letzten Thauperiode zurückgelegten Weg konnte man wohl auf elf- bis zwölfhundert Meilen veranschlagen.

Doch wie gering war diese Strecke gegenüber dem unermeßlichen Oceane? Hat man nicht Schiffe unter der Gewalt von Strömungen schon Tausende von Meilen verschlagen sehen, wie die »Resolute«, ein englisches Fahrzeug, die amerikanische Brigg »Advance« und den »Fox«, welche mit ihren Eisfeldern viele, viele Grade weit hinweg geführt wurden, bis der Winter sie in ihrem Unglückszuge aufhielt!

[291]
Fußnoten

1 Gegen zweiundfünfzig Kilometer oder sieben geographische Meilen.

6. Capitel
Sechstes Capitel
Zehn Tage Sturm

Während der vier Tage, vom 17. bis zum 20. August, war das Wetter immer schön und die Wärme beträchtlich. Die Dünste des Horizontes verdichteten sich niemals zu Wolken; nur selten erhielt sich unter so hohen Breiten die Atmosphäre bei solcher Klarheit. Selbstverständlich konnten diese klimatischen Verhältnisse Jasper Hobson keineswegs erfreuen.

Am 21. August verkündete das Barometer eine bevorstehende Witterungsveränderung, indem die Quecksilbersäule plötzlich um einige Linien fiel; doch stieg sie am anderen Tage wieder, sank dann noch einmal, und erst am 23. August blieb sie dauernd niedriger.

Am 24. August stiegen die angesammelten Nebel, statt sich zu zerstreuen, als Wolken auf und verschleierten die Sonne zur Mittagszeit vollkommen, so daß Lieutenant Hobson seine gewöhnlichen Beobachtungen aussetzen mußte.

Am nächsten Tage erhob sich ein scharfer Wind aus Nordosten und fiel, wenn dieser sich zeitweilig legte, reichlicher Regen. Dabei unterlag die Temperatur aber keiner wesentlichen Veränderung, sondern hielt sich immer auf + 12°.

Die projectirten Arbeiten waren um diese Zeit zum Glücke ausgeführt, und Mac Nap hatte den Rumpf des Schiffes im Groben vollendet. Auch die Jagd auf eßbares Wild konnte ohne Gefahr eingestellt werden, da man hinreichende Vorräthe besaß. Uebrigens wurde das Wetter bald so schlecht, der Wind so heftig, der Regen so durchdringend und der Nebel so dicht, daß man darauf verzichten mußte, die Umzäunung des Forts zu verlassen.

»Was halten Sie von dieser Aenderung des Wetters, Herr Hobson? fragte Mrs. Paulina Barnett, als sie am Morgen des 27. August die Wuth des Unwetters von Stunde zu Stunde wachsen sah. Könnte sie uns nicht von Nutzen sein?

[292] – Das weiß ich noch nicht, Madame, antwortete Lieutenant Hobson, doch glauben Sie, daß für uns alles Andere besser ist, als das vorhergegangene prächtige Wetter, welches die Gewässer des Oceans mehr und mehr erwärmte. Uebrigens bemerke ich, daß der Wind aus Nordosten aushält, und da er sehr heftig ist, kann unsere Insel schon ihrer Masse wegen sich seiner Einwirkung nicht ganz entziehen. Es würde mich demnach gar nicht Wunder nehmen, wenn sie sich dabei dem amerikanischen Festlande näherte.

– Leider können wir, sagte Sergeant Long, unsere Lage nicht täglich aufnehmen. Bei dieser dicken Luft sind ja weder Sonne, noch Mond oder Sterne zu er blicken; da soll nun Einer Beobachtungen anstellen!

– Zugestanden, Sergeant Long, erwiderte Mrs. Paulina Barnett, dafür stehe ich Ihnen aber, daß wir das Land erkennen, wenn es uns nur zu Gesicht kommt, und wo es auch sei, es wird uns willkommen sein. Aller Voraussicht nach wird es ein Theil des russischen Amerika, wahrscheinlich Nord-Georgia sein.

– So scheint es in der That, fügte Jasper Hobson hinzu, denn in diesem ganzen Theile des Eismeeres trifft man auf keine Insel und kein Eiland, nicht einmal auf einen Felsen, an den wir uns anklammern könnten!

– Ei, sagte Mrs. Paulina Barnett, weshalb sollte unser Fahrzeug uns nicht direct bis an die Küste Asiens tragen? Kann es unter dem Einflusse der Strömungen nicht an der Behrings-Straße vorbei gehen und uns nach dem Lande der Tchouktchi's führen!

– O nein, Madame, entgegnete der Lieutenant, unser Eisfeld begegnete dabei dem Kamtschatka-Strome, und würde durch diesen mit großer Schnelle nach Nordosten hin getrieben werden, was sehr zu bedauern wäre. Nein, es ist weit wahrscheinlicher, daß uns der Nordostwind dem Küstengebiete des russischen Amerika zutreibt.

– Dann werden wir wachsam sein müssen, Herr Hobson, sagte die Reisende, und unsere Richtung so gut als möglich zu erkennen suchen.

– Daran wird es nicht fehlen, Madame, antwortete Jasper Hobson, trotzdem daß diese dicken Nebel unseren Blick beschränken. Wenn wir jedoch an die Küste geworfen würden, müßte der Stoß heftig genug sein, um ihn bestimmt zu bemerken; hoffen wir nur, daß die Insel dabei nicht in Stücke [293] bricht. Darin liegt die Gefahr! Und doch, wenn es sein sollte, würden wir Nichts dagegen vermögen.«

Natürlich fanden diese Gespräche nicht in dem allgemeinen Saale statt, in dem der größte Theil der Soldaten und die Frauen die Stunden der Arbeit verbrachten. Mrs. Paulina Barnett sprach über derlei Sachen nur in ihrem eigenen Zimmer, dessen Fenster nach dem Vordertheile der Umplankung gerichtet waren. Jetzt drang kaum hinreichendes Licht durch die trüben Scheiben, dafür hörte man draußen den schrecklichen Sturmwind sausen, gegen den das Gebäude, wenn jener von Nordosten blies, durch Cap Bathurst einigermaßen gedeckt wurde. Dafür trommelten der Sand und die Erde, welche er von der Spitze des Vorgebirges entführte, wie Schloßen auf dem Holzdache. Mac Nap beunruhigte sich neuerdings wegen seiner Kamine, vorzüglich wegen des von der Küche ausgehenden, welches ja fortwährend gebraucht wurde. In das Geheul des Windes mischte sich noch das furchtbare Tosen des empörten Meeres, das sich am Uferrande brach. Trotz der wüthenden Windstöße wollte Jasper Hobson am 28. August unbedingt Cap Bathurst besteigen, um den Horizont, das Meer und den Himmel genauer zu beobachten. Dicht eingehüllt, um den Wind sich nicht in seiner Kleidung fangen zu lassen, begab er sich nach außen.

Ohne große Beschwerden gelangte er nach Ueberschreitung des inneren Hofes bis zum Fuße des Cap Bathurst; zwar blendeten Erde und Sand ihm die Augen, doch hatte er unter dem Schutze der Uferhöhe noch nicht direct gegen den Sturm anzukämpfen.

Die schwierigste Aufgabe bestand nun aber darin, an den Seiten der Erhöhung, welche fast lothrecht abgeschnitten waren, empor zu klimmen. Nur dadurch, daß er sich an Grasbüscheln festhielt, erreichte er den Gipfel des Caps; dort konnte er aber bei der Gewalt des Sturmes weder stehen, noch sitzen, und mußte sich platt auf den Abhang niederlegen und an Gesträuche anklammern, wobei er nur den Kopf den wüthenden Windstößen aussetzte.

Jasper Hobson lugte mit aller Anstrengung durch den Nebel; der Anblick des Meeres und des Himmels war wirklich schrecklich. Schon in einer halben Meile Entfernung verschwammen Beide in einander. Ueber seinem Haupte sah er tiefgehende, zerrissene Wolken dahinjagen, während am Zenith noch dichte Nebelmassen unbeweglich hingen. Auf Augenblicke beruhigte sich [294] wohl auch die Luft, und dann hörte man nur das Stürmen der Brandung und den Anprall der entfesselten Wellen. Dann aber setzte der Sturm wieder mit einer Gewalt ohne Gleichen ein, und Jasper Hobson fühlte den Grund des Vorgebirges erzittern. Dann und wann wurde der Regen so heftig geschleudert, daß die Tropfenlinien tausend kleinen Wasserstrahlen glichen, welche der Wind wie Kartätschenhagel dahinblies.

Es war das ein Orkan, der aus der schlimmsten Himmelsgegend herkam. Dieser Nordost konnte wohl lange Zeit andauern, und lange Zeit die Atmosphäre peitschen. Doch Jasper Hobson beklagte sich darüber nicht. Unter anderen Verhältnissen wäre ihm die verderbliche Wirkung eines solchen Sturmes gewiß zu Herzen gegangen, jetzt freute er sich über jenen! Hielt nur die Insel aus, und darauf war ja zu hoffen, so mußte sie auch durch die Gewalt des Windes, welche die Meeresströmungen überwältigte, nach Südwesten getrieben werden, und dort im Südwesten war ja das Festland, – dort wohnte die Rettung! Für ihn, für alle seine Gefährten hätte nur der Sturm bis zu dem Augenblicke anhalten sollen, wo er sie an die Küste, und sei diese, welche es wolle, warf. Was das Verderben eines Schiffes gewesen wäre, das war das Heil der irrenden Insel.

Eine Viertelstunde lang lag Jasper Hobson so unter der Geißel des Orkanes, durchnäßt vom Wasser des Meeres und des Regens, und klammerte sich mit der Kraft eines Ertrinkenden an den Boden, indem er sich schon überlegte, welchen Vortheil ihm dieser Sturm wohl gewähren könne. Dann kehrte er zurück, glitt an der Seite des Caps hinab, eilte mitten durch den umherwirbelnden Sand über den Hof und trat wieder in das Haus ein. Jasper Hobson's erste Sorge war es, seinen Gefährten die Mittheilung zu machen, daß der Orkan seinen Höhepunkt noch nicht erreicht habe, und man darauf rechnen könne, daß er noch einige Tage anhalten werde. Das that er aber in ganz eigenthümlichem Tone, als verkündete er eine gute Neuigkeit, und voller Erstaunen richteten sich die Blicke Aller auf ihren Chef, dem dieser Kampf der Elemente nur angenehm zu sein schien.

Im Verlaufe des 30. wagte sich Jasper Hobson noch einmal hinaus und drang, wenn auch nicht bis zum Gipfel des Cap Bathurst, doch bis an den Rand des Ufers vor. An diesem Ufer, gegen das die Wogen in schräger Richtung anschlugen, fielen ihm plötzlich einige lange, in der Flora der Insel bisher nicht vorgekommene Meerespflanzen in's Auge.

[295] Diese Gräser waren noch frisch und bestanden in langen Filamenten des Varec, welche unzweifelhaft erst vor kurzer Zeit vom amerikanischen Continente losgerissen waren. Dieser Continent konnte also nicht mehr fern sein! Der Nordostwind hatte die Insel dem Strome, der sie bis daher geführt, entrissen. Gewiß schlug dem Columbus einst das Herz nicht freudiger, als er die schwimmenden Pflanzen entdeckte, die ihm die Nähe des Landes anzeigten.


Unter dem Wüthen des Orkanes. (S. 295.)

Jasper Hobson kam zum Fort zurück und theilte Mrs. Barnett und Sergeant Long seine Entdeckung mit. In diesem Augenblicke hatte er fast Lust, seinen [296] Begleitern über Alles reinen Wein einzuschenken, so sicher war er von ihrer Rettung überzeugt. Doch noch hielt ihn eine Ahnung davon zurück; er schwieg.


Jasper Hobson verspricht möglichste Vorsicht. (S. 301.)

Während dieser langen Tage der Einsperrung blieben die Bewohner des Forts nicht unthätig und verwandten ihre Zeit auf Hausarbeiten. Manchmal [297] stachen sie auch im Hofe kleine Rinnen aus, um dem Wasser, das sich zwischen Haus und Magazin ansammelte, einen Abzug zu verschaffen. Einen Nagel in der einen und einen Hammer in der andern Hand, hatte Mac Nap in irgend einer Ecke stets Etwas auszubessern. So blieb man den ganzen Tag über beschäftigt, unbekümmert um die Wuth des Sturmes. Als die Nacht aber hereinbrach, schien dieser sich zu verdoppeln, so daß an Schlaf unmöglich zu denken war. Wie eben so viele Keulenschläge trafen die Windstöße das Haus, und manchmal bildete sich scheinbar eine Art Wasserhose zwischen dem Cap und dem Fort. Die Dielen krachten, die Balken schienen auseinander zu weichen, und man mußte befürchten, daß der ganze Bau in Stücke gehe. Für den Zimmermann war das eine Quelle fortwährender Sorgen, für seine Leute die Veranlassung, immer auf der Huth zu sein. Jasper Hobson lag weit weniger die Solidität des Hauses, als die des Bodens am Herzen, auf welchem es errichtet war. Der Orkan wurde so heftig, die Bewegung des Meeres so furchtbar, daß der Gedanke an eine Zerstörung des Eisfeldes nahe gelegt erschien. Unmöglich konnte das ungeheure, in seiner Dicke verminderte und an der Basis abgenagte Eisfeld dem unaufhörlichen Steigen und Fallen des Meerwassers lange Widerstand leisten. Zwar fühlten die Bewohner der Insel vom Seegange Nichts, doch unterlag sie den Wirkungen desselben nicht weniger. Es handelte sich demnach Alles in Allem um die Frage: wird die Insel bis zu dem Zeitpunkte, da sie gegen die Küste stößt, ausdauern oder vorher schon in Stücke gehen?

Jasper Hobson setzte Mrs. Paulina Barnett überzeugend auseinander, daß sie bis jetzt ausgehalten habe. Wenn das nicht der Fall gewesen und das Eisfeld schon in mehrere kleine Schollen getheilt wäre, so konnte das den Bewohnern von Fort-Esperance nicht verborgen bleiben, denn dasjenige Stück, welches sie selbst trug, wäre bei diesem Zustande des Meeres nicht unbewegt geblieben, und hätte dem Seegange unterlegen. Sein Schwanken und Stampfen hätte die, welche sich auf seiner Oberfläche befanden, geschüttelt, wie Passagiere auf einem Schiffe. Das war aber nicht der Fall. Auch bei Gelegenheit seiner täglichen Aufnahmen hatte Jasper Hobson niemals ein Zittern oder irgend welche Bewegung der Insel bemerkt, die so fest zu sein schien, als ob ihr Isthmus sie noch immer an das Festland bände.

[298] Hatte ein Bruch auch noch nicht stattgefunden, so war ein solcher doch jeden Augenblick zu gewärtigen.

Jasper Hobson lag es vorzüglich am Herzen, zu wissen, ob die Insel, wenn sie außerhalb der Strömung dem Drucke des Nordostwindes gefolgt war, sich der Küste genähert hätte, worauf sich alle seine Hoffnung gründete.

Ohne Sonne, Mond und Sterne nützten auch die Instrumente nichts und konnte man die genaue Lage der Insel nicht aufnehmen. Näherte man sich der Erde, so würde man das erst wissen, wenn sie sichtbar wurde, und auch Lieutenant Hobson wäre zur richtigen Zeit, im Falle er nicht einen Stoß fühlte, ohne Kenntniß davon geblieben, wenn er sich nicht nach dem südlichen Theile dieses gefährlichen Gebietes begab. Die Orientation der Insel hatte sich bis jetzt nicht merklich geändert; noch immer wies Cap Bathurst nach Norden, eben so wie zur Zeit, als es einen vorspringenden Punkt des amerikanischen Festlandes ausmachte. Die Insel mußte also, wenn sie anlandete, mit ihrem südlichen Theile zwischen Cap Michael und dem Winkel, den sie vormals bei der Walroß-Bai bildete, anstoßen. Mit einem Worte, die Verbindung mit dem Lande mußte an der Stelle des früheren Isthmus statthaben. Es war also eben so nützlich als wichtig, zu wissen, was auf jener Seite vorging.

Lieutenant Hobson beschloß demnach, sich trotz des abscheulichen Wetters nach dem Cap Michael zu begeben, gleichzeitig aber auch seinen Leuten den wahren Grund dieser Auskundschaftung zu verheimlichen. Nur der Sergeant allein sollte ihn durch den tobenden Sturm begleiten.

An demselben Tage, am 31. August, ließ sich Jasper Hobson, um nach allen Seiten sicher zu sein, den Sergeanten auf sein Zimmer rufen.

»Sergeant Long, sagte er zu ihm, es ist unabweislich nöthig, daß wir uns ohne Verzug über die gegenwärtige Lage der Insel Victoria Gewißheit verschaffen oder doch zum Mindesten wissen, ob die Gewalt des Windes sie, wie ich vermuthe, dem Festlande Amerikas wieder zugetrieben hat.

– Das scheint mir in der That nöthig, Herr Lieutenant, entgegnete der Sergeant, und zwar je eher je besser.

– Wir müssen deshalb, fuhr Jasper Hobson fort, nach dem Süden der Insel gehen.

– Ich bin bereit, Herr Lieutenant.

– Ich weiß, Sergeant Long, daß Sie stets bereit sind, wenn es eine [299] Pflicht zu erfüllen gilt. Doch sollen Sie nicht alleingehen, es ist besser, wenn wir unserer Zwei sind, um für den Fall, daß Land in Sicht wäre, unsere Gefährten zu unterrichten. Wir werden also zusammen gehen.

– Wann Sie wollen, Herr Lieutenant; noch diesen Augenblick, wenn es Ihnen passend erscheint.

– Heute Abend nach neun Uhr, wenn Alles im Schlafe liegt, brechen wir auf ...

– Richtig, denn Alle würden uns begleiten wollen, antwortete Sergeant Long, und doch brauchen Jene den Grund nicht zu wissen, der uns so weit von der Factorei wegführt.

– Das ist auch meine Ansicht, erwiderte Jasper Hobson, und ich möchte Allen, so lange es angeht, das Beunruhigende dieser schrecklichen Lage ersparen. Sie nehmen Feuerzeug und Schwamm mit, um, wenn es nöthig würde, z.B. wenn sich Land im Süden zeigte, ein Signal geben zu können.

– Zu Befehl.

– Unser Zug wird voller Beschwerden sein, Sergeant.

– Das wird er, aber das thut auch nichts. Doch, Herr Lieutenant, unsere Reisende?

– Auch ihr wollte ich nichts mittheilen, antwortete Jasper Hobson, denn sie würde uns unfehlbar begleiten wollen.

– Und das ist unmöglich, meinte der Sergeant, eine Frau kann nicht gegen einen solchen Sturm ankämpfen. Hören Sie, wie furchtbar er jetzt wüthet?«

Wirklich erzitterte das Haus in seinen Grundpfeilern.

»Nein! sagte Jasper Hobson, jene muthige Frau kann und wird uns nicht begleiten; Alles in Allem dürfte es aber doch gerathen sein, ihr unsere Absicht mitzutheilen. Sie muß unterrichtet sein, im Fall uns unterwegs ein Unglück zustieße ...

– Gewiß, Herr Lieutenant, gewiß! antwortete Sergeant Long; ihr dürfen wir Nichts verhehlen, und für den Fall, daß wir nicht wiederkehrten ...

– Also, um neun Uhr, Sergeant.

– Um neun Uhr!«

Mit militärischem Gruße zog sich Sergeant Long zurück.

[300] Einige Augenblicke später unterhielt sich Jasper Hobson mit Mrs. Paulina Barnett und brachte sein Project zu deren Kenntniß. So wie er darauf bestand, so bestand die muthige Frau darauf, ihn zu begleiten und der Wuth des Sturmes mit ihm zu trotzen. Der Lieutenant suchte sie nicht dadurch von diesem Gedanken abzubringen, daß er ihr die Gefahren der bevorstehenden Expedition schilderte, sondern betonte nur, daß ihre Gegenwart im Fort während seiner Abwesenheit unentbehrlich sei, und daß es von ihr abhinge, dadurch, daß sie zurück blieb, ihm die so nöthige Ruhe des Geistes zu bewahren. Sollte sich ein Unglück ereignen, so wäre er mindestens sicher, daß seine thatkräftige Begleiterin zur Hand sei, um bei seinen Leuten seine eigene Stelle zu vertreten.

Mrs. Paulina Barnett verstand ihn und drängte nicht weiter. Jedenfalls bat sie Jasper Hobson, sich nicht unnütz einer Gefahr auszusetzen, indem sie ihm in's Gedächtniß zurückrief, daß er der Chef der Factorei sei und sein Leben nicht ihm allein, sondern dem Wohl aller Uebrigen gehöre. Der Lieutenant versprach, so klug zu handeln, als es unter den gegebenen Verhältnissen möglich sein werde, doch wäre es unbedingt und ohne Verzug nöthig, den südlichen Theil der Insel in Augenschein zu nehmen. Am folgenden Tage sollte Mrs. Paulina Barnett den Anderen nur sagen, daß der Lieutenant und der Sergeant zum letzten Male vor Eintritt des Winters auf Kundschaft ausgezogen seien.

7. Capitel
Siebentes Capitel.
Ein Feuer und ein Schrei.

Der Lieutenant und der Sergeant verbrachten den Abend bis zur Schlafenszeit in dem großen Saale von Fort-Esperance. Alle hatten sich da versammelt, bis auf den Astronomen, der fortwährend in seiner Zelle hermetisch abgeschlossen blieb. Die Männer beschäftigten sich auf verschiedene Weise, reinigten die Waffen, besserten die Werkzeuge aus, oder schärften sie.

[301] Mrss. Mac Nap, Raë und Joliffe betrieben mit der guten Madge ihre Nadelarbeiten, und Mrs. Paulina Barnett endlich las mit lauter Stimme vor.

Ost wurde diese Lectüre nicht allein durch den Sturm, der wie ein Mauerbrecher an die Wände des Hauses donnerte, sondern auch durch das Geschrei des kleinen Kindes unterbrochen. Corporal Joliffe, welcher Letzteres besänftigen wollte, hatte damit vollauf zu thun. Seine Kniee, die als Schaukelpferd dienen mußten, waren schon ganz lahm geworden, so daß sich der Corporal entschloß, seinen unermüdlichen kleinen Reiter auf den großen Tisch zu setzen, auf dem das Kind nach Herzenslust umher kollerte, bis es der Schlaf am Ende übermannte.

Um acht Uhr verrichteten Alle gemeinsam das gebräuchliche Gebet, die Lampen wurden verlöscht, und Jeder suchte seine gewohnte Schlafstätte.

Als Alle im Schlafe lagen, schritten Lieutenant Hobson und Sergeant Long geräuschlos durch den verlassenen großen Saal und gelangten nach dem Vorraume, wo Mrs. Paulina Barnett sie zu einem letzten Händedrucke erwartete.

»Also auf morgen, sprach sie zu dem Lieutenant.

– Auf morgen, Madame, erwiderte Jasper Hobson, ja auf morgen ... ohne Zweifel ...

– Aber im Falle Sie ausbleiben? ...

– Wird man uns ruhig erwarten müssen, entgegnete der Lieutenant, denn nach der nächtlichen Beobachtung des südlichen Horizontes, an dem ein Feuer sichtbar werden könnte, – wenn wir uns beispielsweise der Küste Nord-Georgias genähert hätten – liegt mir viel daran, am Tage unsere Lage genau festzustellen. Das könnte also schon vierundzwanzig Stunden in Anspruch nehmen. Vermögen wir aber Cap Michael noch vor Mitternacht zu erreichen, so werden wir morgen Abend im Fort zurück sein. Haben Sie also Geduld, Madame, und glauben Sie, daß wir uns nicht unklug einer Gefahr aussetzen werden.

– Wenn Sie aber, fragte die Reisende, morgen, in zwei Tagen noch nicht zurückgekehrt wären? ...

– Dann kehren wir auch niemals zurück!« antwortete einfach der Lieutenant Hobson.

Die Thür ging auf, und Mrs. Barnett schloß sie wieder hinter dem [302] Lieutenant und seinem Begleiter. Unruhig und gedankenvoll schlich sie nach ihrem Zimmer zurück, wo Madge ihrer wartete.

Jasper Hobson und Sergeant Long überschritten den inneren Hof und mußten sich Einer an den Anderen halten, so fegte der Wind durch diesen; doch erreichten sie das äußere Thor und drangen muthig zwischen den Hügeln und dem östlichen Ufer der Lagune hinaus.

Ein unbestimmter Widerschein lag über dem Lande. Da seit dem Tage vorher Neumond war, so versprach auch dieser keine bessere Beleuchtung und machte der Nacht ihre furchtbare Dunkelheit, welche übrigens nur einige Stunden anhalten sollte, nicht streitig. Auch jetzt sah man noch nothdürftig, um sich zurecht zu finden.

Aber welcher Sturm und welcher Regenguß! Lieutenant Hobson und sein Begleiter waren zwar mit wasserdichten Stiefeln und gut anschließenden Wachstuchmäntlein versehen, deren Capuchons ihren Kopf vollkommen verhüllten. So geschützt marschirten sie schnell, denn der Wind, den sie im Rücken hatten, trieb sie gewaltsam vorwärts, und konnte man eher sagen, daß sie, wenn jener seine Heftigkeit verdoppelte, schneller gingen, als sie selbst wollten. Zu sprechen versuchten sie aber gar nicht, denn sie hätten sich, betäubt und außer Athem von dem Sturm, doch nicht hören können.

Jasper Hobson hatte nicht die Absicht, dem Ufer nachzugehen, dessen Unregelmäßigkeiten seinen Weg nur unnützer Weise verlängern und ihm der ganzen Gewalt des Windes, welcher dort natürlich kein Hinderniß fand, preisgeben mußten. So viel als möglich wollte er von Cap Bathurst bis zum Cap Michael eine gerade Linie einhalten, und trug deshalb einen kleinen Taschencompaß bei sich, um seiner Richtung sicher zu bleiben. So konnte der zurückzulegende Weg nur zehn bis elf Meilen betragen, und hoffte er ungefähr zu der Zeit an seinem Ziele anzulangen, wo die Dämmerung für wenige Stunden ganz verschwinden und die Nacht in voller Finsterniß herrschen würde.

Gejagt vom Winde und mit gekrümmtem Rücken, eingezogenem Kopfe und auf ihre Stöcke gestützt kamen der Lieutenant und sein Sergeant ziemlich geschwind vorwärts. So lange sie in der Nachbarschaft des Seeufers gingen, traf sie noch nicht die volle Gewalt des Sturmes und hatten sie verhältnißmäßig weniger zu leiden, da die Hügel und die Bäume, welche letztere bedeckten, sie einigermaßen schützten. Mit einer Wuth ohne Gleichen pfiff [303] der Sturm durch die Aeste, immer nahe daran, einen lockeren Stamm zu entwurzeln und zu zersplittern, doch »brach« er sich selbst dabei. Selbst der Regen schlug nur zu seinem Staub zertheilt nieder. So wurden die Kundschafter auf einer Strecke von vier Meilen weniger geplagt, als sie gefürchtet hatten.


»Nicht dorthin!« (S. 307.)

Als sie aber das südliche Ende des Hochwaldes erreichten, da wo die Hügel auslaufen und der flache Erdboden, der ohne irgend welche Erhöhung [304] oder Baumschutz war, vom Seewind überfegt wurde, hielten sie einen Augenblick an. Noch blieben sechs Meilen bis zum Cap Michael zu durchwandern.


»Sergeant! Wo seid Ihr?« (S. 308.)

»Das wird nun etwas härter hergehen! rief Lieutenant Hobson dem Sergeant Long in's Ohr.

– Ja, erwiderte dieser, Wind und Regen werden uns um die Wette in's Gebet nehmen.

[305] – Ich fürchte sogar, daß sich zeitweilig etwas Hagel einmischen wird, fügte Jasper Hobson hinzu.

– Das ist immer noch besser, als Kartätschen! entgegnete gelassen der Sergeant. Uebrigens werden Sie, Herr Lieutenant, so gut wie ich, schon durch den Kugelregen gegangen sein, also in Gottes Namen vorwärts!

– Vorwärts, mein wackerer Soldat!«

Es war nun zehn Uhr; das letzte Dämmerlicht verschwand, als wäre es in Wasserdunst untergetaucht oder durch Wind und Regen ausgelöscht worden. Nur sehr verschwommen war noch die Spur eines Lichtscheines bemerkbar. Der Lieutenant schlug Feuer an und sah nach seiner Boussole, indem er diese unter seinem Ueberrocke hielt und mit einem Stückchen brennenden Schwammes über sie hinleuchtete; dann wagte er sich mit dem Sergeanten auf die ungeheure Ebene, welche weithin ohne jeden Schutz war, hinaus.

Im ersten Augenblick wurden Beide gewaltsam niedergeworfen; sie erhoben sich mühsam, klammerten sich Einer an den Andern und setzten sich, gebeugt wie zwei alte Männchen, schnell in Gang.

Der Sturm war wahrhaft prächtig in seinem Schrecken! Zerrissene Fetzen von Nebel, ein wahres Gemisch von Luft und Wasser, jagten über die Erde. Sand und Erde flogen wie Kartätschen umher, und an dem Salze, welches sich an ihre Lippen ansetzte, erkannten die Wanderer, daß das Wasser des Meeres mindestens aus einer Entfernung von zwei bis drei Meilen in Staubform bis zu ihnen hergetragen wurde.

In den seltenen und kurzen Pausen des Sturmes hielten sie an und schöpften Athem. Der Lieutenant corrigirte dann so gut als möglich unter Abschätzung des zurückgelegten Weges ihre Richtung, und wieder gingen sie weiter.

Mit eintretender Nacht nahm die Gewalt des Sturmes aber nur noch zu. Beide Elemente, die Luft und das Wasser, schienen ganz ineinander aufzugehen. Sie bildeten eine jener furchtbaren Tromben, welche Häuser umstürzen und Wälder entwurzeln, und auf die die Schiffer mit Kanonen feuern. Man hätte wirklich glauben können, daß der ganze, seinem Bette entrissene Ocean über die schwimmende Insel herstürze.

Jasper Hobson stellte sich auch die gegründete Frage, wie das Eisfeld, welches sie trug, einer solchen Wasserfluth Widerstand leisten könne und bei dem furchtbaren Seegange noch nicht an hundert Stellen gebrochen sei. In [306] der Ferne hörte man das Meer rauf Gen. Da blieb Sergeant Long, der dem Lieutenant um einige Schritte voraus war, plötzlich stehen und stieß nur die wenigen Worte heraus.

»Nicht dorthin!

– Warum nicht?

– Das Meer! ...

– Wie? Das Meer? Wir sind doch jetzt noch nicht am südwestlichen Ufer?

– Da, sehen Sie selbst, Herr Lieutenant.«

Wirklich erschien in der Dunkelheit eine breite Wasserfläche, und wüthend brachen sich die Wellen zu Füßen des Lieutenants.

Jasper Hobson schlug noch einmal Feuer und beobachtete mittels eines neuen Stückchen Schwammes aufmerksam die Nadel seiner Bussole.

»Nein, sagte er, das Meer liegt weiter nach links. Noch haben wir den Hochwald nicht durchschritten, der uns vom Cap Michael trennt.

– Nun, dann ist das ...

– Ein neuer Bruch der Insel, fiel Lieutenant Hobson ein, der sich gleich seinem Begleiter hatte auf den Boden werfen müssen, um dem Ungestüm des Windes zu widerstehen. Entweder hat sich ein großer Theil der Insel losgerissen und treibt nun fort, oder es ist das nur ein Einschnitt, welchen wir umgehen können. Vorwärts also!«

Jasper Hobson und der Sergeant erhoben sich und wandten sich nach rechts, indem sie der Wasserlinie sollten, welche zu ihren Füßen schäumte. So gingen sie wohl zehn Minuten lang, immer mit der Furcht, von aller Verbindung mit dem südlichen Theile der Insel abgeschnitten zu sein. Da verstummte die Brandung, welche zu dem Lärmen des Sturmes sonst noch hinzu gekommen war.

»Das ist nur ein Einschnitt, sagte Lieutenant Hobson seinem Sergeanten in's Ohr. Kehren wir um!«

Auf's Neue schlugen sie die Richtung nach Süden ein. Gewiß setzten sich die muthigen Männer einer Gefahr aus, doch trotzdem sie das Beide recht wohl wußten, theilten sie ihre Gedanken einander doch nicht mit.

In der That konnte dieser Theil der Insel Victoria, über welchen sie jetzt schritten, und der schon auf eine weite Strecke aus der Ordnung geschoben war, sich jeden Augenblick gänzlich davon loslösen. Vertiefte sich der [307] Einschnitt unter dem Zahn der Brandung noch weiter, so wurden sie mit ihm unfehlbar verschlagen. Sie zauderten aber nicht, sondern drangen durch die Finsterniß, ohne zu fragen, ob ihnen ein Weg zur Rückkehr übrig sein würde.

Welche beunruhigende Gedanken lasteten da auf Jasper Hobson's Seele. Konnte er jetzt noch hoffen, daß die Insel bis zum Winter zusammen halten werde? War jenes nicht der Anfang des unvermeidlichen Bruches? Wenn sie jetzt der Wind nicht gegen die Küste trieb, war sie dann nicht verurtheilt, bald zu Grunde zu gehen, zu schmelzen und zu versinken? Welch eine trostlose Zukunft und welche Aussicht verblieb dann noch den unglücklichen Bewohnern dieses Eisfeldes?

Niedergeschmettert und zerschlagen von der Wucht der Windstöße verfolgten die beiden muthigen Männer, die nur das Gefühl einer zu erfüllenden Pflicht noch aufrecht erhielt, unaufhaltsam ihren Weg. So kamen sie an den Saum jenes weiten Hochwaldes, der an Cap Michael grenzte. Dieser war zu durchschreiten, um möglichst bald das Ufer zu erreichen. Jasper Hobson und Sergeant Long begaben sich also hinein, trotz der tiefsten Finsterniß, trotz des Höllengetöses des Sturmes in den Tannen und Birken. Alles krachte rings um sie und die abgerissenen Zweige schlugen ihnen in's Gesicht. Jeden Augenblick liefen sie Gefahr, durch einen umstürzenden Baum erschlagen zu werden, oder stießen sich an den schon gefallenen Stämmen, die in der Dunkelheit nicht zu bemerken waren. Dennoch gingen sie jetzt nicht mehr auf gut Glück weiter, denn das Rauschen des Meeres leitete ihre Schritte durch das Gehölz. Sie vernahmen den furchtbaren Rückprall der Wogen, die sich mit schrecklichem Geräusche brachen, und mehr als einmal fühlten sie den dünner gewordenen Boden unter ihren Füßen zittern. Endlich kamen sie Hand in Hand, um sich nicht zu trennen, sich unterstützend und Einer dem Anderen aufhelfend, wenn sie gegen ein Hinderniß stießen, an den Küstenrand auf der anderen Seite des Waldes.

Dort riß sie aber ein Wirbelwind von einander; sie wurden mit Gewalt getrennt und zur Erde geschleudert.

»Sergeant! Sergeant! Wo seid Ihr? rief Jasper Hobson mit aller Kraft seiner Lungen.

– Hier, Herr Lieutenant!« antwortete der Sergeant.

Auf dem Boden hin kriechend suchten sich Beide wieder zu vereinigen, [308] doch schien es, als ob eine übermächtige Hand sie an die Stelle banne. Nach unerhörten Anstrengungen näherten sie sich endlich und banden sich, um einer Wiederholung eines solchen Zufalls vorzubeugen, mit den Gürteln an einander; dann krochen sie auf dem Sande hin, um eine leichte Bodenerhöhung zu gewinnen, welche eine Gruppe dürftiger Tannen krönte. Unter dem geringen Schutze derselben gruben sie endlich ein Loch auf, in welchem sie erschöpft und athemlos eine Zuflucht suchten.

Jetzt war es um elf Uhr Nachts.

Einige Minuten verharrten Jasper Hobson und sein Begleiter schweigend. Die Augen halb geschlossen, konnten sie sich nicht mehr rühren, und eine Art Halblähmung oder Schlafsucht ergriff sie, während der tobende Sturm über ihren Köpfen die Tannen schüttelte, welche wie die Knochen eines Skelettes klapperten. Mit aller Anstrengung widerstanden sie dem Schlafe, und erquickten sich durch einige Schlucke Branntwein aus der Kürbisflasche des Sergeanten.

»Wenn nur diese Bäume aushalten! sagte Lieutenant Hobson.

– Und wenn nur unser Loch nicht mit ihnen dahingeht! fügte Sergeant Long hinzu, der sich mit dem Ellnbogen auf den Sand stützte.

– Da wir nun aber einmal hier sind, fuhr Jasper Hobson fort, nur wenig Schritte vom Cap Michael, und hergekommen sind, um Umschau zu halten, so wollen wir es auch thun. Sergeant Long, ich habe eine Ahnung, daß wir nicht mehr weit vom festen Lande sind, freilich ist das nur eine Ahnung.«

Von der Stelle, wo sie sich befanden, hätten ihre Blicke zwei Drittel des südlichen Horizontes umfassen können, wenn dieser nur sichtbar gewesen wäre. Eben jetzt herrschte aber vollkommene Finsterniß und mußten sie, sobald kein Feuer aufleuchtete, wohl den folgenden Morgen abwarten, um sich von dem Vorhandensein einer Küste zu überzeugen, vorausgesetzt, daß der Wind sie weit genug nach Süden getrieben hatte. Fischerei-Anstalten sind nämlich, – wie Lieutenant Hobson schon der Mrs. Barnett versicherte – in dieser Gegend des nördlichen Amerika, welches zu Neu-Georgia gehört, nicht gerade selten. Auch trifft man hier auf zahlreiche Etablissements, wo die Eingeborenen nach Mammuth-Zähnen suchen, denn diese Seegegenden bergen eine große Anzahl versteinerter Skelette jener vorweltlichen Kolosse. Einige Grade tiefer erhebt sich Neu-Archangel, die Verwaltungsstation des ganzen Archipels [309] der Aleuten und Hauptort des russischen Amerika. Die Jäger besuchen aber fleißiger die Küste des Eismeeres, vorzüglich seitdem die Hudsons-Bai-Compagnie die Jagdgebiete, welche früher Rußland ausbeutete, erpachtet hat. Ohne das Land selbst zu kennen, war Jasper Hobson doch mit den Gewohnheiten der Agenten vertraut, welche es zu dieser Jahreszeit besuchten, und hatte alle Gründe zu der Annahme, dort Landsleute, vielleicht Collegen anzutreffen, und wenn nicht diese, dann doch nomadisirende Indianer, welche längs der Küste hinzuziehen pflegen.

Hatte denn Jasper Hobson aber ein Recht, zu glauben, daß die Insel Victoria nach der Küste zu getrieben sei?

»Ja, und hundertmal ja! wiederholte er dem Sergeanten. Viele Tage wehte dieser Nordostwind mit der Kraft eines Orkans. Wohl weiß ich, daß unsere sehr flache Insel ihm nur wenig Angriffspunkte bietet, dennoch müssen ihre Hügel, ihre Wälder, welche die Stelle der Segel vertreten, der Wirkung eines solchen Luftstromes unterliegen. Selbst das Meer, welches uns trägt, entgeht nicht ganz diesem Einflusse, und sicher verlaufen jene großen Wogen nach der Küste. Mir scheint es demnach unmöglich, daß wir aus der Strömung, die uns nach Westen führte, nicht heraus gekommen, unmöglich, daß wir nicht nach Süden getrieben worden wären. Bei unserer letzten Aufnahme waren wir nur zweihundert Meilen vom Lande entfernt, und seit sieben Tagen ...

– Ihre Schlüsse sind gewiß ganz richtig, Herr Lieutenant, antwortete Sergeant Long; haben wir die Hilfe des Windes, so haben wir auch die Hilfe Gottes, der es nicht wollen kann, daß so viele Unglückliche verderben; darauf setze ich alle meine Hoffnung!«

So sprachen Jasper Hobson und der Sergeant in Sätzen, die das Toben des Sturmes oft unterbrach. Ihre Blicke suchten die dichte Finsterniß zu durchdringen, welche die durch den Orkan umhergetriebenen Nebelmassen noch undurchsichtiger machten.

Gegen ein Uhr Morgens legte sich der Sturm auf wenig Minuten. Nur das Donnern des furchtbar aufgeregten Meeres schwieg nicht. Die Wogen stürzten mit entsetzlicher Gewalt über einander.

Plötzlich ergriff Jasper Hobson den Arm seines Begleiters und rief:

»Sergeant, hören Sie?

– Was?

[310] – Das Geräusch des Meeres?

– Ja, Herr Lieutenant, antwortete Sergeant Long, der gespannter aufhorchte, und seit einigen Augenblicken scheint mir das Tosen der Wellen ...

– Nicht mehr dasselbe zu sein ... nicht wahr, Sergeant? Hören Sie ... hören Sie ... das klingt wie Brandung ... man sollte meinen, daß das Wasser sich an Felsen breche!« ...

Jasper Hobson und der Sergeant lauschten mit gespanntester Aufmerksamkeit. Gewiß war das nicht mehr das eintönige und dumpfe Geräusch der Wellen, die in offener See einander treffen, sondern es klang, wie das Rollen flüssiger Massen, welche gegen einen harten Körper geworfen werden, wenn es das Echo der Felsen wiedergiebt. Am ganzen Ufer der Insel fand sich aber nicht ein einziger Felsen, und pflanzte diese mit ihrem Boden aus Sand und Erde den Schall nicht so kräftig fort.

Hatten sich die beiden Lauscher getäuscht? Der Sergeant suchte sich zu erheben, um besser hören zu können, wurde aber von dem Sturmwinde, der sich auf's Neue erhob, sofort wieder umgeworfen. Die kurze Pause war vorüber, und ununterscheidbar brauste der Lärmen wieder durch einander. Aber wer stellt sich nicht die Angst der beiden Beobachter vor, wenn er bedenkt, daß sie, zurückgezogen in ihre Vertiefung, den Sand unter ihren Füßen sinken, und die Tannen bis in ihre Wurzeln erzittern fühlten! Und trotzdem blieb ihr Blick auf den Süden geheftet. Ihr ganzes Leben concentrirte sich jetzt in diesem Blicke, und ihre Augen stierten in die Finsterniß, welche kaum die ersten Strahlen der Morgenröthe färbten.

Plötzlich, etwas vor zwei ein halb Uhr Morgens, rief der Sergeant:

»Ich habe Etwas gesehen!

– Was?

– Ein Feuer!

– Ein Feuer?

Ja! ... Dort, in dieser Richtung!«

Der Sergeant wies mit der Hand nach Südwesten. Sollte er sich getäuscht haben? Nein, denn Jasper Hobson gewahrte auch einen unbestimmten Lichtschein in der angegebenen Richtung.

»Ja! rief er freudig, ja, Sergeant! Ein Feuer! Das ist das Land!

– Wenn dieses Licht nicht von einem Schiffe herrührt! entgegnete Sergeant Long.

[311] – Bei einem solchen Unwetter ein Schiff auf offener See! Das ist unmöglich. Nein, nein! Das Land ist dort, sage ich Ihnen, und nur einige Meilen von unserer Insel entfernt!«

Jetzt fehlte es aber an einer Fackel, um diese zu entzünden; nur die Tannen standen über ihnen, welche der Sturm beugte.

»Ihr Feuerzeug, Sergeant«, sagte Jasper Hobson.

Der Sergeant zündete etwas Schwamm an und kroch auf der Erde bis zu der Baumgruppe. Der Lieutenant folgte ihm. Dürres Holz fehlte nicht. Sie häuften es um die Wurzeln eines Baumes, setzten es in Brand, und mit Hilfe des Windes ergriff die Flamme die ganze Baumgruppe.

»O, rief Jasper Hobson, da wir jenes Feuer sehen konnten, wird man auch uns bemerken!«

Die Tannen brannten mit hellem Scheine und erzeugten eine lange, rauchende Flamme, wie etwa eine riesige Fackel. Das Harz knisterte in den alten Stämmen, welche schnell verzehrt wurden. Bald ward das Feuer stiller und stiller und – Alles verlosch.


Ein improvisirtes Signalfeuer. (S. 312.)

Jasper Hobson und der Sergeant warteten, ob ein neues Feuer dem ihrigen antworten werde ...

Zehn Minuten beobachteten sie vergeblich, und suchten den Punkt wieder aufzufinden, woher der erste Lichtschein gekommen war; schon verzweifelten sie irgend welches Signal zu erhalten, als sich plötzlich ein Schrei vernehmen ließ, ein deutlicher, verzweifelter Schrei aus dem Meere.

Jasper Hobson und der Sergeant glitten bis zu dem Ufer hinab ... kein Laut war mehr zu hören.

Seit einigen Minuten flammte aber das Morgenroth weiter und weiter auf. Auch der Sturm schien mit dem Wiedererscheinen der Sonne an Heftigkeit zu verlieren. Bald wurde es hell genug, um den Horizont übersehen zu können.

Da war aber kein Land in Sicht, und Himmel und Meer verschwammen noch immer in derselben Linie am Horizonte.

[312]
8. Capitel
Achtes Capitel.
Ein Ausflug der Mrs. Paulina Barnett.

Den ganzen Morgen verbrachten Jasper Hobson und Sergeant Long noch in dieser Gegend der Küste. Das Wetter hatte sich wesentlich geändert. Es regnete fast gar nicht mehr, dagegen war der Wind außergewöhnlich schnell nach Südosten umgesprungen, ohne dabei an Heftigkeit einzubüßen.

[313] Dieser sehr unangenehme Umstand vergrößerte nur Lieutenant Hobson's Unruhe, da er nun jede Hoffnung, auf das Festland zu treffen, aufgeben mußte.

In der That konnte dieser Südostwind die umherirrende Insel nur mehr und mehr von jenem entfernen, und sie den so gefürchteten Strömungen, welche nach dem Norden des Arktischen Oceans verlaufen, zuführen.

Hatte man denn aber überhaupt eine Gewißheit darüber, daß die Insel in jener Schreckensnacht der Küste nahe gewesen, oder beruhte diese Annahme nur auf einer nicht in Erfüllung gegangenen Ahnung Jasper Hobson's? Die Luft war ja jetzt ziemlich klar und auf mehrere Meilen hin durchsichtig, dennoch aber keine Spur eines Landes zu sehen. Mußte man nicht auf die Ansicht des Sergeanten zurück kommen, daß während der Nacht ein Fahrzeug der Insel in Sicht vorbei gekommen, eine Schiffslaterne einen Augenblick sichtbar gewesen sei, und der gehörte Schrei von einem verunglückten Seemann hergerührt habe? Und würde dieses Schiff nicht wahrscheinlich selbst bei dem furchtbaren Sturme untergegangen sein?

Auf jeden Fall traf man indeß auf keine Schiffstrümmer.

Der Ocean, über den der Landwind jetzt in entgegengesetzter Richtung brauste, thürmte bergehohe Wellen auf, denen ein Fahrzeug nur sehr schwer mochte widerstehen können.

»Nun, Herr Lieutenant, sagte der Sergeant, zu einem Entschlusse werden wir kommen müssen.

– Ja freilich, Sergeant, antwortete Jasper Hobson und strich mit der Hand über die Stirn, und zwar müssen wir auf unserer Insel ausharren, um den Winter zu erwarten. Er allein vermag uns zu retten.«

Der Mittag war herangekommen. Da Jasper Hobson jedenfalls vor dem Abend in Fort-Esperance zurück sein wollte, schlug man nun den Weg nach Cap Bathurst ein, wobei die Wanderer wiederum vom Winde im Rücken unterstützt wurden.

Nicht unberechtigt erfüllte sie die Frage mit großer Unruhe, ob sich die Insel bei diesem Kampfe der Elemente nicht in zwei Theile getrennt, ob sich also der in vergangener Nacht beobachtete Riß durch ihre ganze Breite fortgesetzt habe. Waren sie vielleicht jetzt schon von ihren Freunden geschieden? Der Lage der Dinge nach mußten sie auf Alles gefaßt sein.

Bald kamen sie an den die Nacht vorher durchschrittenen Hochwald. In [314] großer Menge lagen da die Bäume auf der Erde, die einen mit geknicktem Stamme, die anderen sammt den Wurzeln aus dem Boden, dessen dünne Erdschicht ihnen keinen genügenden Widerhalt bot, herausgerissen. Blätterlos starrten ihnen die übrigen wie grinsende Silhouetten entgegen, und klapperten lärmend im Winde.

Zwei Meilen über diesen verwüsteten Wald hinaus trafen Lieutenant Hobson und der Sergeant auf den erwähnten Spalt, dessen Größenverhältnisse sie in der Dunkelheit nicht hatten wahrnehmen können. Er stellte einen gegen fünfzig Fuß breiten Bruch dar, der das Ufer halbwegs zwischen Cap Michael und dem ehemaligen Barnett-Hafen theilte, und eine Art Bucht bildete, die etwa anderthalb Meilen in das Land einschnitt. Wenn ein neuer Sturm das Meer aufwühlte, war zu erwarten, daß der Riß sich vergrößern und erweitern werde.

Bei Annäherung an die Küste sah Jasper Hobson eben einen gewaltigen Eisblock sich von der Insel loslösen und in die Weite treiben.

»Ja wohl, murmelte der Sergeant Long, darin liegt die Gefahr!«

Mit raschem Schritte wandten sich Beide nach Westen um den großen Einschnitt herum, und von dessen Ende aus direct auf Fort-Esperance zu.

Auf dem Wege kam ihnen keine weitere Veränderung zu Gesicht. Um vier Uhr erreichten sie das Palissadenthor, und trafen ihre Genossen bei den gewohnten Beschäftigungen an.

Gegen seine Leute sprach sich Jasper Hobson dahin aus, daß er zum letzten Male vor Eintritt des Winters nach Spuren der von Kapitän Craventy versprochenen Sendung habe suchen wollen, das aber auch diesmal fruchtlos gewesen sei.

»Ich glaube wohl, Herr Lieutenant, ließ sich Marbre vernehmen, daß wir für dieses Jahr unbedingt darauf verzichten müssen, unsere Kameraden aus Fort-Reliance zu sehen.

– Ganz meine Meinung, Marbre«, antwortete ihm Jasper Hobson, und zog sich in den allgemeinen Saal zurück.

Mrs. Paulina Barnett und Madge wurden von den beiden merkwürdigsten Ereignissen der kleinen Reise des Lieutenants, jenem Aufblitzen eines Lichtes und der Wahrnehmung eines Schreies, unterrichtet. Jasper Hobson und der Sergeant bekräftigten noch ganz besonders, daß ihnen in Bezug auf Beides nicht etwa die erhitzte Einbildung nur einen Streich gespielt habe. Das Feuer [315] war wirklich gesehen, der Schrei unzweifelhaft vernommen worden. Nach reiflichster Ueberlegung einigte man sich dahin, daß gewiß ein nothleidendes Schiff an der Insel vorüber gekommen, diese aber nicht, nach der früheren Voraussetzung, nahe dem amerikanischen Festlande gewesen sei.

Mit dem Südostwinde heiterte sich indeß der Himmel vollkommen auf und befreite sich die Atmosphäre von den Dünsten, welche sie bis dahin trübten. Jasper Hobson konnte darauf rechnen, am nächsten Tage eine Lagenbestimmung auszuführen.

Wirklich wurde die Nacht ziemlich kalt und fiel ein feinflockiger Schnee, welcher die ganze Insel leicht bedeckte. Beim Erwachen am anderen Morgen begrüßte der Lieutenant dieses erste Vorzeichen des ersehnten Winters.

Jetzt war der 2. September. Als der Himmel sich nach und nach ganz entwölkte, brach die Sonne wieder hindurch. Zu Mittag wurde eine gelungene Beobachtung bezüglich der Breite, und gegen zwei Uhr eine Berechnung der Stundenwinkel vorgenommen.

Diese Beobachtungen ergaben: Für die Breite 70°57'; für die Länge 170°30'.

Trotz der Macht des Orkanes hatte sich die Insel also nahezu in derselben Parallele gehalten und ihre Lage nur in Folge der Strömung gegen Westen hin verschoben. Nun befand sie sich gegenüber der Behrings-Straße, jedoch mindestens vierhundert Meilen nördlich vom Ostcap und dem Cap Prince-de-Gallas, welche die engste Stelle der Straße bezeichnen.

Diese neue Lage gab sehr ernsthaft zu denken. Mit jedem Tage näherte sich die Insel jenem großen Kamtschatka-Strome, der, wenn er sie einmal ergriff, sie weit nach Norden verschlagen mußte. Binnen Kurzem stand die Entscheidung ihres Schicksals bevor: entweder verharrte sie zwischen den beiden gegnerischen Strömen unbewegt bis zum Festwerden des umgebenden Meeres, oder – sie verlor sich in den Einöden der hyperboräischen Regionen.

Jasper Hobson, der sehr peinlich erregt seine Unruhe doch vor Anderer Blicken verbergen wollte, zog sich in sein Zimmer zurück und erschien den ganzen Tag nicht wieder. Die Karten vor den Augen setzte er seine ganze Erfindungsgabe, seinen ganzen praktischen Verstand daran, eine Lösung zu finden.

Die Temperatur sank weiter um einige Grade, und die abendlichen Nebel des südöstlichen Horizontes schlugen sich während der Nacht als Schnee [316] nieder. Am anderen Tage maß die weiße Decke schon zwei Zoll – endlich kam der Winter.

An diesem Tage, den 3. September, beschloß Mrs. Paulina Barnett, den Küstenstrich zwischen Cap Bathurst und dem Cap Eskimo auf einige Meilen hin zu durchstreifen. Sie wollte die Veränderungen in Augenschein nehmen, die der Sturm der eben vergangenen Tage dort veranlaßt haben könnte. Jasper Hobson hätte, wenn sie diesem von ihrer Absicht Kunde gab, sich gewiß zu ihrer Begleitung angeschlossen. Da sie ihn aber bei seinen Ansichten über jene Veränderungen belassen wollte, entschied sie sich, nur in Gesellschaft Madge's aufzubrechen.

Eine Gefahr schien ja nicht zu besorgen. Die einzigen wirklich zu fürchtenden Thiere, die Bären, hatten die Insel seit dem Erdbeben verlassen. Zwei Frauen konnten sich demnach, ohne den Vorwurf der Unklugheit zu verdienen, wohl auf einen nur für wenige Stunden berechneten Ausflug in die Umgebungen des Forts hinaus wagen.

Madge ging ohne Widerrede auf Mrs. Paulina Barnett's Vorschlag ein, und Beide stahlen sich, ohne Jemand davon Kenntniß zu geben, mit dem einfachen Schneemesser, einer Kürbisflasche und einer Reisetasche ausgerüstet, schon um acht Uhr Morgens davon, stiegen den Abhang des Caps hinab und lenkten ihre Schritte nach Westen.

Schon glitt die Sonne langsam über den Horizont hin, denn selbst bei ihrer Culmination erhob sie sich nur auf wenige Grade. Ihre schrägen Strahlen waren aber hell, eindringend, und schmolzen an Stellen, die sie unmittelbar beschienen, noch den leichten Schneeteppich weg.

Zahlreiche Vögel aller Art flatterten in Schwärmen umher und belebten die Küste. Die Luft hallte von ihrem Geschrei wieder, wenn sie, je nachdem das süße oder salzige Wasser sie anlockte, unaufhörlich zwischen der Lagune und dem Meere hin- und herflogen.

Mrs. Paulina Barnett machte auch die Bemerkung, wie zahlreich die verschiedensten Pelzthiere sich in der nächsten Nachbarschaft von Fort-Esperance aufhielten. Ohne Mühe konnte die Factorei wohl ihre Magazine füllen; aber zu welchem Zwecke wäre das jetzt geschehen?

Diese unschuldigen Thiere, welche zu wissen schienen, daß ihnen kein Jäger nachstelle, gingen und kamen mit zunehmender Vertraulichkeit bis an die Palissaden heran. Ihr Instinct mochte ihnen verrathen haben daß sie [317] auf dieser Insel gefangen seien, gefangen wie deren Bewohner, und daß Alle ein gemeinschaftliches Schicksal theilten. Höchst eigenthümlich erschien es aber, und war übrigens Mrs. Paulina von Anfang an nicht entgangen, daß Marbre und Sabine, zwei so leidenschaftliche Jäger, dem Befehle des Lieutenants, die Pelzthiere jetzt ausnahmslos zu schonen, so ohne jede Uebertretung nachkamen und nicht die geringste Lust zeigten, das kostbare Wild mit einem Büchsenschusse zu begrüßen. Füchse und Andere entbehrten freilich noch ihres Winterpelzes, was ihren Werth sehr beträchtlich herabsetzte, aber doch genügte dieser Grund wohl kaum, die auffallende Lustlosigkeit der beiden Nimrods zu erklären.

Im wackeren Zuschreiten faßten Mrs. Paulina Barnett und Madge bei der Unterhaltung über ihre ganz fremdartige Lage den sandigen Saum der Küste immer aufmerksam in's Auge. Die Verwüstungen, welche das Meer in jüngster Zeit verursacht hatte, waren sehr merkbar. Da und dort bewiesen frische Schollen das Vorhandensein neuer Brüche. Das an manchen Stellen abgenagte und flachere Ufer zeigte eine beunruhigende Neigung zum Versinken, und schon rollten da lange Wellen darüber hin, wo jenen sonst ein steiler Uferrand ein Halt geboten hatte. Offenbar waren einige Theile der Insel gesunken und schwebten jetzt mit der Wasserfläche nur noch in gleicher Höhe.

»Meine liebe Madge, sprach da Mrs. Paulina Barnett unter Hinweisung auf die ausgedehnten Bodenstrecken, über welche hin die Wellen jetzt plätschernd ausliefern, unsere Lage ist seit jenem verderblichen Sturme weit übler geworden! Gewiß erniedrigt sich das allgemeine Niveau der Insel nach und nach. Unsere Rettung bildet nun blos noch eine Zeitfrage. Wird sich der Winter frühzeitig genug einstellen? Hierauf beruht Alles.

– Der Winter wird kommen, meine Tochter, erwiderte Madge mit ihrem unerschütterlichen Gottvertrauen. Schon fiel zwei Nächte über Schnee. Da oben am Himmel wird jetzt die Kälte geboren, und ich glaube es bestimmt, daß Gott sie uns zu Hilfe sendet.

– Du hast Recht, Madge, antwortete die Reisende, wir müssen den Glauben haben. Wir Frauen, die wir dem natürlichen Grunde und Laufe der Dinge nicht nachgehen, dürfen da nicht verzweifeln, wo es die bestunterrichteten Männer thun, und darin liegt eine Gnade für uns! Leider ist unser Lieutenant dieser nicht theilhaftig. Er kennt das Warum der Dinge, [318] er überlegt und rechnet, er mißt die Zeit, welche uns noch bleibt, und schon sehe ich ihn nahe daran, jede Hoffnung aufzugeben!

– Doch ist er aber ein thatkräftiger Mann, in dem ein muthiges Herz klopft, entgegnete Madge.

– Gewiß, fügte Mrs. Paulina Barnett hinzu; und wenn unser Heil noch von Menschenhand zu erhoffen ist, so wird er uns retten!«

Um neun Uhr hatten die beiden Frauen eine Entfernung von vier Meilen zurückgelegt. Ost mußten sie von dem Wege am Ufer nach dem Innern der Insel zu abweichen, um die schon überschwemmten niedrigen Theile des Erdbodens zu umwandern. An gewissen Stellen waren die Spuren des Meeres wohl eine halbe Meile landeinwärts noch zu erkennen, wo die Dicke des Eisfeldes also ganz besonders vermindert sein mochte. Es stand demnach zu befürchten, daß es an mehreren Punkten ganz nachgeben und deshalb neue Buchten und Baien an diesem Küstenstriche bilden würde.

Je weiter sie sich von Fort-Esperance entfernten, desto mehr bemerkte Mrs. Paulina Barnett auch eine Abnahme in der Zahl der Pelzthiere. Diese armen Geschöpfe fühlten sich offenbar in der Nähe der Menschen, welche sie doch bis dahin flohen, sicher, und aus diesem Grunde drängten sie sich in der Umgebung der Factorei zusammen. Eigentliche wilde Thiere, die ihr Instinct nicht zur rechten Zeit von dieser gefährlichen Insel vertrieben hatte, mußten sehr selten sein. Doch beobachteten Mrs. Paulina und Madge einzelne, fern in der Ebene umherschweifende Wölfe. Diese kamen übrigens nicht heran, sondern verschwanden bald hinter den kleinen Hügeln im Süden der Lagune.

»Was wird zuletzt, fragte Madge, aus diesen Thieren, welche auf der Insel zugleich mit uns gefangen sind, werden, und was mögen sie beginnen, wenn ihnen einst das Futter mangelt, und der Winter sie aushungert?

– Aushungert! Meine gute Madge, beruhigte Mrs. Barnett, o glaube mir, daß wir von diesen Nichts zu fürchten haben. Ihnen wird es nicht an Nahrung fehlen, ihnen fallen alle jene Marder, Polarhasen und Hermeline, deren Leben wir jetzt schonen, zur sicheren Beute. Vor einem Angriffe durch Jene brauchen wir nicht zu zittern. Nein! Hierin liegt keine Gefahr für uns! Der zerbrechliche Boden birgt sie, der einst bersten wird, und jeden Augenblick schon unter unseren Füßen in Stücke gehen kann. Da sieh, wie sich hier das gierige Meer in das Innere des Landes einfrißt.


Unerwartete Entdeckung. (S. 323.)

Schon [319] bedeckt es einen Theil der Ebene, den sein verhältnißmäßig wärmeres Wasser nun von oben und von unten abnagt. Wenn der Frost ihm nicht entgegen tritt, wird es sich bald mit der Lagune vereinigen, und wir verlieren unseren See, wie wir Fluß und Hafen schon eingebüßt haben.

– Dieser Umstand, sagte Madge, dürfte für uns aber zum unheilbaren Unglück sein.


Besinnungslos in Todesgefahr. (S. 325.)

– Und warum das, Madge? fragte Mrs. Paulina Barnett, und sah ihre Begleiterin erwartungsvoll an.

[320] – Nun weil wir damit alles süßen Wassers beraubt würden.

– O, meine brave Madge, Süßwasser wird uns niemals ausgehen. Regen, Schnee, Eis, Eisberge des Oceans, ja, selbst der Boden der Insel, die uns trägt, – Alles besteht aus süßem, genießbarem Wasser. Nein, ich wiederhole Dir's, auch hierin beruht für uns nicht die Gefahr.«

Gegen zehn Uhr befanden sich Mrs. Paulina Barnett und Madge in der Höhe des Cap Eskimo, aber mindestens zwei Meilen im Innern der Insel, [321] da sie dem Ufer nicht nahe zu folgen im Stande waren. Die von einem so weiten und durch die unvermeidlichen Umwege noch verlängerten Marsche etwas ermüdeten Frauen beschlossen vor der Rückkehr nach Fort-Esperance ein wenig auszuruhen. An diesem Punkte erhob sich ein kleines Gehölz von Birken und Strauchwerk, das einen niedrigen Hügel krönte. Eine von gelblichem Moose überwachsene, und durch die Sonnenstrahlen vom Schnee befreite Stelle bot sich ihnen bei ihrem frugalen Mahle als geeigneter Ruheplatz.

Eine halbe Stunde später schlug Mrs. Paulina Barnett vor, erst den jetzigen Zustand des Cap Eskimo zu überschauen, bevor sie sich östlich, nach der Factorei zurück wendeten. Es drängte sie, zu wissen, ob dieser Landvorsprung den Angriffen des Seesturmes widerstanden habe oder nicht. Madge erklärte sich bereit, ihrer »Tochter« überallhin zu folgen, wohin es dieser zu gehen beliebte, und erinnerte sie nur, daß zwischen ihnen und Cap Bathurst eine Entfernung von acht bis neun Meilen läge, sowie, daß man Lieutenant Hobson nicht durch eine zu lange Abwesenheit beunruhigen dürfe.

Dennoch bestand Mrs. Paulina Barnett, so als ob eine Ahnung sie dahin zöge, auf ihrem Gedanken, und wie man bald sehen wird, zum größten Glücke. Dieser Umweg konnte übrigens die ganze Dauer des Ausflugs nur um eine halbe Stunde verlängern.

Die beiden Frauen erhoben sich also und gingen auf das Cap Eskimo zu.

Noch hatten sie jedoch keine Viertelmeile zurückgelegt, als die Reisende plötzlich stehen blieb, und Madge sehr regelmäßige Fußspuren zeigte, welche scharf im Schnee abgedrückt waren. Dieselben mußten ganz neuerdings hinterlassen und höchstens neun bis zehn Stunden alt sein, denn im anderen Falle hätte sie der zuletzt gefallene Schnee unzweifelhaft wieder überdeckt.

»Was für ein Thier ist hier vorbei gekommen? fragte Madge.

– Das ist kein Thier gewesen, verbesserte Mrs. Paulina Barnett und beugte sich nieder, um die Eindrücke besser zu sehen, denn ein solches hinterläßt ganz anders gestaltete Spuren. Sieh, Madge, diese hier stimmen alle mit einander überein, und man ist versucht, sie einem menschlichen Fuße zuzuschreiben.

– Wer könnte aber hierher gekommen sein? antwortete Madge. Weder ein Soldat, noch eine der Frauen hat das Fort verlassen, und da wir uns auf einer Insel befinden ... Nein, Du mußt Dich täuschen, meine Tochter.

[322] Zum Ueberfluß laß uns diesen Spuren nachgehen und sehen, wohin sie führen.«

Die beiden Frauen setzten ihren Weg fort, und achteten aufmerksam auf die Fußtapfen im Schnee.

»Halt ... sieh hier, Madge, begann die Reisende, indem sie ihre Begleiterin zurückhielt, und sage selbst, ob ich mich irrte.«

Neben den Fußspuren sah man an einer Stelle, wo der Schnee durch einen schweren Körper zusammengedrückt war, sehr deutlich den Abdruck einer Menschenhand.

»Die Hand einer Frau oder eines Kindes! rief Madge aus.

– Ja, bestätigte Mrs. Barnett, hier ist ein Kind oder eine Frau erschöpft, leidend und kraftlos umgesunken ... Dann hat sich das arme Wesen wieder aufgerafft und seinen Weg fortgesetzt ... Sieh, dort führt die Spur weiter ... Dort ist es auch wiederholt hingefallen! ...

– Aber wer? Wer? forschte Madge.

– Weiß ich's? erwiderte Mrs. Paulina Barnett. Vielleicht irgend ein Unglücklicher, der so wie wir seit drei bis vier Monaten auf dieser Insel abgesperrt ist. Vielleicht ein Schiffbrüchiger, den der Sturm an diese Küste warf ... Denk' an das Licht und den Schrei, von denen Lieutenant Hobson und Sergeant Long uns berichteten! ... Komm, komm, meine Madge, vielleicht gilt es, einen Unglücklichen zu retten! ...«

Mrs. Paulina Barnett zog ihre Gefährtin mit sich fort und folgte eilend dem im Schnee vorgezeichneten Schmerzenspfade, auf welchem sich bald Blutstropfen fanden.

»Einen Unglücklichen zu retten!« hatte die theilnehmende, muthige Frau gesagt. Vergaß sie wohl in diesem Augenblicke gänzlich, daß auf dieser vom Wasser halb zersetzten Insel, deren Untergang im Oceane früher oder später bevorstand, weder für einen Anderen, noch für sie selbst das Heil zu suchen war?

Die Eindrücke im Fußboden wiesen nach dem Cap Eskimo hin. Gespannt folgten ihnen die beiden Frauen, doch bald wurden die Blutspuren umfänglicher, und verschwanden die einzelnen Fußtapfen. Jetzt zeigte sich nur eine Art unregelmäßigen, über den Schnee hingezogenen Pfades. Von hier aus hatten dem Unglücklichen die Kräfte versagt, sich aufrecht zu erhalten. Kriechend und schleppend hatte er sich noch mit Hilfe der Hände und Füße fortbewegt.

[323] Da und dort lagen abgerissene Fetzen seiner Bekleidung, die aus Robbefell und Pelzwerk bestehen mußte.

»Vorwärts! Vorwärts!« trieb Mrs. Paulina Barnett, deren Herz dem Zerspringen nahe war.

Madge folgte ihr. Das Cap Eskimo war nur noch fünfhundert Schritte entfernt. Schon sah man es, wie es sich über der Meeresfläche von dem Hintergrunde des Himmels abhob. Es war verlassen!

Die von den beiden Frauen verfolgten Spuren wandten sich nach rechts. Mrs. Paulina Barnett und Madge durchsuchten den kleinen Hügel, welcher das Cap bildete, um vielleicht von einer Stelle desselben Etwas wahrnehmen zu können. Vergeblich. Auf's Neue verfolgten sie nun die Spuren, die einen Pfad längs des Meeres darstellten.

Mrs. Paulina Barnett lief schnell nach rechts weiter; sobald sie aber an das Ufer hinabkam, hielt sie Madge, welche ihr folgte und immer sorgsam den Blick umherschweifen ließ, mit der Hand zurück.

»Halt' ein! rief sie ihr zu.

– Nein, Madge, nein! antwortete Mrs. Barnett, von einem gewissen Instinct fast wider Willen fortgetrieben.

– Halt' ein, meine Tochter, und sieh' erst!« erwiderte Madge, welche Jene jetzt kräftiger zurück hielt.

Fünfzig Schritte vom Cap Eskimo trottete an dem nämlichen Ufer unter dumpfem Brummen eine weiße Masse daher.

Es war ein Polarbär von riesiger Größe. Vor Schreck an den Boden gefesselt, sahen ihn die beiden Frauen. Das gewaltige Thier lief um ein auf dem Schnee liegendes Bündel Pelzwerk herum; dann hob er es auf und ließ es wieder fallen, um dasselbe zu beschnüffeln. Das Bündel hätte man wohl für ein todtes Walroß ansehen können.

Mrs. Paulina Barnett wußte weder, was sie davon denken, noch ob sie vorwärts gehen sollte, als durch eine dem Körper ertheilte Bewegung sich eine Art Capuchon von dem Kopfe zurückschlug und lange, braune Haare darunter hervorquollen.

»Ein Weib! rief Mrs. Paulina Barnett, welche schon auf die Verunglückte zustürzen wollte, um zu sehen, ob sie noch am Leben oder schon todt sei.

– Halt, halt! mein Kind, mahnte aber Madge, bezwinge Dich; er wird ihr kein Leid zufügen.«

[324] Wirklich glotzte der Bär den Körper aufmerksam an, und begnügte sich, ihn um und um zu wenden, ohne daran zu denken, ihn mit seinen furchtbaren Krallen zu zerfleischen. Dann entfernte er sich davon und kehrte wieder zurück, scheinbar unschlüssig, was er damit anfangen sollte. Die beiden Frauen, welche ihm mit entsetzlicher Angst zusahen, hatte er nicht bemerkt.

Plötzlich – ein lautes Krachen – der Boden erzitterte – man hätte glauben können, daß jetzt das ganze Cap Eskimo im Meere versinke. –

Doch es löste sich nur ein großes Stück vom Ufer los, eine ungeheure Scholle, deren Schwerpunkt sich durch die Veränderung ihres specifischen Gewichtes verschoben hatte, und welche jetzt mit dem Bären und dem weiblichen Körper hinaus zu treiben begann.

Mrs. Paulina Barnett stieß einen verzweifelnden Schrei aus, und wollte nach der Scholle eilen, bevor diese das Ufer ganz verließ.

»Halt' ein, halte noch ein, meine Tochter!« wiederholte kaltblütig Madge, deren Hand sie krampfhaft fesselte.

Bei dem Krachen des Bruches war auch der Bär plötzlich zurück gewichen; er brummte gewaltig, verließ dann den Körper und trollte nach der Seite der Insel zu, von der er schon gegen vierzig Fuß weggetrieben war. So als wäre er ganz außer sich, lief er um das Eiland herum, bearbeitete den Boden mit den Tatzen, scharrte, daß Schnee und Sand um ihn herum flogen, und kehrte endlich zu dem leblosen Körper zurück.

Dann packte das Thier, zum größten Entsetzen der beiden Frauen, jenen an der Kleidung, hob ihn mit der Schnauze auf, ging an den Rand der Scholle und stürzte sich in das Meer.

Nach kurzer Zeit hatte der Bär, ein rüstiger Schwimmer, wie alle seine Verwandten in den Arktischen Ländern, das Gestade der Insel erreicht. Mit kräftiger Anstrengung schwang er sich vollends hinauf, und legte da den mitgebrachten Körper nieder.

Jetzt konnte sich Mrs. Paulina Barnett nicht mehr zurück halten. Ohne an die Gefahr zu denken, wenn sie sich dem fürchterlichen Raubthiere gegenüber befand, entwand sie sich Madge's Händen und eilte nach dem Ufer.

Als der Bär sie gewahr wurde, hob er sich auf den Hintertatzen in die Höhe und kam geraden Weges auf sie zu. Zehn Schritte vor ihr blieb er stehen senkte den ungeheuren Kopf und kehrte um, als habe er unter dem Einflusse des Schreckens, der die ganze Thierwelt der Insel umzuwandeln [325] schien, seine ganze natürliche Wildheit verloren. Mit grollendem Brummen trottete er nach dem Innern der Insel von dannen, ohne sich nur einmal umzusehen.

Sofort war Mrs. Paulina Barnett nach dem auf dem Schnee hingestreckten Körper geeilt.

Ein Schrei entrang sich ihrer Brust.

»Madge, Madge!« rief sie.

Madge kam herzu und betrachtete den leblosen Körper.

Es war der – Kalumah's, des jungen Eskimomädchens!

9. Capitel
Neuntes Capitel.
Kalumah's Abenteuer.

Kalumah auf der schwimmenden Insel, zweihundert Meilen von dem Festlande Amerikas! Das war doch kaum möglich!

Doch zunächst, athmete denn die Unglückliche noch? Würde man sie zum Leben zurückrufen können? Mrs. Paulina Barnett hatte die Kleidung des Eskimomädchens aufgerissen und horchte nach dessen Herzschlage. Noch war er, wenn auch nur schwach, hörbar. Das Blut, das die Arme verloren, entstammte nur einer minder bedeutenden Handwunde. Madge verband die Stelle mit ihrem Taschentuche und stillte dadurch die Hämorrhagie.

Mittlerweile kniete Mrs. Paulina Barnett neben Kalumah nieder, unterstützte den Kopf der jungen Eingeborenen und träufelte durch ihre geöffneten Lippen einige Tropfen Branntwein; dann rieb sie ihre Stirn und Schläfe mit etwas kaltem Wasser.

So verflossen einige Minuten. Weder Mrs. Barnett noch Madge sprachen ein Wort. Beide lauschten in größter Angst, denn das wenige Leben, das in der Geretteten noch vorhanden war, konnte jeden Augenblick verlöschen.

Da rang sich ein schwacher Seufzer aus der Brust Kalumah's, leise regte [326] sich ihre Hand, und noch bevor sie die Augen öffnete und Diejenigen erkennen konnte, welche sie jetzt pflegten, lispelte sie die Worte:

»Madame Paulina! Madame Paulina!«

Die Reisende war nicht wenig erstaunt, ihren Namen unter diesen Umständen aussprechen zu hören. War denn Kalumah freiwillig auf die schwimmende Insel gekommen, und wußte sie, daß sie der Europäerin, deren Güte sie nicht vergessen hatte, begegnen würde?

Wie konnte sie aber von der Insel Victoria Kenntniß haben, und auf welche Weise diese, zweihundert Meilen von der Küste, erreichen? Wie hatte sie überhaupt vermuthen können, daß dieses Eisfeld Mrs. Paulina Barnett und alle ihre Genossen von Fort-Esperance barg? Alles das blieb völlig unerklärbar.

»Sie lebt und wird leben bleiben! rief Madge, die unter ihrer Hand die Wärme und die Bewegung in dem halberstarrten Körper wiederkehren fühlte.

– Das unglückliche Kind! sagte Mrs. Paulina Barnett mit bewegtem Herzen, und meinen Namen hatte sie noch auf den Lippen, als sie dem Tode so nahe war.«

Jetzt schlug Kalumah die Augen wieder auf; mit wirrem, unbestimmtem Blicke schaute sie umher. Plötzlich belebte sie sich und stützte sich auf die Reisende. Ein Augenblick, nur ein Augenblick, doch er war ihr hinreichend, Mrs. Paulina Barnett, ihre »gute Dame«, wieder zu erkennen, deren Namen nochmals ihren Lippen entschlüpfte, während ihre Hand, die sie ein wenig erhoben hatte, in die Mrs. Barnett's zurücksank.


Eine Freundin vom Vorjahre. (S. 326.)

Die Pflege der beiden Frauen rief die junge Eskimodin indessen bald ganz in's Leben zurück, die Arme, welche nicht nur von der Anstrengung, sondern auch durch Hunger bis auf das Aeußerste erschöpft war. Mrs. Paulina Barnett vernahm von ihr, daß sie seit achtundvierzig Stunden nichts genossen hatte. Einige Stück frisches Wild und ein Schluck Branntwein gaben ihr bald ihre Kräfte wieder, und eine Stunde später war Kalumah im Stande, mit ihren Freunden den Weg zum Fort einzuschlagen.

Doch in dieser Stunde, während der sie zwischen Mrs. Paulina Barnett und Madge auf dem Sande saß, fand Kalumah Zeit, ihren Dank auszusprechen, ihre Anhänglichkeit zu beweisen und ihre Geschichte zu erzählen. Die junge Eingeborene hatte die Europäerin von Fort-Esperance nicht [327] vergessen, immer war ihr das Bild der Mrs. Barnett im Gedächtniß geblieben, und, wie man sogleich erfahren wird, es war kein Zufall, der sie halb todt an das Ufer der Insel Victoria geworfen hatte.

Es folge hier in wenig Worten die Erzählung Kalumah's.

Man erinnert sich, daß die junge Eingeborene bei ihrem ersten Besuche das Versprechen gegeben hatte, im folgenden Jahre, während der guten Jahreszeit, zu ihren Freunden von Fort-Esperance zurückzukehren. Als die [328] lange Polarnacht vorüber war und der Mai heran kam, machte Kalumah sich auf, ihr Versprechen zu erfüllen. Sie verließ demnach Neu-Georgia, wo sie den Winter zugebracht hatte, und wandte sich in Begleitung eines ihrer Schwäger nach Osten.


Wiederkehr zum Leben. (S. 327.)

Sechs Wochen später, gegen Mitte Juni, kam sie auf dem Gebiete Neu-Britanniens, welches an Cap Bathurst grenzt, an. Sie erkannte leicht die vulkanischen Berge wieder, deren Höhe die Bai Liverpool beherrschten, und [329] gelangte zwanzig Meilen weiter nach der Walroß-Bai, welche sie mit den Ihrigen bei der Jagd nach jenen Amphibien so häufig besucht hatte.

Aber jenseits dieser Bai nach Norden war Nichts mehr zu sehen! In gerader Linie verlief die Küste nach Süden; es gab kein Cap Bathurst, kein Cap Eskimo mehr!

Kalumah begriff, was vorgegangen war, wußte aber nicht, ob dieses ganze Gebiet, das seitdem zur Insel Victoria geworden war, untergegangen sei oder noch im Meere umherirre. Kalumah brach in Thränen aus, da sie Diejenigen nicht angetroffen hatte, welche sie von so weiter Ferne her aufgesucht. Ihr Schwager zeigte sich über die stattgefundene Katastrophe viel weniger erstaunt.

Nach einer Art Legende, einer sich unter den nomadisirenden Stämmen forterbenden Tradition, war Cap Bathurst vor tausend Jahren an den Continent angeschwommen, ohne je einen Theil desselben zu bilden, und sollte auch eines Tages durch Naturkräfte wieder davon losgerissen werden. Daher rührte die Verwunderung der Eskimos, als sie die von Lieutenant Hobson am Fuße des Cap Bathurst errichtete Factorei erblickten. Bei der bedauerlichen, ihrer Race eigenthümlichen Zurückhaltung aber, vielleicht auch in der Voreingenommenheit, welche jeder Eingeborene gegen den Fremdling hat, der sein Vaterland in Besitz nimmt, sprachen sich die Eskimos nicht gegen Lieutenant Hobson aus. Kalumah kannte jene Ueberlieferung nicht, welche übrigens eines genügenden Nachweises entbehrte und nur den zahlreichen Legenden der hyperboräischen Kosmogenie beizuzählen war; deshalb erfuhren die Bewohner von Fort-Esperance nichts von der Gefahr, welche ihnen hier drohte.

Gewiß hätte Jasper Hobson, wenn die Aussagen der Eskimos über diesen Boden seinen Verdacht gegen denselben verstärkten, ein neues und sicher unerschütterliches Gebiet zur dauernden Begründung der Factorei aufgesucht.

Als nun das Verschwinden des Cap Bathurst festgestellt war, setzte Kalumah ihre Nachforschungen noch bis zur Washburn-Bai fort, ohne jedoch eine weitere Spur zu finden, und nun blieb ihr nichts Anderes übrig, als nach Westen, nach den Fischereien des russischen Amerika zurückzukehren.

Mit dem letzten Tage des Juni verließ sie also mit ihrem Schwager [330] die Walroß-Bai. Sie zogen am Ufer hin und kamen Ende Juli nach einer vergeblichen Reise wieder bei den Etablissements in Neu-Georgia an.

Niemals hoffte Kalumah jetzt Mrs. Paulina Barnett und ihre Genossen von Fort-Esperance wieder zu sehen, welche sie vom Eismeere verschlungen wähnte.

Bei diesen Worten wandte die Erzählerin die feuchten Augen nach Mrs. Barnett und drückte ihr zärtlich die Hand, dann sprach sie ein leises Gebet und dankte Gott für ihre Rettung durch die eigene Hand der Freundin.

Nach der Rückkehr in den Schooß ihrer Familie gab sie sich wieder den gewohnten Beschäftigungen hin. Mit den Ihrigen war sie bei der Fischerei in der Nähe des Eiscaps thätig, welches letztere fast genau im siebenzigsten Breitengrade, aber über sechshundert Meilen vom Cap Bathurst entfernt liegt.

In der ersten Hälfte des August ereignete sich nichts Besonderes. Gegen Ende aber erhob sich jener furchtbare Sturm, welcher Jasper Hobson so große Unruhe einflößte und der sich über das ganze Polarmeer, ja bis über die Behrings-Straße hinaus erstreckte. Am Eiscap wüthete er mit derselben Gewalt, wie auf der Insel Victoria. Zu jener Zeit befand sich diese, wie es Jasper Hobson auch berechnet hatte, nicht über zweihundert Meilen von der Küste.

Während sie Kalumah's Worten lauschte, begann es in Mrs. Barnett's Geiste langsam zu tagen, da diese ja über die Sachlage hinlänglich unterrichtet war, und endlich fand sie in jenen Worten auch den Schlüssel für manche sonderbare Erscheinungen und für die Ankunft der jungen Eingeborenen auf der Insel.

Die ersten Tage des Sturmes hindurch blieben die Eskimos am Eiscap auf ihre Hütten beschränkt; sie konnten diese nicht verlassen, noch viel weniger den Fischfang betreiben. In der Nacht vom 31. August bis 1. September trieb Kalumah eine gewisse Ahnung jedoch nach dem Ufer. Trotz des um sie tobenden Sturmes und Regens wagte sie sich hinaus und prüfte mit sorgenvollem Blicke das bewegte Meer, dessen Wellen in der Dunkelheit sich wie eine Bergkette aufthürmten.

Da glaubte sie kurze Zeit nach Mitternacht eine weiße Masse zu sehen welche, vom Orkan getrieben, längs der Küste hinglitt. Ihre sehr scharfen Augen, gleich denen aller Eingeborenen an die Finsterniß der langen Polarnacht gewöhnt, konnten sie nicht getäuscht haben.

[331] Ein ungeheuer großer Gegenstand passirte gegen zwei Meilen entfernt das Ufer, und dieser Gegenstand konnte weder ein Wallfisch, noch ein Schiff, in dieser Jahreszeit auch kein gewöhnlicher Eisberg sein.

Kalumah überdachte das zwar gar nicht, ihr Geist sah Alles klar, wie durch eine Offenbarung. Vor ihrem überreizten Gehirn stieg das Bild ihrer Freunde auf. Sie sah sie Alle vor sich, Mrs. Paulina Barnett, Madge, Lieutenant Hobson und auch das kleine Kind, dem sie in Fort-Esperance ihre Zärtlichkeiten zugewendet hatte. Ja, sie mußten es sein, die dort auf einem schwimmenden Eisfelde vom Sturm verschlagen vorüber fuhren.

Kalumah zweifelte und zögerte keinen Augenblick. Sie sagte sich nur, daß sie die Schiffbrüchigen von der Nähe des Landes, welche sie gewiß nicht ahnten, unterrichten müsse. Nach ihrer Hütte zurück eilend, ergriff sie eine der aus Werg und Harz hergestellten Fackeln, wie sie die Eskimos bei dem nächtlichen Fischfang gebrauchen, entzündete diese und bewegte sie auf dem Gipfel des Eiscaps hin und her.

Das war das Feuer gewesen, welches Jasper Hobson und Sergeant Long, die damals auf dem Cap Michael lagen, in der Nacht des 31. August mitten durch die Dunkelheit wahrgenommen hatten.

Wie groß war die Freude, die Erregung der jungen Eskimodin, als sie eine Antwort auf ihr Signal aufleuchten sah, jene von Jasper Hobson angezündete Tannengruppe, die ihr fahles Licht bis an das Ufer Amerikas, dem sich Jasper Hobson nicht so nahe glaubte, hinüberwarf. Doch bald war es wieder ganz finster. Die Pause im Sturme währte nur wenige Minuten, und nach Südosten umspringend erhob sich der Orkan mit erneuter Wuth.

Kalumah sah ein, daß »ihre Beute«, – so drückte sie sich aus – ihr entgehen, und daß die Insel nicht an's Land stoßen werde. Sie sah sie vor sich, diese Insel, sie fühlte, wie jene durch Nacht und Dunkel wieder davon und in das offene Meer hinaus trieb.

Das war ein furchtbarer Augenblick für die junge Eingeborene. Um jeden Preis, sagte sie sich, mußten ihre Freunde Nachricht über die dermalige Lage erhalten, da jetzt doch vielleicht irgend etwas zu thun wäre, während jede Stunde sie weiter vom Festlande entführte ...

Sie zögerte nicht. Ihr Kayack lag in der Nähe, das zerbrechliche Fahrzeug, in dem sie mehr als einmal den Stürmen des Eismeeres Trotz geboten [332] hatte. Sie stieß den Kayak in's Wasser, band um den Gürtel und um die Oeffnung desselben die Robbenfelljacke fest, und das Doppelruder in den Händen wagte sie sich in die Finsterniß hinaus.

Hier drückte Mrs. Paulina Barnett die junge Kalumah, das muthige Kind, inbrünstig an ihr Herz.

Kalumah wurde auf den bewegten Wogen von dem umgesprungenen Sturme, der nach der offenen See hinaus wehte, fortgetrieben. Sie strebte der großen Masse zu, welche sie unklar in der Dunkelheit erkannte.

Oft fluthete das Meer über ihren Kayack hinweg, vermochte aber Nichts gegen das unversenkbare Fahrzeug, das wie ein Strohhalm auf den Kämmen der Wellen tanzte. Mehrmals kenterte es zwar, doch immer richtete es ein Ruderschlag leicht wieder auf.

Nach einstündiger Anstrengung konnte Kalumah endlich die irrende Insel deutlich erkennen. Sie zweifelte gar nicht an der Erreichung ihres Zieles, denn nur eine Viertelmeile lag noch zwischen ihr und jener.

Da stieß sie jenen Schrei aus, den Jasper Hobson und Sergeant Long beide hörten.

Von hier an aber fühlte Kalumah, wie eine unwiderstehliche Strömung, der sie mehr unterlag, als die Insel Victoria, sie nach Westen verschlug. Vergeblich kämpfte sie mit ihrem Ruder dagegen an, ihr leichtes Boot flog wie ein Pfeil dahin. Von Neuem schrie sie auf, wurde aber der großen Entfernung wegen nicht mehr gehört, und als die Morgenröthe anbrach, bildeten die Küste Neu-Georgias, die sie verlassen hatte, und die schwimmende Insel, welche sie verfolgte, nur zwei unerkennbare Massen am Horizonte.

Verzweifelte die junge Eingeborene nun etwa? Nein. Nach dem Festlande zurückzukehren war ihr zunächst unmöglich geworden, denn sie hatte den Wind, jenen schrecklichen Wind gegen sich, der die Insel binnen sechsunddreißig Stunden zweihundert Meilen weit in die offene See hinaustrieb.

Kalumah blieb nur ein Ausweg übrig, sie mußte die Insel, während sie sich in derselben Strömung hielt, einzuholen suchen.

Aber ach, jetzt unterstützten die Kräfte nicht mehr den Muth des armen Kindes. Wenigstens peinigte sie der Hunger, und Anstrengung und Erschöpfung lähmten ihre Ruderschläge.

[333] Mehrere Stunden lang kämpfte sie und glaubte sich der Insel zu nähern, von welcher aus man sie, einen Punkt im ungeheuren Meere, unmöglich gewahr werden konnte. Sie kämpfte noch, als ihr die Arme halb gebrochen waren und die blutende Hand den Dienst versagen wollte! Sie kämpfte bis zum Ende ihrer Kräfte und verlor endlich das Bewußtsein, während ihr Kayack zum Spiel des Windes und der Wellen wurde.

Was weiter mit ihr geschehen war, vermochte sie nicht zu sagen. Wie lange sie umher geworfen wurde, sie wußte es nicht, und war erst wieder zu sich gekommen, als ihr Kayack heftig anstieß und unter ihr in Stücke ging.

Sie sank in das kalte Wasser, das ihre Lebensgeister von Neuem wach rief, und einige Augenblicke später warf sie eine Welle halbtodt auf den Ufersand. Das geschah in der vergangenen Nacht, etwa zur Zeit der Morgenröthe, also zwischen zwei und drei Uhr früh.

Seit der Zeit, da Kalumah den Kayack bestiegen, bis zu der, da dieser unterging, waren demnach siebenzig Stunden verflossen!

Als sie sich aus den Fluthen gerettet sah, konnte sie nicht sagen, an welches Ufer der Sturm sie geworfen habe. War sie an das Festland zurückgekommen?

Hatte er sie im Gegentheil der Insel zugeführt, welche sie mit so kühner Ausdauer verfolgte? Sie hoffte es gewiß! Wind und Strömung mußten sie ja in's freie Meer hinaus und nicht an die Küste zurückgetrieben haben.

Dieser Gedanke verlieh ihr neue Kräfte. Sie erhob sich und folgte dem Ufer.

Ohne Zweifel war die junge Eingeborene auf den Theil der Insel Victoria geworfen worden, welcher ehemals den oberen Winkel der Walroß-Bai bildete. Jetzt konnte sie aber den Küstenstrich, den die Wellen seit dem Bruche des Isthmus benagt hatten, nicht wieder erkennen.

Kalumah ging vorwärts und hielt, als sie nicht mehr weiter konnte, an um später mit neuem Muthe ihren Weg fortzusetzen, der sich vor ihren Schritten dehnte. Bei jeder Meile mußte sie um Uferstrecken herumgehen, die das Meer schon in Besitz genommen hatte. So gelangte sie, sich hinschleppend, fallend und wieder aufstehend, nach dem kleinen Hügel, an dem Mrs. Paulina Barnett und Madge denselben Morgen rasteten. Die beiden Frauen hatten, wie erwähnt, auf ihrem Wege nach dem Cap Eskimo ihre [334] Fußspuren und Eindrücke in dem Schnee gefunden. Dann war die arme Kalumah eine Strecke davon zum letzten Male zusammengebrochen.

Von dieser Stelle aus kam sie erschöpft von Hunger und Anstrengung nur noch kriechend vorwärts.

Einige Schritte vom Ufer hatte sie auch das Cap Eskimo wieder erkannt, an dem sie im vergangenen Jahre mit den Ihrigen gelagert hatte. Jetzt wußte sie, daß sie nur noch acht Meilen von der Factorei entfernt war und den Weg einschlagen müsse, der ihr von den häufigen Besuchen bei ihren Freunden her so gut bekannt war.

Noch hielt sie dieser Gedanke aufrecht, doch brach sie, am Ufer angekommen, kraftlos zusammen und verlor das Bewußtsein. Ohne Mrs. Paulina Barnett hätte sie hier ihren Tod gefunden.

»Aber, meine gute Dame, sagte sie, ich wußte, daß Sie mir zu Hilfe kommen würden, und daß mich Gott durch Ihre Hand retten werde.«

Das Weitere ist bekannt. Man weiß, welches Vorgefühl an diesem Tage Mrs. Barnett und Madge trieb, diesen Theil des Ufers zu besuchen, und wie sie dazu kamen, noch das Cap Eskimo zu betreten, bevor sie sich auf den Rückweg nach der Factorei begaben. Es ist auch bekannt, – Mrs. Paulina Barnett theilte es der jungen Eingeborenen mit – daß sich eine große Eisscholle ablöste, und was der Bär dabei that.

Lächelnd fügte die Reisende noch hinzu:

»Ich habe Dich nicht gerettet, mein Kind, das hat eigentlich jener brave Bär gethan! Ohne ihn wärest Du verloren gewesen, und wenn er je zu uns zurückkommt, so soll er als Dein Retter geehrt werden.«

Kalumah hatte durch Ruhe und stärkende Speise indessen ihre Kräfte wieder gewonnen. Mrs. Barnett wollte nun ohne Aufschub zum Fort zurückkehren, um ihre Abwesenheit nicht allzu lange auszudehnen. Die junge Eingeborene erhob sich sofort und war zum Mitgehen bereit.


Kalumah's Kayack im Eismeere. (S. 333.)

Mrs. Paulina Barnett drängte es, Jasper Hobson die Erlebnisse dieses Morgens mitzutheilen und ihm zu erklären, was sich während der Sturmnacht, als die Insel dem Ufer Amerikas so nahe gewesen war, zugetragen hatte.

Vor Allem empfahl die Reisende Kalumah aber, von ihren Erlebnissen unbedingt zu schweigen und auch die Lage der Insel Niemand zu verrathen.


Kalumah begrüßt Mac Nap's Kind. (S. 338.)

Es sollte angenommen werden, daß sie auf ganz na [335] türlichem Wege gekommen sei, um ihr Versprechen vom Jahre vorher einzulösen und ihre Freunde während der schönen Jahreszeit zu besuchen. Gerade ihr Erscheinen mußte die Bewohner der Factorei in dem Glauben bestärken, daß mit dem Gebiete des Cap Bathurst keine Veränderung eingetreten sei, wenn ja der Eine oder der Andere einen Verdacht hätte.

Gegen drei Uhr Nachmittags schlugen Mrs. Barnett, die junge Eingeborene, [336] die sich auf ihren Arm stützte, und Madge den Weg nach Westen wieder ein, und vor fünf Uhr Abends gelangten alle Drei glücklich an das äußere Thor von Fort-Esperance.

[337]
10. Capitel
Zehntes Capitel
Der Kamtschatka-Strom.

Den Empfang, welcher der jungen Kalumah seitens der Insassen des Forts zu Theil wurde, kann man sich wohl leicht vorstellen. Ihnen schien das Band, welches sie sonst mit der übrigen Erde in Verbindung setzte, wieder angeknüpft zu sein. Mrs. Mac Nap, Mrs. Raë und Mrs. Joliffe überhäuften Jene mit Zärtlichkeiten. Kalumah lief, sobald sie des kleinen Kindes ansichtig ward, auf dieses zu und bedeckte es mit ihren Küssen.

Die junge Eskimodin war von der Gastfreundschaft ihrer europäischen Freunde vollkommen gerührt. Alle thaten ihr die größte Ehre an. Man freute sich zu hören, daß sie den ganzen Winter in der Factorei zubringen werde, da die Jahreszeit schon zu weit vorgeschritten war, um ihr die Rückkehr nach den Etablissements von Neu-Georgia zu gestatten.

Wenn die Bewohner von Fort-Esperance aber von der Ankunft der jungen Eingeborenen so freudig überrascht waren, was mußte Jasper Hobson darüber denken, als er Kalumah am Arme der Mrs. Paulina Barnett erscheinen sah? Er wollte kaum seinen Augen trauen. Ein plötzlicher Gedanke schoß mit Blitzesschnelle durch sein Gehirn, – der Gedanke, daß die Insel Victoria unbemerkt und trotz der täglichen Ortsaufnahme bei irgend einem Punkte Amerikas einmal an's Land gelaufen sei.

Mrs. Paulina Barnett las diese unwahrscheinliche Hypothese aus den Augen des Lieutenants und schüttelte verneinend mit dem Kopfe.

Jasper Hobson verstand daraus, daß die Lage sich in keiner Weise geändert habe, und erwartete von Mrs. Paulina Barnett Aufklärung üb er dieses fast wunderbare Erscheinen Kalumah's.

Kurze Zeit darauf lustwandelten Jasper Hobson und die Reisende am Fuße des Cap Bathurst, und aufmerksam lauschte der Lieutenant dem Berichte von den Abenteuern Kalumah's.

Alle seine Annahmen waren also begründet gewesen! Während des Sturmes aus Nordosten hatte die Insel die Strömung, die sie entführte, verlassen! In der schrecklichen Nacht vom 30. zum 31. August war das Eisfeld dem amerikanischen Festlande auf weniger als eine Meile nahe [338] gewesen. Nicht das Leuchtfeuer eines Schiffes, nicht der Schrei eines Verunglückten erreichte ihre Augen und Ohren! Das Land lag vor ihnen, das rettende Land, und blies der Wind damals nur noch eine Stunde lang in der früheren Richtung, so hätte die Insel Victoria die Küste des russischen Amerika berührt!

Und gerade damals mußte der unselige, verderbliche Wind umspringen und die Insel wieder nach der offenen See hinaustreiben. Die unwiderstehliche Strömung hatte sie auf's Neue erfaßt, und seitdem war sie mit unerhörter Schnelligkeit, unter der Peitsche eines Südweststurmes, bis zu jener gefährlichen Stelle hin abgewichen, von der sie aus ihrer Lage zwischen zwei entgegengesetzten Strömungen, welche beide ihr selbst und den Bewohnern derselben den gleichen Untergang drohten, offenbar einer von jenen zuletzt verfallen mußte.

Wohl zum hundertsten Male unterhielten sich der Lieutenant und Mrs. Paulina Barnett über dieses Thema. Dann erkundigte sich Jasper Hobson nach den etwaigen Veränderungen des Gebietes zwischen dem Cap Bathurst und der Walroß-Bai.

Mrs. Paulina Barnett belehrte ihn, daß sich das Küstengebiet an manchen Stellen gesenkt zu haben scheine, und daß solche Strecken, welche früher davon frei blieben, jetzt überfluthet würden. Sie erwähnte auch des Vorfalls bei dem Cap Eskimo, und beschrieb den umfänglichen Eisbruch an jenem Theile der Küste.

Gewiß erschien das sehr beunruhigend. Offenbar löste sich das Eisfeld, die Grundlage der Insel, weiter auf, je nachdem das verhältnißmäßig wärmere Wasser die untere Fläche abnagte. Was beim Cap Eskimo geschehen war, konnte sich beim Cap Bathurst jeden Augenblick wiederholen. Die Gebäude der Factorei konnten zu jeder Stunde des Tages oder der Nacht im bodenlosen Abgrunde versinken – immer stellte der Winter das einzige Hilfsmittel in dieser Lage dar, der Winter mit all' seiner Strenge, der Winter, dessen Eintritt sich doch so sehr verzögerte.

Eines Tags darauf, am 4. September, angestellte Beobachtung Jasper Hobson's zeigte, daß die Ortslage der Insel Victoria sich noch nicht nachweisbar verändert hatte. Unbewegt verweilte sie zwischen den beiden Strömungen, was den gegebenen Verhältnissen nach als das Beste betrachtet werden konnte.

[339] »Möchte der Frost uns hier ereilen und das Packeis uns hier aufhalten! sagte Jasper Hobson. Wenn das Meer jetzt um uns erstarrte, würde ich unsere Rettung für gesichert ansehen! Nur zweihundert Meilen trennen uns von der Küste, und über das feste Eisfeld könnten wir entweder das russische Amerika oder auch die Küste Asiens recht wohl erreichen. Aber nur der Winter komme, der Winter um jeden Preis, und so schnell als möglich!«

Inzwischen wurden auf des Lieutenants Anordnung die letzten Zurüstungen für den Winter vollendet. Man versorgte die Hausthiere für die ganze Dauer der langen Polarnacht mit hinreichendem Futter. Die Hunde waren wohlauf und wurden bei ihrer Unthätigkeit fett, doch durfte man sich darüber nicht zu viel Sorge machen, denn den armen Thieren sollte es an Arbeit nicht mangeln, wenn man erst Fort-Esperance verließ, um quer über das Eis das Festland zu erreichen. Vielmehr erschien es demnach von Belang, jene bei vollen, frischen Kräften zu erhalten. So schonte man das frische Fleisch und vorzüglich das der Rennthiere, die in der Nachbarschaft der Factorei erlegt wurden, für sie nicht.

Die zahmen Rennthiere gediehen vortrefflich. In ihrem entsprechend den Bedürfnissen eingerichteten Stalle häufte man ebenso, wie in den Magazinen des Forts, einen großen Vorrath von Heu und Moosen an. Mrs. Joliffe bezog von den Weibchen ausreichend Milch, welche in der Küche täglich Verwendung fand.

Der Corporal und seine kleine Frau hatten auch ihre Aussaaten wiederholt, die in der vergangenen warmen Jahreszeit ja so sichtlich gediehen waren Das Land war zu dem Zwecke für Löffelkraut, Sauerampfer und Labradorthee schon vor dem ersten Schneefalle in Stand gesetzt worden. Diese köstlichen Antiscorbutica durften ja der Colonie nicht fehlen.

Holzvorräthe erfüllten die Schuppen bis zu den Dachsparren. Nun konnte der rauhe und eisige Winter herankommen, das Quecksilber in der Kugel des Thermometers gefrieren, ohne zum Verbrennen des Hausrathes, wie im letzten Winter der Fall eintrat, zu zwingen. Der Zimmermann Mac Nap hatte seine Maßnahmen entsprechend getroffen, und auch der Abfall beim Bau des Schiffes lieferte einen beträchtlichen Zuwachs zum Heizmateriale.

Zu dieser Zeit fing man auch schon einige mit dem neuen Winterfell [340] versehene Pelzthiere, wie Marder, Wiesel, Blaufüchse und Hermeline, da der Lieutenant Marbre und Sabine ermächtigt hatte, nahe der Umplankung einige Fallen herzustellen. Jasper Hobson glaubte aus Besorgniß, den Verdacht seiner Leute wachzurufen, diese Erlaubniß nicht verweigern zu sollen, denn er hatte keinen stichhaltigen Vorwand, das Einsammeln von Pelzfellen einzustellen. Wohl wußte er, daß es unnütze Arbeit war und daß aus dieser Vertilgung kostbarer und unschuldiger Thiere Niemand Vortheil ziehen werde. Jedenfalls diente das Fleisch jener Nager als Futter für die Hunde, und ersparte man dadurch wesentlich an dem der Rennthiere.

Alles rüstete sich also zur Durchwinterung, so als wäre Fort-Esperance auf unerschütterlichem Boden errichtet, und die Soldaten arbeiteten mit einem Eifer, den sie bei Kenntniß ihrer thatsächlichen Lage wohl kaum entwickelt hätten.

Auch in den folgenden Tagen ergaben die sorgfältigsten Beobachtungen keine merkbare Lagenveränderung der Insel Victoria. Schon fing Jasper Hobson mit Rücksicht auf diese Unbewegtheit an, neue Hoffnung zu schöpfen. Hatten sich die Vorzeichen des Winters auch in der anorganischen Natur noch nicht gezeigt, so verriethen sie sich doch schon durch Züge wilder Schwäne, die nach milderen Klimaten steuerten. Auch andere Zugvögel, welche ein weiter Flug über die Meere nicht abschreckte, verließen nach und nach die Insel. Diese wußten recht gut, daß der amerikanische oder der asiatische Continent mit ihrer minder rauhen Temperatur, ihren gastlichen Gebieten und ihren Hilfsquellen aller Art nicht allzu fern lagen und daß die Kraft ihrer Flügel ausreichte, sie dorthin zu tragen. Eine Anzahl solcher Vögel ward eingefangen und befestigte der Lieutenant nach Mrs. Paulina Barnett's früherem Vorschlage an deren Halse ein Billet aus gummirter Leinwand, auf dem die dermalige Lage der Insel und die Namen ihrer Bewohner verzeichnet standen. Dann ließ man sie fliegen, und sah dieselben nicht ohne Befriedigung nach Süden ziehen.

Es bedarf nicht der Erwähnung, daß diese Botensendung heimlich geschah, und keine anderen Zeugen hatte, als Mrs. Paulina Barnett, Madge, Kalumah, Lieutenant Hobson und Sergeant Long.

Die auf der Insel eingeschlossenen Vierfüßler waren natürlich verhindert in südlicheren Gegenden ihre gewohnten Winterquartiere aufzusuchen. Rennthiere, Polarhasen, selbst Wölfe verließen ja zu dieser Jahreszeit gewöhnlich [341] schon Gegenden, wie Cap Bathurst, und zogen sich nach dem See des Großen Bären oder dem Sklaven-See, jedenfalls weit unter den Polarkreis zurück. Dieses Jahr bildete das Meer für sie ein unüberwindliches Hinderniß, dessen Uebereifung sie abwarten mußten, um nach wohnlicheren Gegenden zu entfliehen. Gewiß hatte ihr Instinct jene schon zu einem Versuche getrieben und nach dem Fehlschlagen desselben in die Nachbarschaft der Factorei zurückgeführt, in die Nähe der Menschen, Gefangenen, wie sie selbst, in die Nähe der sonst so gefürchteten Jäger.

In der Zeit vom 5. bis zum 9. September ergaben die Beobachtungen noch immer keine Lagenveränderung der Insel Victoria.

Der ungeheure Wasserwirbel zwischen den beiden Strömungen, dessen Gebiet sie noch nicht verlassen hatte, hielt sie auf ein und derselben Stelle fest. Noch vierzehn Tage bis höchstens drei Wochen dieses Status quo, und Lieutenant Hobson konnte sich für gerettet halten.

Doch war das Maß der Leiden noch nicht gefüllt, und standen den Bewohnern von Fort-Esperance noch wahrhaft übermenschliche Prüfungen bevor.

Am 10. September nahm man zuerst wieder eine Ortsveränderung der Insel Victoria wahr, die sich zunächst nur langsam in nördlicher Richtung vollzog.

Jasper Hobson war wie vom Donner gerührt! Definitiv hatte der Kamtschatka-Strom die Insel erfaßt, und diese entwich nun in jene unbekannten Meeresgebiete, in denen sich das Packeis bildet; in jene dem Fuße des Menschen verbotenen Einöden des Polarmeeres, aus denen man nicht zurückkehrt!.

Den Mitwissern seines Geheimnisses verhehlte Jasper Hobson auch diese neue Gefahr nicht. Alle empfingen den niederschmetternden Schlag mit ruhiger Ergebung.

»Vielleicht, sagte die Reisende, kommt die Insel doch noch zum Stehen, oder bleibt ihre Bewegung eine sehr langsame. Laßt uns die Hoffnung nicht verlieren! Der Winter kann nicht mehr fern sein, und überdies fahren wir ihm entgegen. Doch – des Herrn Wille geschehe!

– Meine Freunde, fragte Jasper Hobson, glauben Sie, daß es nun an der Zeit wäre, unsere Gefährten aufzuklären? Sie wissen, in welcher Lage wir uns befinden, und was uns noch widerfahren kann. Heißt es nicht, eine [342] zu große Verantwortlichkeit auf sich nehmen, wenn man ihnen die drohende Gefahr verbirgt?

– Ich würde jetzt noch damit warten, entgegnete schnell die Reisende. So lange nicht jede Aussicht erschöpft ist, dürfen wir unsere Begleiter nicht der Verzweiflung preisgeben.

– Das ist ganz meine Ansicht«, fügte Sergeant Long einfach hinzu.

Jasper Hobson dachte ebenso und war erfreut darüber, seine Anschauungen getheilt zu sehen.

Am 11. und 12. September ward die Lageveränderung nach Norden zu bemerkbarer. Die Insel schwamm mit einer Schnelligkeit von zwölf bis dreizehn Meilen den Tag dahin. Um ebenso viel entfernte sie sich dabei von dem Lande, während sie dem Kamtschatka-Strome nach Norden folgte. Aus dem siebenzigsten Parallelkreis, der die Spitze des Cap Bathurst durchschnitt, mußte sie wohl bald heraustreten; darüber hinaus existirt aber in der Fortsetzung des Längengrades, unter dem man sich eben befand, kein bekanntes Ländergebiet.

Jeden Tag trug Jasper Hobson die Lage auf seiner Karte ein, und ersah daraus, welch grenzenlosen Weiten die Insel entgegen trieb. Die einzige, verhältnißmäßig günstigste Aussicht lag darin, daß man, nach Mrs. Paulina Barnett's Bezeichnung, dem Winter entgegen fuhr. So begegnete man der Kälte früher, die das Eisfeld vergrößern und befestigen mußte. Konnten die Bewohner desselben dann auch darauf hoffen, nicht in das Meer zu versinken, welchen ungeheuren, vielleicht ungangbaren Weg hatten sie dafür zurückzulegen, um aus jenen Tiefen des höchsten Nordens zu entkommen? Wäre das Schiff jetzt, wenn auch in halbfertigem Zustande, brauchbar gewesen, Lieutenant Hobson hätte gewiß nicht gezögert, sich ihm mit der ganzen Bevölkerung der kleinen Colonie anzuvertrauen; trotz alles Fleißes des Zimmermanns war es aber bis jetzt weder so weit fertig, noch vor langer Zeit darauf zu rechnen, da seine Construction, wenn sich zwanzig Personen, und noch dazu in diesen gefährlichen Meeren, darauf einschiffen sollten, die größte Sorgsamkeit Mac Nap's erforderte.


Ein Postbote auf gut Glück. (S. 341.)

Am 16. September befand sich die Insel Victoria fünfundsiebenzig bis achtzig Meilen nördlicher, als der Punkt, auf dem sie kurze Zeit verweilt hatte. Schon vermehrten sich aber die Vorzeichen des nahenden Winters, und die Quecksilbersäule sank allmälig. Zwar hielt sich die Mitteltemperatur des [343] Tages noch auf 6 bis 7° über Null, sank aber während der Nacht auf den Gefrierpunkt herab. Nur in sehr flachem Bogen zog die Sonne über den Horizont, erhob sich zu Mittag nur wenige Grade, und blieb schon elf Stunden von vierundzwanzig verschwunden.

In der Nacht vom 16. zum 17. September traten endlich die ersten Spuren von Eis auf dem Meere hervor. Kleine isolirte, dem Schnee ähnliche Krystalle schossen zu Flecken auf der Oberfläche zusammen. Dabei [344] machte man die schon von dem berühmten Seefahrer Scoresby mitgetheilte Beobachtung, daß dieser Schnee das Meer sofort beruhigte, wie es von dem Oele bekannt ist, welches Seefahrer wohl zur vorübergehenden Beruhigung der Wellen ausgießen. Jene kleinen Eistheilchen zeigten das Bestreben, sich an einander zu schließen, und hätten das bei ruhigem Wasser unzweifelhaft gethan; jetzt zerbrachen und trennten sie aber die Bewegungen der Wellen, bevor sie eine umfänglichere Fläche bilden konnten.

[345] Mit gespanntester Aufmerksamkeit beobachtete Jasper Hobson das erste Erscheinen des jungen Eises. Er wußte, daß vierundzwanzig Stunden hinreichen würden, um der an der Unterfläche nachwachsenden Eiskruste eine Stärke von zwei bis drei Zollen zu ertheilen, wobei sie schon das Gewicht eines Menschen trägt. Er zählte also darauf, daß die Insel Victoria binnen Kurzem in ihrem Laufe aufgehalten sein werde.


Traurige Entdeckungen. (S. 842.)

Bis jetzt zerstörte der Tag freilich stets die Arbeit der Nacht, und die Abweichung nach Norden nahm zu, ohne daß man etwas gegen dieselbe zu thun im Stande war.

Am 21. September, zur Zeit des Herbstäquinoctiums, währten Tag und Nacht vollkommen gleich lang, und von da ab verlängerte sich die Nacht stets auf Unkosten der Tagesstunden. Sichtbar trat nun der Winter ein, aber weder anhaltend noch streng. Jetzt hatte die Insel Victoria schon nahezu einen Grad über die siebenzigste Parallele zurückgelegt, und zum ersten Male unterlag sie einer Drehbewegung, welche Jasper Hobson auf etwa 90° schätzte.

Man begreift, welche Sorgen das dem Lieutenant machte! Die Sachlage, die er bis jetzt zu verbergen gesucht hatte, drohte die Natur selbst nun auch dem blödesten Auge zu enthüllen, da durch diese Drehung die Cardinalpunkte der Insel verschoben waren. Cap Bathurst lief nicht mehr nach Norden zu, sondern nach Westen aus. Sonne, Mond und Sterne gingen nicht mehr an den gewohnten Stellen des Horizontes auf und unter, und unmöglich konnte Leuten mit einiger Beobachtungsgabe, wie Mac Nap, Raë, Marbre und Anderen, eine solche auffällige Veränderung, die Alles verrathen mußte, entgehen.

Zur großen Befriedigung Jasper Hobson's schienen die wackeren Soldaten aber nicht das Mindeste zu bemerken. Die Atmosphäre war glücklicher Weise immer etwas dunstig und verhinderte die Beobachtung des Auf- oder Unterganges der Himmelskörper.

Leider fiel jene Drehung auch mit einer schnelleren Fortbewegung zusammen. Von diesem Tage an wich die Insel Victoria mit der Schnelligkeit von einer Meile die Stunde nach Norden ab. Noch immer überließ sich Jasper Hobson der Verzweiflung, welche seinem Charakter fern lag, nicht, doch hielt er sich nun für verloren, und wünschte den Winter aus Herzensgrunde herbei.

[346] Die Temperatur erniedrigte sich noch weiter. Am 23. und 24. September fiel reichlicher Schnee, der die Dicke der kleinen Eisschollen, die sich schon zu verlöthen begannen, noch mehr verstärkte. Nach und nach wurde die ungeheure Ebene von Eis geboren. Noch durchbrach sie die dagegen anschwimmende Insel, doch nahm die Widerstandskraft jener von Stunde zu Stunde zu. Das Meer gefror rings um sie und über Sehweite hinaus.

Endlich, am 27. September, ergab die Beobachtung, daß die von dem grenzenlosen Eisfelde eingeschlossene Insel Victoria seit dem Tage vorher ihre Lage nicht geändert hatte! Unbeweglich stand sie unter 177°22' der Länge und 77°57' der Breite, – mehr als sechshundert Meilen vom Continente entfernt.

11. Capitel
Elftes Capitel
Eine Mittheilung Jasper Hobson's.

So war also die Lage. Die Insel hatte nach dem Ausdrucke Sergeant Long's Anker geworfen, sie war stationär geworden, wie zu der Zeit, als sie noch am amerikanischen Festlande hing. Jetzt trennten sie aber sechshundert Meilen von der bewohnten Erde, und diese sechshundert Meilen galt es über das erstarrte Meer, mitten durch die Eisberge, welche die Kälte darauf häufen mußte, und zwar während der rauhesten Monate des arktischen Winters auf Schlitten zurückzulegen.

Wohl war es ein furchtbares Unternehmen, und doch durfte man damit nicht zögern. Dieser Winter, den Lieutenant Hobson so heiß herbei gewünscht hatte, kam endlich; er unterbrach den verderblichen Lauf der Insel nach Norden und spannte eine sechshundert Meilen lange Brücke zwischen ihr und den benachbarten Continenten aus. Von dieser gebotenen Aussicht auf Rettung mußte man Gebrauch machen, um die ganz in den hyperboräischen Gegenden verlorene kleine Colonie zurückzuführen.

Jedenfalls konnte man, wie Lieutenant Hobson seinen Freunden auseinandersetzte, [347] nicht erst den kommenden Frühling und das Aufbrechen des Eises ab warten, das heißt, sich noch einmal den Launen der Strömungen der Behrings-Straße aussetzen. Im Gegentheil handelte es sich einzig darum, abzuwarten, bis das Meer fest genug sei, was in einem Zeitraume von etwa drei Wochen zu gewärtigen war. Von jetzt ab nahm sich der Lieutenant vor, das die Insel einschließende Eisfeld fleißig zu untersuchen, um den Zustand seiner Haltbarkeit, die Möglichkeit auf Schlitten darüber hin zu gleiten, und den günstigsten Weg zu ermitteln, ob dieser nun nach den Ufern Asiens oder dem Festlande Amerikas führte.

»Selbstverständlich, fügte Jasper Hobson hinzu, der sich mit Mrs. Paulina Barnett und dem Sergeant Long über dieses Thema unterhielt, selbstverständlich geben wir dem Gebiete Neu-Georgias, nicht aber der asiatischen Küste den Vorzug, und werden uns unter gleich günstigen Verhältnissen nach dem russischen Amerika wenden.

– Wobei uns Kalumah sehr von Nutzen sein wird, fiel Mrs. Paulina Barnett ein, denn in ihrer Eigenschaft als Eingeborene kennt sie alle diese Länder vollkommen.

– Wahrhaftig, sagte Lieutenant Hobson, hierzu ist sie uns wie von der Vorsehung geschickt worden. Mit ihrer Hilfe mag es auch leicht werden, die Etablissements des Forts Michael am Norton-Golfe zu erreichen, und vielleicht gar weiter im Süden Neu-Archan gel, woselbst wir den Winter vollends verbringen könnten.

– Armes Fort-Esperance! sagte Mrs. Paulina Barnett, um den Preis so vieler Anstrengungen erbaut, und von Ihnen, Herr Hobson, so glücklich begründet! Mir wird das Herz brechen, wenn ich diese Insel inmitten des Eisfeldes, und vielleicht hinter dem unübersteiglichen Packeise verlassen soll. Ja, ich weiß, daß mir das Herz bluten wird, wenn ich ihr das letzte Lebewohl sage!

– Ich werde dabei nicht weniger leiden, als Sie, Madame, antwortete Jasper Hobson, und vielleicht noch mehr! Das war das wichtigste Werk meines Lebens! Der Gründung dieses so unglücklich getauften Fort-Eperance hatte ich alle meine Kenntnisse, allen Fleiß gewidmet, und ich werde mich nie darüber trösten, es aufgeben zu müssen. Und dann, was wird die Compagnie dazu sagen, die mich mit diesem Versuche betraut, und deren ergebener Agent ich trotz Allem bleibe!

[348] – Sie wird sagen, Herr Hobson, rief die Reisende in edler Aufwallung, daß Sie Ihre Pflicht gethan haben, daß Sie nicht verantwortlich sein können für die Launen der Natur, die eben mächtiger ist und sein wird, als die Hand und der Geist des Menschen. – Sie muß einsehen, daß Sie das Vorgefallene nicht voraussehen konnten, denn das lag außerhalb der menschlichen Vorsicht! Sie muß endlich der Ueberzeugung sein, daß sie Ihrer Klugheit, Ihrer moralischen Energie die Rettung der Leute, die sie Ihnen anvertraute, allein zu danken hat.

– Ich danke Ihnen, Madame, erwiderte der Lieutenant, und drückte Mrs. Paulina Barnett die Hand, ich danke Ihnen für diese Worte, welche aus Ihrem Herzen stammen; aber ein wenig kenne ich die Menschen, und glauben Sie mir, einen Erfolg zu haben, ist besser, als ein Fehlschlagen. Doch, wie Gott will!«

Sergeant Long, der den Lieutenant von seinen trüben Gedanken abzuleiten suchte, brachte das Gespräch wieder auf den vorliegenden Sachbestand; er sprach von den für die Abreise nöthigen Vorbereitungen und fragte ihn, ob er nun den Zeitpunkt für gekommen erachte, seinen Leuten über die jetzigen Verhältnisse der Insel Victoria Aufklärung zu geben.

»Noch werden wir damit warten, entgegnete Jasper Hobson; bis heute haben wir durch unser Stillschweigen den armen Leuten so manche Unruhe erspart; warten wir also noch, bis unsere Abreise endgiltig festgesetzt ist, dann sollen sie die ganze Wahrheit hören!«

Die gewohnten Arbeiten in der Factorei wurden in den folgenden Wochen unbeirrt fortgesetzt.

Welches war die Lage der glücklichen und zufriedenen Einwohner von Fort-Esperance vor einem Jahre?

Damals traten ebenso wie heute die ersten Anzeichen der kalten Jahreszeit ein. Langsam wuchs das junge Eis an das Ufer an. Die Lagune mit ihrem ruhigeren Wasser erstarrte zuerst. Die Temperatur hielt sich den Tag über auf ein bis zwei Grade über dem Gefrierpunkte, und sank während der Nacht um drei bis vier Grade. Jasper Hobson ließ seine Leute die Winterkleidung die Pelze und die wollenen Stoffe, anlegen. Im Inneren des Hauses setzte man die Condensatoren in Stand, reinigte das Luftreservoir und die Ventilationspumpen. Rings um den Palissadenzaun errichtete man Fallen, und Sabine und Marbre beglückwünschten sich über die [349] Erfolge ihrer Jagd. Zuletzt vollendete man noch die innere Einrichtung des Hauses.

Auch dieses Jahr beschäftigten sich die wackeren Leute auf die nämliche Weise. Obgleich Fort-Esperance jetzt um sieben Grade höher lag, als zu Anfang des letzten Winters, so konnte dieser Unterschied doch keine so beträchtliche Veränderung im Zustande der Temperatur herbeiführen. Zwischen dem siebenzigsten und dem siebenundsiebenzigsten Parallelkreise variirt das Mittel der Temperatur nicht so auffallend. Vielmehr constatirte man, daß die Kälte jetzt minder streng war, als sie sich zu Anfang der vorigen Ueberwinterung zeigte. Jetzt schien sie sogar erträglicher, da die Ueberwinternden sich an das rauhe Klima schon besser gewöhnt hatten.

Hierbei muß bemerkt werden, daß die schlechte Jahreszeit sich nicht mit der gewöhnlichen Strenge einführte.

Das Wetter blieb feucht, und die Atmosphäre belud sich tagtäglich mit Dünsten, die sich bald in Regen und bald in Schnee auflösten. Nach Lieutenant Hobson's Wunsche meldete sich die Kälte noch immer nicht.

Rund um die Insel wurde nun das Meer, freilich noch nicht beständig, fest. Breite schwarze Flecke, welche die Oberfläche des neuen Eisfeldes noch unterbrachen, bewiesen, daß die Schollen nur leicht unter einander verbunden waren. Fast unablässig hörte man das von dem Bruch der Eisbank herrührende Krachen, die sich aus einer unendlichen Zahl unzulänglich verlötheter Stücke zusammensetzte, und deren Kamm der Regen wieder löste. Noch machte sich der enorme Druck nicht fühlbar, der gewöhnlich auftritt, wenn sich die Eisschollen unter lebhaftem Frost bilden und eine über die andere thürmen. Eisberge und Spitzhügel traten nur selten auf, und auch am Horizonte zeigte sich das Packeis noch nicht.

»Das ist eine Witterung, sagte häufig Sergeant Long, wie sie den Aufsuchern der Nordwest-Passage und den Nordpolfahrern nicht mißfallen hätte; leider ist sie unserer Absicht zuwider und unserer Rückkehr schädlich.«

Der ganze Monat October hielt sich in gleicher Witterung, und Jasper Hobson constatirte, daß das Mittel der Temperatur den Gefrierpunkt nicht überstieg. Man weiß aber, daß nur eine mehrere Tage hinter einander andauernde Kälte von sieben bis acht Grad unter Null hinreichend ist, um das Meer fest werden zu lassen. Noch ein anderer Umstand, der Mrs. Paulina [350] Barnett so wenig entging, wie dem Lieutenant Hobson, bestätigte, daß das Eisfeld jetzt noch nicht tragfähig war.

Die auf der Insel zurückgebliebenen Thiere, Pelzthiere, Elenns, Wölfe u.s.w., würden gewiß nach anderen Breiten davon gegangen sein, wenn eine Flucht möglich, das heißt, wenn das erstarrte Meer passirbar gewesen wäre. Dagegen schweiften sie noch haufenweise um die Factorei herum, und suchten mehr und mehr die Nachbarschaft des Menschen. Selbst die Wölfe kamen der Umzäunung bis auf Schußweite nahe und singen sich dort die Marder und Polarhasen, die ihre einzige Nahrung bildeten. Die hungernden armen Thiere, welche weder Gras noch Moos abzuweiden hatten, streiften in ganzen Rudeln in der Umgebung des Cap Bathurst umher.

Ein Bär – wahrscheinlich derselbe, gegen den Mrs. Paulina Barnett und Kalumah zu so großer Erkenntlichkeit verpflichtet waren, – erschien häufig zwischen den Bäumen des Hochwaldes an den Ufern der Lagune. Waren aber alle jene verschiedenen Thiere noch anwesend, die in der Hauptsache auf Pflanzennahrung angewiesen sind, bevölkerten sie die Insel Victoria noch im Monat October, so sprach das dafür, daß sie weder früher noch bis jetzt von derselben entfliehen konnten.

Wie erwähnt, hielt sich die Temperatur immerfort nahe dem Schmelzpunkte des Eises. Befragte Jasper Hobson sein Journal, so ersah er daraus, daß das Thermometer zu derselben Zeit des vergangenen Jahres 10° unter Null gezeigt hatte. Welch' großer Unterschied, und wie launenhaft vertheilt sich demnach die Temperatur in diesen arktischen Gegenden!

Die Ueberwinternden litten also keineswegs von der Kälte und sahen sich noch nicht auf das Haus beschränkt. Dagegen war es sehr feucht, denn häufig fallender Regen, mit Schnee untermischt, und der niedrige Stand des Barometers verrieth, daß die Atmosphäre mit Dünsten überladen war.

Noch während des Octobers unternahmen Jasper Hobson und Sergeant Long mehrere Ausflüge, um den Zustand des Eisfeldes in der Umgebung der Insel kennen zu lernen. An einem Tage gingen sie nach Cap Michael, am anderen nach dem früheren Winkel der Walroß-Bai, immer begierig, sogleich zu wissen, ob der Uebergang nach einem oder dem anderen Erdtheile zu ausführbar sei und wann ihre Abreise statthaben könne.


Die Wölfe werden frecher. (S. 351.)

Das Eisfeld zeigte an gewissen Stellen offenes Wasser, und war da und dort von Rissen und Sprüngen durchsetzt, welche den Lauf der Schlitten [351] unzweifelhaft aufgehalten hätten. Kaum durfte sich wohl der Fuß eines Wanderers in diese halb flüssige, halb feste Einöde hinauswagen.


Jasper Hobson's erste Mittheilungen über die Sachlage. (S. 357.)

Was es noch wahrscheinlicher machte, daß ein unzureichender und unregelmäßiger Frost, eine wechselnde Temperatur diese unvollkommene Uebereisung erzeugt hatte, das war die große Menge der Spitzen, Krystalle, Prismen und Polyeder jeder Art, welche wie eine Stalaktiten-Concretion die Oberfläche des Eisfeldes höckerartig unterbrachen. Letzteres ähnelte weit mehr einem [352] Gletscher, als einem Felde, und mußte der Weg außerordentlich beschwerlich werden, wenn er überhaupt gangbar erschien.

Lieutenant Hobson und Sergeant Long wagten sich auf das Eisfeld hinaus und legten so, aber nur mit großer Mühe und beträchtlichem Zeitaufwand ein bis zwei Meilen in südlicher Richtung zurück. Sie erkannten bald, daß man jetzt noch warten müsse, und zogen sehr entmuthigt nach Fort-Esperance wieder heim. Es kamen die ersten Tage des November, die Temperatur ging ein wenig, doch nur um einige Grade zurück, aber auch das erschien [353] wohl noch nicht hinreichend. Ausgedehnte, feuchte Nebel hüllten die Insel Victoria ein, so daß man den ganzen Tag über die Lampen im großen Saale in Brand erhalten mußte. Mit dem Lichte galt es aber etwas sparsam umzugehen. Der Vorrath an Oel war sehr bemessen, da die erwartete Sendung des Kapitän Craventy ausblieb, und auf der anderen Seite die Robbenjagd unmöglich wurde, weil diese Amphibien die umherirrende Insel nicht mehr besuchten. Verlängerte sich die Durchwinterung also unter den nämlichen Verhältnissen, so nöthigte das die Bewohner bald, Thierfett zu verwenden, oder gar Thran und Harz, um sich etwas Licht zu verschaffen. Die Tage wurden jetzt schon ungewöhnlich kurz, und nur wenig Stunden des Tages wandelte die Sonne mit bleichem Glanze und wärmeloser Scheibe über dem Horizonte. Ja, der Winter war wohl da mit seinen Nebeln, Regen und Schneegestöber, der Winter wohl – aber ohne Frost!

Der 11. November wurde zum Festtage in Fort-Esperance, den Mrs. Joliffe durch einige »Extragänge« zur Mittagsmahlzeit auszeichnete. Es war der Geburtstag des kleinen Michael Mac Nap. Das Kind blühte lustig auf mit seinen blonden lockigen Haaren und den lieblichen blauen Augen. Daß es seinem Vater, dem Meister Zimmermann, ähnelte, machte den braven Mann ordentlich stolz. Nach Tische wurde der Bursche feierlich gewogen. Da mußte man ihn in der Wage zappeln sehen und munter schreien hören! Wirklich, er wog vierunddreißig Pfund! Mit welchem Hurrah begrüßte man dieses tüchtige Gewicht und beglückwünschte Mrs. Mac Nap als Mutter und Ernährerin. Nicht zum geringsten Theile bezog auch Corporal Joliffe diese Glückwünsche mit auf sich, wahrscheinlich als Bonne dieses kleinen Weltbürgers. Der würdige Corporal hatte das Kind so viel umher getragen, gehätschelt und gewiegt, daß er seine Einwirkung bei dessen physischem Gewichte mit in Anschlag bringen zu dürfen glauben mochte.

Am nächsten Tage, dem 12. November, erschien die Sonne nicht über dem Horizonte. Nun begann die lange Polarnacht, und zwar neun Tage früher, als im vergangenen Jahre auf dem amerikanischen Continente, was von dem Unterschiede der Breitenlage zwischen diesem und der Insel Victoria herrührte.

Auch das Ausbleiben der Sonne veränderte jedoch den Zustand der Atmosphäre keineswegs, und noch immer blieb die Temperatur wie vorher launenhaft und unbestimmt. An einem Tage sank das Thermometer, am [354] anderen stieg es wieder, Regen und Schnee lösten einander ab. Der gelinde Wind wurde in keiner Richtung stetig, sondern durchlief an manchem Tage alle Striche der Windrose. Die dauernde Feuchtigkeit dieses Klimas war nicht außer Acht zu lassen, da sie leicht scorbutische Affectionen hervorzurufen vermochte. Doch wenn auch durch das Ausbleiben der Sendung des Kapitän Craventy Citronen- und Limoniensaft und Kalkpastillen auf die Neige gingen, so ersetzte diese die reichliche Ernte an Sauerampfer und Löffelkraut, von denen man auf Jasper Hobson's Empfehlung täglich gebrauchen konnte.

Inzwischen mußte Alles vorbereitet werden, um Fort-Esperance verlassen zu können, und unter den gegebenen Verhältnissen reichten vielleicht kaum drei Monate hin, um das Festland Amerikas zu erreichen. Auch durfte man die einmal auf dem Wege befindliche Expedition nicht der Gefahr aussetzen, vor Erreichung des Landes in die Thauperiode zu kommen. War man zur Abreise gezwungen, so mußte diese spätestens mit Ende November erfolgen.

Daß man sich auf den Weg machen müsse, darüber bestand keinerlei Zweifel. Wenn die Reise aber schon durch die strenge Winterkälte, welche alle Theile des Eisfeldes unverrückbar verband, eine beschwerliche zu werden versprach, so drohte diese unbestimmte Witterung die Lage noch sehr bedenklich zu verschlimmern.

Am 13. November traten Jasper Hobson, Mrs. Paulina Barnett und Sergeant Long zusammen, um den Tag der Abfahrt festzusetzen. Die Ansicht des Sergeanten ging dahin, die Insel so bald als möglich zu verlassen.

»Denn, sagte er, bei einem Zuge von sechshundert Meilen über das Eis müssen wir auf jede mögliche Verzögerung gefaßt sein. Jedenfalls ist es nothwendig, noch vor dem März den Fuß auf das Festland zu setzen, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, durch den Eisbruch in eine weit schlimmere Lage zu kommen, als wir es jetzt auf unserer Insel sind.

– Ist das Meer aber, fragte Mrs. Paulina Barnett, jetzt schon hinreichend fest, um unseren Uebergang zu sichern?

– Gewiß, entgegnete Sergeant Long, und es wird auch mit jedem Tage tragfähiger. Uebrigens zeigt das Barometer eine Neigung zum Steigen, was eine weitere Erniedrigung der Temperatur verspricht. Binnen einer Woche, [355] und bis dahin, denke ich, können die nöthigen Vorbereitungen beendet sein, wird die Witterung dauernd kalt bleiben.

– Mag sein, sagte Lieutenant Hobson, jedenfalls meldet sich der Winter ungünstig an, und Alles scheint gegen uns verschworen zu sein. Man kennt auch ganz eigenthümliche Witterungsverhältnisse in diesen Meeren, unter denen die Walfänger da bequem fahren konnten, wo sie, selbst in anderen Sommern, für ihren Kiel keinen Zoll freies Wasser vorgefunden hatten. Doch wie dem auch sei, ich stimme bei, daß kein Tag unnütz vergeudet wird, und bedaure nur, daß die gewöhnliche Temperatur dieser Klimate uns ihre Mithilfe versagt.

– Das wird noch geschehen, meinte Mrs. Paulina Barnett, auf jeden Fall müssen wir bereit sein, uns die Umstände zu Nutze zu machen. Für wann denken Sie spätestens unsere Abreise festzusetzen, Herr Hobson?

– Auf Ende November als äußersten Zeitpunkt, antwortete Jasper Hobson; sollten unsere Vorarbeiten aber schon in acht Tagen, also bis 20. November, vollendet und der Uebergang ausführbar sein, so würde ich das für einen sehr glücklichen Umstand ansehen, und schon zu dieser Zeit aufbrechen.

– Gut, sagte der Sergeant, demnach ist kein Augenblick zu verlieren.

– Dann, Herr Hobson, bemerkte die Reisende, werden Sie auch unseren Genossen die Lage, in der wir uns befinden, mittheilen müssen.

– Ja, Madame, der Augenblick, zu sprechen, ist jetzt gekommen, da es nun darnach zu handeln gilt.

– Und wann wollen Sie ihnen sagen, was jene bis jetzt noch nicht wissen?

– Sofort! – Sergeant Long, fügte Jasper Hobson, sich nach seinem Unterofficier hinwendend, hinzu, der jetzt eine militärische Haltung annahm, lassen Sie die Mannschaft sich im großen Saale versammeln, um eine Mittheilung von mir entgegen zu nehmen.«

Automatisch drehte sich der Sergeant auf seinen Füßen herum und ging, die Hand an der Mütze, in Paradeschritt ab.

Einige Minuten lang blieben Mrs. Paulina Barnett und Lieutenant Hobson allein, ohne nur ein Wort zu sprechen.

Bald kehrte der Sergeant zurück und meldete, daß sein Befehl vollzogen sei.

[356] Gleichzeitig traten Jasper Hobson und die Reisende in den großen Saal ein. Alle Bewohner der Factorei, Männer und Frauen, waren darin versammelt und von dem Licht der Lampen nur undeutlich beleuchtet.

Jasper Hobson trat in die Mitte und sagte in ernstem Tone:

»Meine Freunde, bis jetzt hielt ich es für meine Pflicht, um Euch unnöthige Beunruhigung zu ersparen, die Lage unseres Fort-Esperance geheim zu halten ... ein Erdbeben hat uns vom Festlande losgerissen ... Dieses Cap Bathurst ist von der amerikanischen Küste abgewichen ... unsere Halbinsel ist seitdem nur noch eine Insel, und zwar eine umherirrende Eisinsel ...«

In diesem Augenblicke näherte sich Marbe Jasper Hobson und sagte mit fester Stimme:

»Das wußten wir schon, Herr Lieutenant!«

12. Capitel
Zwölftes Capitel.
Rettungsversuche.

Sie wußten es, diese braven Männer! Um den Kummer ihres Vorgesetzten nicht zu vergrößern, hatten sie sich nur verstellt und den Arbeiten zur Ueberwinterung mit gleichem Fleiße hingegeben.

Jasper Hobson traten Thränen der Rührung in die Augen. Er gab sich keine Mühe, seine Erregung zu verbergen, ergriff Marbre's Hand, die dieser ihm entgegenstreckte, und drückte sie herzlich.

Ja, diese wackeren Soldaten wußten Alles, denn Marbre hatte schon seit längerer Zeit Alles durchschaut. Die mit salzigem Wasser gefüllte Rennthierfalle, das aus Fort-Reliance erwartete, aber nicht eingetroffene Detachement, die täglich vorgenommenen, auf dem Festlande doch völlig nutzlosen Aufnahmen der Länge und Breite, Jasper Hobson's Heimlichkeit dabei, die Thiere, welche vor dem Winter nicht weggezogen waren, endlich der in den [357] letzten Tagen eingetretene und gar wohl bemerkte Wechsel in der Orientation der Insel, – alle diese Zeichen hatten den Bewohnern von Fort-Esperance über ihre Lage Licht gegeben. Nur die Ankunft Kalumah's blieb unerklärt und führte sie zu der – wie man weiß, richtigen – Annahme, daß der Sturm dies junge Eskimomädchen zu fällig an das Ufer der Insel verschlagen habe.

Marbre, in dem es zuerst über alle Verhältnisse Tag geworden war, theilte seine Gedanken darüber dem Zimmermann Mac Nap und dem Schmied Raë mit.

Alle Drei betrachteten das allgemeine Unglück mit sehr ruhigen Augen, und kamen dahin überein, nicht allein ihre Kameraden, sondern selbst ihre Frauen darüber aufzuklären. Dann hatten sich Alle verabredet, ihrem Lieutenant gegenüber Nichts zu wissen, und seinen Anordnungen wie bisher blindlings nachzukommen.

»Ihr seid wackere Leute, meine Freunde, sagte da Mrs. Paulina Barnett, tiefgerührt von diesem Feingefühl, als der Jäger Marbre seine Erklärungen abgegeben hatte; Ihr seid edelmüthige und muthige Soldaten!

– Und unser Lieutenant, bemerkte Mac Nap, kann auf uns rechnen. Er hat seine Pflicht gethan, wir werden die unsere thun.

– Ja, meine lieben Geführten, sagte Jasper Hobson, der Himmel wird uns nicht verlassen und wir werden ihn unterstützen, uns zu retten!«

Hierauf berichtete Jasper Hobson Alles, was sich seit der Zeit zugetragen hatte, da das Erdbeben den Isthmus zerbrach und aus dem Continentalgebiete des Cap Bathurst eine Insel schuf. Er erzählte, wie diese seit der Mitte des Frühlings von einem bislang unbekannten Strome zweihundert Meilen vom Lande entfernt auf dem eisfreien Meere entführt worden sei; wie der Orkan sie bis nahe an das Land zurück und in der Nacht des 31. August wieder in die offene See hinaus getrieben, und endlich wie muthig Kalumah ihr Leben auf's Spiel gesetzt habe, um ihren europäischen Freunden zu Hilfe zu kommen. Dann sprach er von den vorgekommenen Veränderungen der Insel, welche sich in dem wärmeren Wasser auflösen mußte, und wie nahe die Befürchtung gelegen hatte, entweder in den Stillen Ocean hinab gerissen oder von dem Kamtschatka-Strome entführt zu werden. Zuletzt theilte er seinen Schicksalsgenossen mit, daß die umherirrende Insel seit dem 27. September definitiv zum Stehen gekommen sei.

[358] Nach Herbeischaffung der Karten des Eismeeres zeigte Jasper Hobson selbst die Position, welche sie jetzt in einer Entfernung von sechshundert Meilen vom Lande einnahm.

Er schloß mit dem Geständnisse, daß ihre Lage außerordentlich gefährlich erscheine, daß die Insel bei Gelegenheit des Eisbruches nothwendig zermalmt werden würde und daß man, ohne auf das im Bau befindliche Schiff, welches doch erst im kommenden Sommer von Werth sein könne, zurückzugreifen, den Winter benutzen müsse, um quer über das Eisfeld nach dem amerikanischen Continent zurück zu gehen.

»Sechshundert Meilen werden wir durch Nacht und Kälte zurück zu legen haben. Schwierig wird die Aufgabe sein, meine Freunde, doch begreift Ihr wohl Alle, daß wir davor nicht zurückschrecken dürfen.

– Sobald Sie den Befehl zur Abreise geben, Herr Lieutenant, versicherte Mac Nap, so werden wir Ihnen folgen!«

So waren also Alle einig und wurden die Zurüstungen zu dem gefährlichen Zuge mit größter Eile betrieben. Die Leute hatten sich entschieden, selbst unter solchen Umständen die sechshundert Meilen zurück zu legen. Sergeant Long widmete seine Sorge den Schlitten, während Jasper Hobson, die beiden Jäger und Mrs. Barnett häufig auszogen, den Zustand des Eisfeldes zu untersuchen. Gewöhnlich schloß sich auch Kalumah ihnen an, da ihre Erfahrung hierin nicht selten von großem Vortheil sein mußte. Ohne eine dazwischen tretende Verzögerung sollte die Abreise am 20. November stattfinden; es galt also, keinen Augenblick zu verlieren.

Wie es Jasper Hobson voraus gesehen, hatte sich der Wind wieder erhoben, die Temperatur erniedrigte sich ein wenig, und die Quecksilbersäule zeigte - 4°. An Stelle des Regens der letzten Tage trat Schnee, der auf dem Boden erhärtete. Nur einige Tage solcher Kälte, und die Schlitten mußten Verwendung finden können. Der bei Cap Michael entstandene Einschnitt war von Schnee und Eis wieder so ziemlich geschlossen, doch durfte man nicht vergessen, daß sein ruhigeres Wasser eben eher zum Festwerden neigte, was schon der noch unbefriedigende Zustand des Seewassers bewies.

Wirklich dauerte der ziemlich heftige Wind fast unausgesetzt an. Der Seegang verhinderte eine regelmäßige Eisbildung. Breite Wasserlöcher trennten da und dort die Schollen, und noch erschien ein Zug über das Eisfeld unbedingt unmöglich.

[359] »Die Witterung wendet sich entschieden zum Froste, sagte da eines Tages Mrs. Paulina zu Lieutenant Hobson, – es war am 15. November gelegentlich einer bis in den Süden der Insel fortgesetzten Auskundschaftung; – die Temperatur erniedrigt sich merklich, und auch jene noch offenen Stellen werden bald ihre Eisdecke haben.

– Das glaub' ich zwar auch, Madame, antwortete Jasper Hobson, unglücklicher Weise ist aber die Art des Gefrierens unseren Zwecken nicht eben förderlich. Die sehr kleinen Schollen bilden mit ihren Rändern ebenso viele Kanten, welche über die Fläche herausragen, und unsere Schlitten werden, wenn das überhaupt erst möglich wird, nur mit größter Mühe darüber hingleiten.

– Meiner Ansicht nach, erwiderte die Reisende, bedürfte es nur einiger Tage, ja selbst nur einiger Stunden reichlichen Schneefalles, um die ganze Oberfläche einzuebnen.

– Ohne Zweifel, Madame, entgegnete der Lieutenant, wenn aber Schnee fällt, ist auch die Temperatur gestiegen, und wenn dieser Fall eintritt, verschiebt sich für jetzt das Eisfeld noch. Das ist ein Dilemma, welches auf beiden Seiten gegen unseren Vortheil ist.

– Nun, Herr Hobson, tröstete die Reisende, das hieße doch wahrlich unglücklich spielen, wenn wir in dieser Gegend, mitten im Eismeer, einen milden Winter, statt eines arktischen, erleben sollten.

– Und doch wäre das nicht der erste Fall, Madame. Ich erinnere Sie, wie streng die kalte Jahreszeit war, welche wir an dem amerikanischen Continente verbrachten. Nach oft wiederholten Beobachtungen folgen aber zwei gleich rauhe und andauernde Winter nur selten einander, was auch die Walfänger in den Meeren des Nordens recht wohl wissen. Gewiß hieße es aber unglücklich spielen, einen kalten Winter da erlebt zu haben, wo uns ein milderer so viel angenehmer gewesen wäre, und einen gemäßigten da, wo wir einen kalten brauchen. Und wenn ich daran denke, daß eine Entfernung von sechshundert Meilen mit Frauen und einem Kinde zu durchziehen ist!« ...

Jasper Hobson zeigte mit der Hand nach der unabsehbaren Weite, die sich im Süden ihren Blicken bot, nach der weißen Ebene mit den launenhaften Unterbrechungen. Ein trauriger Anblick, dieses stellenweise gefrorene Meer, [360] dessen Oberfläche mit unheimlichem Geräusche krachte.


Ein Polarbär im Abendnebel. (S. 363.)

Der trübe Mond, den die feuchten Nebel halb begruben und der nur wenige Grade über dem düsteren Horizonte stand, goß ein bleiches Licht über das Ganze. Das Halbdunkel verdoppelte mit Hilfe gewisser Brechungserscheinungen des Lichtes die Größe aller Gegenstände.

Manche Eisberge von nur mittlerer Höhe nahmen kolossale Dimensionen und die Gestalt apokalyptischer Ungeheuer an. Mit rauschendem Flügelschlage[361] zogen Vögel vorüber, deren kleinster in Folge jener optischen Täuschung größer als ein Condor oder ein Aasgeier erschien.

Nach verschiedenen Richtungen schienen sich zwischen den Eisriesen ungeheure schwarze Tunnel zu eröffnen, in welche einzudringen wohl auch der Furchtloseste gezaudert hätte. Dann hörte man wieder ein Donnern und Krachen, das von eingestürzten Eisbergen herrührte, wenn sie unten abgenagt außer Gleichgewicht gekommen waren, und das das Echo hallend wiedergab. So wechselte die Scene immer, wie die Decoration eines Zaubermärchens.

Mit welch staunendem Schrecken mußten aber die Unglücklichen jene furchtbaren Erscheinungen betrachten, da sie ihr Weg mitten durch diese Eisfelder führte!

Einem unwillkürlichen Grauen konnte sich die Reisende trotz ihres Muthes und ihrer moralischen Energie dabei doch nicht erwehren. Es überlief sie eiskalt, so daß sie gern Augen und Ohren verschlossen hätte, um nur nicht mehr zu sehen und zu hören. Und als der Mond sich einen Augenblick hinter noch dichterem Nebel ganz verbarg, färbte sich das Bild dieser Polarlandschaft noch düsterer, und Mrs. Paulina Barnett stellte sich dazu die Karawane von Männern und Frauen vor, auf dem Zuge durch diese Eiswüsten mitten im Sturm und Schnee, und bedroht von Lawinen in der tiefen Finsterniß einer arktischen Nacht!

Dennoch zwang sich die Reisende, den Anblick zu ertragen. Sie wollte ihre Augen gewöhnen und ihre Seele gegen den Schrecken abhärten. Plötzlich aber schrie sie, die Hand des Lieutenants ergreifend, laut auf und zeigte auf eine gewaltige Masse von unerkennbarer Gestalt, die sich im Halbdunkel, kaum hundert Schritte von ihnen, bewegte.

Jene war ein Ungeheuer von blendender Weiße, riesigem Wuchse und scheinbar über fünfzig Fuß hoch. Langsam begab es sich über die einzelnen Eisstücke dahin, setzte mit furchtbarem Sprunge von einem zum anderen, und focht mit den gigantischen Tatzen; es schien selbst einen gangbaren Weg über das Eisfeld zu suchen, um diese verderbendrohende Insel verlassen zu können. Man erkannte, wie die Schollen unter seinem Gewichte einsanken, und es ihm nur nach mehreren plumpen Bewegungen gelang, in's Gleichgewicht zu kommen.

So drang das Ungethüm etwa eine Viertelmeile über das Eisfeld vor. Dann mochte ihm der weitere Weg mangeln, und es kehrte in der Richtung [362] nach derselben Uferstelle zurück, an der Lieutenant Hobson und Mrs. Paulina Barnett sich aufhielten.

Sofort er griff Jasper Hobson sein Gewehr, das er am Riemen trug, und hielt sich schußfertig. Als er aber schon auf das Thier angelegt hatte, ließ er die Waffe wieder sinken und sagte halblaut:

»Es ist weiter nichts als ein Bär, Madame, dessen Dimensionen durch die Lichtbrechung so ungeheuerlich vergrößert waren!«

Wirklich war es ein Polarbär, und Mrs. Paulina Barnett erkannte bald die optische Täuschung, die sie befangen hatte.

Erleichtert athmete sie tief auf, als ihr ein eigener Gedanke kam.

»Das ist mein Bär, rief sie, ein Neufoundland-Bär! Wahrscheinlich der einzige, der auf der Insel zurück blieb. Was hat er dort aber vor?

– Er sucht zu entkommen, antwortete Lieutenant Hobson, er sucht diese verwünschte Insel zu fliehen, und vermag es noch nicht, wobei er gleichzeitig den Beweis liefert, daß der Weg auch für uns noch versperrt ist!«

Jasper Hobson täuschte sich hierin nicht. Das gefangene Thier hatte die Insel verlassen und das Festland wieder erreichen wollen, und da ihm das mißlang, kehrte es zum Ufer zurück. Der Bär schüttelte langsam den Kopf, brummte grollend und trabte kaum zwanzig Fuß neben dem Lieutenant und seiner Begleiterin vorüber. Entweder sah er diese gar nicht oder würdigte sie nur keines Blickes, denn schwerfälligen Schrittes setzte er seinen Weg nach Cap Michael zu fort, und verschwand bald hinter einem Landrücken.

Traurig und schweigsam wandten sich Lieutenant Hobson und Mrs. Paulina Barnett an diesem Tage nach dem Fort zurück.

Indessen wurden in der Factorei die Vorbereitungen zur Abreise fleißig fortgesetzt, so als ob das Eis schon gangbar gewesen wäre. Es handelte sich ja auch darum, für die Sicherheit der Expedition Nichts zu vernachlässigen, Alles vorzusehen und nicht nur die Schwierigkeiten und Anstrengungen in Anschlag zu bringen, sondern auch die Launen der polaren Natur, welche ihrer Erforschung durch den Menschen so energischen Widerstand leistet.

Die Hundebespannung bildete den Gegenstand der ernsthaftesten Sorge. Die Thiere ließ man sich in der Umgebung des Forts weidlich austummeln, um durch Uebung ihre bei der langen Unthätigkeit verminderten Kräfte wieder herzustellen. Alles in Allem befanden sie sich übrigens in erwünschtestem [363] Wohlsein, und war ihnen, wenn sie nicht überlastet wurden, wohl eine längere Reise zuzumuthen.

Auch die Schlitten erfuhren eine aufmerksame Prüfung, da die holperige Eisfläche sie nothwendig den heftigsten Stößen aussetzte. Deshalb verstärkte man dieselben in ihren Haupttheilen, den Kufen und den vorn aufstrebenden Bögen u.s.w., was der sachverständige Mac Nap mit seinen Leuten ausführte.

Ebenso baute man zwei groß angelegte Lastschlitten, den einen zum Transport der Provisionen, den anderen zu dem der Pelzwaaren. Die dazu ganz geeigneten zahmen Rennthiere sollten diesen als Zugkraft dienen. Die Pelzwaaren bildeten zwar eine scheinbar überflüssige Last, mit der man sich vielleicht nicht beladen sollte, Jasper Hobson wollte aber die Interessen der Compagnie nach Kräften wahrnehmen, war jedoch entschlossen, jene zurück zu lassen, wenn sie den Zug der Karawane aufhalten oder wesentlich verzögern sollten. Man wagte also nicht zu viel, da jene kostbaren Pelzfelle, wenn sie in den Magazinen der Factorei zurückblieben, doch rettungslos verloren waren.

Bezüglich des Proviantes war die Sachlage eine andere. Lebensmittel mußten reichlich vorhanden und leicht transportabel sein, da auf etwaige Jagdbeute gar nicht zu rechnen war. Das eßbare Wild lief gewiß, wenn der Uebergang statthast war, nach dem Continente voraus, und entfloh in südlichere Gegenden. Deshalb wurden auf dem eigens dazu bestimmten Schlitten conservirtes Fleisch, Pökelfleisch, Hasenpasteten, getrocknete Fische, Zwieback, dessen Vorrath leider sehr zusammengeschmolzen war, ferner ausreichend Sauerampher und Löffelkraut, Branntwein und Alkohol zur Bereitung warmer Getränke u.s.w. vorsorglich verpackt.

Gern hätte Jasper Hobson auch Brennmaterial mitgeführt, denn auf der ganzen Strecke von sechshundert Meilen war auf die Auffindung irgend welchen Ersatzes dafür nicht zu zählen; doch mußte man auf eine solche Mehrbelastung verzichten. Zum Glücke fehlte es an warmen Kleidungsstücken nicht, und waren diese aus dem Vorrath auf dem Schlitten im Nothfalle leicht zu ergänzen.

Thomas Black, der sich seit seinem Mißgeschicke von aller Welt zurück gezogen hatte, seine Umgebung floh, sich auf sein Zimmer beschränkte und an den Berathungen Jasper Hobson's und des »Generalstabes« überhaupt [364] keinerlei Antheil nahm, trat endlich wieder an's Tageslicht, nachdem die endgiltige Bestimmung des Tages der Abreise sein Ohr erreichte. Aber auch dann beschäftigte er sich einzig und allein mit dem Schlitten, der seine Person nebst Instrumenten und Büchern aufnehmen sollte. Kein Wort war aus ihm hervorzulocken. Er schien Alles vergessen zu haben, selbst daß er ein Gelehrter sei, und seitdem ihm die Beobachtung »seiner« Sonnenfinsterniß so jämmerlich mißglückte, seitdem die Entscheidung der Frage bezüglich der Protuberanzen ihm entschlüpfte, fehlte es ihm auch an jeder Aufmerksamkeit für die anderen, jenen hohen Breiten eigenthümlichen Erscheinungen, wie die Nordlichte, Mondhöfe, Nebenmonde u.s.w.

Die letzten Tage über hatte Jedermann mit solchem eifrigen Fleiße gearbeitet, daß man schon am Morgen des 18. Novembers zur Abreise bereit gewesen wäre.

Leider war das Eisfeld noch immer nicht zu passiren. Wenn die Temperatur auch noch etwas abnahm, so mangelte doch die lebhafte Kälte, welche das Meer zum Festwerden verlangt. Der übrigens sehr feinflockige Schnee fiel nicht gleichmäßig und anhaltend genug. Jasper Hobson, Marbre und Sabine durchstreiften Tag für Tag den Küstenstrich zwischen Cap Michael und der Ecke an der ehemaligen Walroß-Bai. Fast anderthalb Meilen weit wagten sie sich wohl auch über das Eisfeld hinaus, kamen aber dabei zu der Einsicht, daß jenes noch viel zu sehr von offenen Stellen, Sprüngen und Spalten durchsetzt war. Von Schlitten gar nicht zu sprechen, hätten sich nicht einmal Fußgänger ohne Gepäck und unbehindert in ihren Bewegungen ihm anvertrauen können. Die Mühseligkeiten Jasper Hobson's und seiner beiden Leute gelegentlich dieser nur kurzen Ausflüge riefen öfters die Befürchtung wach, daß sie bei den veränderlichen Wegen und inmitten der noch beweglichen Eisschollen kaum die Insel Victoria wieder erreichen würden.

In der That gewann es den Anschein, als ob die Natur sich gegen die unglücklichen Wintergäste verschworen habe, denn am 18. und 19. November stieg das Thermometer von Neuem, während das Barometer andererseits fiel. Diese Wandlung der atmosphärischen Verhältnisse ließ das Schlimmste befürchten. Mit dem Nachlassen der Kälte verhüllte sich der Himmel in einen Dunstmantel. Mit 1°,11 über Null trat Regen, statt Schnee, ein, der im Ueberfluß herabströmte, und schmolz bei diesem Rückschlag des Wetters zu verhältnißmäßiger Wärme die weiße Decke des Bodens stellenweise weg. Man [365] begreift unschwer die Wirkung der geöffneten Schleusen des Himmels auf das Eisfeld, dessen lose Verbindung sich dadurch noch weiter lockerte. Auch an den Eisschollen traten Anfänge des Schmelzens ein, so als ob das Thauwetter anbräche. Lieutenant Hobson, der trotz der abscheulichen Witterung jeden Tag die südlichen Theile der Insel aufsuchte, kam ganz in Verzweiflung von dort zurück.

Am 20. entfesselte sich noch in jenen verderbendrohenden Seegebieten ein heilloser Sturm, der an Heftigkeit fast jenem gleichkam, welcher zwei Monate vorher über die Insel gebraust war. Die Ueberwinternden waren gar nicht im Stande, nur einen Fuß in's Freie zu setzen, und blieben mehrere Tage über in Fort-Esperance eingesperrt.

13. Capitel
Dreizehntes Capitel.
Quer über das Eisfeld.

Am 22. November endlich begann das Unwetter etwas nachzulassen, und binnen wenig Stunden schwieg der Sturm vollkommen. Der Wind sprang nach Norden um, während das Thermometer einige Grade fiel. Einige Zugvögel verschwanden. Vielleicht konnte man nun hoffen, daß endlich die Temperatur bleibend sein würde, wie sie dieser Jahreszeit in so hohen Breiten entsprach. Wie sehr bedauerten die Ansiedler am Cap Bathurst, daß die Kälte nicht der der vergangenen Wintersaison gleich kam, in der sie - 52° erreichte.

Jasper Hobson beschloß mit dem Verlassen der Insel Victoria nicht zu zögern, und am Vormittag des 22. noch war die kleine Colonie bereit, von Fort-Esperance und der Insel wegzuziehen, welche letztere nun mit dem allgemeinen Eisfelde verschmolzen und an demselben verlöthet war, so daß sie durch eine sechshundert Meilen lange Strecke mit dem amerikanischen Continent zusammen hing.

[366] Um elf und ein halb Uhr Vormittags gab Lieutenant Hobson bei grauer, aber ruhiger Luft, welche ein prächtiges Nordlicht vom Horizont bis zum Zenith durchleuchtete, den Befehl zum Aufbruch. Die Hunde waren vor die Schlitten gespannt. Je drei Paare zahmer Rennthiere zogen die Lastschlitten, und schweigend wandte man sich in der Richtung nach Cap Michael, – nach dem Punkte hin, an welchem die eigentliche Insel verlassen werden sollte.

Die Karawane folgte zuerst dem Saum des bewaldeten Hügels östlich vom Barnett-See; an dem ersten Ziele angelangt, drehte sich Jeder noch einmal zurück, um Cap Bathurst, das man auf Nimmerwiederkehr verließ, zum letzten Male zu sehen. Beim Schein des Nordlichtes zeichneten sich einige vom Schnee verunstaltete Spitzen ab, und zwei oder drei weiße Linien verriethen die Umzäunung der Factorei. Einer der da oder dort weiter hervorstehenden Grundbalken, ein leichter aufwirbelnder Rauch, der letzte Athem eines Feuers, das für immer verlöschen sollte, – das war Fort-Esperance, das war das Etablissement, welches so viel jetzt unnütze Arbeit und Mühe gekostet hatte!

»Leb' wohl! Leb' wohl! Du, unser armes Haus im Norden!« sagte Mrs. Paulina Barnett mit einer Handbewegung zum Abschied.

Nachher nahmen Alle traurig und schweigend den Weg wieder auf.

In einer Stunde war man, nach Umgehung des Einschnittes, den die unzureichende Winterkälte noch nicht vollkommen geschlossen hatte, am Cap Michael angekommen. Bis hierher ging die Reise ohne zu große Schwierigkeit von Statten, denn der Boden der Insel Victoria bot eine verhältnißmäßig ebene Oberfläche.


Beim Bau der Lastschlitten. (S. 364.)

Ganz anders sollte sich das auf dem eigentlichen Eisfelde gestalten, denn dieses war unter dem enormen Drucke des Packeises aus Norden zu Eisbergen und Spitzhügeln erhoben, zwischen denen es um den Preis der größten Mühe und der äußersten Anstrengung einen gangbaren Weg aufzusuchen galt.

Einige Meilen legte man bis zum Abend dieses Tages auf dem Eisfelde zurück und machte die Lagerstätten für die Nacht zurecht. Zu dem Ende wurden nach Art der Eskimos oder der Indianer Nordamerikas »Schneehäuser« in den Eisstücken ausgehöhlt. Erfolgreich und geschickt arbeiteten die Schneemesser, und um acht Uhr schlüpfte, nach einer aus gedörrtem [367] Fleische bestehenden Abendmahlzeit, das ganze Personal der Factorei in die zugerichteten Löcher, welche weit wärmer sind, als man glauben sollte.

Vor dem Einschlafen aber hatte Mrs. Paulina Barnett den Lieutenant gefragt, ob er wohl die bis jetzt zurückgelegte Strecke abzuschätzen im Stande sei.

»Ich denke, wir werden nicht mehr als zehn Meilen gemacht haben, antwortete Jasper Hobson.

[368] – Zehn von sechshundert! entgegnete die Reisende, darnach würden wir also zwei Monate brauchen, um die Entfernung zu durchmessen, die uns von Amerika trennt!

– Zwei Monate und vielleicht noch mehr, Madame, erwiderte Jasper Hobson, aber wir können eben nicht schneller gehen. Jetzt reisen wir nicht, wie im vorigen Jahre, über die beeisten Flächen zwischen Fort-Reliance und Cap Bathurst, sondern über das formlose Eisfeld, das durch den Druck der [369] Massen verschoben ist, und uns einen leichten Weg nirgends bieten wird. Ich versehe mich der größten Schwierigkeiten bei diesem Versuche und wünsche nur, daß wir sie zu überwältigen vermögen. Jedenfalls ist es nicht das Wichtigste, schnell anzukommen, sondern nur bei guter Gesundheit, und ich würde mich glücklich schätzen, beim Appell in Fort-Reliance keinen meiner Leute fehlen zu sehen. Gebe der Himmel, daß wir nur wenigstens in drei Monaten irgend einen Punkt der amerikanischen Küste erreichen, und schon dafür würden wir ihm zum Danke für seine Gnade verpflichtet sein!«

Die Nacht verlief ohne Unfall; Jasper Hobson hatte aber, da er nicht schlief, an der Stelle, wo das Lager aufgeschlagen war, etwas Knistern von übler Vorbedeutung zu hören geglaubt, welches auf einen mangelhaften Zusammenhang der einzelnen Schollen hinwies. Offenbar mochte das Eisfeld in seiner ganzen Fläche noch nicht genügend verbunden sein, woraus auch die Vermuthung hervorging, daß sich an manchen Stellen klaffende Spalten finden würden, ein sehr übler Umstand, der jede Communication mit dem Festlande unsicher machte. Uebrigens hatte Lieutenant Hobson noch vor der Abreise wohl bemerkt, daß das Pelzwild und die Raubthiere der Insel Victoria die Umgebung der Factorei noch nicht verlassen hatten, um in südlicheren Gegenden einen minder rauhen Winter aufzusuchen, was nur auf Hindernisse, welche ihr Instinct ihnen verrieth, zurück zu führen sein dürfte. Dennoch handelte Jasper Hobson mit allem Vorbedacht, als er versuchte, die kleine Colonie über das Eisfeld zu leiten.


Gefährliche Passage. (S. 371.)

Jedenfalls mußte vor dem künftigen Thauwetter ein Versuch gemacht werden; ob dieser nun gelang, oder ob man würde umkehren müssen – sicher hatte Jasper Hobson damit seine Pflicht gethan.

Am anderen Tage, am 23. November, kam das Detachement nicht einmal zehn Meilen nach Osten zu vorwärts. Das furchtbar zerklüftete Eisfeld zeigte an seiner Schichtung, daß sich mehrere Eisbänke über einander geschoben hatten. Durch den unwiderstehlichen Druck des Packeises erklärte sich auch das Zusammenstoßen von Eisbergen, die Aufhäufung einzelner Schollen, und eine Erscheinung, wie von machtloser Hand verlorene Berge, welche in dieser Gegend zerstreut lagen und bei ihrem Sturze zersplittert waren. Eine aus Schlitten und Zugthieren bestehende Karawane konnte nun ohne Zweifel über diese Blöcke nicht hinweg, und ebenso unmöglich erschien es, sie mit der Axt oder dem Schneemesser zu durchbrechen. Einzelne dieser [370] Eisberge bildeten die sonderbarsten Formen, und zusammen machten sie wohl den Eindruck einer vollkommen eingestürzten Stadt. Eine gute Anzahl starrten drei- oder vierhundert Fuß über die Oberfläche hervor, und auf ihrem Gipfel hingen enorme Massen in gefahrdrohendem Gleichgewicht, für die eine Erschütterung, ein Stoß, ja vielleicht nur eine Luftbewegung hinreichte, sie als Lawinen hinabzudonnern.

In der Nähe solcher Eisberge war also die größte Vorsicht nöthig, und deshalb auch der Befehl ergangen, an solchen gefährlichen Stellen nicht einmal laut zu sprechen oder die Zugthiere durch Peitschenknallen anzufeuern. Diese Maßregeln darf man nicht für übertrieben halten, denn hier konnte die geringste Unklugheit die traurigsten Folgen haben.

Bei Umgehung derartiger Hindernisse und der Aufsuchung gangbarer Durchlässe verlor man sehr viel Zeit, erschöpfte sich in unmäßigen Anstrengungen, und gewann bei zehn Meilen Umweg oft kaum eine Meile in der gewünschten Richtung. Auf jeden Fall fehlte aber dem Fuße der feste Boden niemals. Am 24. dagegen thürmten sich ihnen andere Hindernisse entgegen, an deren Ueberwindung Jasper Hobson wohl verzweifeln mußte.

Nachdem man nämlich eine erste Schollenmauer überschritten hatte, die sich etwa zwanzig Meilen von der Insel Victoria befand, traf das Detachement auf ein weniger unebenes Eisfeld, dessen einzelne Theile keinem so furchtbaren Drucke unterlegen zu haben schienen. Hier aber wurden Jasper Hobson und seine Gefährten auch sehr bald von breiten Spalten aufgehalten, die noch nicht übereist waren. Die Temperatur erschien verhältnißmäßig warm und las man am Thermometer nur 1° unter Null ab. Dazu ist es bekannt, daß Salzwasser weniger leicht gefriert als süßes, folglich konnte das Meer hierbei nicht fest werden. Alle Eistheile, welche die Schollenwand und die anliegenden Flächen zusammensetzten, waren aus höheren Breiten herabgetrieben und nährten sich gewissermaßen von ihrer eigenen Kälte. Dieser südlichere Theil des Arktischen Oceans zeigte sich noch nicht gleichmäßig gefroren, und daneben fiel ein warmer Regen, der nur neue Elemente der Auslösung herbeiführte.

An diesem Tage sah sich das Detachement vor einer solchen Spalte absolut aufgehalten, in der bei bewegtem Wasser Eisschollen umher schwammen, und die bei einer Länge von mehreren Meilen höchstens hundert Fuß in der Breite maß.

[371] Zwei Stunden lang zog man, in der Hoffnung, das Ende zu finden, an der westlichen Seite dieses Spaltes hinab. Vergeblich; man mußte Halt machen und das Nachtlager herrichten.

Noch eine Viertelmeile ging Jasper Hobson mit dem Sergeant Long an der endlosen Oeffnung weiter und verwünschte die Milde dieses Winters, die ihm so viel Uebles zufügte.

»Darüber hinweg müssen wir unbedingt, sagte Sergeant Long, denn an dieser Stelle können wir doch nicht bleiben.

– Gewiß, antwortete der Lieutenant, und wir werden darüber wegkommen, indem wir entweder im Norden oder im Süden die offene Stelle umgehen. Nach dieser hier werden aber andere auftreten, die wir wiederum umgehen müssen, und so mag sich das auf Hunderte von Meilen fortsetzen, so lange diese unbestimmte und bedauernswerthe Temperatur anhält.

– Nun, Herr Lieutenant, so werden wir vor dem Wiederaufbrechen den Weg auskundschaften müssen, sagte der Sergeant.

– Ja wohl ist das nöthig, erwiderte entschlossen Jasper Hobson, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, nach fünf- und sechshundert Meilen langen Umwegen noch nicht die Hälfte der Strecke, die uns von der amerikanischen Küste trennt, zurückgelegt zu haben. Bevor wir weiter ziehen, muß die Oberfläche des Eisfeldes untersucht werden, und das werde ich sogleich ausführen.«

Ohne weitere Worte entledigte sich Jasper Hobson eines Theils seiner Kleidung, warf sich in das eisige Wasser und erreichte als rüstiger Schwimmer mit wenigen Stößen das andere Ufer, worauf er bald hinter den Eisbergen verschwand.

Einige Stunden später kam er erschöpft nach der Lagerstätte zurück, wohin Sergeant Long voraus gegangen war. Der Lieutenant nahm diesen und Mrs. Paulina Barnett bei Seite und theilte ihnen mit, daß das Eisfeld – ungangbar sei.

»Vielleicht, setzte er hinzu, könnte ein einzelner Mensch zu Fuß, ohne Schlitten und Gepäck darüber hinweg kommen, eine Karawane vermag das aber nicht! Nach Osten zu sind die Spalten noch häufiger, und jetzt wäre uns ein Schiff nützlicher als die Schlitten, um das Festland zu erreichen.

– Wenn ein einzelner Mann, bemerkte Sergeant Long, im Stande ist, [372] hindurch zu gelangen, so wird Einer von uns es unternehmen und uns Hilfe zu bringen versuchen müssen.

– Ich hatte den Gedanken daran ... fiel Lieutenant Hobson ein.

– Sie, Herr Hobson.

– Sie, Herr Lieutenant?«

Diese beiden gleichzeitigen Antworten bewiesen, wie unerwartet dieser Vorschlag war, und für wie unpassend er gehalten wurde! Er, der Chef der Expedition, wollte abreisen! Wollte Diejenigen verlassen, die seiner Obhut anvertraut waren, wenn es auch nur geschah, um in ihrem Interesse sich größeren Gefahren auszusetzen. Nein! Das war nicht möglich. Jasper Hobson bestand auch nicht auf seinen Worten.

»Ja, meine Freunde, sagte er, ich verstehe Sie, ich werde Sie nicht verlassen, es ist jedoch ebenso unnütz, daß ein Anderer diesen Versuch wage. Er könnte keinen Erfolg haben, würde unterwegs umkommen oder, wenn Thauwetter einträte, das Grab finden, das sich unter seinen Füßen öffnet. Nehmen wir auch an, er käme bis nach Neu-Archangel, wie sollte er uns Hilfe leisten? Etwa ein Schiff miethen, um uns aufzusuchen? – Das Schiff würde erst nach Eintritt des Thauwetters von Nutzen sein. Wer weiß aber vorher, wo sich dann etwa die Insel Victoria befinden möchte, welche in das Polarmeer oder durch die Behrings-Straße getrieben sein könnte?

– Sie haben Recht, Herr Lieutenant, antwortete Sergeant Long, bleiben wir beisammen, und soll ein Schiff unsere Rettung sein, nun, so steht uns Mac Nap's Fahrzeug zur Verfügung, und wenn wir am Cap Bathurst sind, haben wir wenigstens auf kein solches erst zu warten.«

Ohne sich in das Gespräch zu mischen, hatte Mrs. Paulina Barnett zugehört. Auch ihr erschien es einleuchtend, daß man bei der Unmöglichkeit des Zuges über das Eisfeld nur auf das Schiff des Zimmermanns rechnen könne, und unverzagt den Eintritt des Thauwetters abwarten müsse.

»Und Ihre Ansicht, Herr Hobson? fragte sie.

– Ist die, nach der Insel Victoria umzukehren.

– Rückwärts also, und stehe der Himmel uns bei!«

Das ganze Personal der Colonie wurde zusammen gerufen und ihm die Mittheilung gemacht, den Rückzug anzutreten.

[373] Der erste Eindruck der Worte Jasper Hobson's war natürlich kein allzu guter. Die armen Leute hatten so bestimmt gehofft, mit diesem Zuge über das Eis wieder heim zu kommen, daß ihre Enttäuschung fast an Verzweiflung grenzte. Dennoch erklärten sie sich so fort bereit, zu gehorchen.

Jasper Hobson unterrichtete sie ferner über das Resultat der Nachforschung, welche er eben angestellt hatte.

Er bewies ihnen, daß die Hindernisse sich nach Osten zu häuften, und daß es unter jeder Bedingung unthunlich sei, mit dem ganzen Material der Karawane hindurch zu dringen, das doch bei einer auf mehrere Monate berechneten Reise unentbehrlich erschien.

»Augenblicklich, fügte er hinzu, sind wir von jeder Verbindung mit der amerikanischen Küste abgeschnitten, und wenn wir trotz der größten Beschwerden es erzwingen wollten, weiter nach Osten vorzudringen, würden wir Gefahr laufen, nicht einmal wieder zur Insel zurück zu können, die doch unser letzter, unser einziger Zufluchtsort bleibt. Ueberraschte uns das Thauwetter noch auf dem Eisfelde, so wären wir rettungslos verloren. Ich verhehle Euch die Wahrheit nicht, meine Freunde, aber ich male auch nicht zu schwarz. Ich weiß, daß ich zu entschlossenen Männern spreche, welche ihrerseits überzeugt sind, daß ich nicht der Mann bin, vorzeitig zurück zu weichen; aber ich wiederhole: wir stehen hier vor der Unmöglichkeit!«

Die Soldaten bewahrten ein unerschütterliches Zutrauen zu ihrem Chef. Sie kannten seinen Muth, seine Energie, und wenn er aussprach, daß man nicht vor wärts könne, so war der Weg unbedingt unmöglich.

Man entschloß sich demnach zur Rückkehr nach Fort-Esperance, welche überdies unter den ungünstigsten Umständen vor sich ging. Das Wetter war geradezu abscheulich. Ein heftiger Wind jagte über das Eisfeld. Der Regen fiel in Strömen, und dazu stelle man sich die Schwierigkeit vor, sich oft in tiefer Dunkelheit durch dieses Labyrinth von Eisbergen zu winden!

Die kleine Gesellschaft brauchte nicht weniger als vier Tage und vier Nächte bis zur Ankunft bei der Insel. Mehrere Schlitten verunglückten sammt den Zugthieren in offenen Spalten. Doch hatte Lieutenant Hobson, Dank seiner Klugheit, das Glück, keinen seiner Leute zum Opfer fallen zu [374] sehen. Aber welche Mühe, welche Gefahren, welche Zukunft bot sich den Unglücklichen dar, die zu einer zweiten Ueberwinterung auf der schwimmenden Insel verurtheilt waren!

14. Capitel
Vierzehntes Capitel.
Die Wintermonate.

Nicht ohne die aufreibendsten Strapazen kamen Lieutenant Hobson und seine Begleiter am 28. November nach Fort-Esperance zurück! Jetzt bot ihnen also das Fahrzeug die einzig mögliche Rettung, und doch war von diesem vor Ablauf eines halben Jahres, d.h. erst wenn das Meer wieder eisfrei wurde, kein Gebrauch zu machen.

Man richtete sich also für den Winter ein. Die Schlitten wurden entladen, der Proviant wieder in den Speisekammern untergebracht und Kleidungsstücke, Waffen, Werkzeuge und Pelze an den zugehörigen Orten. Die Hunde kehrten in ihr »Dog-house«, die Rennthiere in ihren Stall zurück.

Auch Thomas Black mußte sich, obschon mit größtem Widerstreben, zu seiner Neueinrichtung bequemen. Der bedauerswerthe Sternseher brachte Instrumente, Bücher und Hefte nach seinem Zimmer zurück, in welchem er sich, mehr als je durch das »gegen ihn verschworene Mißgeschick« gereizt, wie vordem abschloß, und allen Vorkommnissen in der Factorei gegenüber fremd blieb.

Ein Tag reichte zur allgemeinen Wiederansiedelung hin, und dann begann jenes Vegetiren den Winter hin durch von Neuem, das bei seinem Mangel an Abwechselung den Bewohnern großer Städte ertödtend langweilig erscheinen würde.


Eine unterbrochene Schlittenbahn. (S. 372.)

Nadelarbeiten, die Instandhaltung der Kleidung, und selbst die Sorge um die Pelzfelle, von denen wenigstens ein Theil der kostbarsten seiner Zeit zu retten wäre, dann die Beobachtung der Witterung und des Eisfeldes, und endlich die Lectüre, bildeten die Beschäftigungen und Zerstreuungen [375] des Tages. Ueberall übernahm Mrs. Barnett die Führung und machte sich ihr wohlthätiger Einfluß geltend.


Ein erwünschter Fang. (S. 380.)

Wenn unter den Soldaten ja einmal eine leichte Mißstimmung herrschte, welche die aufregende Gegenwart und die ungewisse Zukunft ganz erklärlich machten, so wich sie schnell den begütigenden Worten Mrs. Barnett's. Die Reisende genoß ein weitreichendes Ansehen in dieser kleinen Welt, und gebrauchte dieses ausschließlich zum allgemeinen Besten.

[376] Kalumah hatte sich mehr und mehr an sie angeschlossen. Jeder liebte das junge Mädchen, das so sanft und dienstfertig war. Mrs. Paulina unterzog sich mit günstigstem Erfolge der Ausbildung derselben, denn ihre Schülerin war ebenso begabt als wißbegierig. Sie vervollkommnete Jene in der englischen Sprache, und lehrte sie lesen und schreiben. Hierin unterstützten Kalumah auch zehn andere Lehrer, denn unter allen anwesenden in den englischen Colonien oder dem Mutterlande selbst erzogenen Soldaten befand sich Keiner außer Besitz dieser Fähigkeiten.

[377] Der Fortbau des Schiffes wurde eifrig betrieben, da es baldigst ganz mit Seitenwänden und Verdeck versehen sein sollte. Bei der herrschenden Dunkelheit arbeitete Mac Nap mit seinen Werkleuten sogar bei dem Scheine von Harzfackeln, während die Uebrigen in den Magazinen der Factorei mit Herstellung der Takelage beschäftigt waren. Trotz der vorgeschrittenen Saison blieb die Witterung immer schwankend. Trat auch einmal ein lebhafterer Frost ein, so hielt dieser doch nicht an, was wohl den vorherrschenden westlichen Winden zuzuschreiben sein mochte.

So verlief der ganze December; bei abwechselndem Regen und Schnee bewegte sich die Temperatur zwischen - 3° und + 1° auf und ab. Brennmaterial wurde nur wenig verbraucht, trotzdem man bei den reichen Vorräthen keine Veranlassung hatte, etwa damit zu geizen. Zum Unglück stand es mit der Beleuchtung nicht ebenso gut. Das Oel drohte auszugehen, und mußte Jasper Hobson sich entschließen, die Lampe täglich nur wenige Stunden lang zu brennen. Wohl versuchte man auch, Rennthierfett zur Beleuchtung des Hauses zu verwenden, doch ließ der abscheuliche dabei auftretende Geruch bald wieder davon absehen, so daß man es vorzog, im Dunkeln zu sitzen. Dann mußten die Arbeiten natürlich eingestellt werden, und langsam schleppten sich die Stunden dahin.

Mehrere schöne Nordlichter und zwei bis drei Nebenmonde zur Zeit des Vollmondes schmückten wohl dann und wann den Himmel. Thomas Black hätte zwar die schönste Gelegenheit gehabt, diese Meteore mit peinlichster Sorgfalt zu beobachten, ihre Intensität, Färbung und Beziehungen zur Luftelektricität nebst deren Einfluß auf die Magnetnadel zu bestimmen u. dergl. m. – aber der Astronom blieb in sein Zimmer gebannt, sein Geist schien auf Irrwege gerathen zu sein.

Am 30. December gestattete der helle Mondschein zu erkennen, wie eine lange Bogenlinie von Eisbergen im Norden und Osten der Insel Victoria den Horizont begrenzte. Das war das Packeis, dessen einzelne Schollen sich über einander thürmten. Die Höhe dieses Walles mochte zwischen drei- bis vierhundert Fuß betragen. Schon zu zwei Dritttheilen umschloß derselbe die Insel, und drohte sich auch noch weiter fortzusetzen.

In der ersten Woche des Januar zeichnete sich der Himmel durch eine seltene Klarheit aus. Das neue Jahr – 1861 – hatte sich mit strengerem Froste eingeführt, und die Quecksilbersäule sank bis auf 13 1/3° unter Null [378] die bis jetzt beobachtete niedrigste Temperatur dieses seltsamen Winters, und doch war auch diese Kälte für eine so hohe Breite nicht sonderlich bedeutend zu nennen.

Lieutenant Hobson glaubte Veranlassung nehmen zu sollen, die Längen und Breitenlage der Insel mittels Sternbeobachtungen auch jetzt noch einmal aufzunehmen, überzeugte sich dabei aber nur, daß diese vollkommen unverändert geblieben sei.

Trotz aller Sparsamkeit ging das Oel nun vollkommen zur Neige, und doch sollte die Sonne vor den ersten Tagen des Februar nicht wieder zum Vorschein kommen. Für die Zeit eines Monates wären die Ueberwinternden also zum Ausharren in kaum unterbrochener Dunkelheit verdammt gewesen, wenn das für die Lampen nöthige Leuchtmaterial nicht, Dank der jungen Eskimodin, einen erträglichen Ersatz gefunden hätte.

Es war am 3. Januar. Kalumah betrachtete vom Fuße des Cap Bathurst aus eben das Eisfeld. Nach Norden zu sah sie es völlig compact. Die dasselbe zusammensetzenden Schollen waren besser an einander geschoben, und ließen keinerlei eisfreien Zwischenraum übrig. Jedenfalls rührte das von dem enormen Drucke des Packeises her, das von Norden anrückend den Raum zwischen sich und der Insel fortschreitend eingeengt hatte.

Statt der Spalten und Risse fielen dem jungen Mädchen dagegen mehrere im Eise scharf ausgeschnittene kreisrunde Löcher in's Auge, deren Bedeutung ihr nicht fremd war. Es waren das Robbenlöcher, d.h. Oeffnungen, deren Zufrieren die unter der Eiskruste sich aufhaltenden Amphibien sorgsam zu verhüten wissen, durch welche sie hindurch schlüpfen, um Luft zu schöpfen und unter dem Schnee nach den Moosen des Küstenlandes zu suchen.

Kalumah wußte, daß die Bären während des Winters diese Löcher geduldig besetzen, den Moment abpassen, wenn die Amphibien daraus hervortauchen, und sie mit ihren Tatzen umklammern, ersticken und dann davonschleppen. Die Eskimos verfahren mit derselben Bärengeduld, werfen ihnen dagegen beim Auftauchen eine Schlinge über und überwältigen sie so mit leichter Mühe.

Was aber Bären und Eskimos zu Stande brachten, mußten geschickte Jäger wohl auch können, und da jene Löcher einmal vorhanden, war ihre Benutzung seitens der Robben auch außer Zweifel. Robben waren jetzt aber gleichbedeutend mit Oel, mit Licht, das der Factorei so fühlbar mangelte.

[379] Kalumah eilte zum Fort zurück und benachrichtigte Jasper Hobson, der den beiden Jägern Marbre und Sabine weiteren Auftrag ertheilte. Die junge Eingeborene belehrte Letztere über die Methode der Eskimos, Robben zur Winterszeit zu fangen, und schlug ihnen vor, diese zu probiren.

Sie hatte kaum ausgeredet, so war schon ein tüchtiger Strick mit einer Schlinge bereit. Lieutenant Hobson, Mrs. Paulina Barnett, die beiden Jäger und einige andere Soldaten begaben sich nach Cap Bathurst, und während die Frauen am Ufer zurückblieben, schlichen sich die Männer kriechend nach den bezeichneten Oeffnungen, an welchen sie, Jeder mit einer Schlinge ausgerüstet, auf der Lauer blieben.

Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Wohl eine Stunde verging ohne ein Vorzeichen für die Annäherung der Amphibien. Endlich kam das Wasser in einem der Löcher, – an dem Marbre auf dem Anstand lag, – in Bewegung. Ein mit langen Hauern bewaffneter Kopf tauchte empor. Geschickt warf Marbre seine Schlinge über denselben und zog sie aus Leibeskräften zu. Die Uebrigen liefen zu Hilfe herzu, und nicht ohne Mühe wurde ein großes Walroß trotz seines Widerstrebens auf das Eis herausgezogen, wo es einigen Beilhieben bald erlag.

Der Erfolg machte lüstern, so daß die Bewohner von Fort-Esperance dieser neuen Art von Fischerei Geschmack abgewannen, und noch weitere Walrosse einsingen. Dieselben lieferten reichliches Oel, wenn auch nur einen thierischen und keinen pflanzlichen Brennstoff; doch eignete sich auch dieser für die Lampen, und fehlte nun den Arbeiterinnen und Arbeitern im großen Saale die Beleuchtung nicht weiter.

Die Kälte nahm noch immer nicht zu. Hätte sich die kleine Colonie auf dem Festlande befunden, sie würde sich beglückwünscht haben, den Winter unter so besonders günstigen Bedingungen zuzubringen Dazu schützte die hohe Schollenwand gegen die Nord- und Westwinde. Auch der Januar verlief bei einer sehr erträglichen Temperatur von wenigen Graden unter dem Gefrierpunkte.

Eben diese Milde des Winters hatte es aber auch nothwendig zur Folge, daß das Meer im Umkreise der Insel Victoria nicht vollkommen fest wurde. Daß dasselbe nicht überall bedeckt, sondern vielfach mit mehr oder weniger bedeutenden Rissen und Spalten bedeckt sein mußte und noch keinen Uebergang gestattete, ersah man auch aus der noch immer andauernden Anwesenheit [380] der Pelzthiere und anderer, welche bei ihrem langen Herumschwärmen um Fort-Esperance halb zahm geworden waren und mehr einen Theil des Hausthierbestandes der Factorei auszumachen schienen.

Nach dem Befehle des Lieutenants schonte man diese Thiere, deren Tod ja ganz nutzlos gewesen wäre, auch ferner; nur Rennthiere wurden des frischen Fleisches wegen zur Abwechselung in der Speisekarte dann und wann erlegt. Alle eigentlichen, und auch die kostbarsten Pelzthiere ließ man in Ruhe. Einige verliefen sich sogar in den umzäunten Platz hinein, aber man hütete sich auch hier, sie zu jagen. Zobelmarder und Füchse sahen in ihrer Winterkleidung wahrhaft prächtig aus und repräsentirten einen hohen Werth. In Folge der gemäßigten Temperatur fanden diese Nagethiere leicht die gewünschte Nahrung an Moosen u. dergl. unter der nur dünnen und weichen Schneedecke, und hatten keine Veranlassung, die Vorräthe der Factorei zu bestehlen.

Nicht ohne Besorgniß erwartete man so das Ende des Winters in jener eintönigen Lebensweise, in die Mrs. Paulina Barnett auf jede mögliche Weise eine Abwechselung zu bringen suchte.

Nur ein einziger betrübender Vorfall zeichnete den Monat Januar aus: am 7. verfiel das Kind des Zimmermannes Mac Nap einem heftigen Fieber. Starke Kopfschmerzen, brennender Durst, Frostschauer und Hitzeperioden hatten das kleine Wesen bald in einen traurigen Zustand versetzt. Die Verzweiflung seiner Eltern und ihrer Freunde wird man sich leicht vorstellen können. Bei der Unkenntniß der Natur der Krankheit war auch guter Rath theuer, indessen verlor Madge, die sich auf derlei Dinge etwas verstand, den Kopf nicht, sondern ließ den kleinen Kranken mit erquickenden Theeaufgüssen und warmen Umschlägen behandeln. Kalumah schien sich zu verdoppeln und brachte Tage und Nächte bei dem Kinde zu, ohne sich selbst einen Augenblick Ruhe zu gönnen.

Am dritten Tage löste sich jeder Zweifel über die Krankheit, als sich die Haut des kleinen Kranken mit einem charakteristischen Ausschlage überzog. Er entstammte einem bösartigen Scharlach, der gewöhnlich mit einer Entzündung innerer Organe einhergeht.

Selten nur werden einjährige Kinder von dieser furchtbaren Affection in so heftiger Weise befallen, indeß kommt es doch bisweilen vor. Zum Unglück war die Apotheke der Factorei eine sehr lückenhafte. Jedenfalls kannte Madge, in Folge der Pflege verschiedener Scharlachkranker, die Wirksamkeit der[381] Belladonna-Tinctur. Sie reichte dem Kinde täglich ein bis zwei Tropfen und hütete es sorgfältig vor der freien Luft.

Den kleinen Kranken hatte man in das Zimmer gebracht, das dessen Vater und Mutter bewohnten. Bald stand der Ausschlag in voller Blüthe und brachen auf der Zunge, den Lippen und selbst auf dem Augapfel kleine rothe Erhöhungen hervor. Schon zwei Tage nachher entfärbten sich jedoch die ergriffenen Hauptpartieen, wurden weiß und schuppten sich hierauf ab.

Immerhin war jetzt eher noch größere Vorsicht nöthig, um die innere Entzündung, welche die Bösartigkeit der Erkrankung kennzeichnete, zu bekämpfen. Nichts wurde vernachlässigt, und erfreute sich das kleine Wesen der liebevollsten, sorgsamsten Pflege. Am 20. Januar, zwölf Tage nach dem Eintritt der Krankheit, durfte man mit Gewißheit auf einen günstigen Verlauf rechnen.

Das war eine Freude in der Factorei! Jenes Baby war ja das Kind des Forts, das Kind der Truppe, das Kind des Regimentes in diesem rauhen Klima, mitten unter den wackeren Leuten geboren. Michael Esperance hatten sie es getauft, und betrachteten es bei allen ihren Prüfungen als Talisman, den ihnen Gott nicht werde rauben wollen. Kalumah wäre über den Tod des Kindes wohl mit zu Grunde gegangen, doch genas der kleine Michael allmälig, und zog damit neue Hoffnung in Aller Herzen ein.

So war unter Angst und Unruhe der 23. Januar herangekommen ohne irgend welche Veränderung in dem Zustande der Insel Victoria. Noch lagerte die endlose Nacht über dem Polarmeere. Einige Tage hindurch fiel reichlicher Schnee, der sich auf dem Boden der Insel, wie auf dem Eisfelde, bis zwei Fuß aufhäufte.

Am 27. bekam das Fort einen sehr unerwarteten Besuch. Die vor der Umzäunung Wache haltenden Soldaten Belcher und Pen bemerkten am Morgen einen riesigen Bär, der sorglos auf die Ansiedelung zutrabte. Sie zogen sich in das Hauptgebäude zurück und meldeten der Mrs. Paulina Barnett die Annäherung des gefürchteten Raubthieres.

»Das kann nur unser Bär sein!« sagte die Reisende zu Jasper Hobson, und Beide liefen, gefolgt vom Sergeanten, Sabine und mehreren bewaffneten Soldaten, nach dem Außenthore.

Gegen zweihundert Schritte davor kam der Bär in ruhigem Schritte daher, als verfolge er entschlossen einen wohldurchdachten Plan.

[382] »Ich erkenne ihn wieder, rief Mrs. Paulina Barnett. Das ist Dein Bär, Kalumah, Dein Retter!

– O tödten Sie mir meinen Bären nicht! flehte die junge Eingeborene.

– Es soll ihm Nichts geschehen, antwortete Lieutenant Hobson. Laßt ihn in Ruhe, meine Freunde, vielleicht geht er ebenso wieder von dannen, wie er gekommen war.

– Wenn er aber in den Hof einzudringen suchte ... warf Sergeant Long ein, der dem guten Herzen eines Polarbären nicht weit traute.

– Lassen Sie ihn getrost hinein, Sergeant, tröstete Mrs. Paulina Barnett; dieses Thier hat seine ganze Wildheit abgelegt. Es ist Gefangener, so wie wir, und Gefangene, das wissen Sie ...

– Thun einander Nichts zu Leide! setzte Jasper Hobson ihre Worte fort, das ist wenigstens dann wahr, wenn sie von gleicher Art sind. Dennoch wollen wir Jenem auf Ihre Empfehlung hin Schonung angedeihen lassen und werden uns nur, wenn er angreift, vertheidigen müssen. Immerhin halte ich es für geboten, in's Haus zurückzukehren; man darf solche Raubthiere nicht in Versuchung führen!«

Der Rath war gut, und Alle gingen hinein. Die Thüren wurden verschlossen, doch die Fensterläden offen gelassen.

Durch die Scheiben konnte man demnach beobachten, was der Besucher vornahm. Als der Bär zu dem nicht verriegelten Thore gelangte, schob er die Flügel langsam zurück, steckte den Kopf hindurch, recognoscirte den Hofraum, und trat dann hinein. In der Mitte desselben stehend, betrachtete er die Baulichkeiten rings umher, lief nach dem Rennthier- und dem Hundestalle, lauschte einen Augenblick brummend auf das Knurren der Hunde, die ihn gewittert hatten, und auf den Schrei der Rennthiere, die sich nicht sicher fühlten, setzte dann seine Inspection längs der Palissaden fort, kam an das Hauptgebäude, und mit seinem großen Kopfe vor eines der Fenster des Hauptsaales.

Um offen zu sein, muß man gestehen, daß Alle zurückwichen, einige Soldaten die Gewehre ergriffen und Jasper Hobson zu der Ansicht kam, daß er den Scherz wohl zu weit habe treiben lassen.


Auch ein Neugieriger! (S. 383.)

Da drängte sich Kalumah's zarte Gestalt vor das Fenster. Der Bär schien sie, wenigstens nach der Ansicht der jungen Eingeborenen, wieder zu [383] erkennen, denn nachdem er ein Brummen der Befriedigung hatte hören lassen, schlug er den Weg nach dem Thore wieder ein und ging, wie es Jasper Hobson vorhergesagt, ruhig von dannen.

Das war das einzige weitere Ereigniß, nach welchem die Dinge wieder ihren gewöhnlichen Lauf nahmen.

Die Genesung des Kindes machte weitere Fortschritte, und in den letzten Tagen des Monates hatte es schon seine runden Bäckchen und munteren Augen wieder.

[384] Am 3. Februar färbte sich zu Mittag der südliche Horizont etwas heller, und stieg eine gelbliche Scheibe einen Augenblick darüber auf. Das war das Gestirn des Tages, welches nach der langen Polarnacht zum ersten Male wieder aufging!

15. Capitel
Fünfzehntes Capitel
Ein letzter Ausflug.

Von jetzt ab stieg die Sonne Tag für Tag höher über den Horizont hinaus. Wenn die lange Nacht aber auch für einige Stunden unterbrochen wurde, so nahm doch die Kälte dabei zu, wie das ja im Februar häufig beobachtet wird, und das Thermometer zeigte - 17°, die niedrigste in diesem seltsamen Winter aufgetretene Temperatur.

»Wann beginnt in diesen Meeren wohl das Thauwetter? fragte da einmal die Reisende den Lieutenant Hobson.

– In gewöhnlichen Jahren, Madame, antwortete Dieser, findet der Eisbruch in den ersten Tagen des Mai statt; nach einem so milden Winter, wie dem gegenwärtigen, könnte das aber, wenn nicht noch eine Periode strengen Frostes dazwischen tritt, schon Anfangs April geschehen, – wenigstens nach meiner Beurtheilung der einschlagenden Verhältnisse.

– Demnach hätten wir also noch zwei Monate lang zu warten?

– Mindestens noch zwei Monate, Madame, da es räthlich erscheint, unsere Einschiffung nicht zu übereilen, und ich denke, wir werden die meiste Aussicht auf glücklichen Erfolg haben, wenn wir den Zeitpunkt abwarten können, in dem die Insel sich in der engsten nur etwa hundert Meilen breiten Stelle der Behrings-Straße befinden wird.

– Was sagen Sie da, Herr Jasper? entgegnete die Reisende, erstaunt über diese Erklärung des Lieutenants. Haben Sie denn ganz vergessen, daß wir von dem nach Norden abfließenden Kamtschatka-Strome hierher geführt [385] wurden, daß dieser uns mit Eintritt des Thauwetters wieder erfassen und möglicher Weise noch weiter hinauf verschlagen wird?

– Das denke ich nicht, Madame, antwortete Lieutenant Hobson; ja, ich möchte gerade das Gegentheil behaupten. Der Eisgang vollzieht sich immer in der Richtung von Norden nach Süden, mag nun der Kamtschatka-Strom sich zu der Zeit umkehren oder das Eis dem Behrings-Strome verfallen, oder auch ein anderer mir unbekannter Grund dafür vorliegen. Unabänderlich treiben aber die Eisberge alle nach der Behrings-Straße zu und schmelzen endlich in den wärmeren Fluthen des Pacifischen Oceans. Fragen Sie Kalumah darüber. Sie kennt diese Meere und wird Ihnen meine Aussage bezüglich der Aufeinanderfolge des Thauwetters bestätigen.«

Die herbeigerufene Kalumah bezeugte die Worte des Lieutenants. Man hatte demnach zu erwarten, daß die Insel in den ersten Tagen des April gleich einer großen Eisscholle nach Süden, und damit nach der schmalsten Stelle der Behrings-Straße treiben würde. Letztere aber befahren sowohl Fischer aus Neu-Archangel häufig, als auch Lootsen und Küstenschiffer. Brachte man indeß alle leicht möglichen Verzögerungen bei Berechnung der Zeit in Anschlag, welche diese Rückfahrt nach Süden wohl erfordern mochte, so durfte man vor Anfang Mai nicht darauf rechnen, das Festland zu betreten. Obgleich die Kälte übrigens nicht intensiv gewesen war, so mußte doch die Insel insofern haltbarer geworden sein, als sie durch Eisanlagerung von unten her gewiß an Dicke zugenommen hatte, so daß man auf ihr Ausdauern während mehrerer Monate rechnen konnte.

Die Ueberwinterer mußten sich also in Geduld fassen und ruhig die Zukunft abwarten.

Die Genesung des kleinen Kindes machte weitere Fortschritte. Am 20. Februar kam es nach vierzigtägiger Krankheit zum ersten Male wieder an die Luft, d.h. es trippelte von dem Zimmer seiner Eltern nach dem allgemeinen Saale hinüber, wo es von Zärtlichkeiten überhäuft wurde. Seine Mutter, die es schon mit Vollendung des ersten Lebensjahres entwöhnen wollte, that das auf Madge's Zureden nicht, und so erlangte es, nur abwechselnd Rennthiermilch genießend, bald seine vollen Kräfte wieder. Tausenderlei Spielsachen hatten die freundlichen Soldaten während seiner Krankheit hergestellt, und selbstverständlich war es dabei das glücklichste Baby von der Welt.

[386] Die letzte Februarwoche zeichnete sich durch außerordentlichen Regen- und Schneefall aus, bei kräftigem Winde aus Südwesten. Bei der niedrigen Temperatur einzelner Tage lagerte sich wieder fußhoher Schnee ab. Dabei wuchs der Wind zum Sturme. Von Cap Bathurst und der Packeismauer her erklang das Heulen des Sturmes wahrhaft betäubend, dazu stürzten an einander geworfene Eisberge mit donnerähnlichem Krachen zusammen, und ein unsichtbarer Druck häufte im Norden die Schollen an das Ufer der Küste. Es stand selbst zu befürchten, daß das Cap, – eigentlich doch auch eine Art mit Sand und Erde überdeckter Eisberg, niedergeworfen würde. Zum Glücke für die Factorei leistete es jedoch aushaltenden Widerstand und schützte die Baulichkeiten vor vollkommener Zerstörung.

Man sieht leicht ein, wie höchst gefährlich sich die einstige Lage der Insel an der engen Meeresstraße gestalten mußte, vor welcher das Eis sich staute. Sie konnte dort von einer horizontalen Lawine, wenn man so sagen darf, zerdrückt, von den aus der offenen See herantreibenden Eisschollen zersprengt werden, bevor sie in den Abgrund zu versinken drohte. Hierin lag eine neue, zu den übrigen noch hinzutretende Gefahr. Als Mrs. Paulina Barnett die furchtbare Kraft des Eisdruckes und die unwiderstehliche Gewalt sah, die jene Berge über einander thürmte, wurde ihr klar, wie bedrohlich das erwartete Thauwetter für die Insel werden mußte. Sie sprach davon mehrmals gegen Lieutenant Hobson; doch dieser zuckte nur mit den Achseln, wie Jemand, der nicht antworten will oder es auch nicht kann.

In den ersten Tagen des März legte sich der Sturm vollkommen und konnte man nun die an dem Eisfelde eingetretenen Veränderungen übersehen. In der That schien es, als ob die Packeismauer über die Oberfläche des Eises hinweg gleitend sich der Insel Victoria genähert habe. An manchen Stellen kaum noch zwei Meilen von letzterer entfernt, ähnelte sie in gewisser Hinsicht den Gletschern, nur mit dem Unterschiede, daß diese herabsinken, während jene nur vorwärts schritt.

Der Boden, oder vielmehr das Eisfeld zwischen der hohen Mauer und der Küste mit seiner krampfhaften Umwälzung, den starrenden Spitzhügeln, zerbrochenen Eisnadeln, gestürzten Stämmen und eingesunkenen Pyramiden, dazu seiner wellenförmigen Grundfläche, – das Bild eines während des tollsten Sturmes verzauberten Meeres, – war gar nicht wieder zu erkennen. Man hätte die Ruinen einer zerstörten Stadt, in der kein Stein auf dem [387] anderen geblieben war, zu sehen geglaubt. Nur die hohe, wunderbar geschnittene Packeismauer mit ihren himmelan strebenden Kegeln, Kuppeln und Kämmen und ihren spitzigen Pics erhielt sich unverändert, und umschloß das pittoreske Gewühl mit erhabenem Rahmen.

Um diese Zeit kam das Fahrzeug zur Vollendung. Trotz ihrer etwas plumpen Form, bei der es indeß bewenden mußte, machte die Schaluppe ihrem Baumeister alle Ehre und versprach mit ihrem gallionenförmigen Vordertheile dem Stoße des Eises desto besser zu widerstehen. Sie ähnelte etwas jenen holländischen Barken, welche sich weit in die nördlichen Meere hinauf wagen. Ihre Takelage bestand, wie die eines Kutters, aus Fockmast und Klüverbaum, die Zeltleinwand der Factorei war zu den Segeln verwendet worden.

Das Schiff vermochte die ganze Bewohnerschaft der Insel Victoria bequem aufzunehmen und voraussichtlich, wenn die Insel der Erwartung gemäß nach der Behrings-Enge zu trieb, auch die größte Entfernung bis zur amerikanischen Küste leicht zu durchschneiden. Nur mußte eben das Thauwetter abgewartet werden.

Da kam dem Lieutenant Hobson der Gedanke, zum Zwecke der Recognoscirung des Eisfeldes eine ausgedehnte Expedition nach Südosten zu unternehmen, welche mit dazu dienen sollte, etwaige Vorzeichen der Auflösung zu finden, die eigentliche Schollenwand selbst zu beobachten und aus dem thatsächlichen Zustande des Meeres zu ersehen, ob noch jeder Weg nach dem amerikanischen Continente versperrt sei. Mancherlei Ereignisse und Unfälle konnten ja noch statt haben, bevor der Eisbruch das Meer wieder frei legte, und so erschien diese vorzunehmende Besichtigung als ein Gebot der Klugheit.

Die Expedition wurde also beschlossen und auf den 7. März festgesetzt. Die Theilnehmer an derselben bestanden aus Lieutenant Hobson, der Reisenden, Kalumah nebst Marbre und Sabine. Wenn ein Weg ausfindig zu machen war, wollte man auch die Packeiswand überschreiten; jedenfalls sollte die Abwesenheit vom Fort nicht länger als achtundvierzig Stunden währen.

Der nöthige Proviant wurde mitgenommen, und am Morgen des 7. verließ das für jeden Zufall wohl bewaffnete kleine Detachement Fort-Esperance in der Richtung nach dem Cap Michael.

Das Thermometer stand auf dem Gefrierpunkte. Die Luft war etwas [388] dunstig, aber ruhig. Sieben bis acht Stunden lang beschrieb die Sonne ihren Tagesbogen über dem Horizonte und durchblitzten ihre schrägen Strahlen mit hinreichendem Lichte die Massen des Eises.

Nach kurzer Rast stiegen Lieutenant Hobson und seine Begleiter gegen neun Uhr den Abhang am Cap Michael hinab und schritten in südöstlicher Richtung über das Eisfeld. Von dieser Seite war die Eiswand etwa drei Meilen entfernt.

Selbstverständlich ging es nur langsam vorwärts. Fortwährend mußte man entweder eine tiefe Spalte oder einen unübersteiglichen Spitzhügel umwandern. Auf dem unebenen Wege hätte ein Schlitten sich gar nicht verwenden lassen. Jener bestand nur aus einer chaotischen Anhäufung von Blöcken jeder Gestalt und Größe, von denen sich nicht wenige nur noch durch ein Wunder im Gleichgewicht hielten. Andere waren erst neuerdings zusammen gestürzt, wie man an ihren frischen, glatten Bruchstellen sah. Aber nirgends zeigte sich die Spur eines Menschen oder Thieres in diesem Gewirr! Kein lebendes Wesen athmete in diesen selbst von den Vögeln verlassenen Einöden!

Verwundert fragte Mrs. Paulina Barnett, wie man bei einer Abfahrt im December wohl dieses durcheinander gewürfelte Eisfeld habe überschreiten wollen; doch machte sie Jasper Hobson darauf aufmerksam, daß jenes zur erwähnten Zeit ein ganz anderes Aussehen geboten hätte. Wegen des damals noch nicht wirksamen enormen Druckes durch das Packeis müßte die Oberfläche verhältnißmäßig eben gewesen sein, und lag das einzige Hinderniß der Reise nur in der mangelhaften Verbindung der Schollen, und nirgends anders.

Inzwischen näherte man sich dem hohen Walle, wobei Kalumah der kleinen Truppe fast immer voraus war. Mit sicherem Schritte wandelte die lebhafte und leichtfüßige Eingeborene mitten durch die Eisblöcke. Ohne Zaudern und ohne Irrthum schlug sie, wie durch Instinct geleitet, immer den gangbarsten Weg in diesem Labyrinthe ein. Sie lief ab und zu, und ihren Weisungen konnte man vertrauensvoll nachgehen.

Gegen Mittag war die ausgedehnte Basis der Packeiswand zwar erreicht, doch hatten die drei Meilen bis dahin nicht weniger als drei Stunden beansprucht.

Welch' imposante Masse bildete diese Eismauer, deren einzelne Gipfel [389] über vierhundert Fuß hoch aufstiegen! Deutlich hoben sich die Schichten, aus denen sie bestand, von einander ab, und ihre Wände waren mit den zartesten Farbenschattirungen geschmückt. Bald irisirend, bald jaspisartig gestreift, erschien sie wie mit Arabesken bedeckt und mit einzelnen Glanzpunkten durchsetzt. Vergeblich würde der ein passendes Bild zur Vergleichung suchen, der die Eiswand jemals in ihrer Erhabenheit erblickte, wie sie auf einer Stelle trübe, auf der anderen durchscheinend durch wechselndes Licht und Schatten in den wunderbarsten Reflexen spielte.

Wohl mußte man aber vorsichtig eine zu große Annäherung an diese lockenden Eismassen, deren Zusammenhalt sehr fraglich erschien, vermeiden. An dem fortwährenden Knistern und Krachen ihres Inneren erkannte man die geheime Arbeit des Thauwetters. Eingeschlossene und jetzt sich ausdehnende Luftblasen sprengten ihre Wände, und man ersah daraus den vergänglichen Charakter dieser Eisbauwerke, welche den arktischen Winter nicht überleben und den Strahlen der jungen Sonne unterliegen sollten, um die Quelle ganz ansehnlicher Ströme zu werden.

Lieutenant Hobson hatte seine Begleiter ernsthaft vor der Gefahr der Eislawinen gewarnt, die jeden Augenblick von der Höhe der Schollenwand herabstürzten. Die kleine Gesellschaft zog deshalb auch nur in gemessener Entfernung von dem Fuße derselben hin. Wie weise diese Vorsicht war, sollten sie bald erfahren, als sich gegen zwei Uhr an dem Eingange eines Thales, das die Wanderer zu durchziehen beabsichtigten, ein ungeheurer Block von mehr als hundert Tonnen Gewicht loslöste und mit Donnerkrachen auf das Eisfeld herabstürzte. Zersplitternd brach es unter diesem Stoße, und thurmhoch spritzte das Wasser ringsum auf. Zum Glücke wurde Niemand von den abgesprengten Stücken des Blockes getroffen, als er wie eine Bombe zerplatzte.

Von zwei bis fünf Uhr folgte man einem engen, gewundenen, weit in das Innere hinein verlaufenden Thale. Ob es die ganze Packeismauer durchsetzte, ließ sich zwar vorher nicht entscheiden, doch gestattete es einen belehrenden Einblick in die innere Structur derselben. Schollen und Blöcke erschienen hier mehr in Ordnung auf einander gelagert, als an der Außenseite. An manchen Stellen fand man Baumstämme im Eise eingeschlossen, die aber nicht arktischen Baumarten, sondern solchen aus der Tropenzone angehörten. Offenbar hatte sie der Golfstrom hier hinauf getragen, wo sie, [390] vom Froste gefesselt, mit dem Eise den Rückweg nach dem wärmeren Oceane antraten. Auch Schiffskielstücke und andere Trümmer fehlten dazwischen nicht.

Gegen fünf Uhr zwang die eingetretene Dunkelheit, den Weitermarsch aufzugeben, nachdem man in dem Thale gegen zwei Meilen zurück gelegt hatte, ohne in Folge der Windungen desselben die Entfernung in gerader Linie abschätzen zu können.

Jasper Hobson ließ nun halten. In Zeit von einer halben Stunde arbeiteten Marbre und Sabine mittels der Schneemesser eine Höhle im massiven Eise aus, in welche Alle hinein schlüpften, ihr Nachtmahl verzehrten, und in Folge der Anstrengung durch den Weg sehr bald sanft entschlummerten.

Um acht Uhr früh war Alles auf den Füßen, und schlug Jasper Hobson wieder den Weg längs des Thales ein, um sich zu überzeugen, ob dieses nicht die ganze Breite der Eismauer durchziehe. Dem Stande der Sonne nach veränderte sich die Richtung desselben nach Nordosten in die nach Südosten.

Um elf Uhr stiegen Lieutenant Hobson und seine Begleiter an der anderen Seite der Eismauer hinab. Unzweifelhaft war hier also ein Durchgang vorhanden.

Die ganze Ostseite des Eisfeldes bot den nämlichen Anblick wie die Westseite, dasselbe Chaos von Schollen, dieselbe Zerklüftung durch Blöcke, Eisberge und Spitzhügel so weit das Auge reichte, da und dort durch kleine ebene Flächen unterbrochen oder durch offene Spalten, deren Ränder schon wegthauten, getrennt. Sonst gähnte überall dieselbe Wüstenei, dieselbe Verlassenheit den Beschauern entgegen. Kein lebendes Geschöpf war in dieser Einöde sichtbar!

Eine Stunde lang verweilte Mrs. Paulina Barnett auf einem Spitzhügel, versunken in den trostlosen Anblick dieser Polar-Landschaft. Wieder kam ihr unwillkürlich die vor fünf Monaten versuchte Abreise in den Sinn, und vor ihren Augen erschien das ganze Personal der Colonie als traurige Karawane, wie sie durch Nacht und Frost inmitten solcher Eiswüsten und bedroht von lauernden Gefahren sich nach dem Festlande Amerikas zu retten suchte!

Jasper Hobson weckte sie endlich aus ihrer Träumerei.

»Madame, sagte er, wir sind nun über vierundzwanzig Stunden von dem [391] Fort weg, und kennen den Durchmesser dieser Eisbank. Unserem Versprechen gemäß wollten wir nicht über achtundvierzig Stunden ausbleiben; demnach, denke ich, ist es Zeit, den Rückweg anzutreten.«


Beim Bruch eines Eisberges. (S. 390.)

Mrs. Paulina Barnett widersprach nicht. Der Zweck des Ausflugs war ja erreicht worden. Die Packeiswand von mittelmäßigem Durchmesser versprach sich bald zu lösen und Mac Naps Schiffe ein freies Fahrwasser zu eröffnen. Der baldige Antritt der Heimkehr empfahl sich auch noch deshalb, [392] weil ein etwaiger Witterungswechsel mit Schneewehen den Zug durch das Thal unendlich erschweren mußte.


»Ich denke, es ist Zeit, den Rückweg anzutreten.« (S. 392.)

So brach man nach eingenommenem Frühstück um ein Uhr wieder auf. Um fünf Uhr lagerte man sich, wie am Tage vorher, in einer Eishöhle, und nach der ohne Zwischenfall verbrachten Nacht gab Lieutenant Hobson am 9. März früh um acht Uhr Befehl zum Weiterziehen.

Schon glänzte bei klarem Himmel die Sonne über der Eismauer und [393] grüßte die Sohle des Thales mit einzelnen Strahlen. Jasper Hobson und seine Begleiter wandten ihr, da sie nach Westen zogen, den Rücken, und doch trafen jene Strahlen ihre Augen, da jene sich an den kreuz und quer gelagerten Schollen tausendfach wiederspiegelten.

Mrs. Paulina Barnett und Kalumah blieben plaudernd und umherschauend eine Strecke zurück und folgten der schmalen Fußspur Marbre's und Sabine's. Man gab sich der Hoffnung hin, die Eisbank bis Mittag zu durchwandern und noch die drei Meilen bis zur Insel Victoria zurück zu legen. So mußte die kleine Gesellschaft vor Sonnenuntergang im Fort eintreffen, und konnten ihre Gefährten wegen der wenigen Stunden Verspätung nicht besonders beunruhigt sein.

Hierbei rechnete man jedoch ohne einen Zwischenfall, den allerdings keine menschliche Vorsicht hätte ahnen können.

Es mochte gegen zehn Uhr sein, als Marbre und Sabine, die etwa zwanzig Schritte voraus waren, plötzlich stehen blieben. Sie schienen über Etwas nicht einig zu werden. Als die Uebrigen nachkamen, sahen sie, wie Sabine, die Boussole in der Hand, diese seinem Kameraden wies, der sie mit sprachlosem Erstaunen betrachtete.

»Das ist doch ein närrisches Ding, wendete sich dieser an Lieutenant Hobson. Könnten Sie mir sagen, Herr Lieutenant, auf welcher Seite der Eisbank die Insel Victoria eigentlich liegt? Im Westen oder Osten?

– Natürlich im Westen, antwortete Jasper Hobson, verwundert über diese Frage.

– Ja, das weiß ich zwar auch, versetzte Marbre, den Kopf schüttelnd. Wenn das aber der Fall ist, sind wir auf falschem Wege, und kommen immer weiter von ihr ab.

– Was! Wir entfernten uns von ihr? fragte der Lieutenant, den der überzeugte Ton des Jägers stutzig machte.

– Gewiß, Herr Lieutenant! Hier, sehen Sie nach der Boussole, und ich will nicht Marbre heißen, wenn wir ihrer Angabe nach nicht nach Osten, statt nach Westen marschiren.

– Das ist unmöglich, warf die Reisende ein.

– Ueberzeugen Sie sich selbst, Madame«, antwortete Sabine.

Wirklich wies die Magnetnadel nach einer der angenommenen ganz entgegengesetzten Richtung.

[394] »Wir müssen uns heute Morgen beim Verlassen des Eishauses getäuscht und den Weg nach links, statt nach rechts zu eingeschlagen haben.

– Nein, rief Mrs. Paulina Barnett, das ist unmöglich; wir haben uns nicht getäuscht!

– Aber ... entgegnete Marbre.

– Nun, aber ..., da betrachten Sie doch die Sohne. Geht sie etwa nicht mehr im Osten auf? Da wir ihr nun von heute Morgen ab den Rücken zugekehrt haben, und es auch jetzt noch thun, so steht es fest, daß wir nach Westen wandern. Weil nun die Insel im Westen liegt, so treffen wir auf diese, wenn wir auf der Westseite der Eiswand herauskommen.«

Marbre, der gegen diese Beweisführung nicht aufkommen konnte, kreuzte sinnend die Arme.

»Zugegeben, es verhält sich so, sagte Sabine, dann widersprechen sich aber Sonne und Boussole ganz und gar.

– Wenigstens augenblicklich, belehrte ihn Jasper Hobson. Das hängt indeß nur davon ab, daß unter hohen nördlichen Breiten und in den Meeren in der Nachbarschaft des magnetischen Poles die Boussolen nicht selten alterirt werden, und die Magnetnadeln ganz falsch zeigen.

– Nun gut, sagte Marbre, so setzen wir also unseren Weg, die Sonne im Rücken, weiter fort.

– Ohne Zweifel, antwortete Lieutenant Hobson, zwischen Boussole und Sonne kann die Wahl nicht schwer sein, denn die Sonne kommt nicht außer Ordnung.«

Die kleine Gesellschaft zog in der Richtung, welche nach Allem eine falsche nicht sein konnte, in dem Thale weiter, brauchte aber längere Zeit dazu, als man voraus gesehen hatte. Schon gegen Mittag hätte man am Ende des Thales sein sollen, und nun kam die zweite Stunde heran, ehe der enge Ausgang wieder erreicht wurde.

Diese auffällige Verzögerung hätte Jasper Hobson wohl schon beunruhigt; man male sich nun aber sein und seiner Begleiter Erstaunen, als sie beim Wiederbetreten des Eisfeldes die Insel Victoria, welche doch vor ihnen liegen mußte, nicht mehr sahen! Die Bäume auf dem Cap Michael hätte man ohne Zweifel erkennen müssen. – Nichts war vorhanden. An der Stelle des letzteren dehnte sich ein grenzenloses Eisfeld aus, auf dem die Sonne in zahllosen Lichtpunkten glitzerte.

[395] Lieutenant Hobson, Mrs. Paulina Barnett und Kalumah sahen sich fragend an.

»Dort müßte doch die Insel liegen! rief Sabine verwundert.

– Sie ist aber doch nicht da, erwiderte Marbre; können Sie wohl sagen, Herr Lieutenant, was aus ihr geworden ist?«

Mrs. Paulina Barnett wußte Nichts hierauf zu erwidern, und auch Jasper Hobson sagte kein Wort.

Da näherte sich Kalumah dem Letzteren, nahm ihn beim Arme und sprach:

»Wir haben uns in dem Thale geirrt und befinden uns jetzt an derselben Stelle, wie gestern nach dem ersten Durchschreiten des Packeises. Kommen Sie! Kommen Sie!«

Ganz maschinenmäßig ließen sich Jasper Hobson, Mrs. Paulina Barnett, Marbre und Sabine im Vertrauen auf den Instinct der jungen Eingeborenen von dieser wegführen und kehrten noch einmal in dem engen Thale ihren eigenen Weg zurück, trotzdem nach dem Stande der Sonne alle Anzeichen gegen Kalumah's Behauptung sprachen.

Diese Letztere hatte sich gar nicht weiter erklärt, sondern eilte unbeirrt vorwärts.

Ganz erschöpft von Anstrengung gelangten der Lieutenant, die Reisende und ihre Begleiter nach einem dreistündigen Wege, über den die Nacht sich schon herabgesenkt hatte, an der anderen Seite der Eisbank an. Zwar verhinderte die Dunkelheit zu erkennen, ob die Insel in der Nähe sei, doch sollten sie darüber nicht lange im Unklaren bleiben.

Nur wenige hundert Schritte von ihnen bewegten sich auf dem Eisfelde leuchtende Harzfackeln hin und her und knallten Flintenschüsse in kurzen Zwischenräumen. Auch wurden schallende Rufe gehört.

Die kleine Truppe beantwortete diese und befand sich bald in Gesellschaft des Sergeant Long, Thomas Black's, den die unruhige Sorge um das Loos seiner Freunde doch einmal aufgerüttelt hatte, und noch Anderer, welche entgegen gelaufen kamen. In Wahrheit war die Angst der armen Leute keine geringe gewesen, da sie, – wir wissen, mit wie gutem Rechte, – angenommen hatten, daß Jasper Hobson auf dem Rückwege nach der Insel irre gegangen sein werde.

Wie kamen sie aber auf diesen Gedanken, während sie doch ruhig in [396] Fort-Esperance verblieben waren? Was veranlaßte sie zu der Annahme von Schwierigkeiten bei der Auswahl des Heimweges?

Es rührte daher, daß das ungeheure Eisfeld sammt der Insel in den letzten vierundzwanzig Stunden seine Lage geändert und sich – halb um sich selbst gedreht hatte. In Folge dieses Ereignisses lag die Insel nicht mehr westlich sondern östlich von der Packeiswand!

16. Capitel
Sechzehntes Capitel.
Thauwetter.

Zwei Stunden nachher waren Alle nach Fort-Esperance zurück gekehrt. Am Morgen des 10. März beschien die Sonne dasjenige Ufergebiet, welches früher die Westseite der Insel gebildet hatte. Cap Bathurst lief jetzt nach Süden, statt wie vorher nach Norden aus; die junge Kalumah, der diese Erscheinung bekannt war, hatte sich also nicht getäuscht, und wenn kein Irrthum Seitens der Sonne vorlag, so konnte man auch die Boussole keines Fehlers beschuldigen.

Die Orientation der Insel hatte demnach wiederholte und durchgreifende Veränderungen erfahren. Seit der Zeit, da sie sich vom Festlande Amerikas loslöste, hatte sie einer halben Drehung um sich selbst unterlegen, und zwar nicht die Insel allein, sondern auch das ganze sie umgebende Eisfeld. Diese Bewegung um ihren Mittelpunkt bewies übrigens, daß auch letzteres nicht mehr am Continente haste, sondern vom Ufer getrennt, und folglich auch, daß das Thauwetter nicht mehr fern sei.

»Auf jeden Fall, sagte da Lieutenant Hobson zu Mrs. Paulina Barnett, ist diese Frontveränderung uns nur günstig. Cap Bathurst und Fort-Esperance hat sich nach Südosten gewendet, d.h. nach dem dem Continente zunächst gelegenen Punkte, und jetzt schiebt sich die Packeiswand, durch welche hindurch wir nur einen sehr beschwerlichen Weg gefunden hätten, nicht mehr zwischen uns und Amerika hinein.

[397] – Also geht jetzt Alles zum Besten? fragte lächelnd die Reisende.

– Für jetzt Alles, Madame«, entgegnete Jasper Hobson, der sich die Folgen dieser Lagenveränderung der Insel Victoria vergegenwärtigte.

Vom 10. bis zum 21. März ereignete sich nichts Bemerkenswerthes, doch machten sich die Vorzeichen der kommenden Jahreszeit mehrfach fühlbar. Die Temperatur schwankte zwischen + 6 und + 10° C. Unter dem Einflusse solches Thauwetters konnte der Eisbruch wohl ganz plötzlich eintreten.

Neue Spalten eröffneten sich, und das Wasser quoll über die Oberfläche heraus. Nach dem eigenthümlichen Ausdruck der Walfänger stellten diese Spalten ebenso viele Wunden dar, aus welchen das Eisfeld »blutete«. Der Lärm der brechenden Schollen ähnelte ganz den Artilleriesalven. Ein warmer, mehrere Tage andauernder Regen konnte die Schmelzung der festen Meeresfläche nur beschleunigen.

Von den Vögeln, welche mit Anfang des Winters die Insel verlassen hatten, kamen Fettgänse, Regenpfeifer, Taucherhühner und Enten schon wieder zurück. Marbre und Sabine erlegten eine Anzahl derselben, von denen einige noch das Billet am Halse trugen, wie es Lieutenant Hobson und die Reisende vor ihrem Abzuge daran befestigt hatten. Weiße Schwäne erschienen bandenweise wieder und erfüllten die Luft mit ihren schmetternden Trompetentönen. Die vierfüßigen Thiere, Nage- und Raubthiere, besuchten fort und fort, ganz wie Hausthiere, die nächste Nachbarschaft der Factorei.

Fast täglich, und jedenfalls so oft der Zustand des Himmels es gestattete, maß Lieutenant Hobson die Sonnenhöhe. Ost unterstützte ihn Mrs. Paulina Barnett, die schon eine gewisse Geschicklichkeit in der Handhabung des Sextanten erlangte, bei diesen Beobachtungen, oder trat ganz an seine Stelle. Wirklich erschien es von großer Wichtigkeit, die geringste Veränderung in der Längen- oder Breitenlage kennen zu lernen. Die bedeutungsvolle Frage bezüglich der beiden Strömungen harrte ja noch immer ihrer Lösung, und Jasper Hobson nicht minder wie Mrs. Paulina Barnett lag natürlich sehr viel daran, bald zu wissen, ob sie nun nach Norden oder nach Süden hin treiben würden.

Es verdient bemerkt zu werden, daß die muthige Frau immer und in allen Stücken eine weit über die gewöhnliche ihres Geschlechts hinausgehende Energie zeigte. Alltäglich sahen es ihre Gefährten, wie sie, allen Anstrengungen, dem schlechtesten Wetter, dem Regen und dem Schnee trotzend, irgend einen [398] Theil der Insel recognoscirte und sich dabei wohl auch auf das halb aufgelöste Eisfeld hinauswagte, und wenn sie davon zurückkam, dann nahm sie sich wieder des häuslichen Lebens in der Factorei an und war, wacker unterstützt von ihrer Madge, stets mit Rath und That zur Hand.

Mrs. Paulina Barnett sah der Zukunft unverzagt in's Auge, und wenn auch Befürchtungen sie anwandelten oder böse Ahnungen, von denen sie ihren Geist nicht völlig befreien konnte, so ließ sie doch nie etwas davon wahrnehmen. Immer erschien sie als die vertrauensselige, muthige Frau, als welche man sie kannte, und Niemand hätte unter ihrer gleichbleibenden guten Laune die Gemüthsbewegungen errathen können, denen sie sich doch nicht zu entziehen vermochte. Jasper Hobson zollte ihr seine ungetheilte Bewunderung.

Auch zu Kalumah hatte dieser ein unbedingtes Zutrauen und verließ sich nicht selten auf den natürlichen Instinct der jungen Eingeborenen, wie etwa die Jäger auf den ihrer Hunde. Die übrigens mit vortrefflichen Anlagen ausgestattete Kalumah bewies sich mit allen Zufällen und Erscheinungen der Polarmeere vollkommen vertraut. An Bord eines Walfängers hatte sie die Stelle eines »Icemaster«, des Piloten, der vor Allem auf die Führung des Schiffes durch die Schollen hindurch zu achten hat, gewiß zur Zufriedenheit versehen. Jeden Tag faßte Kalumah den Zustand des Eisfeldes in's Auge, und nur aus dem Geräusch der sich in der Ferne brechenden Eisberge beurtheilte sie schon den Fortschritt der Zersetzung. Ein sichrerer Fuß konnte sich auf dieses gefährliche Feld gar nicht hinauswagen. Durch Instinct wußte sie, wenn das »von unten angefaulte« Eis keine genügende Sicherheit mehr bot, und ohne Zaudern eilte sie über das von Sprüngen und Spalten zerrissene Eisfeld.

Vom 20. bis zum 30. März machte das Thauwetter sehr beträchtliche Fortschritte, welche der reichliche und laue Regen nicht wenig beschleunigte. In kurzer Zeit war die vollständige Zerstörung desselben zu erwarten, und vielleicht sollten kaum vierzehn Tage vergehen, bis Jasper Hobson sein Fahrzeug dem wieder offenen Meere übergeben konnte.

Zum Zaudern war er nicht der Mann, zumal da es zu befürchten stand, daß der Kamtschatka-Strom sie noch weiter nach Norden hin verschlagen würde.

»Das ist aber nicht zu befürchten, wiederholte Kalumah immer wieder.

[399] Der Eisbruch geht nicht aufwärts, sonderndahin; dort ist die Gefahr!« und wies nach Süden, wo sich der ungeheure Stille Ocean ausdehnte.

Das junge Mädchen verblieb hartnäckig bei ihrer Ansicht. Jasper Hobson kannte diese, und beruhigte sich dabei, denn er sah es als die geringste Gefahr an, daß die Insel in dem wärmeren Wasser jenes Meeres ihren Untergang finden sollte. Vorher würde ja das ganze Personal der Factorei an Bord der Schaluppe eingeschifft sein, und es konnte nur einer kurzen Ueberfahrt bedürfen, um den einen oder den anderen Continent zu erreichen, weil die Meerenge zwischen dem Ostcap an der ostasiatischen, und dem Cap Prince de Galles an der amerikanischen Küste nur ein schmales Becken bildete.

Es erscheint begreiflich, mit welcher Aufmerksamkeit man die geringste Veränderung der Insel beachten mußte. Die Lage wurde demnach immer, sobald der Zustand des Himmels es gestattete, bestimmt, und von dieser Zeit ab ergriffen Lieutenant Hobson und seine Begleiter alle Vorsichtsmaßregeln zu einer bevorstehenden und vielleicht übereilten Einschiffung.

Die eigentlichen ersten Zwecke der Factorei, d.h. die Jagd und die Unterhaltung der Fallen, gab man selbstverständlich ganz auf, und strotzten die Magazine von Pelzfellen, welche doch zum größten Theil verloren waren. Jäger und Fallensteller feierten also. Der Meister Zimmermann vollendete mit seinen Leuten das Fahrzeug in der Erwartung, dasselbe, sobald das Meer frei wäre, vom Stapel laufen zu lassen, und beschäftigte sich dann damit, das Hauptgebäude des Forts noch fester zu machen, da es während des Thauwetters einem starken Drucke durch das Eis der Küste ausgesetzt sein könnte, wenn Cap Bathurst diesem nicht genug Widerstand leistete.

So unterstützte man die Holzmauern durch starke Pfeiler. Im Inneren der Zimmer stellte man da und dort noch lothrechte Stämme auf, die den Deckbalken weitere Stützpunkte boten. Nachdem auch der Dachstuhl durch Stützbänder und Strebepfeiler verstärkt war, konnte das Haus eine ganz beträchtliche Last aushalten, denn es war so zu sagen casemattirt. Die Beendigung dieser Arbeiten fiel in die ersten Tage des Monates April, und sollte man bald die Ueberzeugung von deren Nützlichkeit sowohl, als ihrer Zeitgemäßheit gewinnen.

Inzwischen traten die Vorzeichen der kommenden Jahreszeit tagtäglich deutlicher hervor. Der eigenthümliche zeitige Frühling folgte ja einem für [400] Polarländer unerwartet milden Winter. Schon erschienen an den Bäumen einige Knospen. Unter dem wieder aufsteigenden Safte schwoll die Rinde der Birken, Weiden und einzelner Gesträuche an. Mit blassem Grün schmückten junge Moose die Abhänge, welche den Sonnenstrahlen direct ausgesetzt waren, konnten aber nicht eingebracht werden, da die in der Umgebung der Factorei angehäuften, hungerigen Nagethiere ihnen kaum Zeit ließen, aus der Erde hervor zu keimen.

[401] Wenn irgend Jemand seine liebe Noth hatte, so war es der wackere Corporal Joliffe, dem die von seiner Frau besäeten Beete zu schützen aufgetragen war. Sonst nur beschäftigt, dieselben gegen die Schnäbel der geflügelten Räuber, die Schneegänse und Taucherhühner, zu vertheidigen, wozu im Nothfalle auch eine Vogelscheuche hingereicht hätte, setzten ihm jetzt auch noch die Nagethiere und Wiederkäuer der arktischen Fauna zu, die der Winter ja nicht vertrieben hatte. Rennthiere, Polarhasen, Bisamratten, Spitzmäuse u.s.w. verspotteten alle Maßregeln des Corporals. Wenn er sie von dem einen Ende seines Gartens wegjagte, beraubten sie nur einstweilen das andere.

Es hätte sich wohl als das Klügste empfohlen, eine Ernte, von der man doch keinen Nutzen ziehen konnte, so zahlreichen Feinden einfach zu überlassen, da die Factorei binnen Kurzem aufgegeben werden mußte. Dahin ging auch der Rath der Mrs. Paulina Barnett, wenn der Corporal sie zwanzig Mal des Tages mit seinen ewigen Klagen ermüdete; doch Corporal Joliffe wollte absolut keine Vernunft annehmen.

»So viel verlorene Mühe! wiederholte er stets, ein solches Etablissement verlassen, nun es auf dem besten Wege des Gedeihens ist. Die Körner opfern, die Mrs. Joliffe und ich mit solcher Sorgfalt gesäet haben! O, Madame, manchmal wandelt mich eine Lust an, Sie Alle wegziehen zu lassen, und mit meiner Gattin allein hier zurück zu bleiben. Gewiß würde die Compagnie die Insel uns ganz zum Eigenthum überlassen ...«


Eine Seltenheit im hohen Norden. (S. 405.)

Solche sinnlose Gedanken konnte Mrs. Paulina Barnett freilich nur mitleidig belächeln, und schickte sie den Corporal zu seiner kleinen Frau, welche die Ernte an Sauerampher, Löffelkraut und anderen antiscorbutischen Hausmitteln schon längst aufgegeben hatte.

Der Gesundheitszustand der ganzen Colonie hielt sich zum Glücke ganz ausgezeichnet, auch der kleine Bursche erfreute sich wieder des besten Wohlseins und gedieh sichtlich unter den warmen Strahlen der Frühlingssonne.

Vom 2. bis zum 5. April machte das Thauwetter entschiedene Fortschritte; die Wärme wurde recht fühlbar, doch blieb der Himmel bedeckt und häufig fiel Regen in großen Tropfen. Mit warmer Feuchtigkeit beladen wehte der Wind vom Festlande her. Leider verbot eine so dunstige Atmosphäre jede astronomische Beobachtung, da Sonne, Mond und Sterne sich hinter diesem undurchsichtigen Vorhang verbargen. Jetzt, wo es so hochwichtig war [402] die geringsten Lagenveränderungen der Insel Victoria festzustellen, wurde jener Umstand nur desto unangenehmer fühlbar.

In der Nacht vom 7. zum 8. April begann der Eisbruch. Als Lieutenant Hobson, Mrs. Barnett, Kalumah und Sergeant Long an diesem Morgen Cap Bathurst bestiegen, fiel ihnen eine entschiedene Veränderung der Packeismauer in's Auge. Der ungeheure Wall hatte sich in der Mitte getheilt und bildete zwei deutlich zu unterscheidende Theile, deren oberer offenbar nach Norden abzuweichen schien.

Machte sich hier der Einfluß des Kamtschatka- Stromes geltend? Würde die schwimmende Insel dieselbe Richtung einschlagen? Wie lebhafte Empfindungen der Angst erweckte diese Ungewißheit in der Brust des Lieutenants und seiner Begleiter. In wenig Stunden konnte ihr Loos entschieden sein, denn wenn es das Unglück wollte, daß sie noch mehrere hundert Meilen nach Norden hinauf getrieben wurden, so wuchsen auch die Mühen und Gefahren einer weiteren Seefahrt auf dem doch verhältnißmäßig beschränkten Schiffchen.

Zum Unglück ging den Ueberwinternden jetzt jedes Mittel ab, den Umfang und die Natur der sich vollziehenden Ortsveränderung abzuschätzen. Sie vermochten nur zu constatiren, daß die Insel sich noch nicht bewegte, mindestens nicht in dem Sinne der Schollenwand, da sich diese merklich entfernte. Man gelangte also zu der Annahme, daß ein Theil des Eisfeldes sich losgetrennt habe und wieder nach Norden hinauf treibe, während der Theil, welcher der Insel unmittelbar anlag, noch unbeweglich bleibe.

Auch diese Abweichung der hohen Eisbarrière war nicht im Stande, Kalumah's Ansichten zu modificiren. Sie behauptete immer wieder, daß der Eisbruch von Norden nach Süden zu erfolge und daß auch das Packeis in nicht zu ferner Zeit dem Einflusse des Behrings-Stromes unterliegen werde. Um sich verständlicher zu machen, zeichnete die junge Eingeborene die Umrisse der Meerenge mittels eines Stäbchens in den Sand und suchte zu beweisen, daß die Insel sich der amerikanischen Küste werde nähern müssen. Hierin konnte sie kein Widerspruch beirren, und man fühlte sich fast beruhigter, wenn man sie ihre Sache mit solcher Sicherheit vertheidigen hörte.

Die nächsten Tage jedoch schienen Kalumah allerdings Unrecht zu geben. Immer weiter und weiter verschwand der bewegliche Theil der Eismauer nach Norden zu. Der Aufbruch des Meeres ging mit furchtbarem Getöse [403] vor sich, und längs der ganzen Insel lösten sich die Massen unter betäubendem Lärm, der es unmöglich machte, sich in freier Luft gegenseitig zu hören; so krachte es mit der Gewalt eines unausgesetzten Kanonendonners rings umher. Eine halbe Meile um Cap Bathurst herum schoben sich die Schollen drohend über einander. Die Packeiswand hatte sich in zahlreiche Stücke zertheilt, die als ebenso viele Eisberge umhertrieben. Ohne es laut werden zu lassen, war Lieutenant Hobson doch sehr beunruhigt, so daß auch Kalumah's Versicherungen ihm nicht mehr genügten, trotzdem diese seine Einwürfe nie unerwidert ließ.

Am Morgen des 11. April wies Lieutenant Hobson Kalumah die letzten Eisberge, welche im Norden verschwanden, und suchte ihr zu beweisen, daß ihre Ansichten doch nicht verläßlich seien.

»Und doch, nein, nein! rief diese mit überzeugterem Tone als je vorher, nein! Die Schollenwand zieht nicht nach Norden, aber unsere Insel treibt nach Süden!«

Vielleicht hatte Kalumah Recht, wenigstens war Jasper Hobson von dieser unerwarteten Antwort betroffen. Wirklich konnte ja das Verschwinden des Packeises nur ein scheinbares sein, während vielmehr die Insel Victoria schon nach der Meerenge getrieben wurde. Auch diesen Fall angenommen, wie sollte man jetzt die Richtung und Größe der Bewegung, ohne Aufnahme der Länge und Breite, abschätzen?

In der That dauerte die bedeckte und zu Beobachtungen ungeeignete Witterung nicht nur weiter an, sondern sie wurde sogar durch ein in den Polargegenden eigenthümliches Phänomen noch dunkler und im Gesichtskreise beschränkter.

Zusammenfallend mit dem Anfange des Thauwetters hatte sich die Temperatur nämlich um mehrere Grade erniedrigt. Ein dichter Nebel verhüllte bald diese Theile des Arktischen Meeres, doch war das kein gewöhnlicher Nebel. Der Boden überzog sich mit einer von dem eigentlichen Eise ganz verschiedenen weißen Kruste, die nur aus wässerigen, nach erfolgtem Niederschlage gefrierenden Dünsten bestand. Die losen Theilchen dieses Nebels hingen sich an die Bäume, Sträucher, an die Mauern des Forts, über haupt an alles Hervorspringende in dicker Lage an, aus der nur lange Fasern heraus traten, die der Wind hin und her bewegte.

[404] Jasper Hobson erkannte diese Erscheinung, von deren Auftreten im Frühlinge die Walfänger und Ueberwinternden nicht selten berichten, sehr bald.

»Das ist kein Nebel, sagte er zu seinen Leuten, das ist ein ›Frost-rime‹, ein Rauchfrost, ein dichter Dunst im Zustande der Erstarrung.«

Ob Nebel oder Rauchfrost, jedenfalls war das Auftreten dieser Erscheinung nicht minder bedauerlich, denn jener stieg bis zu einer Höhe von wenigstens hundert Fuß über die Meeresfläche an, und seine Undurchsichtigkeit machte das Erkennen von Personen schon auf drei Schritte Entfernung unmöglich.

Wie sehr verstimmte das die Bewohner der Colonie, denen die Natur keine Prüfung ersparen zu wollen schien. Gerade zur Zeit des Thauwetters, wo die irrende Insel von den Fesseln, die sie seit so langen Monaten trug, frei werden sollte, in dem Augenblicke, wo es so nöthig war, ihre geringsten Bewegungen zu überwachen, gerade da mußte dieser Nebel jede Beobachtung verhindern!

Vier Tage über dauerte das in Gleichem fort! Erst am 15. April zerstreute sich der Rauchfrost, als ihn am frühen Morgen ein frischer Südwind zerriß und aufsaugte.

Hell glänzte die Sonne. Lieutenant Hobson stürzte nach seinen Instrumenten. Er maß die Höhe jener und berechnete als thatsächliche Lage der Insel:

Breite 69°57'; Länge 179°33'.

Kalumah hatte Recht gehabt. Die vom Behrings-Strome ergriffene Insel Victoria wendete sich wieder nach Süden.

17. Capitel
Siebenzehntes Capitel.
Der Eissturz.

Endlich näherten sich nun die Ueberwinterer dem besuchteren Meere der Behrings-Straße und brauchten nicht mehr zu fürchten, wieder nach Norden verschlagen zu werden. Jetzt war nur noch die Ortsveränderung der Insel [405] zu überwachen und ihre in Folge verschiedener Hindernisse sehr wechselnde Geschwindigkeit abzuschätzen. Jasper Hobson ließ sich das ängstlich angelegen sein, und maß die Höhe der Sonne und einzelner Sterne Tag für Tag auf's Genaueste. Unter Voraussetzung einer jetzt gleich bleibenden Schnelligkeit berechnete er am folgenden Tage, dem 16. April, daß die Insel mit Anfang Mai den Polarkreis, von dem sie noch zwei Breitengrade entfernt war, durchschneiden müsse.

Dann lag die Annahme nahe, daß sie, an der engsten Stelle der Meerenge eingekeilt, bis zu der Zeit, wo das zunehmende Thauwetter ihr Platz schaffen würde, unbewegt verharrte. Zu derselben Zeit wollte man aber das Fahrzeug vom Stapel laufen lassen und nach der Küste Amerikas segeln.

Wie schon erwähnt, war Alles zur schnellsten Einschiffung vorbereitet.

Mit mehr Geduld und vorzüglich mit mehr Vertrauen als jemals warteten die Bewohner der Insel der Zukunft. Die hartgeprüften Leute fühlten es voraus, daß ihre Lage sich der endlichen Lösung näherte und sie so dicht an einem oder dem anderen Erdtheile vorüber kommen würden, daß Nichts sie hindern könne, binnen wenigen Tagen daselbst zu landen.

Ein neues Leben zog mit dieser Aussicht in ihre Herzen ein; sie gewannen die natürliche Heiterkeit wieder, welche vorher die langen Prüfungen niedergehalten hatte. Bei den Mahlzeiten ging es lustig her; an Küchenvorräthen fehlte es ja nicht, und die Verhältnisse schrieben kein sparsames Umgehen mit denselben vor. Nun machte sich auch der Einfluß des Frühlings geltend, und Jeder sog die warmen Lüfte, die er daher wehte, mit vollem Wohlbehagen ein.

Während der folgenden Tage wurden mehrere kurze Ausflüge in's Innere der Insel und nach den Küsten derselben unternommen. Die Thiere alle waren noch in derselben reichen Anzahl vorhanden und konnten ja auch gar nicht daran denken, die Insel zu verlassen, da das jetzt vom amerikanischen Continente abgelöste Eisfeld keinen Uebergang nach demselben zuließ.

Weder im Inneren der Insel, noch an irgend einem hervorragenden Küstenpunkte derselben zeigte sich irgend welche merkliche Veränderung; auch die Ufer der Lagune erwiesen sich noch unverändert. Der große Spalt, der sich neben Cap Michael während jenes heftigen Sturmes aufgethan hatte, war durch den verflossenen Winter wieder vollkommen geschlossen und ein anderer Sprung nirgends beobachtet worden.

[406] Bei derartigen Ausflügen sah man ganze Banden Wölfe, wie sie eilenden Laufes die Insel durchstreiften. Von der ganzen Fauna blieben diese feigen Raubthiere die einzigen, welche bei der drohenden allgemeinen Gefahr nicht zutraulicher wurden.

Mehrmals kam auch Kalumah's Retter wieder zum Vorschein. Melancholisch trabte der würdige Bär durch die Einöden, und blieb nur stehen, wenn sich Menschen nahten. Manchmal folgte er ihnen auch, im Bewußtsein vor jeder Gefahr sicher zu sein, bis zum Fort nach.

Am 20. April constatirte Jasper Hobson, daß die Insel in ihrer Abweichung nach Süden noch immer fortfahre. Die Ueberbleibsel der Packeiswand, Eisberge und Schollen ihrer südlicheren Theile, folgten ihr in gleichbleibender Entfernung, so daß in Ermangelung jedes andern Merkzeichens nur die astronomischen Beobachtungen über die Ortsveränderung Aufschluß gaben.

An verschiedenen Stellen und vorzüglich am Fuße des Cap Bathurst ließ Lieutenant Hobson auch Messungen der Eisstärke der Insel vornehmen. Diese ergaben keine Zunahme während der verflossenen Kälteperiode, auch schien das allgemeine Niveau der Insel nicht höher aus dem Meere emporgestiegen zu sein, und folglich erschien es rathsam, den zerbrechlichen Boden derselben sobald als möglich zu verlassen, bevor er sich in dem wärmeren Wasser des Pacifischen Oceans auflöste.

Zu dieser Zeit, nämlich am 25. April, änderte sich die Orientation der Insel zum dritten Male, und zwar um anderthalb Viertel des Umfangs (135°) in der Richtung von Norden nach Osten. Cap Bathurst sprang nun nach Nordwesten zu vor. Die letzten Reste der Schollenwand begrenzten den Horizont im Norden. Hierdurch war also bewiesen, daß das Eisfeld sich in der Meerenge noch frei bewegte und an keiner Seite ein Land berührte.

Der entscheidende Augenblick kam nun heran. Mit Genauigkeit ergaben die täglichen oder nächtlichen Beobachtungen die Situation der Insel und des Eisfeldes. Am 30. April wich die Gesammtmasse nach der Kotzebue-Bai, einem ausgedehnten dreieckigen Einschnitt, der tief in die Küste Amerikas hineingreift, merklich ab. Südlich von dieser springt das Cap Prince-de-Galles vor, das die schwimmende Insel wahrscheinlich aufhalten mußte, wenn sie die Mitte der engen Straße nicht ganz genau einhielt.

Jetzt blieb die Witterung beständig schön und häufig las man am [407] Thermometer wohl 10° Wärme ab, so daß die Winterkleidung abgelegt werden konnte.


Lieutenant Hobson mißt die Sonnenhöhe. (S. 405.)

Der Astronom hatte in der Schaluppe, die noch immer auf dem Zimmerplatze lag, schon seinen ganzen gelehrten Apparat, Instrumente und Bücher, untergebracht. Ebenso waren neben einer Anzahl der kostbarsten Pelzfelle hinreichende Nahrungsmittel im Voraus eingeschifft worden.


Ein Geräusch hemmt die Schritte der Wanderer. (S. 411.)

Am 2. Mai lieferte eine sehr sorgfältige Beobachtung das erfreuliche Resultat, daß die Insel Victoria zu einer Ablenkung nach Osten hinneigte [408] und folglich dem amerikanischen Festlande noch näher kam. Hiermit verschwand auch die Furcht, von dem längs des asiatischen Ufers verlaufenden Kamtschatka-Strome auf's Neue ergriffen und nach Norden verschlagen zu werden. Endlich schienen sich die Aussichten für die armen Dulder günstiger zu gestalten!

»Ich glaube, wir haben unser widriges Geschick nun ermüdet, Madame, sagte Sergeant Long zu Mrs. Paulina Barnett. Wir kommen an's Ende unserer Leiden, und ich hoffe, daß uns keine neuen mehr aufgespart sind.

[409] – Ich theile ganz Ihre Ansicht, Sergeant, entgegnete die Reisende, und bin herzlich froh darüber, daß wir vor fünf Monaten auf die Fahrt über das Eisfeld verzichteten. Durch seine Unwegsamkeit lieh uns die Vorsehung ihre Hilfe!«

Gewiß hatte Mrs. Paulina Barnett Recht, in dieser Weise zu sprechen, denn welche Hindernisse mußte diese Winterreise, welche Gefahren die lange Polarnacht bergen, und dazu lagen damals fünfhundert Meilen zwischen der Insel und der Küste.

Am 5. Mai verkündete Jasper Hobson seinen Gefährten, daß sie eben den Polarkreis überschritten hätten und damit in diejenigen Theile der Erde zurückkehrten, welche die Sonne selbst zur Zeit ihrer größten südlichen Abweichung niemals verließ. Für die wackeren Leute erschien das wie eine Rückkehr in die bewohnten Länder der Welt.

Dieser Tag wurde durch manchen guten Schluck gefeiert, und credenzte man ein Glas dem Polarkreise, wie es auf den Schiffen Sitte ist, die zum ersten Male die Linie (d.i. den Aequator) passiren.

Nun galt es also blos noch den Zeitpunkt abzuwarten, wo das schon lose und halb zersetzte Eis dem Schiffe, das die ganze Colonie tragen sollte, eine offene Fahrstraße bieten würde.

Am 7. Mai unterlag die Insel nochmals einer Viertelsdrehung. Cap Bathurst wies nun wieder nach Norden, über sich die Massen, welche von der Packeiswand noch übrig waren. Es hatte demnach die Orientation wieder erlangt, wie sie auf den Karten verzeichnet war, so lange es noch dem amerikanischen Festlande angehörte. Nach dieser nun vollständigen Umdrehung der Insel hatte die Morgensonne nach und nach jeden Punkt ihrer Küste getroffen.

Am 8. Mai ließ die Sonnenbeobachtung erkennen, daß die vorläufig feststehende Insel etwa die Mitte der Meerenge einnahm und nur vierzig Meilen vom Cap Prince-de-Galles entfernt lag. Das Land war also in verhältnißmäßig kurzer Entfernung fast in Sicht, und Aller Rettung schien gesichert.

Am Abend wurde im großen Saale ein festliches Mahl arrangirt, bei dem es an Toasten auf Mrs. Paulina Barnett und Lieutenant Hobson nicht fehlte.

Noch dieselbe Nacht beschloß Letzterer, nach den etwaigen Veränderungen [410] des Eisfeldes im Süden der Insel zu sehen und womöglich ein brauchbares Fahrwasser aufzufinden.

Mrs. Paulina Barnett wollte Jasper Hobson hierbei begleiten, doch dieser bestand darauf, daß sie sich einige Ruhe gönne, und nahm nur Sergeant Long mit sich.

Die Nacht war schön. Statt des Mondes leuchteten die Sterne alle in prächtigem Glanze. Eine Art zerstreuten und durch das Eisfeld wiedergestrahlten Lichtes erhellte die Atmosphäre einigermaßen und erweiterte den Gesichtskreis. Die beiden Kundschafter verließen um neun Uhr das Fort und wandten sich zunächst nach dem Küstenstriche zwischen dem Barnett-Hafen und Cap Michael.

Auf zwei bis drei Meilen folgten sie dem Ufer. Doch welch' grausigen Anblick bot noch immer das Eisfeld! Welches Schollenlabyrinth! Welches Chaos! Man stelle sich einen ungeheuren Haufen der sonderbarsten Krystalle vor, ein Meer, das vom Orkane aufgewühlt, urplötzlich fest gebannt wurde. Jedenfalls zeigte sich zwischen dem Eise kein irgendwie freier Durchgang, den ein Schiff hätte benutzen können.

Bis Mitternacht verweilten Lieutenant Hobson und der Sergeant unter Gesprächen und Beobachtungen am Ufer. Da sie aber bemerkten, daß sich in dem allgemeinen Zustande Nichts änderte, beschlossen sie nach Fort-Esperance zurückzukehren, um auch selbst einige Stunden der Ruhe zu genießen.

Schon hatten sie einige Hundert Schritte zurückgelegt und befanden sich am Bett des ehemaligen Paulina-Flusses, als ein unerwartetes Geräusch ihre Schritte hemmte. Es ähnelte einem entfernten Donnergrollen und kam aus den nördlichen Theilen des Eisfeldes her. Der Lärm verdoppelte sich sehr schnell und wurde bald zum entsetzlichen Getöse. Jedenfalls ging in jenen Seegebieten eine sehr folgenschwere Erscheinung vor sich, und zu seiner größten Bestürzung fühlte Lieutenant Hobson den Boden der Insel unter den Füßen erzittern.

»Jenes Tosen kommt von der Seite der Eisbank her, sagte Sergeant Long. Was mag da vorgehen?«

Jasper Hobson gab keine Antwort und zog, im höchsten Grade beunruhigt, seinen Begleiter nach dem Ufer zu.

»Nach dem Fort! Nach dem Fort! rief Lieutenant Hobson. Vielleicht [411] hat sich das Eis verschoben und können wir unser Schiff in's Wasser bringen!«

Athemlos stürmten Beide auf kürzestem Wege zum Fort-Esperance.

Tausend Gedanken schwirrten durch ihren Kopf. Welche neue Erscheinung war die Ursache jenes Höllenlärmens? Hatten die schlafenden Bewohner des Forts davon Kenntniß? Gewiß, denn die von Minute zu Minute sich verdoppelnden Detonationen hätten, wie man zu sagen pflegt, hingereicht, um »Todte zu erwecken«.

Binnen zwanzig Minuten hatten Jasper Hobson und Sergeant Long die zwei Meilen bis Fort-Esperance durchlaufen. Noch vor dessen Palissadenwand aber bemerkten sie ihre Gefährten, Männer und Frauen, welche in Unordnung, zum Tode erschreckt und unter verzweifelndem Aufschrei entflohen.

Der Zimmermann Mac Nap mit seinem Kinde auf dem Arme traf zuerst auf den Lieutenant.

»Da! Sehen Sie, Herr Hobson!« rief er und zog den Lieutenant nach einer kleinen Erhöhung hinter dem Zaune der Factorei. Jasper Hobson traute kaum seinen Augen.

Die letzten Reste des Packeises, bei seinem Weggange noch zwei Meilen vom Ufer, hatten sich auf dasselbe gestürzt. Cap Bathurst existirte nicht mehr! Seine Erd- und Sandmassen waren von den Eisbergen zerdrückt und mit den Eisbergen über die Ansiedelung hereingeschoben worden. Das Hauptgebäude und Alles, was nördlich von diesem lag, war unter der enormen Lawine verschwunden. Unter Donnerkrachen sah man die Schollen sich noch eine über die andere schieben, herabstürzen und zerschmettern, was in ihrem Wege lag. Das Bild glich einem Sturmangriffe von Eisbergen auf die unglückliche Insel.

Das mühsam am Fuße des Cap Bathurst erbaute Schiff war – zertrümmert .... die letzte Hilfe der armen Colonisten verschwunden!

In diesem Augenblick brach das früher von den Soldaten bewohnte Nebenhaus unter einem furchtbaren Eisstoße zusammen. Jene selbst hatten sich noch früh genug retten können. Den Unglücklichen entrang sich ein herzzerreißender Schrei der Verzweiflung.

»Und die Anderen! Unsere Begleiterinnen! ... rief der Lieutenant im Tone des furchtbarsten Schreckens.

[412] – Sind noch dort!« erwiderte Mac Nap und wies auf den Berg von Erde, Sand und Eis, unter dem das Hauptgebäude vollkommen vergraben lag.

Wirklich, dieser Trümmerhaufen bedeckte Mrs. Paulina Barnett, und mit ihr Madge, Kalumah und Thomas Black, welche der Eissturz Alle im Schlafe überrascht hatte.

18. Capitel
Achtzehntes Capitel
Alle Hände beschäftigt.

Eine furchtbare Umwälzung hatte stattgefunden und die Eisbank sich auf die schwimmende Insel gestürzt. Bis zu einer großen Tiefe, der fünffachen ihrer über das Wasser aufragenden Höhe, in's Meer eintauchend, hatte jene dem Zuge der unterseeischen Strömungen nicht zu widerstehen vermocht, und als sich ein Weg durch das gesprengte Eis öffnete, war sie mit voller Wucht auf die Insel Victoria gestoßen, die, durch den heftigen Anprall getrieben, schnell nach Süden zu abwich. Im ersten Augenblick, als der Eissturz donnernd die Ställe und das Hauptgebäude zertrümmerte, hatten Mac Nap und seine Leute alle ihre bedrohte Wohnung noch verlassen können. Schon war das Unheil aber geschehen – von den andern Wohnräumen war kein Balken mehr sichtbar. Und jetzt entführte die Insel ihre Bewohner nach dem endlosen Oceane! Vielleicht lebten aber unter diesem Trümmerhaufen ihre muthige Gefährtin, Mrs. Paulina Barnett, Madge, die junge Eingeborene und Thomas Black noch? Zu ihnen mußte man eindringen, und sollte man nur ihre Leichen wiederfinden.

Der Lieutenant, welcher zuerst wie vom Donner gerührt war, gewann sein kaltes Blut wieder und rief:

»An die Beile und die Hacken! Das Haus ist fest und hat den Druck wohl aushalten können! An's Werk!«

Aexte und Hacken fehlten zwar nicht, doch verbot sich in diesem Augenblicke [413] jede Annäherung an die Umzäunung. Noch immer glitten und polterten Schollen von den gelockerten Eisbergen, deren einige die Insel Victoria wohl um zweihundert Fuß überragten. Die zerschmetternde Gewalt dieser Massen, welche vom nördlichen Horizonte her überall heranzurücken schienen, kann man sich daraus leicht vorstellen. Der ganze Küstenstrich zwischen dem früheren Cap Bathurst und dem Cap Eskimo war von ihnen umschlossen, und schon drängten sie sich bis auf eine Viertelmeile über denselben herein. Fortwährend verrieth das Erzittern des Bodens und das erneute Donnern und Krachen die Loslösung frischer Massen und ließ befürchten, daß die Insel unser einer solchen Last versinken würde. Aus einer sehr merklichen Neigung des Bodens erkannte man auch, daß sich das Ufer dort nach und nach senkte, und schon rollten die langen Meereswellen bis in die Nähe der Lagune.

Die Lage der Unglücklichen war eine schreckliche, und dazu mußten sie die ganze Nacht über, ohne einen Rettungsversuch ihrer Freunde vornehmen zu können, erfaßt von düsterer Verzweiflung verbringen, da die Eisstürze jede Annäherung unmöglich machten und sie weder dagegen ankämpfen, noch dieselben abwenden konnten.

Endlich brach der Tag an. Welch' ein Bild der Zerstörung bot da ihre Umgebung! So weit das Auge reichte, schloß eine Mauer von Eis den Gesichtskreis, doch schienen die Massen wenigstens für jetzt zur Ruhe gekommen zu sein, und nur da und dort bröckelte sich noch ein schlecht unterstütztes Eisstück von dem Haufen los. Die ganze gewaltige, tief eintauchende Masse theilte aber nun ihre Kraft der Abweichung, welche die unterseeische Strömung ihr verlieh, der Insel mit und drängte diese nach dem Süden, dem Untergange zu.

Keiner der unglücklichen Bewohner ward indeß hiervon etwas gewahr. Ihnen lag die Rettung der Opfer dieses Unfalls am Herzen, und unter diesen befand sich die muthige, von Allen geliebte Frau, für die sie gern ihr eigenes Leben gelassen hätten. Jetzt, da man sich der Umzäunung wieder nähern konnte, galt es zu handeln und keine Minute zu verlieren, denn schon sechs Stunden lang seufzten die Opfer unter den Trümmern des Eissturzes.

Das Cap Bathurst gab es, wie gesagt, nicht mehr. Von einem ungeheuren Eisberge getroffen, hatte es sich über die Factorei gestürzt, das Schiff [414] zertrümmert, die Ställe bedeckt und die Thiere darin zermalmt. Hierauf verschwand das Hauptgebäude unter einer Lage Sand und Erde, über welche sich die Eisblöcke bis zu einer Höhe von fünfzig bis sechzig Fuß aufthürmten. Der Hof war vollständig ausgefüllt, und von der Palissade sah man kaum noch einen Pfahl. Und unter diesem Gemisch von Erde, Sand und Eis sollten die Unglücklichen ausgegraben werden.

Noch bevor man an's Werk ging, rief Lieutenant Hobson den Zimmermann zu sich.

»Mac Nap, sagte er, glauben Sie, daß das Haus den Eisdruck ausgehalten haben könne?

– Das möchte ich fast behaupten, Herr Lieutenant, erwiderte Mac Nap. Das Haus hatten wir, wie Sie ja wissen, noch widerstandsfähiger gemacht, das Dach casemattirt, und die aufgerichteten Stämme im Innern müssen nur noch zu seiner Festigkeit beitragen. Vergessen Sie auch nicht, daß dasselbe zuerst mit einer Schicht von Sand und Erde überdeckt worden ist, welche das Aufschlagen des herabstürzenden Eises wesentlich gemildert haben mag.

– Gott möge Ihnen Recht geben, Mac Nap, entgegnete Jasper Hobson, und uns einen solchen Schmerz ersparen!«

Da kam Mrs. Joliffe hinzu.

»Sind noch Lebensmittel in dem Hause vorräthig? fragte er diese.

– Ja wohl, Herr Hobson, antwortete sie, Küche und Speisekammer sind noch hinreichend versorgt.

– Auch mit Wasser?

– Mit Wasser und etwas Branntwein, bestätigte Mrs. Joliffe.

– Gut, sagte Lieutenant Hobson, durch Hunger und Durst werden sie also nicht zu Grunde gehen, aber wird ihnen die Luft nicht mangeln?«


Ein Sturmangriff von Eisbergen. (S. 412.)

Diese Frage konnte auch der Meister Zimmermann nicht beantworten; gerade hierin lag jedoch, vorausgesetzt, daß das Gebäude nicht zermalmt worden war, die größte Gefahr. Diese konnte nur durch eine schnelle Befreiung abgewendet werden, wenn es nicht vorher gelang, eine Verbindung zwischen der freien Luft und den Verschütteten herzustellen. Mit Axt und Schaufel gingen Alle, Männer und Frauen, an die Arbeit; in Gefahr, von nachstürzenden Blöcken getroffen zu werden, griffen sie den Berg an. Mac Nap übernahm die Leitung der Arbeiten.

[415] Er hielt es für das Beste, am höchsten Punkte anzufangen, von wo aus man die aufgehäuften Schollen nach der Seite der Lagune herabwälzen konnte. Mittelgroße überwältigte man wohl mit der Axt und dem Hebel, noch größere mußten erst mit dein Beile zerkleinert werden, und wo auch das nicht ausreichte, nahm man das Feuer, das mit harzigen Stämmen genährt wurde, zu Hilfe. Nichts blieb unversucht, um die Eismassen in kürzester Zeit zu beseitigen.

[416] Trotz der eifrigsten Anstrengung aber, und trotzdem man sich kaum Ruhe gönnte, um einige Bissen zu sich zu nehmen, sah man, als die Nacht hereinbrach, fast noch keine Verminderung des Schutthaufens, da eigentlich nur der Gipfel desselben abgeräumt war. Als nun weitere Nachstürze nicht mehr zu befürchten standen, entschied sich der Zimmermann dafür, nur einen lothrechten Schacht abzuteufen, wo durch er schneller an das Ziel zu gelangen und der freien Luft einen Zugang zu eröffnen hoffte.


»Ach, die Unglücklichen!« (S. 421.)

Die ganze Nacht hindurch blieben Lieutenant Hobson und alle seine Leute bei der Arbeit; mit Eisen und Feuer griff man die nicht zusammenhängenden Schollen an: die Männer schwangen die Aexte, die Frauen unterhielten die Flammen. Alle beseelte nur der eine [417] Gedanke: Mrs. Paulina Barnett, Madge, Kalumah und Thomas Black zu retten!

Als aber der Morgen wieder graute, waren die Unglücklich en schon dreißig Stunden und in einer durch die dicke Schicht über ihnen gewiß verschlechterten Luft verschüttet.

Der Zimmermann begann nun die Abteufung des Schachtes, der direct auf dem Dachstuhle des Hauses münden sollte, wozu derselbe seiner Berechnung nach eine Länge von etwa fünfzig Fuß erhalten mußte. Durch das Eis hindurch, d.h. ungefähr zwanzig Fuß tief, mochte die Arbeit wohl eine leichte sein, aber die Schwierigkeiten drohten zu wachsen, wenn man dahin kam, gegen dreißig Fuß durch die lockere Erd- und Sandmasse einzudringen. Zur Ausplankung dieser Strecke wurden demnach lange Stämme zugerichtet und dann der Schacht in Angriff genommen. Nur drei Mann konnten gleichzeitig daran arbeiten; da sich die Soldaten also in kurzen Zwischenräumen ablösten, durfte man auf einen schnellen Fortschritt der Arbeit rechnen.

Wie es immer in solch schrecklichen Lagen der Fall ist, schwankten die armen Leute oft zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin und her. Wenn eine neue Schwierigkeit sie aufhielt, oder ein Nachsturz einen Theil des Schachtes wieder ausfüllte, übermannte sie die Entmuthigung, und bedurfte es der erfolgssicheren Ausmunterung des Zimmermanns, um sie auf's Neue anzufeuern.

Während die Männer so der Reihe nach arbeiteten und aushöhlten, sorgten die drei Frauen, fast ohne ein Wort zu wechseln und unter manchem stummen Gebete, nothdürftig für die Nahrung, welche die Anderen in ihren Ruhepausen einnahmen.

Trotz der Härte des Eises und dem langsamen Fortschreiten der Schachtarbeit traten ihnen doch jetzt die größten Schwierigkeiten noch nicht entgegen. Erst mit dem Ende des Tages erreichte Mac Nap die loseren Schichten, deren Ausschachtung unter vierundzwanzig Stunden gar nicht zu erwarten war.

Wiederum kam die Nacht. Das Rettungswerk sollte nicht unterbrochen, [418] sondern bei Fackelschein fortgesetzt werden. Daneben stellte man in aller Eile eine Art Eishaus her, in dem die Frauen und das Kind nothdürftig Schutz fanden, als der Wind sich nach Südwesten gedreht hatte und ein mit heftigen Windstößen untermischter Regen herabfiel. Dagegen dachte weder Lieutenant Hobson noch ein Anderer daran, die Arbeit einzustellen.

Jetzt erst begannen die Hindernisse, da man in das bewegliche Erdreich nicht ohne Vorsichtsmaßregeln tief eindringen konnte, sondern den Schacht auszimmern mußte, um dem Nachrutschen der Erde zu wehren. Die aufgegrabene Erde zogen die Männer mittels eines an einem Stricke befestigten Eimers nach oben. Daß man jetzt nicht schnell vorwärts kam, ist wohl leicht einzusehen. Immer mußte man darauf Acht haben, daß die Arbeitenden selbst nicht auf's Neue verschüttet wurden.

Der Zimmermann blieb fast die ganze Zeit über mit im Grunde, beaufsichtigte die Arbeiten und sondirte wiederholt mit einer langen Stange. Noch traf er aber auf keinen Widerstand, wie ihn der Dachstuhl hätte leisten müssen.

Als es wieder tagte, war man nur zehn Fuß tief vorwärts gekommen, und noch lagerte eine zwanzig Fuß dicke Schicht über dem Dache des Hauses, wenn dieses dem Drucke nicht nachgegeben hatte.

Seit vierundzwanzig Stunden schmachteten nun Mrs. Paulina Barnett, die beiden Frauen und der Astronom unter dem Schutthaufen!

Oefters fragten sich der Lieutenant und Mac Nap, ob Jene nicht ihrerseits den Versuch gemacht haben könnten, eine Verbindung nach Außen herzustellen. Bei ihrem kalten Blute und ihrer Unerschrockenheit schien es unzweifelhaft, daß Mrs. Paulina Barnett, wenn sie sich überhaupt zu bewegen vermöchte, versucht haben würde, sich einen Ausweg zu bahnen, da auch noch einige Werkzeuge im Hause vorhanden waren; wenigstens erinnerte sich einer der Leute Mac Nap's mit Bestimmtheit, seine Axt in der Küche zurückgelassen zu haben. Sollten die Gefangenen keine Thüre eingeschlagen und einen Gang durch die Sandschicht auszuhöhlen begonnen haben? Freilich konnten sie diesen nur in wagerechter Richtung ausgraben, und das verlangte eine weit längere Arbeit, als die Ausschachtung durch Mac Nap, denn der aufgethürmte Berg maß bei sechzig Fuß Höhe mehr als fünfhundert in seinem unteren Durchmesser. Diese Verhältnisse blieben den Verschütteten natürlich unbekannt, und hätten sie zur Herstellung eines horizontalen Ganges [419] mindestens acht Tage nöthig gehabt. Reichten die Nahrungsmittel auch für so lange aus, so mußten sie doch inzwischen aus Mangel an frischer Luft zu Grunde gehen.

Nichts desto weniger überwachte Jasper Hobson alle Theile der Schuttmasse, um jedes Geräusch durch ein Arbeiten von Innen her zu vernehmen. Aber nichts, gar nichts ließ sich hören.

Mit neuem Muthe gingen Alle bei Anbruch des Tages an's Werk. Erde und Sand förderte man durch die Mündung des Schachtes heraus, der sich regelmäßig vertiefte und dessen lose Wand die Zimmerung hinlänglich zurück hielt. Wenn auch kleine Nachschübe vorkamen, so wurden diese doch bald beseitigt und hatte man den Tag über keinen neuen Unfall zu beklagen. Nur der Soldat Garry wurde durch ein herabstürzendes Eisstück leicht am Kopfe verwundet, wollte sich deshalb aber nicht von der Arbeit ausgeschlossen wissen.

Um vier Uhr hatte der Schacht eine Gesammttiefe von fünfzig Fuß erreicht, bei welcher Mac Nap auf den Dachstuhl zu treffen rechnete, wenn er dem Drucke des Eissturzes widerstanden hätte.

Er befand sich in der Tiefe des Schachtes, und leicht kann man sich wohl seine Enttäuschung vorstellen, als er jetzt die Stange einbohrte und noch immer auf keinen Widerstand traf.

Einen Augenblick sah er mit gekreuzten Armen den mit anwesenden Sabine an.

»Nichts? sagte der Jäger.

– Nichts, antwortete der Zimmermann, Nichts! Doch, guten Muth, das Dach könnte wohl nachgegeben haben, unmöglich aber die abgesteifte Zimmerdecke. Nur noch zehn Fuß, und wir müssen diese selbst erreichen ... oder ...«

Mac Nap sprach seinen Gedanken nicht ganz aus, und mit Sabine's Beistand wurden die Arbeiten wieder aufgenommen.

Um sechs Uhr Abends waren wiederum gegen zehn bis zwölf Fuß ausgehöhlt.

Von Neuem sondirte Mac Nap. Noch immer nichts; seine Stange sank nur in die lose Erdmasse ein.

Da unterbrach der Zimmermann einen Augenblick seine Arbeit, bedeckte das Gesicht mit den Händen und murmelte halblaut:

[420] »Ach, die Unglücklichen!«

Auf den Steifen, welche die Holzzimmerung hielten, hinaufkletternd, verließ er den Schacht.

Oben angelangt, traf er Lieutenant Hobson und Sergeant Long ängstlicher als je, nahm sie bei Seite und vertraute ihnen die schreckliche Enttäuschung, die er eben erfahren hatte.

»Nun denn, sagte Jasper Hobson, dann ist das Haus also von der Lawine zermalmt worden und die Armen ...

– Nein, fiel ihm der Zimmermann im Tone der unerschüttertsten Ueberzeugung in das Wort, nein, das Haus ist nicht zerdrückt; so wie es gestützt war, mußte es Alles aushalten; nein, es kann nicht sein!

– Was ist aber dann geschehen, Mac Nap, fragte der Lieutenant, aus dessen Augen große Thränen perlten.

– Das will ich Ihnen sagen, erwiderte Jener, das Haus wird noch ganz sein, aber der Boden, auf dem es stand, hat nachgegeben; es ist durch die Eiskruste gebrochen, die unsere Insel bildet. Es ist nicht zertrümmert, aber versenkt ... und die bedauernswerthen Opfer ...

– Sollen ertrunken sein? rief Sergeant Long.

– Ja, Sergeant, ertrunken, bevor sie eine Bewegung machen konnten, ›wie die Passagiere eines untergegangenen Schiffes‹.«

Einige Augenblicke schwiegen die drei Männer. Mac Nap's Hypothese mußte der Wahrheit wohl sehr nahe kommen. Was war denn wahrscheinlicher, als die Annahme, daß sich unter dem enormen Drucke der Boden der Insel gesenkt, und das unzerbrochene Haus denselben durchschlagen habe und im Abgrunde versunken sei?

»Nun denn, Mac Nap, sagte Lieutenant Hobson, und wenn wir keine Lebenden retten können ...

– Ja, fiel der Zimmermann ein, so wollen wir sie wenigstens todt wiederfinden!«

Nach diesen Worten nahm Mac Nap, ohne den Anderen diese schreckliche Mittheilung zu machen, seine unterbrochene Arbeit im Grunde des Schachtes wieder auf, während Lieutenant Hobson mit ihm hinab stieg.

Die ganze Nacht über blieb man thätig und löste sich von Stunde zu Stunde ab. Immer aber blieben Jasper Hobson und Mac Nap auf einer Steife gegenwärtig, um jeden Augenblick zur Hand zu sein.

[421] Um drei Uhr Morgens traf Kellet's Axt auf einen harten Körper. Der Meister Zimmermann fühlte das mehr, als er es hörte.

»Wir sind auf dem Hause, rief erfreut der Soldat – Gerettet!

– Schweig' und fahre fort«, antwortete ihm der Lieutenant mit dumpfer Stimme.

Jetzt waren schon nahe an sechsundsiebenzig Stunden verflossen, seit der Eissturz über das Haus herein brach.

Kellet und sein Nebenmann, der Soldat Pond, schaufelten weiter. Die Tiefe des Schachtes mußte ziemlich die Oberfläche des Meeres erreicht haben, und folglich schwand Mac Nap nun jede Hoffnung.

In weniger als zwanzig Minuten lag der harte Körper, auf dem die Axt getroffen hatte, frei. Es war ein Balken des Daches. Der Zimmermann schwang sich vollends hinunter und beseitigte die schwächeren Latten, so daß eine ausreichende Oeffnung entstand ...

Da schleppte sich eine kaum erkennbare Gestalt durch die Dunkelheit heran.

Es war die Gestalt Kalumah's!

»Zu Hilfe, zu Hilfe!« rief die Arme mit schwacher Stimme.

Jasper Hobson kletterte durch die Oeffnung. Er schauderte vor Kälte zusammen – das Wasser stieg ihm bis zum Gürtel. Das Dach war nicht, wie man vorausgesetzt, eingebrochen, wohl aber hatte das Haus, entsprechend der Annahme Mac Nap's, den Boden durchschlagen und das Wasser eindringen lassen. Nur der Dachraum, in dem es kaum einen Fuß hoch stand, blieb noch frei davon. Es war noch eine schwache Hoffnung vorhanden! ... Der Lieutenant wagte sich in die Dunkelheit hinein und traf einen Körper ohne Bewegung. Diesen schleppte er nach der Oeffnung hin, wo ihn Kellet und Pond empfingen und herauszogen. Es war Thomas Black.

Bald darauf wurde auch Madge aufgefunden. Mittels Seilen, welche man in den Schacht hinab ließ, wurden Beide an die freie Luft empor gezogen.

Noch galt es, Mrs. Paulina Barnett zu retten. Von Kalumah geführt, tastete sich Jasper Hobson durch den ganzen Bodenraum, an dessen Ende er Die, welche er suchte, den Kopf kaum über dem Wasser, auffand. Die Reisende erschien wie todt. Lieutenant Hobson trug sie auf seinen Armen [422] nach der Oeffnung, und wenige Minuten nachher erschienen Alle an der oberen Mündung des Schachtes.

Ringsum standen sie Alle versammelt, die Gefährten der muthigen Frau, doch ihre Verzweiflung raubte ihnen die Sprache.

Die junge Eskimodin hatte sich, so schwach sie selbst war, über den leblosen Körper der geliebten Freundin geworfen.

Noch athmete Mrs. Paulina Barnett und fühlte man ihren Pulsschlag; als dann die frische Luft durch ihre Lungen einzog, kam sie langsam zum Leben zurück.

Da löste sich ein Aufschrei der Freude aus Aller Brust und stieg ein Ausruf des Dankes zum Himmel, der gewiß da droben gehört wurde.

Gleichzeitig ward es Tag; die Sonne stieg über dem Horizonte auf und beleuchtete die Scene mit ihren ersten Strahlen.

Mit äußerster Anstrengung erhob sich Mrs. Paulina Barnett; von der Höhe der Lawine schaute sie wie prüfend um sich, und mit seltsamem Tone sagte sie die Worte:

»Das Meer, das Meer!«

Wirklich umrauschte auf beiden Seiten, im Westen und im Osten, das eisfreie Meer die schwimmende Insel!

19. Capitel
Neunzehntes Capitel
Das Behrings-Meer.

Vom Packeise getrieben, war die Insel mit rasender Schnelligkeit bis in das Behrings-Meer gekommen, ohne in der gleichnamigen Meerenge an's Land zu stoßen.


»Zu Hilfe, zu Hilfe!« (S. 422.)

Immer wich sie noch ab, gedrängt durch die unwiderstehliche Eiswand, die ihre Kraft der unterseeischen Strömung der Tiefe entlehnte; immer schob sie diese dem erwärmteren Wasser entgegen, das bald ihr Untergang werden mußte, jetzt, da das rettende Fahrzeug zertrümmert war!


Trostlose Aussichten. (S. 430.)

Mrs. Paulina Barnett kam allmälig wieder zu sich [423] und konnte nun über das vierundsiebenzigstündige Gefängniß in dem verschütteten Hause berichten.

Von der Plötzlichkeit des Eissturzes überrascht, waren Alle nach Thüren und Fenstern gesprungen. Kein Ausweg! Der Sand- und Erdhügel, welcher einige Augenblicke vorher noch Cap Bathurst hieß, lagerte über dem Hause. Fast gleichzeitig hörten die Gefangenen das Aufschlagen der ungeheuren Schollen, die das Packeis über die Factorei stürzte.

[424] Nach kaum einer Viertelstunde merkten Mrs. Paulina Barnett und ihre Leidensgefährten, wie das Haus, nachdem es dem enormen Drucke von oben erfolgreich widerstanden, langsam durch den Boden der Insel einsank. Sein Untergrund verschwand, an dessen Stelle trat – das Wasser des Meeres!

Sich einiger in der Küche verbliebener Nahrungsmittel bemächtigen und nach dem Bodenraume entfliehen, war das Werk eines Augenblickes, die [425] Folge eines unbestimmten Triebes der Selbsterhaltung. Und konnten die Unglücklichen denn ein Fünkchen Hoffnung bewahren? – Vorläufig schien wenigstens der Dachstuhl auszuhalten, über dem sich wahrscheinlich zwei Eisstücke gegen einander stemmten und ihn so vor dem Zerdrücktwerden bewahrten.

Immer hörten sie nach ihrer Flucht in den Bodenraum noch die riesigen Bruchstücke der Eislawine herunter poltern, und dazu stieg unter ihnen das drohende Wasser. Hier der Tod durch Erdrücken, dort durch Ertrinken!

Wie durch ein Wunder leistete das Dach ausreichenden Widerstand, und auch das Haus kam, nachdem es zu einer gewissen Tiefe eingesunken war, zum Stehen, doch stieg das Wasser im Bodenraum wohl einen Fuß hoch.

Mrs. Paulina Barnett, Madge, Kalumah und Thomas Black hatten sich bis in die Balkenkreuzungen hinein geflüchtet, zwischen denen sie so lange Stunden aushalten mußten, wobei die dienstfertige Kalumah immer bereit war, Einen oder dem Anderen etwas Nahrung durch das Wasser hindurch zuzutragen. Jeder Rettungsversuch erschien vergeblich, nur von außerhalb konnte ihnen Hilfe kommen.

Eine entsetzliche Lage! Nur mühsam vermochten sie noch in der an Sauerstoff armen und mit Kohlensäure überladenen Luft zu athmen – wenn ihre Rettung sich noch um einige Stunden verzögerte, so hätte Jasper Hobson nur noch Leichen vorgefunden.

Mrs. Paulina Barnett begriff bald, was geschehen war. Sie vermuthete, daß das Packeis über die Insel herein gebrochen sei, und schloß aus dem unter dem Hause rauschenden Wasser, daß diese widerstandslos nach Süden gedrängt werde. Hieraus erklärt es sich auch, warum sie nach wiedererlangtem Bewußtsein sogleich um sich blickte und jene wenigen Worte ausstieß, die nach dem Verluste des Schiffes eine so verhängnißvolle Bedeutung hatten.

In jenem Augenblicke fehlte aber allen Uebrigen die Zeit, sich nach dem umgebenden Meere umzusehen, nur für Eines hatten sie ein Verständniß, für die Rettung Derjenigen, die ihnen fast mehr als ihr eigenes Leben galt, und für die Madge's, Kalumah's und Thomas Black's. Bis jetzt fehlte also, trotz aller überstandenen Prüfungen und Gefahren, noch Keiner von den Leuten, die Jasper Hobson wider seinen Willen zu einer so grauenvollen Lage geführt hatte.

[426] Diese sollte sich aber bald noch weiter verschlimmern und das Ende der Katastrophe herbeiziehen, deren Lösung ja nicht mehr fern sein konnte.

Lieutenant Hobson beeilte sich, die Ortslage der Insel noch an demselben Tage aufzunehmen. Ein Verlassen der letzteren wurde nun nach Zerstörung des Fahrzeuges und Befreiung der Wasserfläche von ihrer Eisdecke zur Unmöglichkeit. An Stelle der Eisberge schwammen im Norden nur noch die Trümmer der Packeiswand, deren einstürzender Gipfel Cap Bathurst dem Boden gleich gemacht hatte, und deren tief eingetauchte Basis die Insel nach Süden zu drängte.

Bei Durchsuchung der Trümmer des Hauptgebäudes fand man glücklicher Weise die Instrumente und Karten, welche Thomas Black bei sich führte, unversehrt wieder auf. Zwar deckten Wolken den Himmel, doch erschien dann und wann die Sonne lange genug, so daß Lieutenant Hobson deren Höhe mit hinreichender Genauigkeit messen konnte.

Die Berechnung ergab, daß sich die Insel an diesem Tage, dem 12. Mai, unter 168°12' westl. Länge von Greenwich und unter 63°27' nördl. Breite befand. Der auf der Karte eingezeichnete Punkt lag dem Norton-Golf zwischen dem asiatischen Vorgebirge Tschaplin und dem amerikanischen Cap Stephens gegenüber, doch von beiden Küsten mehr als hundert Meilen entfernt.

»Wir müssen also darauf verzichten, an einem Continente anzulaufen? sagte da Mrs. Paulina Barnett.

– Ja, Madame, erwiderte Jasper Hobson, von dieser Seite ist jede Hoffnung geschwunden. Die Strömung reißt uns mit großer Schnelligkeit nach der offenen See hinaus, und können wir blos noch auf die Begegnung eines Walfängers rechnen, der in Sicht der Insel vorüber käme.

– Könnte uns indeß die Strömung, fragte die Reisende, wenn auch nicht gegen das Festland, so doch einer der Inseln im Behrings-Meere zutreiben?«

Wirklichschimmerte in dieser Möglichkeit noch eine schwache Hoffnung, an die sich die Halbverzweifelten anklammerten, wie der Ertrinkende an das schwächste Brett. An Inseln fehlte es ja nicht in jenen Theilen des Behrings-Meeres, da waren St. Laurent, St. Mathieu, Nouniwak, St. Paul, Georg u.a.m Von St. Laurent, einer ziemlich umfangreichen Insel mit vielen benachbarten Eilanden, trennte die schwimmende Insel jetzt kein zu großer [427] Zwischenraum, und beim Verfehlen jener durfte man noch auf den unterbrochenen Bogen der Aleuten rechnen, der das Behrings-Meer im Süden abschließt.

Ja, St. Laurent konnte zum Rettungshafen für die Verschlagenen werden! Und wenn nicht dieses, dann St. Mathieu oder die Gruppe kleiner Inseln, deren Mittelpunkt letztere bildet. Die Aleuten noch zu erreichen, war bei ihrer Entfernung von mehr als achthundert Meilen kaum zu erwarten. Vorher, lange vorher mußte die gleichsam untergrabene Insel Victoria von dem wärmeren Wasser gelöst, von den Strahlen der Sonne, die schon in das Zeichen der Zwillinge trat, geschmolzen sein.

Jedenfalls erschien diese Annahme begründet. In der That ist die Entfernung, bis zu welcher sich das Eis dem Aequator nähert, sehr veränderlich und kleiner in der südlichen, größer in der nördlichen Hemisphäre. Nicht gar selten begegnet man jenem noch in der Breite des Cap der Guten Hoffnung, d.h. etwa in der siebenunddreißigsten Parallele, während die dem Arktischen Meere entstammenden Eisberge noch niemals den vierzigsten Grad der Breite überschritten. Offenbar steht aber die Schmelzungsgrenze des Eises mit der Temperatur in bestimmtem Verhältnisse und hängt wesentlich von klimatischen Bedingungen ab. Nach langen Wintern tritt das Eis noch unter niedreren Breiten auf; bei frühzeitigem Thauwetter ist natürlich das Gegentheil der Fall.

So verhielt es sich aber bei dem zeitigen Frühlinge des Jahres 1861, welcher die Schmelzung der Insel Victoria um ebenso viel früher herbeiführen mußte. Schon färbte sich das Wasser des Behrings-Meeres grünlich und verlor sein bläuliches Aussehen, das ihm nach dem Berichte des Seefahrers Hudson bei Annäherung von Eisbergen eigenthümlich sein soll. Jetzt, da nun die Schaluppe fehlte, stand eine Katastrophe jeden Augenblick zu befürchten.

Jasper Hobson suchte eine solche dadurch abzuwenden, daß er ein hinreichend großes Floß zimmern ließ, um im Nothfalle die ganze kleine Colonie aufzunehmen und wohl oder übel nach dem Festlande überzuführen, oder wenigstens eine Zeit hindurch mit einiger Sicherheit See zu halten. Im Uebrigen wurde die Begegnung eines Schiffes mit jedem Tage wahrscheinlicher, da sich jetzt gewiß schon Walfänger nach dem Norden zu gehen anschickten. Mac Nap erhielt also Auftrag, ein geräumiges und festes Floß [428] zu zimmern, welches sich schwimmend erhalten sollte, wenn die Insel Victoria unterginge.

Noch dringlicher erschien es aber, vorher irgend einen bewohnbaren Raum herzustellen, in dem die unglücklichen Insassen der Insel ein schützendes Unterkommen finden konnten. Als einfachster Ausweg bot sich da die Abräumung des vormaligen Soldatenhauses, dessen Wände noch benutzbar sein würden. Entschlossen gingen Alle an's Werk, und schon nach wenigen Tagen war man im Stande, sich vor der Unbeständigkeit des regnerischen und stürmischen Klimas zu fluchten.

Auch im Hauptgebäude suchte man wiederholt nach und glückte es, aus den versenkten Zimmern verschiedene mehr oder minder nützliche Gegenstände, Werkzeuge, Waffen, Bettgeräthe, einige Meubles, die Ventilationspumpen, das Luftreservoir u.s.w. zu retten.

Am folgenden Tage, dem 13. Mai, mußte man jede Hoffnung aufgeben, bei der Insel St. Laurent anzulanden. Die Lagenbestimmung lieferte den Beweis, daß die Insel weit östlich von jener vorübertrieb; wirklich stoßen die Strömungen ganz im Allgemeinen fast nie gegen ihre natürlichen Hindernisse, sondern umgehen diese eben, und Lieutenant Hobson erkannte bald, daß auf diesem Wege an eine Landung nicht zu denken sei. Die Aleuten-Inseln allein, welche wie ein riesiges Netz durch mehrere Längengrade vor dem Behrings-Meere im Bogen ausgespannt erscheinen, versprachen die Insel aufzuhalten; aber würde sie, wie erwähnt, so lange ausdauern? Jetzt flog sie zwar mit größter Schnelligkeit dahin, wie aber, wenn diese sich verminderte, wenn die drängenden Eisberge sich auf irgend eine Weise von ihr ablösten, vielleicht vorher zusammenschmolzen, da sie keine Erd- und Sandschicht vor der unmittelbaren Sonneneinwirkung schützte?

Lieutenant Hobson, Mrs. Paulina Barnett, Sergeant Long und der Meister Zimmermann behandelten diese Frage wiederholt und einigten sich unter Erwägung der thatsächlichen Verhältnisse in der Ansicht, daß die Insel in keinem Falle bis zu den Aleuten gelangen könne, ob sich nun ihre Bewegung verlangsame, sie aus dem Behrings-Strome heraus gedrängt werde oder unter dem zweifachen Angriff des Wassers und der Sonnenwärme untergehe.

Am 14. Mai griffen Meister Mac Nap und seine Leute ihr Werk an und begannen ein geräumiges Floß zu zimmern. Es handelte sich darum, [429] dieses Bauwerk so hoch als möglich über das Wasserniveau hervortreten zu lassen, um es nach Kräften gegen Sturzseen zu sichern. Das Werk war jetzt kein leichtes, doch rief das nur den Eifer der Arbeiter wach. Glücklicher Weise hatte der Schmied Raë auch eine beträchtliche Menge eiserner Klammern wieder aufgefunden, die man einst von Fort-Reliance aus mitgenommen, und dienten dieselben dazu, die unteren Theile des Flosses sehr fest mit einander zu verbinden.

Die Stelle, auf der jenes erbaut wurde, verdient wohl einer Erwähnung. Einem Einfalle Jasper Hobson's entsprachen folgende Maßnahmen Mac Nap's: Statt nämlich große und kleine Holzstämme auf dem Erdboden richtig zu ordnen, geschah das gleich auf dem Wasser der Lagune. Die mit Schrauben- und Zapfenlöchern versehenen Bäume wurden in den kleinen See hinab befördert, wo man sie ohne Mühe handhaben konnte. Hiermit erreichte man zwei Vortheile, denn zunächst konnte der Zimmermann sofort über die Tragkraft und den Grad der Stabilität seiner Arbeit urtheilen, und dann schwamm auch das Floß schon, wenn die Insel einst unterging, und war nicht den Schwankungen und den etwaigen Stößen des geborstenen Bodens ausgesetzt, die ihm gefährlicher werden mußten, wenn es noch am Lande lag. Diese zwei sehr wohl zu erwägenden Gründe veranlaßten den Meister Zimmermann, auf obige Art und Weise vorzugehen.

Während dieser Arbeiten schweifte Jasper Hobson bald allein, bald in Begleitung der Mrs. Paulina Barnett am Ufer umher. Er beobachtete den Zustand des Meeres und die wechselnden Aushöhlungen der Küste, die das Meer ausnagte. Sein Auge glitt über den einsamen, verlassenen Horizont dahin, an dem sich auch im Norden keine Riesengestalt eines Eisberges mehr abzeichnete. Vergeblich suchte er, wie alle Schiffbrüchigen, »jenes rettende Fahrzeug, das nie erscheint«. Die Einsamkeit des Oceans unterbrach nur der Durchzug einiger Spritzfische, die sich in dem grünlichen Gewässer tummeln, wo es von Myriaden fast mikroskopischer Thierchen, ihrer wesentlichen Nahrung, wimmelt. Dazu schwammen Hölzer vorüber, verschiedene aus heißen Ländern entführte Arten, welche die großen Meeresströmungen bis hier hinauf trugen.

Eines Tages, es war am 16. Mai, gingen Mrs. Paulina Barnett und Madge zwischen Cap Bathurst und dem früheren Hafen bei schöner Witterung und warmer Luft spazieren. Schon seit geraumer Zeit verschwand jede Spur [430] von Schnee von der Oberfläche der Insel. Nur die Eisstücken, welche die Schollenwand am Ufer aufgehäuft hatte, erinnerten noch an das Polarklima. Nach und nach schmolzen aber auch jene, Tag für Tag sprangen neue Wasserfälle von dem Gipfel und den Seitenwänden des Eishausens, und voraussichtlich mußte die Sonne bald alle nur von der letzten Winterkälte verlötheten Massen gelockert und zerstört haben.

Die Insel Victoria bot wirklich einen seltsamen Anblick und hätte unter anderen Verhältnissen wohl das lebhafteste Interesse erweckt, als der Frühling sich da selbst mit ungewohnter Kraft äußerte und das Pflanzenleben sich unter diesen milderen Breiten mit wahrhafter Ueppigkeit entwickelte. Moose, kleine Blumen, Mrs. Joliffe's Sämereien, Alles sproßte fröhlich empor, und nicht an der Menge der Pflanzen allein, sondern auch an ihrer lebhafteren Färbung erkannte man die vegetative Kraft des dem arktischen Klima entführten Bodens. Die sonst blassen, wasserblauen Blüthen schmückten sich mit wärmeren Farbentönen, alle Bäume und Gesträuche mit satterem Grün. Ihre Knospen sprangen bei dem Wiedereintritt des Saftes, den eine Temperatur von manchmal + 20° in die Gefäße trieb. Die arktische Natur wandelte sich unter einem Breitengrade, der in Europa etwa dem von Christiania oder Stockholm entsprach, vollständig um.

Für die sich überall meldenden Naturkräfte hatte Mrs. Paulina Barnett jetzt freilich kein Auge. Vermochte sie in dem Zustande ihres vorübergehenden Wohnsitzes etwas zu ändern? – Konnte sie die schwimmende Insel wieder an die feste Erdrinde heften? Nein! In ihr regte sich nur das Vorgefühl der letzten Katastrophe, wie sie der Instinct vielleicht den Hunderten von Thieren verrieth, welche immer in der Nähe der Factorei umherschweiften. Diese Füchse, Zobelmarder, Hermeline, Luchse, Biber, Bisamthiere und Wiesel, welche die nahe drohende Gefahr ahnten und alle ihre Scheu zu verlieren schienen, alle schlossen sich ihren erklärten Feinden, den Menschen, an, so als ob sie von diesen Rettung erhofften. Sie zeigten eine stillschweigende, instinctive Anerkennung der menschlichen Ueberlegenheit, und das gerade jetzt, wo auch diese Ueberlegenheit so machtlos war!


Zwei verzweifelnde Freundinnen. (S. 433.)

Nein! Mrs. Paulina Barnett wollte von alledem nichts sehen; immer hingen ihre Blicke nur an jenem grausamen, grenzenlosen Meere, das mit dem Himmelshorizonte verschwamm.


Beim letzten Versuche zur Rettung. (S. 435.)

»Meine arme Madge, sagte sie, in dieses Unglück habe ich Dich gebracht, Dich, die mir überallhin folgte und deren Ergebenheit und freundschaftliche Treue wohl ein anderes Loos verdient hätte! Kannst Du mir [431] verzeihen?

– Es giebt Nichts auf der Welt, was ich Dir nicht verzeihen würde, meine Tochter, antwortete Madge; aber irgend Etwas nicht mit Dir zu theilen, das wäre mein Tod gewesen.

[432] – Madge! Madge! rief die Reisende, wenn ich mit meinem Leben das aller jener Unglücklichen erkaufen könnte, ich würde es freudig hingeben.

– Du hast also keine Hoffnung mehr, meine Tochter? fragte Madge.

– O Gott, nein!« antwortete Mrs. Paulina Barnett, und fiel schluchzend ihrer Begleiterin in die Arme.

Für einen Augenblick kam das Weib doch in dieser so männlich angelegten [433] Natur zum Durchbruch, und wer bliebe bei solchen Prüfungen auch stets von jeder Schwäche frei?

Mrs. Paulina Barnett ging das Herz über, und Thränen flossen aus ihren Augen.

Mit ihren Liebkosungen und Küssen suchte Madge sie zu trösten.

»Madge, bat die Reisende, den Kopf wieder erhebend, sage ihnen wenigstens nicht, daß ich geweint habe.

– Nein, mein, versicherte Madge, sie würden's mir auch gar nicht glauben. Das war nur ein Augenblick des Kleinmuths! Auf, ermanne Dich, meine Tochter, Du unserer Aller Seele! Auf, auf, und fasse neuen Muth!

– Hoffst Du denn noch immer? rief Mrs. Paulina Barnett und sah ihrer treuen Gefährtin tief in's Auge.

– Ich hoffe immer!« antwortete einfach Madge.

Und doch, war es denn möglich, sich noch einen Hoffnungsschimmer zu bewahren, als die Insel einige Tage später weit ab von der St. Mathieu-Gruppe vorüberschwamm und nun im ganzen Behrings-Meer kein Land mehr lag, das sie auf ihrem verderblichen Zuge hätte aufhalten können?

20. Capitel
Zwanzigstes Capitel
In's offene Meer!

Die Insel Victoria trieb nun in dem ausgedehntesten Theile des Behrings-Meeres dahin, noch sechshundert Meilen von den ersten Aleuten, und mehr als zweihundert Meilen von der nächsten Küste an der Ostseite entfernt. Ihre Bewegung war noch immer eine sehr schnelle. Im Fall sich diese aber nur im Geringsten verminderte, erforderte es mindestens drei Wochen, bis sie jenen Inselgürtel erreichen konnte, der dieses Meer im Süden abschließt.

Würde diese Insel, deren Basis sich unter dem Einflusse des warmen [434] Wassers, das schon eine Temperatur von - 10° hatte, täglich verminderte, so lange ausdauern? Konnte sich ihr Boden nicht jeden Augenblick aufthun?

Mit aller Macht drängte Jasper Hobson zur Vollendung des Flosses, dessen unterer Theil schon auf dem Wasser der Lagune schwamm. Mac Nap bestrebte sich, seinem Bauwerk die größtmöglichste Sicherheit zu geben, um es zu befähigen, im Nothfall auch länger einer bewegten See Stand zu halten, da man doch nicht darauf rechnen durfte, einem Walfänger zu begegnen, sondern bis zu den Aleuten-Inseln hinab zu fahren.

Noch immer hatte die Insel Victoria in ihrer allgemeinen Gestaltung keine auffällige Veränderung erfahren. Zwar zog man alltäglich auf Kundschaft aus, wagte sich aber nur mit größter Vorsicht von der Factorei weg, da jeden Augenblick ein Bruch des Bodens erfolgen und eine Zerstückelung der Insel das allgemeine Centrum von den Ausgegangenen trennen konnte, welche dann keine Hoffnung mehr hatten, ihre Gefährten je wiederzusehen.

Der tiefe Einschnitt in der Nähe des Cap Michael, welchen der Winterfrost wieder geschlossen hatte, that sich von Neuem auf und erstreckte sich jetzt eine halbe Meile landeinwärts bis nach dem vormaligen Paulina-Flusse. Es stand sogar zu befürchten, daß er dem Bett desselben nachgehen, und längs dieser schon von Natur dünneren Linie aufbrechen würde. In diesem Falle mußte die ganze Küstenstrecke zwischen dem Cap Michael und dem Barnett-Hafen, d.h. ein ungeheures Stück von mehreren Quadratmeilen, verschwinden. Lieutenant Hobson empfahl also seinen Leuten, sich nicht unnöthig dorthin zu begeben, denn seiner Ansicht nach genügte wohl schon ein heftigerer Wellenschlag im Meere, um dieses Stück der Insel loszureißen.

Inzwischen führte man an verschiedenen Stellen Sondirungen aus, um diejenigen kennen zu lernen, welche in Folge ihrer Dicke der Auflösung den längsten Widerstand zu leisten versprachen. Die beträchtlichste Dicke fand man gerade in der Nähe des Cap Bathurst, an der Stelle der alten Factorei, wobei natürlich nicht der Durchmesser der Erd- und Sandschicht, denn auf diese war ja wenig Verlaß, sondern der der Eiskruste in Anschlag kam. Gewiß war das noch ein glücklicher Umstand. Die betreffenden Punkte wurden später offen gehalten, so daß man sich jeden Tag von der Stärkeabnahme der Basis der Insel zu überzeugen vermochte. Wenn diese Abnahme auch nur langsam vor sich ging, so machte sie doch Tag für Tag [435] Fortschritte. Drei Wochen lang konnte die Insel, wenn man das immer wärmere Wasser, dem sie entgegen trieb, in Rechnung brachte, schwerlich noch aushalten.

Vom 19. bis zum 25. Mai trat schlechtes Wetter ein und entfesselte sich ein heftiger Sturm. Vom Himmel leuchteten die Blitze und hallte der rollende Donner wieder. Das von starkem Nordwestwinde aufgewühlte Meer wogte in hohen Wellen, die der Insel gefährlich zu werden drohten. Die ganze kleine Colonie hielt sich zusammen und bereit, sich auf dem Flosse, das nun so ziemlich ausgebaut war, einzuschiffen. Man belud es sogar mit einigem Vorrath an Lebensmitteln und Trinkwasser, um auf jede Eventualität gefaßt zu sein.

Bei diesem Sturme fiel auch noch reichlicher Regen, ein warmer Platzregen, dessen große Tropfen tief in den Boden der Insel einschlugen, und welche bis zur Basis derselben dringen mußten. Durch jene Infiltrationen schmolz nun offenbar der Boden auch von oben her und außerdem schwemmten sie die überlagernden Schichten an manchen Punkten weg, so daß vorzüglich an kleinen Abhängen die Eiskruste zum Vorschein kam. Solche Stellen überdeckte man dann wieder sorgfältig mit Sand und Erde, um sie der Einwirkung der wärmeren Temperatur zu entziehen. Ohne diese Vorsicht wäre der Boden wohl bald wie ein Sieb durchlöchert gewesen. Auch an den bewaldeten Hügeln an den Ufern der Lagune richtete der Sturm einen unermeßlichen Schaden an. Sand und Erde wurden durch die Regenmassen fortgespült, und die ihren Halt verlierenden Bäume stürzten in großer Anzahl nieder. Binnen einer Nacht hatte sich das Aussehen jenes Theiles der Insel vollkommen verändert. Nur wenige Birkengruppen und vereinzelte Tannen hatten dem Sturme widerstanden. Auch hierin waren die Fortschritte der Zerstörung des ganzen Gebietes nicht zu verkennen, und doch vermochte die Kraft des, Menschen nicht das Geringste dagegen. Lieutenant Hobson, Mrs. Paulina Barnett, der Sergeant und alle Uebrigen sahen wohl ihre Insel nach und nach in Stücke gehen, Alle fühlten es wenigstens, außer vielleicht Thomas Black, der trüb und stumm dieser Welt nicht mehr anzugehören schien.

Während des Sturmes, am 23. Mai, wäre der Jäger Sabine, der bei dichtem Morgennebel ausgegangen war, fast in einem im Laufe der Nacht entstandenen Loche ertrunken, das sich an der Stelle des früheren Hauptgebäudes geöffnet hatte.

[436] Bis jetzt schien bekanntlich das verschüttete und zu drei Viertheilen eingesunkene Haus zwischen der Eiskruste festgeklemmt gewesen zu sein. Jedenfalls hatte es aber der Wellenschlag des Meeres allmälig gelockert und die darüber gehäufte Last in den Abgrund hinabgedrückt. Erde und Sand rutschten in die entstandene Oeffnung nach, in der die schäumenden Meereswellen sichtbar wurden.

Sabine's Kameraden, welche auf sein Hilferufen herbeieilten, gelang es noch, Jenen aus der Oeffnung heraus zu lootsen, an deren glatten Rändern er sich krampfhaft anklammerte, so daß er für dieses Mal mit einem unfreiwilligen Bade davon kam.

Bald darauf sah man auch Balken und Planken vom Hause, die unter der Insel hingeschwommen waren, vom Ufer seewärts treiben, wie Wrackstücken eines gescheiterten Schiffes. Das war die letzte vom Sturme angerichtete Verheerung, welche übrigens den Zusammenhalt der ganzen Insel in Frage stellte, da sie auch die inneren Theile derselben den Angriffen des Wassers preisgab, welches sie einem Krebse ähnlich nach und nach zerstörte.

Am Morgen des 25. Mai ging der Wind nach Nordost um. Der Sturmwind schwächte sich zur steifen Brise ab, der Regen ließ nach, und das Meer begann sich zu beruhigen. Friedlich verstrich die Nacht, und am anderen Tage glänzte die Sonne wieder am Himmel, so daß Jasper Hobson eine Ortsaufnahme vornehmen konnte. Diese ergab:

Breite 56°13'; Länge 170°23'.

Die Schnelligkeit der Insel war also eine außerordentliche, denn sie hatte fast achthundert Meilen seit den zwei Monaten zurück gelegt, als sie bei Anbruch des eigentlichen Thauwetters in der Behrings-Enge fest lag.

Diese eilige Vorwärtsbewegung erregte in Jasper Hobson wieder einige Hoffnung.

»Meine Freunde, sagte er unter Vorzeigung der Karte des Behrings-Meeres, sehen Sie hier die Aleuten? Jetzt sind sie nur noch zweihundert Meilen von uns entfernt – in acht Tagen dürften wir sie wohl erreichen.

– In acht Tagen, wiederholte Sergeant Long den Kopf schüttelnd, acht Tage sind eine lange Zeit!

– Ja, fügte Lieutenant Hobson hinzu, hätte unsere Insel den hundertachtundsechzigsten Meridian eingehalten, so könnte sie schon jetzt in dem [437] Breitengrade jener Inseln sein. Offenbar treibt sie aber in Folge einer Abweichung des Behrings-Stromes mehr nach Südwesten.«

Diese Beobachtung war ganz richtig. Die Strömung führte die Insel weit ab von allen Ländern und vielleicht gar über die Aleuten hinaus, die sich nur bis zum hundertsiebenzigsten Meridian erstrecken.

Schweigend betrachtete Mrs. Paulina Barnett die Karte. Sie starrte auf den Bleistiftpunkt, der die Lage der Insel bezeichnete. Noch einmal überblickte sie die ganze von der Stelle ihres Winterlagers aus zurück gelegte Strecke, diesen Weg, den ein unglückliches Geschick oder vielmehr die unabänderliche Richtung der Strömungen zwischen so vielen Inseln hindurch und an den Küsten zweier Continente vorüber, ohne einen dieser Punkte zu berühren, vorgezeichnet hatte und der sich nun nach dem unendlichen Pacifischen Ocean hinaus fortsetzte.

So dachte sie in düsterer Träumerei versunken, aus der sie mit den Worten erwachte:

»Aber kann man unserer Insel denn in keiner Weise ihren Weg vorschreiben? Noch acht Tage solcher Schnelligkeit, und wir könnten vielleicht die letzte der Aleuten erreichen!

– Diese acht Tage ruhen in Gottes Hand! antwortete Lieutenant Hobson in ernstem Tone, wird Er sie uns noch schenken? Ich gestehe Ihnen ehrlich, Madame, jetzt kann uns die Rettung nur noch vom Himmel kommen.

– O, das ist mein Glaube auch, Herr Hobson, aber der Himmel will auch, daß man sich seiner Hilfe würdig macht. Ist nicht irgend etwas zu thun, irgend etwas zu versuchen, was noch von Nutzen sein könnte?«

Verneinend schüttelte Jasper Hobson den Kopf. Ihm winkte nur noch ein Rettungsanker, das Floß; aber sollte man sich auf diesem einschiffen, aus irgend welchem Material ein Segel herstellen, und so die amerikanische Küste zu gewinnen suchen?

Jasper Hobson befragte den Sergant Long, den Zimmermann Mac Nap, auf dessen Urtheil er sehr viel gab, den Schmied Raë und die Jäger Sabine und Marbre. Nach Abwägung des Für und Wider einigte man sich dahin, die Insel nur zu verlassen, wenn man dazu gezwungen sein sollte. Wirklich stellte das Floß nur das letzte Hilfsmittel dar; das Floß, welches das Meer doch überfluthen mußte und dem die Schnelligkeit der von den Eisbergen nach Süden getriebenen Insel abging. Auch der Wind blies vorwiegend von[438] Osten her und hätte das Fahrzeug gewiß eher in's offene Meer hinaus verschlagen. Noch mußte man warten, immer warten, da die Insel den Aleuten zuschwamm. Näherte man sich dieser Inselgruppe, so würde man sehen, ob etwas zu thun sei.

Gewiß erschien das als das Klügste, und wenn die Schnelligkeit nicht abnahm, so mußte die Insel entweder an der Südgrenze des Behrings-Meeres aufgehalten sein, oder, südwestlich in den Stillen Ocean getrieben, rettungslos verloren gehen.

Das Mißgeschick, welches die Ueberwinternden schon seit langer Zeit verfolgte, sollte sie aber noch mit einem neuen Schlage treffen. Die Geschwindigkeit der Fortbewegung, auf welche sie so sehnlich rechneten, sollte ihnen bald geraubt werden.

Wirklich unterlag die Insel Victoria in der Nacht vom 26. zum 27. Mai zum letzten Male einem Orientationswechsel, dessen Folgen sehr gewichtige waren. Sie machte eine halbe Drehung um sich selbst. Die von der Packeiswand übrig gebliebenen Schollenreste wurden ihr hierdurch nach Süden zu entführt.

Am Morgen sahen die Schiffbrüchigen, ein Name, der ihnen wohl mit Recht zukommt, die Sonne über Cap Eskimo aufgehen, und nicht am Horizonte über dem Barnett-Hafen.

Dort schwammen die durch das Thauwetter sehr verkleinerten, aber doch noch ganz beträchtlichen Eisberge, die sonst die Insel trieben, dahin, und verdeckten einen großen Theil des Gesichtskreises.

Worin bestanden aber jene gewichtigen Folgen des Lagenwechsels? Mußten sich die Eisberge nicht von der Insel, mit welcher kein festes Band sie verknüpfte, ablösen?

Jedem kam die Ahnung eines neuen Unglücks, und Jeder verstand, was der Soldat Kellet sagen wollte, als er ausrief:

»Noch vor heute Abend werden wir unsere Schraube eingebüßt haben!«


Ein Seebad wider Willen. (S. 437.)

Kellet wollte damit sagen, daß diese Eisberge, welche nicht mehr hinter der Insel, sondern jetzt vor derselben waren, nicht zögern würden, sich von jener los zu lösen. Sie hatten ihr aber jene große Schnelligkeit mitgetheilt, [439] da sie so tief in die unterseeische Strömung eintauchten, deren Kraft der flachen Insel offenbar abgehen mußte.


Unterbrochene Verproviantirung. (S. 446.)

Ja! Der Soldat Kellet hatte nur zu Recht. Die Insel befand sich jetzt in der Lage eines Schiffes, dessen Masten gekappt und dessen Schraube zerbrochen war.

Niemand antwortete auf jene Prophezeiung Kellet's. Doch es verfloß kaum eine Viertelstunde, als sich ein schreckliches Krachen vernehmen ließ.

[440] Der Gipfel des Eisberges schwankte, die Masse löste sich, und während die Insel sichtbar zurück blieb, enteilten die von dem unterseeischen Strome entführten Eismassen schnell nach Süden.

[441]
21. Capitel
Einundzwanzigstes Capitel
Die Insel wird zum Eiland.

Drei Stunden später waren auch die letzten Reste der Packeiswand aus dem Gesichtskreise verschwunden, welche Schnelligkeit den Beweis lieferte, daß die Insel jetzt wohl ganz ohne Bewegung verharrte. Es erklärte sich diese Erscheinung dadurch, daß die Strömung, mit der sie vorher dahin trieb, sich nur in größerer Tiefe, aber nicht auf der Oberfläche des Wassers bewegte.

Die Vergleichung zwischen der Mittagsbeobachtung dieses und des folgenden Tages ergab nur eine Ortsveränderung von kaum einer Meile!

Nun gab es nur noch eine Rettung, eine einzige! – Die Aufnahme der Schiffbrüchigen durch einen Walfänger, ob Jene nun so lange auf der Insel blieben oder das Floß diese nach ihrem Untergange schon ersetzt hatte.

Die Insel Victoria befand sich zur Zeit übrigens unter 54°33' der Breite und 177°19' der Länge, mehrere hundert Meilen von den Aleuten, dem nächstgelegenen Lande entfernt.

Lieutenant Hobson rief seine Leute noch einmal zusammen, um gemeinschaftlich mit ihnen zu berathen, was zu thun sei.

Alle stimmten in der Ansicht überein, bis zur Schmelzung der Insel auf derselben auszuharren, deren Ausdehnung sie gegen den Wellenschlag unempfindlich machte; häuften sich dann die Anzeichen der nahenden Zerstörung, so sollte sich die ganze kleine Colonie auf dem Floß einschiffen.

Letzteres war nun vollendet. Mac Nap erbaute darauf einen Kajütenraum, eine Art Zwischendeck, in welchem das ganze Personal der Colonie eine Zuflucht finden konnte. Auch einen Mast, der im Nothfalle aufzurichten war, hatte man nebst dem Zubehör an Segelwerk längst vorgerichtet. Bei der Festigkeit des ganzen Bauwerks, und mit Unterstützung günstigen Windes durfte man wohl auf die Rettung der ganzen Gesellschaft durch dasselbe hoffen.

»Nichts ist dem unmöglich, sagte Mrs. Paulina Barnett, der den Winden befiehlt und die Wogen beherrscht!«

Jasper Hobson hatte den Vorrath an Lebensmitteln durchsehen lassen, [442] der keinen Ueberfluß mehr aufwies, nachdem der Eissturz ihn so wesentlich vermindert hatte; dagegen fehlte es an Wiederkäuern und Nagethieren nicht, die an dem üppigen Moos- und Graswuchs der Insel reichliche Nahrung fanden. Da es nöthig erschien, den Abgang an conservirtem Fleisch zu ersetzen, so schossen die Jäger einige Rennthiere und Polarhasen.

Die Gesundheit Aller hielt sich im Ganzen recht gut. Von dem letzten milden Winter hatten sie nur wenig gelitten und waren ihre Körperkräfte trotz der heftigsten Gemüthsbewegungen nicht erschüttert worden. Dennoch sahen sie nicht ohne die trübsten Ahnungen dem Augenblicke entgegen, in dem sie die Insel Victoria, oder richtiger, in dem jene sie selbst verlassen würde. Sie erschraken vor dem Gedanken, auf diesem grenzenlosen Meere und das auf einem Stück Holz zu schwimmen, welches dem Seegange machtlos preisgegeben war. Selbst bei erträglich gutem Wetter mußten die Wellen darüber schlagen und ihre Lage sehr peinlich gestalten. Man bedenke hierbei, daß sie eben keine Seeleute, keine Habitués des Meeres, die sich sorglos einem schwachen Brette anvertrauen, sondern Soldaten waren, und nur an die festen Landgebiete der Compagnie gewöhnt. Zwar trug sie nur eine zerbrechliche, auf dünner Eisscholle ruhende Insel, doch hatte sie einen Erdboden und auf diesem eine grünende Vegetation mit Bäumen und Strauchwerk, die Thiere bewohnten sie gleichzeitig mit ihnen, ihre vollkommene Indifferenz gegen den Seegang ließ sie als unbeweglich ansehen. Ja, sie liebten diese Insel Victoria, ihren Aufenthalt fast zweier Jahre hindurch; die Insel, die sie so oft nach allen Richtungen durchstreift, die sie angesäet hatten, und welche schon so vielen Umwälzungen erfolgreich widerstand. Nur mit Wehmuth würden sie dieselbe verlassen, und das nur dann erst, wenn jene unter ihren Füßen entwich.

Dem Lieutenant Hobson waren diese Anschauungen nicht fremd und fand er sie sehr natürlich. Er kannte das Widerstreben, mit dem seine Leute das Floß besteigen würden, aber die Verhältnisse drängten zuletzt doch wohl dazu, und konnte die Insel in dem erwärmten Meerwasser ja jeden Augenblick schmelzen, wenigstens ließen sich die drohenden Vorzeichen dieses Endes nicht verkennen.

Das Floß maß auf jeder Seite etwas über dreißig Fuß, bot demnach eine Oberfläche von fast tausend Quadratfuß. Seine Plattform überragte das Wasser nur um zwei Fuß, und die Seitenwände ringsum schützten es wohl gegen die ganz kleinen Wellen, während es auf der Hand lag, daß [443] eine nur irgend bewegtere See darüber hinweg gehen mußte. In der Mitte des Flosses hatte der Meister Zimmermann ein kleines Hänschen errichtet, das wohl zwanzig Personen bergen konnte. Rund um dasselbe waren Behälter für die Lebensmittel und das Trinkwasser angebracht und das Ganze mittels Eisenklammern fest mit der Plattform verbunden. Der dreißig Fuß hohe Mast stützte sich an diesen Oberbau, und hielten diesen von den Ecken des Apparates auslaufende Strickleitern. Dieser Mast sollte ein viereckiges Segel erhalten, das natürlich nur dienen konnte, wenn der Wind von rückwärts her wehte. Von irgend einer anderen Takelage mußte bei diesem primitiven Fahrzeuge, das auch nur ein sehr unzulängliches Steuerruder führte, gänzlich abgesehen werden.

So war Mac Nap's Floß beschaffen, von dem zwanzig Personen, oder bei Hinzurechnung des Kindes einundzwanzig, ihre Rettung erhofften. Ruhig schwamm es, von starker Leine gehalten, am Ufer der Lagune. Wohl war es mit mehr Sorgfalt gebaut, als Schiffbrüchige durch den plötzlichen Untergang ihres Schiffes auf ein solches zu verwenden vermögen, aber immerhin blieb es doch nur ein Floß.

Schon der 1. Juni brachte wieder neues Unheil. Der Soldat Hope hatte aus der Lagune zu Küchenzwecken Wasser schöpfen wollen. Mrs. Joliffe kostete dasselbe und fand es salzig. Sie rief Hope zurück und sagte ihm, sie habe Süßwasser, aber kein Seewasser verlangt.

Hope erwiderte ihr, daß er dasselbe aus der Lagune geholt habe. Hieraus entspann sich ein lebhafteres Gespräch, welches Jasper Hobson herbeilockte. Bei den Versicherungen Hope's entfärbte er sich ein wenig und begab sich eiligst nach der Lagune ...

Ihr Gewässer erwies sich vollkommen salzig! Offenbar war der Boden derselben weggeschmolzen und das Meerwasser durch die Oeffnung eingedrungen.

Als sich diese Nachricht verbreitete, erfaßte zuerst Alle ein lebhafter Schrecken.

»Kein Trinkwasser mehr!« riefen die armen Leute.

Nach dem Paulina-Flusse verloren sie nun auch den Barnett-See!

Der Lieutenant beeilte sich indeß, die erschreckten Gemüther zu beruhigen.

»An Eis fehlt es uns ja nicht, meine Freunde, sagte er. Macht Euch keine Angst. Wir brauchen nur einige Stücken unserer Insel einzuschmelzen, [444] und ich hoffe, wir werden sie nicht ganz austrinken«, fügte er mit einem Versuche zu lächeln hinzu.

Wirklich verliert das Salzwasser sowohl beim Verdampfen als auch beim Gefrieren alle Mineralbestandtheile, die es in Lösung hielt. Man grub also, wenn man so sagen darf, einige Eisblöcke aus der Erde und schmolz diese nicht nur für den täglichen Gebrauch, sondern auch zur Füllung der Behälter auf dem Flosse ein.

Dieser neue Wink, den die Natur hiermit gegeben hatte, durfte indeß nicht unbeachtet bleiben. Unzweifelhaft löste sich die Insel an ihrer Basis auf, und jener Einbruch des Meerwassers wurde für sie zur beschleunigenden Gefahr. Der Boden konnte nun jede Minute in Stücke gehen, und Jasper Hobson gestattete seinen Leuten nicht mehr sich zu entfernen, da sie leicht von den Uebrigen getrennt und in die offene See hinaus getrieben werden konnten.

Auch die Thiere schienen ein Vorgefühl der ganz nahen Gefahr zu haben und drängten sich um die alte Factorei herum. Seit dem Verschwinden des süßen Wassers bemerkte man, daß sie an den aus dem Boden gehobenen Eisstücken leckten. Sie schienen beunruhigt, manche wie toll geworden, und vorzüglich die Wölfe, welche bandenweise herankamen und mit lautem Gebell wieder das Weite suchten. Die Pelzthiere hielten immer nahe der Stelle des versunkenen Hauses aus; der Bär trottete umher, ebenso friedfertig den Thieren, wie den Menschen gegenüber. Auch er erschien wie aus Instinct unruhig, und hätte gern Schutz gefunden gegen eine Gefahr, die er voraus empfand und nicht abwenden konnte.

Die bis jetzt sehr zahlreichen Vögel verminderten sich. Während der letzten Tage wanderten starke Züge von solchen, deren Flügelkraft ihnen gestattete, einen sehr weiten Raum zu durcheilen, wie z.B. die Schwäne, nach Süden aus, wo sie auf den Aleuten den nächsten Ruhepunkt finden mußten. Ihren Weggang beobachteten Mrs. Paulina Barnett und Madge, die sich eben am Ufer befanden und daraus nicht die beste Aussicht für die nächste Zukunft prophezeiten.

»Ausreichende Nahrung finden diese Vögel auf der Insel, sagte Mrs. Paulina, und sie verlassen dieselbe dennoch! Das hat seinen guten Grund, meine arme Madge.

– Ja, erwiderte diese, sie nehmen ihren Vortheil wahr. Doch wenn sie [445] uns damit einen Wink gegeben, so sollten wir diesen zu benutzen suchen. Mir scheint es dazu auch, als ob die übrigen Thiere unruhiger wären, als je vorher.«

Noch an diesem Tage ließ Jasper Hobson einen großen Theil der Lebensmittel und Lagergeräthe nach dem Flosse schaffen. Auch beschloß man, daß sich Alle auf demselben einschiffen sollten.

Gerade jetzt war aber das Meer sehr wild und auf diesem kleinen Mittelländischen Meere, das die See nun an Stelle der Lagune bildete, wogte das Wasser heftig auf und nieder. Die in dem verhältnißmäßig engen Raume gefangenen Wellen brachen sich donnernd am Ufer. Das Bild glich einem Sturme auf dem See, oder vielmehr auf diesem meerestiefen Abgrunde. Das Floß schwankte furchtbar, und in Massen stürzten die Fluthen über dasselbe hinweg, so daß man sich genöthigt sah, die begonnene Beladung mit dem Nothwendigsten wieder einzustellen.

Unter diesen Verhältnissen widersprach auch Jasper Hobson der Ansicht seiner Leute nicht weiter. Besser erschien es, noch eine Nacht ruhig auf der Erde zu verbringen und die Einschiffung nach Beruhigung des Meeres wieder fortzusetzen.

Die Nacht verlief übrigens besser, als man zu hoffen gewagt hatte. Der Wind legte sich und das Meer wurde ruhiger. Es war nur ein Gewittersturm gewesen, der mit jener den elektrischen Meteoren eigenthümlichen Geschwindigkeit vorüber ging. Um acht Uhr Abends war die See fast wieder glatt und nur plätschernd hörte man noch die Wellenbewegung in der Lagune.

Unzweifelhaft konnte die Insel einer allmäligen Auflösung nicht entgehen, doch erschien eine solche günstiger, als ein plötzlicher Bruch derselben, wie er bei einem Sturme und seinen bergehohen Wogen so leicht stattfinden konnte.

Dem Gewitter folgte ein leichter Nebel, der aber mit der Nacht an Dichtigkeit zunahm. Von Norden aus heranziehend, bedeckte er den größten Theil der Insel.

Noch vor Schlafengehen untersuchte Jasper Hobson die Taue des Flosses, welche um starke Birkenstämme geschlungen waren. Aus Vorsicht wickelte er sie noch einmal herum. Das Schlimmste, was geschehen konnte, [446] war nun eine Entführung des Flosses über die Lagune, aber diese hatte ja keinen so großen Umfang, daß es sich deshalb den Blicken hätte entziehen können.

22. Capitel
Zweiundzwanzigstes Capitel
Die vier folgenden Tage.

Die Nacht verlief ruhig. Jasper Hobson erhob sich zeitig, da er die Einschiffung der kleinen Colonie noch an dem nämlichen Tage veranlassen wollte und ging nach der Lagune.

Noch wälzte sich ein dicker Nebel dahin, über dem man jedoch den hellen Sonnenschein gewahr wurde. Der Himmel war durch den Gewittersturm gereinigt worden, und der Tag versprach ziemlich warm zu werden.

Als Lieutenant Hobson an dem Binnenwasser anlangte, konnte er nicht einmal dessen Oberfläche übersehen, so dichte Nebelmassen lagerten noch darüber.

Da kamen ihm Mrs. Paulina Barnett, Madge und einige Andere nach.

Langsam stieg der Dunst empor und wich zusehends zurück, wobei er die Wasserfläche mehr und mehr bloßlegte. Von dem Flosse war aber noch nichts zu entdecken.

Plötzlich entführte ein Windstoß die letzten Nebelmassen. –

Kein Floß lag mehr am Ufer, kein See zeigte sich dem Auge – das unendliche Meer dehnte sich vor ihren Blicken aus.

Lieutenant Hobson vermochte seine Verzweiflung nicht mehr zu verbergen, und als er und seine Begleiter sich umdrehten und vergeblich den ganzen Horizont durchsuchten, entrang sich ihrer Brust ein greller Schrei – ihre Insel war nur noch ein Eiland!


Jasper Hobson untersucht die Taue des Flosses. (S. 446.)

Während der Nacht hatten sich sechs Siebentel des früheren Gebietes neben Cap Bathurst geräuschlos abgetrennt, in's Meer versenkt und das frei gewordene Floß war in die offene See hinaus getrieben, ohne daß diejenigen, [447] deren letzte Hoffnung es gewesen war, auch nur das Geringste davon bemerkten.


Nothsignale. (S. 453.)

Wohl ergriff die Verzweiflung die armen Schiffbrüchigen, die über einem Abgrunde standen, der sie jeden Augenblick zu verschlingen drohte. Einige Soldaten wollten sich in's Meer stürzen. Mrs. Paulina Barnett warf sich ihnen entgegen. Sie ließen ab, und Manchem traten die Thränen in's Auge. Konnten die Unglücklichen bei dieser entsetzlichen Lage noch ein[448] Fünkchen Hoffnung haben? Und wer malt sich die Stellung des Lieutenants mitten unter den halb verwirrt gewordenen Leuten aus? Einundzwanzig Personen auf einem Scholleneilande, das nur zu bald unter ihren Füßen schmelzen mußte! Mit jenem großen Theil der Insel waren alle bewaldeten Hügel verschwunden und kein Baum weiter vorhanden. Zum Ersatz verblieben höchstens noch einige Planken der vormaligen Gebäude, die aber zum Neubau eines Flosses, das Alle aufnehmen sollte, bestimmt unzureichend [449] waren. Das Leben der Schiffbrüchigen hing also nur noch von der Dauer des Eilandes ab, welche sich auf wenige Tage berechnete, denn um die Zeit der Mitte des Juni hielt sich die Temperatur fast stets auf zwanzig Grad Wärme.

Schnell nahm Lieutenant Hobson noch eine wiederholte Untersuchung der Insel vor, um zu erfahren, ob es sich empfehlen möchte, einen anderen Theil des Ueberrestes zum Aufenthalt zu wählen, wenn die Eisdicke da länger auszuhalten verspräche. Mrs. Paulina Barnett und Madge begleiteten ihn dabei.

»Hoffst Du noch immer? fragte die Reisende ihre treue Gefährtin.

– Immer und ewig!« erwiderte Madge.

Mrs. Paulina Barnett gab keine Antwort. Eiligen Schrittes lief sie mit Jasper Hobson längs des Uferrandes hin. Die Küste von Cap Bathurst bis Cap Eskimo erwies sich in einer Ausdehnung von acht Meilen noch unversehrt. Von letzterem Punkte aus zog sich der Bruch in einer krummen Linie zur äußersten Spitze der Lagune und weiter in's Innere hinein. Hier bildete demnach das Ufer der Lagune, welches nun die Meereswellen bespülten, die neue Küste. Von dem anderen Ende des Sees aus reichte die Spaltung bis nach einer Stelle zwischen Cap Bathurst und dem ehemaligen Barnett-Hafen. Die Insel repräsentirte also einen Streifen, dessen Breite kaum eine Meile betrug.

Von den hundertundzwanzig Quadratmeilen der früheren Oberfläche blieben jetzt noch zwanzig übrig.

Lieutenant Hobson beachtete mit peinlicher Sorgfalt die jetzige Gestaltung des Eilandes und fand, daß die Stelle der vormaligen Factorei noch immer die verläßlichste sei. Es erschien ihm deshalb rathsam, die jetzige Lagerstätte nicht aufzugeben, welche auch die Thiere durch Instinct noch beibehalten hatten.

Dennoch bemerkte man, daß eine beträchtliche Menge Wiederkäuer und Nager, so wie eine große Anzahl der weit umher revierenden Hunde mit dem größten Theil der Insel verschwunden waren, obgleich von ersteren nicht wenig noch vorhanden blieben. Der Bär trabte auf dem Eilande umher und streifte längs der Ufer, wie es die wilden Thiere im Käfig zu thun pflegen.

Gegen fünf Uhr Abends kehrte Lieutenant Hobson nebst seinen zwei [450] Begleiterinnen zurück. In der so mangelhaften Wohnung befanden sich Alle, Männer und Frauen, versammelt; Keiner wollte noch Etwas sehen, Keiner Etwas hören. Mrs. Joliffe machte ein Abendbrod zurecht. Der weniger als seine Kameraden niedergeschlagene Jäger Sabine ging ab und zu und suchte etwas frisches Wild herbeizuschaffen. Der Astronom saß in der Ecke und blickte unsicher und fast empfindungslos über das Meer hinaus. Es schien, als ob ihn Nichts mehr berührte.

Jasper Hobson theilte Allen seine Erfahrungen mit und versicherte sie, daß die zur Zeit benutzte Lagerstätte noch eine verhältnißmäßig größere Sicherheit böte, als jeder andere Küstenpunkt, auch empfahl er Allen, sich nun nicht mehr zu entfernen, denn schon traten halbwegs zwischen der Wohnstätte und dem Cap Eskimo die Vorzeichen weiterer Brüche zu Tage. Voraussichtlich mußte sich die Oberfläche der Insel also bald noch bedeutend verkleinern, und nichts, nichts war dagegen zu thun! Der Tag wurde sehr warm. Die zur Darstellung von Trinkwasser ausgegrabenen Schollen schmolzen ohne Mithilfe des Feuers. An steileren Uferstrecken flossen fortwährend Wasserstrahlen in's Meer, und deutlich erkannte man eine allgemeine Senkung der ganzen Insel. Unaufhörlich nagte das wärmere Wasser an ihrer Basis.

Während der folgenden Nacht kam Niemand Schlaf in die Augen. Wer wäre auch zu schlummern im Stande gewesen, wenn er jede Minute die Oeffnung des Abgrundes unter sich fürchtete, außer vielleicht das kleine Kind, das seine Mutter, die es nicht verlassen konnte, sorglos anlächelte?

Auch am 24. Juni stieg die Sonne am wolkenlosen Firmamente empor. Im Laufe der Nacht war weder eine Veränderung eingetreten, noch die Gestalt der Insel wesentlich anders geworden.

An demselben Tage verirrte sich ein Blaufuchs in die Wohnung, die er gar nicht wieder verlassen wollte, ebenso wie alle sonst vorkommenden Thiere bei der vormaligen Factorei umher schweiften und mehr eine Heerde Hausthiere zu sein schienen. Die Wolfsbanden fehlten allein der arktischen Fauna; offenbar war dieses Raubgesindel bei der Theilung der Insel auf dem abgetrennten Stücke mit weggeführt worden und im Wasser umgekommen. Wie von einer Ahnung gehalten, wich der Bär nicht mehr aus der Nähe des Cap Bathurst, wo auch die übrigen Pelzthiere seine Anwesenheit gar nicht zu fürchten schienen. Die Schiffbrüchigen selbst waren mit dem gigantischen Thiere ganz vertraut geworden und ließen ihn ohne Belästigung kommen und [451] gehen. Die allgemeine Gefahr hatte eben alle Scheidewände zwischen den Menschen und den übrigen Geschöpfen niedergerissen.

Kurze Zeit vor Mittag sollten die Unglücklichen noch einmal freudig erregt und doch recht traurig enttäuscht werden.

Als der Jäger Sabine auf eine kleine Erhöhung stieg und von da aus das Meer überschaute, rief er plötzlich aus:

»Ein Schiff! Ein Schiff!«

Wie elektrisirt sprangen Alle nach dem Jäger zu; Lieutenant Hobson befragte ihn mit den Augen.

Sabine wies auf einen Punkt im Osten, der sich wie ein leichter weißer Hauch vom Horizont abhob. Ohne eine Silbe zu sprechen, starrten Alle dahin, und bald erkannte Jeder deutlich die Masten eines Schiffes.

Wahrscheinlich gehörte Letzteres einem Walfänger an; über die Sache selbst konnte man sich nicht täuschen, denn nach Verlauf einer Stunde wurde auch der Schiffsrumpf sichtbar.

Leider erschien dasselbe im Osten, d.h. auf der entgegengesetzten Seite von der, nach welcher das entführte Floß geschwommen sein mußte. Den Walfänger trieb nur der Zufall in diese Meerestheile, und durfte man sich nicht dem Glauben hingeben, daß er etwa nach Schiffbrüchigen suche, da ihm das leere Floß nicht begegnet war.

Jetzt handelte es sich um die Frage, ob man von jenem Schiffe aus das wenig über dem Wasser aufragende Eiland wahrnehmen und die Nothsignale erkennen würde, die man nach besten Kräften gab. Bei hellem Tage war das nicht eben wahrscheinlich. Bei Nacht hätte man ein weithin sichtbares Feuer unterhalten können. Würde das Schiff aber nicht vor Einbruch der Nacht verschwunden sein? Auf jeden Fall machte man sich durch Zeichen und Gewehrschüsse bemerkbar.

Doch – das Schiff kam näher! Man erkannte einen Dreimaster, offenbar einen Walfischfänger aus Neu-Archangel, der nach Umsegelung der Halbinsel Alaska der Behrings-Straße zusteuerte. Er befand sich hinter dem Wind der Insel und fuhr mit dem halben Segelwerk nach Norden. Ein Seefahrer hätte es an der Segelstellung erkennen müssen, daß jenes Schiff nicht eigentlich auf die Insel zuhielt. Aber vielleicht bemerkte es diese?

»Wenn es uns gewahr wird, flüsterte Lieutenant Hobson dem Sergeant Long in's Ohr, wenn es uns gewahr wird, sucht es zu entfliehen!«

[452] Jasper Hobson hatte mit diesen Worten vielleicht Recht. In diesen Meeren fürchten die Seefahrer Nichts mehr, als die Annäherung von Eisbergen und Eisinseln, an welche schwimmende Klippen sie in der Dunkelheit der Nacht so leicht stoßen können. Deshalb eilen sie, sobald ihnen selbige zu Gesicht kommen, ihre Richtung zu ändern. Würde jenes Schiff nicht dasselbe thun, wenn es das Eiland bemerkte?

Wahrscheinlich.

Keine Feder vermöchte den Wechsel von Hoffnung und Verzweiflung zu schildern, den die Schiffbrüchigen zu erdulden hatten. Bis zwei Uhr Nachmittags konnten sie noch glauben, daß die Vorsehung endlich Mitleid mit ihnen habe, daß die Hilfe käme, daß die Rettung da sei. Immer hatte sich das Fahrzeug in schräger Richtung genähert. Jetzt war es nur noch sechs Meilen von dem Eilande entfernt. Man verdoppelte die Nothsignale, schoß so stark man konnte, erzeugte selbst einen möglichst dicken Rauch, indem man einige Planken von der Wohnung opferte ....

Vergeblich. Entweder sah Niemand auf dem Schiffe das Eiland, oder es beeilte sich doch, demselben zu entgehen.

Um zweiundeinhalb Uhr wendete es ein wenig und entfernte sich nach Nordosten.

Eine Stunde nachher war es wiederum nur wie ein weißlicher Rauch zu sehen, und bald darauf vollkommen verschwunden.

Da stieß einer der Soldaten, Kellet, ein gellendes Gelächter aus. Man hätte glauben sollen, daß er wahnsinnig geworden sei.

Mrs. Paulina Barnett sah ihrer Madge gerade in's Gesicht, so als wollte sie fragen, ob sie noch immer Hoffnung hege.

Madge wendete den Kopf ab.

Am Abend dieses unseligen Tages wurde wieder ein lauter Krach hörbar – der größte Theil des Eilandes löste sich los und verschwand im Meere. Laut schallte der Angstschrei der Thiere. Von der Insel war noch das Stückchen zwischen der früheren Wohnung und dem Cap Bathurst übrig!

Nun war sie zur – Scholle geworden!

[453]
23. Capitel
Dreiundzwanzigstes Capitel.
Auf einer Scholle.

Eine Scholle! Ein unregelmäßiges dreieckiges Stück Eis, dessen Seiten von hundert bis höchstens hundertfünfzig Fuß maßen! Und darauf einundzwanzig menschliche Wesen, gegen hundert Pelzthiere, ein riesiger Polarbär – Alle auf diesen letzten Ueberrest zusammengedrängt.

Ja, noch waren die Schiffbrüchigen wenigstens Alle am Leben, Keiner bei dem Bruche verschlungen worden, der gerade stattfand, als sie sich Alle in der Wohnung aufhielten. Sollte das Schicksal sie bis jetzt nur gerettet haben, um sie Alle mit einem Schlage zu verderben?

Welch' eine schlaflose Nacht! Niemand sprach ein Wort, oder rührte sich von der Stelle, da die geringste Erschütterung hinreichen konnte, eine weitere Zerstückelung zu veranlassen.

Selbst einige Stücken getrockneten Fleisches, welche Mrs. Joliffe ausheilte, wollte Niemand anrühren.

Die Meisten verbrachten die Nacht in der freien Luft; sie wollten wenigstens Gottes weiten Himmel über sich verschlungen werden, und nicht in einer beengenden Baracke.

Am andern Tage, dem 5. Juni, stieg die Sonne glänzend über den Unglücklichen auf. Diese sprachen kaum mit einander und suchten sich zu meiden. Mit irrendem Blicke schweiften einige über den kreisförmigen Horizont, in dessen Mittelpunkte die elende Scholle schwankte.

Auf dem vollkommen verlassenen Meere zeigte sich kein Segel, nicht einmal eine andere Insel oder ein Eiland von Eis. Diese Scholle war offenbar die letzte, welche noch auf dem Behrings-Meere schwamm.

Die Temperatur nahm täglich weiter zu; kein Lüftchen regte sich, in der Atmosphäre herrschte eine wahrhaft erschreckende Ruhe. Lange, flache Wellen hoben und senkten nur sanft jenes Stückchen Eis und Erde, die Reste der Insel Victoria, aber ohne es weiter zu treiben, so wie ein verlassenes Wrack auf- und abschwankt.

Die Trümmer eines Schiffs aber, ein Rest des Gerippes, ein Theil eines Mastes, eine zerbrochene Segelstange, einige Planken u. dgl. schwimmen [454] doch wenigstens und können nicht versinken. Eine Scholle dagegen, ein Stück erstarrtes Wasser, die der Strahl der Sonne zerschmilzt ...

Daß diese Scholle so lange ausgedauert, erklärt sich dadurch, daß sie den dicksten Theil der vormaligen Insel gebildet hatte. Eine Decke von Erde und Pflanzen lag über ihr und ihre Eiskruste mußte voraussichtlich von nicht geringem Durchmesser sein. Gewiß hatten die lange anhaltenden Fröste des Polarmeeres sie »mit Eis ernährt«, als jenes Cap Bathurst früher Jahrhunderte hindurch die nördlichste Spitze des amerikanischen Festlandes bildete.

Jetzt überragte diese Scholle das Niveau des Meeres im Mittel noch um fünf bis sechs Fuß; sie mußte also auch unter Wasser noch eine beträchtliche Masse darstellen. Lief sie aber bei dem ruhigen Wasser keine Gefahr zu bersten, so mußte sie doch nach und nach selbst zerfließen, was man an ihren Rändern recht deutlich wahrnehmen konnte, welche unter der Zunge der langen Wellen verschwanden, so daß unaufhörlich ein Stückchen Land nach dem andern sammt seiner grünenden Decke im Meere verschwand.

Ein derartiges Nachbrechen des Bodens fand noch an demselben Tage an der Stelle statt, welche die Wohnung trug, die jetzt unmittelbar am Rande der Scholle stand. Zum Glück war diese menschenleer, doch konnte man von ihr nur einige Planken und Dachbalken retten; der größte Theil der Geräthschaften und die astronomischen Instrumente gingen verloren. Die ganze kleine Colonie mußte sich nun auf den höchsten Punkt des Bodens zurückziehen, wo sie nichts gegen die Unbill der Witterung schützte.

Dorthin brachte man auch einige Werkzeuge, die Pumpen und das Luftreservoir, von dem Jasper Hobson zum Ansammeln des reichlich strömenden Regens Gebrauch machte, um Trinkwasser zu gewinnen, da es jetzt nicht mehr gerathen erschien, dem Boden zu diesem Zwecke Eis zu entnehmen.


Im Angesicht des Todes. (S. 453.)

Gegen vier Uhr näherte sich der Soldat Kellet, derselbe, der schon einige Spuren von Geistesabwesenheit gezeigt hatte, Mrs. Paulina Barnett und sagte zu ihr in ernstem Tone:

»Madame, ich gehe in's Wasser.

– Kellet! rief erschrocken die Reisende.

– Ich sage Ihnen, ich gehe in's Wasser. Ich hab es mir wohl überlegt; eine andere Rettung giebt es doch nicht, so will ich lieber freiwillig sterben.


»Land! Land!« (S 461.)

– Kellet, mahnte die Reisende und ergriff die Hand [455] des Soldaten, dessen unstäter Blick auf ihr ruhte, Kellet, das werden Sie nicht thun!

– Doch, Madame; und da Sie immer so gut gegen uns waren, wollte ich nicht sterben, ohne von Ihnen Abschied zu nehmen.«

Kellet wandte sich nach dem Meere zu. Entsetzt klammerte sich Mrs. Paulina Barnett an ihn fest; ihre Schreie riefen Jasper Hobson und den Sergeanten herbei. Alle unterstützten ihre Bemühungen, den Wahnwitzigen [456] zurückzuhalten. Der Unglückliche, den seine fixe Idee einmal erfaßt hatte, schüttelte abwehrend den Kopf.

Vermochte man wohl diesem Geisteskranken Vernunft beizubringen? Nein! Und wie leicht konnte sein Beispiel ansteckend sein! Wer weiß, ob nicht so manche Kameraden Kellet's, die im höchsten Grade entmuthigt und verzweifelt waren, seinen Selbstmord nachahmten? Um jeden Preis mußte also das Vorhaben jenes Unglücklichen verhindert werden.

[457] »Kellet, sagte da Mrs. Paulina Barnett mit sanftester Stimme und halb lächelnd, sind Sie mein guter und offenherziger Freund?

– Ja, Madame, erwiderte Kellet ruhig.

– Nun gut, Kellet; wenn Sie wollen, werden wir zusammen in den Tod gehen, ... aber heute noch nicht.

– Madame! ...

– Nein, mein wackerer Kellet, dazu bin ich nicht vorbereitet; doch morgen, wollen Sie morgen ...«

Fester als je sah der Soldat der beherzten Frau in's Gesicht; einen Augenblick schien er zu zweifeln, warf einen wilden Blick über das glitzernde Meer, strich sich mit der Hand über die Augen und murmelte:

»Also morgen!«

Dann mischte er sich wieder ruhig unter seine Genossen.

»Der arme Unglückliche! sprach Mrs. Paulina Barnett für sich, bis morgen habe ich ihn zu warten vertröstet, wer weiß, ob wir bis dahin nicht Alle schon versunken sind?«

Die ganze folgende Nacht verbrachte Jasper Hobson am Ufer. Er überdachte hin und her, ob es nicht ein Mittel gebe, die Auflösung der Insel so lange hinzuhalten, bis sie ein Land erreichte.

Mrs. Paulina Barnett und Madge wichen keinen Augenblick von einander. Kalumah lag auf dem Boden, wie ein Hund vor seiner Herrin, und suchte diese zu erwärmen. Mrs. Mac Nap war, bedeckt mit einigen Pelzen, den Ueberbleibseln der Reichthümer aus der Factorei, ihr Kind am Herzen eingeschlummert.

Mit unvergleichlicher Reinheit erglänzten die Sterne. Die Schiffbrüchigen lagen da und dort hingestreckt, unbeweglich wie Leichname. Kein Geräusch unterbrach diese fürchterliche Ruhe. Nur die Wellen hörte man, wie sie die Scholle abnagten, und dann und wann ein Abbröckeln und Nachbrechen, dessen Ausdehnung man aus dem begleitenden trockenen Tone errieth.

Manchmal richtete sich der Sergeant empor und sah rings um sich, als könnten seine Augen die Finsterniß durchbohren, aber bald fiel er wieder in seine horizontale Lage zurück. An dem äußersten Ende der Scholle erschien der Bär wie eine unbewegliche, große Schneemasse.

Auch diese Nacht verstrich, ohne daß sich in der allgemeinen Lage etwas Wesentliches änderte; nur nahmen die niedrigen Morgennebel nach Osten zu[458] eine leichte Färbung an. Einige Wolken im Zenith zehrten sich auf und bald vergoldeten die Strahlen der Sonne die Wellen des endlosen Meeres.

Des Lieutenants erste Sorge war es, die Scholle ringsum zu untersuchen. Ihr Umfang erschien noch weiter verkleinert, ernstlicher fiel aber der Umstand in's Gewicht, daß auch ihre mittlere Höhe über dem Wasser geringer wurde. Selbst die jetzt so schwache Bewegung der Wellen reichte hin, sie theilweise zu bedecken. Nur der Gipfel der kleinen Erhöhung blieb eigentlich noch frei von Wasser.

Auch Sergeant Long hatte seinerseits die Veränderungen während der vergangenen Nacht in's Auge gefaßt. Die Fortschritte der Auflösung traten so deutlich zu Tage, daß ihm jede Hoffnung schwand.

Mrs. Paulina Barnett wandte sich zu Lieutenant Hobson.

»Madame, fragte sie dieser, werden Sie heute das Versprechen halten, das Sie Kellet gegeben haben?

– Herr Hobson, erwiderte in fast feierlichem Tone die Reisende, haben wir Alles gethan, was in unseren Kräften stand?

– Alles, Madame!

– Nun, dann geschehe der Wille des Herrn!«

Doch sollte im Laufe dieses Tages noch ein letzter verzweifelter Rettungsversuch gemacht werden. Von Nordwesten her wehte eine mäßige Brise gerade nach der Richtung hin, in welcher das nächste Land, die Inselgruppe der Aleuten, liegen mußte.

Wie weit es bis dahin war, konnte man freilich nicht sagen, da die Lage der Scholle aus Mangel an Instrumenten nicht hatte bestimmt werden können. Wahrscheinlich konnte sie, vorausgesetzt, daß ihr keine Meeresströmung zu Hilfe gekommen, nicht weit weggetrieben sein, da sie dem Winde ja fast gar keine Angriffspunkte darbot.

Immerhin blieb diese Frage offen. Wenn die Scholle nun doch dem Lande näher war, als man ahnte! Wenn eine Strömung sie nach den so sehr ersehnten Aleuten getragen hatte! Jetzt wehte der Wind dorthin und mußte das Eisstück schnell fortführen, wenn man für etwas Segelfläche sorgte. Hatte jenes auch nur noch wenige Stunden zu schwimmen, so konnte in dieser Zeit doch vielleicht ein Land in Sicht kommen oder wenigstens ein Küstenfahrer oder ein Fischerboot angetroffen werden, welche der offenen See ja stets fern bleiben.

[459] Eine anfangs ganz dunkle Idee gewann in Lieutenant Hobson's Geiste bald ganz bestimmte Gestalt. Warum sollte man auf der Scholle nicht ebenso, wie auf einem Flosse, ein Segel ausspannen? Die Ausführung konnte nicht schwierig sein.

Jasper Hobson theilte dem Zimmermann seinen Gedanken mit.

»Sie haben Recht, antwortete Mac Nap. Alle Segel auf!«

So wenig Aussicht auf Erfolg dieser Versuch auch haben mochte, so belebte er doch einigermaßen die gesunkenen Lebensgeister. Konnte das wohl anders sein? Mußten die Unglücklichen sich nicht an Alles anklammern, was einer Hoffnung ähnlich sah? Alle gingen an's Werk; selbst Kellet, der Mrs. Paulina Barnett noch nicht an ihr Versprechen erinnert hatte.

Ein Giebelbalken der vormaligen Soldatenwohnung wurde roh zugerichtet und in der Erd- und Sandmenge, die den kleinen Hügel bildete, befestigt. Mehrere Seile hielten ihn nach Art der Strickleitern. Eine aus einer starken Stange bestehende Raa empfing an Stelle des Segels eine Ausrüstung durch die Tücher und Decken der Lagerstätten und wurde alsdann aufgehißt. Das sehr urwüchsige Segel schwoll, als es passend gerichtet war, unter dem günstigen Winde an, und der Strudel hinter der Scholle bewies bald, daß sich dieselbe schneller in der Richtung nach Südosten bewegte.

Das war doch ein Erfolg, der die niedergeschlagenen Geister ermunterte. Es ging doch vorwärts, und Alles jubelte über die, wenn auch nur sehr mäßige Bewegung. Der Zimmermann war von diesem Resultate vorzüglich befriedigt. Als ständen sie auf Bordswache, so starrten Aller Augen nach dem Horizonte, und hätte man ihnen jetzt gesagt, daß sich kein rettendes Land zeigen würde, sie hätten es nicht einmal geglaubt.

Und doch sollten sie lange vergeblich harren.

Drei Stunden lang segelte die Scholle schon über das ziemlich ruhige Meer dahin. Sie leistete weder dem Winde noch dem Seegange Widerstand, und die Wellen trugen sie vielmehr, statt ihr hinderlich zu sein. Doch immer noch dehnte sich der ununterbrochene Horizont in vollem Kreise aus, und immer hofften und harrten die Armen!

Gegen drei Uhr Nachmittags nahm Lieutenant Hobson den Sergeant Long bei Seite und sprach zu ihm:

[460] »Wir kommen zwar vorwärts, aber nur auf Kosten der Festigkeit und der Ausdauer unseres Eilandes.

– Wie meinen Sie das, Herr Lieutenant?

– Ich will damit sagen, daß die Scholle sich durch die Reibung des Wassers schneller abnutzt und leichter brechen wird. Seit wir unter Segel sind, hat sie schon um einen guten Theil abgenommen.

– Das glauben Sie.

– Das weiß ich bestimmt, Long. Die Scholle wird schmäler und im Verhältniß länger, auch reicht das Meer bis auf zehn Fuß vor unseren Hügel.«

Lieutenant Hobson hatte wahr gesprochen; mit der schnell dahin geführten Scholle mußte es sich so verhalten, wie er muthmaßte.

»Sergeant, fragte da Jasper Hobson, sind Sie der Meinung, daß wir den Lauf der Insel unterbrechen?

– Ich sollte meinen, erwiderte Sergeant Long, wir müßten darüber die Ansicht Aller hören; die Verantwortlichkeit für diesen Beschluß müssen Alle gleichmäßig tragen.«

Der Lieutenant stimmte zu. Beide nahmen ihren Platz auf der kleinen Erhöhung wieder ein, und Jasper Hobson sprach sich über die gegenwärtige Lage aus.

»Diese Schnelligkeit, sagte er, verzehrt die Scholle, die uns trägt, und könnte die unvermeidliche Katastrophe wohl um einige Stunden beschleunigen. Sprecht Eure Meinung aus, meine Freunde. Wollt Ihr, daß wir weiter segeln?«

Wie aus einem Munde riefen es alle die Unglücklichen.

Man fuhr also unbeirrt weiter, und dieser Beschluß sollte zu ganz unberechneten Folgen führen. Um sechs Uhr Abends erhob sich Madge und rief, indem sie nach einem entfernten Punkt am Horizont zeigte:

»Land! Land!«

Wie elektrisirt sprangen Alle auf. Wirklich erhob sich ein Land, im Südosten, zwölf Meilen von der Scholle.

»Segel, Segel herbei!« rief Jasper Hobson.

Alle verstanden ihn. Die Segelfläche wurde vergrößert; man brachte [461] zwischen den Seilen mittels Kleidungsstücken, Pelzfellen und Allem, in dem sich der Wind fangen konnte, eine Art Beisegel an.

Die Schnelligkeit der Fahrt nahm zu, zumal die Brise auffrischte. Von allen Seiten schmolz aber nun die Scholle. Man fühlte sie erzittern; jeden Augenblick konnte sie in Stücke gehen.

Jetzt wollte Niemand hieran denken; nur die Hoffnung erfüllte sie; da unten auf dem festen Lande war ja das Heil!

Man rief nach ihm in's Weite, man machte Zeichen – es war ein wahrer Rausch, der Alle erfaßte!

Um sieben und ein halb Uhr hatte sich die Scholle merklich der Küste genähert, aber sie schmolz und versank auch zusehends. Schon spülten die Wellen über den größten Theil derselben und begruben die meisten der Thiere, die vor Angst sich nicht zu lassen wußten.

Jeden Augenblick konnte man das Versinken in den Abgrund befürchten. An die Ränder der Scholle schaffte man noch Sand und Erde, um jene vor der directen Bestrahlung durch die Sonne zu schützen, aus demselben Grunde breitete man auch Pelzfelle, die ihrer Natur nach sehr schlechte Wärmeleiter sind, darüber aus. Alle nur erdenklichen Mittel wurden angewendet, um die endliche Katastrophe zu verzögern. Aber Alles das war nicht hinreichend. Im Innern der Scholle hörte man es krachen, und auf der Oberfläche zeigten sich die Linien der Sprünge. Schon drang das Wasser von allen Seiten darüber ein, und noch war die Küste vier Meilen unter dem Winde entfernt!

Die Nacht sank herab, – eine dunkle, mondeslose Nacht.

»Frisch auf! Macht ein Signal, meine Freunde, rief Jasper Hobson. Vielleicht wird man uns doch von dort aus gewahr!«

Schnell trug man aus Allem, was noch Brennbares vorhanden war, nämlich wenige Planken und einen kleinen Balken, zu einem Scheiterhaufen zusammen und setzte diesen in Flammen. Bald züngelte ein hellleuchtendes Feuer durch das Halbdunkel empor ....

Doch immer weiter schmolz die Scholle und immer tiefer sank sie hinab. Bald tauchte nur noch der kleine Hügel über das Wasser auf. Auf denselben hatten sich Alle, eine Beute des Entsetzens, zusammengedrängt, und mit ihnen die wenigen vom Meere noch verschonten Thiere. Der Bär ließ ein furchtbares Brummen vernehmen. Immer höher stieg das Wasser, und Nichts [462] ließ annehmen, daß die Schiffbrüchigen bemerkt worden seien. Kaum eine Viertelstunde konnte noch bis zum Untersinken vergehen ....

Gab es denn kein Mittel, den Zusammenhalt der Eisscholle nur um kurze Zeit zu verlängern? Nur noch um drei Stunden, so durfte man hoffen, das kaum noch drei Meilen entfernte Ufer zu erreichen! Aber was in aller Welt, was war zu thun?

»O, rief Jasper Hobson, gebt mir ein Mittel, die Schmelzung dieser Scholle jetzt zu hindern. Mein Leben, ja mein Leben gebe ich darum!«

Da ließ sich eine Stimme vernehmen:

»Es giebt wohl noch ein Mittel!«

Thomas Black war es, der also sprach; der Astronom, der so lange Zeit kaum den Mund geöffnet hatte, der kaum noch als Lebender gerechnet wurde unter allen diesen Opfern eines grausamen Todes. Und nun erlangte er die Sprache wieder, um zu verkünden: »Es giebt noch ein Mittel, die Schmelzung dieser Scholle zu verhindern! Es giebt noch eine Hilfe, die uns retten kann!«

Jasper Hobson stürzte auf Thomas Black zu; fragend hingen Aller Augen an diesem; sie glaubten nicht recht gehört zu haben.

»Und dieses Mittel wäre ... fragte der Lieutenant.

– An die Pumpen!« erwiderte einfach Thomas Black.

War dieser zum Narren geworden? Hielt er die Scholle für ein Schiff, das bei zehn Fuß Wasser im Kielraum zu versinken drohte?

Die Ventilationspumpen und das jetzt als Trinkwasserbehälter dienende Luftreservoir befanden sich wohl noch auf der Scholle, doch was sollten sie jetzt nützen? Wie konnten sie die Ränder, welche von allen Seiten abschmolzen, wieder erhärten?

»Er ist toll geworden! sagte Sergeant Long.

– An die Pumpen! wiederholte der Astronom. Laßt wieder Luft in das Reservoir!

– Thun wir seinen Willen!« rief Mrs. Paulina Barnett.

Die Pumpen wurden mit dem Luftbehälter verschraubt, dessen Deckel schnell verschlossen und verdichtet, und in ihm die eingepreßte Luft bis zur Spannung mehrerer Atmosphären comprimirt. Da befestigte Thomas Black einen Lederschlauch an das Reservoir, öffnete den Hahn des Letzteren und ging damit längs der Ränder der Scholle hin, wo die Wärme diese auflöste.


Dankgebet für wunderbare Rettung. (S. 465.)

Und was geschah dabei zum größten Erstaunen Aller? Ueberall, wo die Hand des Astronomen den Luftstrom hinleitete, hörte es auf zu thauen, schlossen sich die Spalten wieder und fror es von Neuem.

»Hurrah! Hurrah!« riefen die Unglücklichen.

Zwar ermüdete die Arbeit an den Pumpen sehr, [463] aber an Mannschaften zur Ablösung fehlte es ja nicht. Die vorspringenden Theile der Scholle nahmen wieder feste Gestalt an, als wären sie einer neuen, strengen Kälte ausgesetzt.

[464] »Sie retten uns wie durch ein Wunder, Herr Black, sagte Jasper Hobson.

– O, das geht ja ganz natürlich zu!« erwiderte der Astronom.

Es war das in der That ganz natürlich, und zwar vollzog sich folgender physikalische Proceß:

Das Eis gefror nämlich aus zwei Gründen: erstens, indem das Wasser an der Oberfläche durch den Luftstrom verdunstet wurde und dadurch eine bedeutende Kälte erzeugte, und zweitens, indem die stark zusammengedrückte Luft sich wieder ausdehnte und dabei viele Wärme band. Ueberall, wo ein Sprung sich zeigte, verlöthete die durch die Lustausdehnung hervorgebrachte Kälte dessen Ränder wieder, und die Eisscholle gewann, Dank diesem äußersten Hilfsmittel, nach und nach fast ihre frühere Festigkeit wieder.

Mehrere Stunden fuhr man so in Gleichem fort. Erfüllt von froher, verlockender Hoffnung arbeiteten die Schiffbrüchigen mit einem Eifer, den nichts zu lähmen vermochte.

Man näherte sich dem Lande.

Als die Küste nur noch eine Viertelmeile entfernt lag, sprang der Bär in's Wasser, schwamm bald an's Land und verschwand.

Einige Minuten nachher strandete die Scholle auf dem Ufersande. Die wenigen Thiere, welche sie noch geborgen hatte, entflohen in das Dunkel. Dann verließen sie die Schiffbrüchigen, sanken in die Knie und lobpreisend stieg der Dank für ihre wunderbare Erhaltung und glückliche Rettung zum Himmel empor!

24. Capitel
Vierundzwanzigstes Capitel
Schluß.

An dem äußersten Ende des Behrings-Meeres, auf der letzten der Aleuten, der Insel Blejinic, stieß das ganze Personal von Fort-Esperance, nachdem es seit Eintritt des Thauwetters 1800 Meilen weit getrieben worden[465] war, wieder an's Land. Aleutische Fischer, die den Geretteten zu Hilfe kamen, nahmen sie gastfreundlich auf. Bald waren die englischen Agenten am Festlande, welche im Dienste der Hudsons-Bai-Compagnie standen, über Jasper Hobson und seine Leute in Kenntniß gesetzt. –

Erscheint es nach dieser eingehenden Erzählung noch besonders nöthig, den Muth der wackeren Leute, die ihres Chefs würdig waren, und ihre entschlossene Thatkraft bei so vielerlei Prüfungen hervorzuheben? Nie hatte jener ihnen gefehlt, weder den Männern, noch den Frauen, denen die beherzte Paulina Barnett immer als Beispiel der Willenskraft im Mißgeschick und der Ergebung in den Rathschluß der Vorsehung voranging. Alle hatten treulich gekämpft bis zum Ende und der Verzweiflung keine Macht über sich gegönnt, selbst als sie das Festland, auf dem Fort-Esperance gegründet worden war, sich in eine umherirrende Insel, diese Insel in ein Eiland, dieses Eiland sich in eine Scholle verwandeln sahen, und auch zuletzt noch nicht, als selbst diese unter dem doppelten Einfluß der Sonne und des wärmeren Wassers zu schmelzen begann! Wenn der Versuch der Compagnie wieder von vorn angefangen werden mußte, wenn das neue Fort seinen Untergang gefunden hatte, – den Lieutenant Hobson und seine Genossen, die der Spielball so vieler unvorhergesehener Unfälle gewesen waren, konnte kein Vorwurf treffen. Jedenfalls fehlte von den neunzehn, Lieutenant Hobson's Fürsorge anvertrauten Personen keine einzige, ja, die kleine Colonie war sogar um zwei Mitglieder, die junge Eskimodin Kalumah und das Kind des Zimmermanns Mac Nap, das Pathchen der Mrs. Paulina Barnett, gewachsen.

Sechs Tage nach ihrer Rettung kamen die Schiffbrüchigen in Neu-Archangel, der Hauptstadt des russischen Amerika, an.

Dort sollten sich Alle, welche die allgemeine Gefahr zu so nahen Freunden gemacht hatte, vielleicht für immer trennen!

Jasper Hobson und seine Leute wollten Fort-Reliance auf dem Ueberlandwege wieder erreichen, während Mrs. Paulina Barnett, Kalumah, die sich von Ersterer nicht mehr trennen konnte, Madge und Thomas Black über San-Francisko und die Vereinigten Staaten nach Europa zurückzukehren beabsichtigten.

Bevor sie aber von einander schieden, sprach der Lieutenant in Gegenwart aller seiner Leute mit bewegter Stimme diese Worte zu der Reisenden:

[466] »Madame, segne Sie Gott für das Gute, das wir Alle Ihnen verdanken! Sie waren unser Glaube, unser Trost, die Seele unserer kleinen Welt! Ich danke Ihnen in Aller Namen aus tiefstem Herzensgrunde!«

Ein dreimaliges Hurrah erschallte zu Ehren Mrs. Paulina Barnett's; dann wollte jeder der Soldaten die Hand der muthigen Reisenden drücken, jede der Frauen sie tiefgerührt umarmen.

Jasper Hobson, der eine so innige Zuneigung zu Mrs. Paulina Barnett gewonnen hatte, wurde das Herz recht schwer, als er ihr zum letzten Male die Hand bot.

»Wäre es möglich, daß wir uns nie und nimmer wiedersehen sollten? sagte er.

– Nein, Jasper Hobson, antwortete die Reisende, nein, das kann nicht sein! Und wenn Sie nicht nach Europa kommen, ich werde Sie wieder zu finden wissen, hier oder in der neuen Factorei, die Ihre Hand doch einst noch gründet ...«

In diesem Augenblick trat Thomas Black, der, seit er festes Land unter den Füßen spürte, die Sprache wieder erlangt hatte, vor und sagte mit bestimmtester Miene:

»Ja, wir werden uns wiedersehen ... in sechsundzwanzig Jahren. Meine Freunde, die Sonnenfinsterniß des Jahres 1860 ist mir entgangen, aber die nächste werde ich nicht verfehlen, die im Jahre 1886 unter denselben Verhältnissen und unter denselben Breiten stattfinden wird. In sechsundzwanzig Jahren also, werthe Frau, finde ich Sie, und auch Sie, mein wackerer Lieutenant, an den Grenzen des Polarmeeres wieder.«

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TextGrid Repository (2012). Verne, Jules. Romane. Das Land der Pelze. Das Land der Pelze. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-751D-6