Französisches Militärgericht in Paris

Conseil de Guerre. Ein kleiner Saal mit kahlen Wänden, der einzige Schmuck ist eine alte Wanduhr. Die Fenster sind grün verhangen, der Zuschauerraum ist durch Eisenstangen abgeteilt. Hinten an der Wand, dem Gerichtshof gegenüber, eine lange Bank mit sechs Soldaten darauf. Das Ganze liegt im Militärgefängnis zu Paris.

Das Gericht besteht aus dem Vorsitzenden und sechs Dienstgraden in verschiedenen Uniformen. Die Gesichter sind – mit einer Ausnahme – anständig; immerhin ist in den Augen meist etwas, das einen den Wunsch aussprechen läßt, mit den Herren dienstlich und zu [253] Kriegszeiten lieber nichts zu tun zu haben . . . Links der Staatsanwalt, le commissaire du gouvernement, ein dicker, hindenburgartiger Mann mit einem leichten Tick in den Schultern; neben ihm der greffier, ein Herr mit merkwürdig kleinem Hinterkopf. Das, was man in Deutschland gern als ›Kasernenfresse‹ bezeichnet, ist hier seltner. Rechts der Angeklagte, und zwar einer in Zivil. Hinter ihm sein Verteidiger und die der nächsten Affären – drei in Zivil, einer in Uniform.

Die französischen Militärgerichte richten sich in ihrer Zusammensetzung nach dem Grade des Angeklagten; in Verhandlungen der Art, wie ich sie mitansah, sitzen gewöhnlich 1 Colonel oder 1 Lieutenant-Colonel als Vorsitzender, 1 Bataillonschef, 2 Capitaines, 1 Lieutenant, 1 Unterlieutenant und 1 Unteroffizier als Beisitzer. Das ist die Regel. Es gibt ein Revisionsrecht an die Conseils de revision. Revisionsgründe sind: Bestimmungswidrige Zusammensetzung des Gerichts; Kompetenzfehler, gesetzwidrig ausgesprochene Strafe; Verkennung des Delikts; Formfehler; Beschränkung der Verteidigung oder der gesetzlichen Machtbefugnisse des Staatsanwalts durch das Gericht. Die nächste Instanz, die Cour de Cassation, kann nur bei Inkompetenz angerufen werden. Die Strafen sind die in Militärkoden üblichen: wie so oft liegt auch hier der Schwerpunkt in den Ausführungsbestimmungen.

Verletzung der Dienstpflicht. Der greffier verliest den Eröffnungsbeschluß und den aufgenommenen Tatbestand. Der Vorsitzende: »Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung anzugeben?« Der Angeklagte spricht leise. Er habe seine Adresse nicht absichtlich verschwiegen, er habe nicht gewußt . . . Das Verhandlungstempo ist eilig, diese Sachen benötigen allerdings keine Zeugen; das Verfahren ist insofern nicht rein mündlich, als sehr stark auf den Inhalt der Akten Bezug genommen wird, die nicht alle herangezogen werden. Der Ton ist von allen Seiten konziliant; nirgends mit dem vieler deutscher Strafkammern zu vergleichen, wo das persönlich ungehörige Verhalten des Richters sofort zeigt, auf welcher Seite er steht. Das Verhör hat noch keine fünf Minuten gedauert, sämtliche Beteiligte verzichten aufs Wort. Der Staatsanwalt.

Der dicke Mann hebt sich langsam hoch, steht da wie ein Turm und hält ein maßvolles Plädoyer. Er scheint seiner Leute sehr sicher zu sein. Ein Strafmaß beantragt er nicht. Der Verteidiger spricht nicht sehr Erhebliches. Der Angeklagte? Nichts? Der Gerichtshof erhebt sich. Hinten die Wache auch: ein halblautes Kommando, sie präsentiert. Der Gerichtshof zieht sich zurück. Fünf Minuten Pause.

Dann klingelt es, die Wache ruckt hoch, macht die Ehrenbezeigung, die Richter treten ein. Bleiben stehen. »Au nom du Peuple Français . . . « Sieben weiße Handschuhe fahren flüchtig an die Mützen, und dann eine lange Formel, die stereotyp abgelesen wird – dann die Strafe: drei Monate Gefängnis. La séance continue.

[254] Die Fälle klappern automatisch ab. Es sind meist arme Teufel von Proletariern, die da stehen, und von denen die Mehrzahl sich ihrer Dienstpflicht durch fehlende Anmeldung, Flucht und Ausflüchte entzogen haben soll. Die Strafen bewegen sich in einem Ausmaß von drei bis neun Monaten, je nach dem Vorleben und den Vorstrafen. Manche weinen, fast alle haben diese seltsame Angewohnheit so vieler Menschen, in Augenblicken stummer Erregung lautlos mit den Kiefern zu arbeiten . . . Nach dem Verhör und den Plädoyers werden sie wieder ins Gefängnis abgeführt: das Urteil wird ihnen später verkündet, eine arge Quälerei.

Nun eine Uniform auf der Anklagebank, eine lehmbraune. Soldat de deuxième classe. Hat sich gut geführt, bis er eine Lues attrappiert hat, wird von den Kameraden fortan gemieden und gehänselt, begeht Fahnenflucht und wird gefaßt, als er in den Straßen von Paris herumzigeunert. Bei der Verhaftung durch zwei Unteroffiziere das typische und historische Geschimpfe: »Ah – les vaches! Ils m'arrêtent lorsque je n'ai rien fait!« Les vaches . . . Es ist eigentlich unvorstellbar, wie man durch die traditionell harten Urteile die Bedeutung dieses Schimpfwortes so durch die Jahrzehnte retten kann. Aber es ist – gegen Schutzleute und Unteroffiziere des Heeres ausgesprochen – die tödlichste Beleidigung, die nie verziehen wird. Sechs Monate.

Und dann zwei Fälle, die aufhorchen machen.

Im Jahre 1915 ist ein französischer Soldat in die Schweiz desertiert. Er lebte dort schon vor dem Kriege, war mit einer Deutsch-Schweizerin verheiratet und rückte artig und gehorsam im Jahre 1914 ein, um auch für sein Teil ein Vaterland gegen ein Vaterland zu schützen. Im Jahre 1915 verwundet, bittet er um Urlaub, um seine Angelegenheiten zu ordnen. Man verweigert ihm das. Nun reißt er vom Lazarett aus, geht zu seiner Frau, wird nicht mehr fortgelassen oder bleibt freiwillig – kurz: er sieht sich den Krieg von einem Platz aus an, wo sonst nur Prediger, höhere Generalstabsoffiziere und Industrielle sitzen. Nach zehn Jahren – im Jahre 1925 – stellt er sich dem französischen Konsul in Lausanne. Was den Mann dazu bewegen haben kann, bleibt unverständlich. Reue? Spekulation, begnadigt zu werden? Der Wunsch, nach Frankreich zurückzukehren, was ihm bis dahin verwehrt war? Nescio.

Der Mann weint. Der Verteidiger macht geltend, daß seine Frau, die Deutsch-Schweizerin, seine fünf Kinder deutsch erzogen habe, daß diese Kinder Schweizer werden, wenn der Mann, was er als Deserteur aber nicht kann, ihre französische Staatsangehörigkeit nicht beim Konsul reklamiert – kurz: er macht in nicht ungeschickter Weise alles geltend, was seinen Klienten in den Augen der Gestrengen als ›bon garçon‹ erscheinen lassen kann . . . Das hat Erfolg: sechs Monate.

Der Nächste hats nicht so gut. Er ist einer von den vielen, die wegen Desertion zu einer formation pénitentiaire verdonnert wurden, also [255] eine Art Strafbataillon, deren schlimme Geschichte in Marokko, in ›Biribi‹ liegt, eine Kulturwidrigkeit, die auch der tapferste Kampf französischer Kommunisten und der französischen Liga für Menschenrechte bisher noch nicht hat ausrotten können.

Vergebens macht der – diesmal uniformierte – Verteidiger geltend, daß der Mann, wird er wieder ins Gefängnis geschickt, unfehlbar in den Abgrund taumelt, besinnungslos von den vielen Strafen, unfähig, sich den neuen Qualen anders zu entziehen als dadurch, daß er neue Straftaten begeht; vergebens macht er auf das Alter des Mannes aufmerksam, dem höchstens noch durch die Möglichkeit, sich in anständiger Umgebung zu bessern, geholfen werden kann – man wandelt sich nicht mehr mit vierundvierzig Jahren; vergebens bietet er im Namen des Angeklagten freiwillige Meldung nach Marokko an: es hilft nichts. Zwei Jahre. Der Mann ist erledigt.

Diese Verhandlung ging in dem sanftesten Tone der Welt vor sich. Niemand schnauzte den Angeklagten an, er wurde fast freundlich behandelt. Das Urteil knallte wie ein Hieb herunter; der Verteidiger bekam einen roten Kopf und ging frische Luft schöpfen. Der Angeklagte saß schon wieder in seiner Zelle. La séance continue.


Militärgerichte sind Zweckeinrichtungen, ihre Urteile sind als administrative Maßnahmen zu werten. Es ist in Deutschland besonders gegen die französischen Kriegsgerichte sehr viel gewettert worden, als sie im besetzten Gebiet funktionierten. Was Schlageter angeht, so haben sie recht getan – und im übrigen ist Militärjustiz in allen Fällen vom Übel: nicht nur, weil sie vom Militär kommt, sondern weil sie sich als Justiz gibt, was sie niemals sein kann.

Nun halte ich aber diese braven Bürgerproteste gegen die Justiz anderer Länder in den meisten Fällen für feige, leer, zu nichts verpflichtend. Es gehört gar kein Mut dazu, als Franzose gegen die diktatorische Innenpolitik Primo de Riveras, als Deutscher gegen Horthy und als Österreicher gegen die Bolschewisten zu manifestieren – es ist viel schwieriger, gegen das Wüten der Justiz im eigenen Lande wirksam etwas zu sagen, ohne ihr in die Finger zu fallen. Aber es ist Pflicht.

Wer so viel auf dem Buckel hat wie die Scheindemokratien Europas, sollte sich um sich selbst kümmern.

Wir hatten die Militärgerichte und haben sie innerhalb der Reichswehr noch. Wir haben – was viel gefährlicher ist – eine Rechtsprechung in politischen Strafprozessen, die es in Voruntersuchung, Verhandlungsführung und Richtervorbildung mit jeder Auslandsjustiz im schlimmsten Sinne aufnimmt. Und wir haben das Reichsgericht.

Was da – fast unbeachtet von der Öffentlichkeit – allmonatlich an Urteilen in den sogenannten ›Spionageprozessen‹ geleistet wird, spottet [256] jeder Beschreibung. Heute noch, nach so langer Zeit, werden Kriegsurteile gefällt, die an Härte und an Begründung nichts zu wünschen lassen. Die Verhandlungen finden mit vollem Recht unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt, und es hagelt nur so: zehn Jahre Zuchthaus, acht Jahre Zuchthaus, fünfzehn Jahre Zuchthaus . . . Nun ist außerordentlich schwer, sich der Opfer anzunehmen, weil die meisten wirklich Dreck am Stecken haben, weil dieses Milieu trübe ist, weil es sich nicht um Fechenbach oder um Leviné handelt. Aber die Strafen stehen zu den Straftaten in keinem Verhältnis, sie sind mit einem bösen Koeffizienten multipliziert worden: mit dem Patriotismus der Richter. Daß sechs Jahre nach dem Krieg einer – Heinrich Wandt – verurteilt worden ist, und zu sechs Jahren Zuchthaus, weil er Belgier kompromittiert hat, die nun ihrerseits wieder durch flämische Sonderbestrebungen ihr ›Vaterland‹ verraten haben sollen, wurde damit begründet, daß die Verwertung dieser Bestrebungen dem deutschen Staat eines Tages noch nützlich sein könnte . . . ein durchaus richtiges Prognostikon. Wir haben also allen Anlaß, vor unserer eigenen Tür zu kehren. Die französischen Militärgerichte zu bekämpfen ist Sache der Franzosen.

Hier in Paris und dort in Leipzig verteidigen sich die Angeklagten gewöhnlich damit, daß sie sagen, sie seien an sich gute Patrioten, wie das Gesetz es befahl, sie seien nur gestrauchelt, ein Mißverständnis . . . das heißt: sie erkennen die Prinzipien der Richter als bindend an, versuchen aber, sich zu exkulpieren. Einer hat eine rühmliche Ausnahme gemacht.

Hölz hat die Sittengesetze negiert, die jene verkünden. Neben wenigen andern hat er den bewundernswerten Mut gehabt, den Vorwurf ›Verräter‹, dem Sinne nach, mit der ins Schwarze treffenden Antwort eines französischen Kommunisten zurückzuweisen: »Ich habe Ihnen nichts versprochen, was ich verraten könnte!«

Und weil es Kriegsgerichte in Zivil gibt, weil der Talar den Richter äußerlich verkleidet, ohne ihn innerlich zu wandeln – weshalb denn auch mit Recht die Hosenbeine unten heraussehen und der Kopf oben –, deshalb sind die Sprüche dieser Leute so zu werten, wie sie abgegeben werden: als notwendige, rein administrative Abwehrmaßnahmen gegen die einzige wirkliche Gefahr, die diese Demokratien bedroht. Der äußere Feind bestärkt sie. Der innere will sie auflösen. So binden sie sich den Talar um, legen eine Mullbinde um die Augen, durch die man alles genau erkennen kann, und sprechen Recht. Es sollte ihnen gesprochen werden. Und es wird ihnen eines Tages gesprochen werden.

La séance continue.


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1925. Französisches Militärgericht in Paris. Französisches Militärgericht in Paris. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6AAD-8