Lilly

Sie stammte wohl aus Hamburgs Mauern,
Das dorten an der Elbe liegt,
Und hat zu mancher Leut' Bedauern
In München hier ein Kind gekriegt.
Die Mutter als gebor'ne Holle
Vermählte sich mit Menk & Sohn;
Er handelte en gros in Wolle,
Und Lilly war das Kind davon.
Bemerkt sei, daß der Elternvater
– Und zwar derjen'ge mutterseits –
Auch mitregierte als Senater
Vor siebzig Jahren schon bereits.
In einer solchen Geldfamil'che
Kann nur der Anstand heimisch sein;
Man zieht ihn mit der Muttermilche
Als selbstverständlich mit hinein.
Es war nun Lilly auch in Liebe
Zur schönheitsreichen Kunst entbrannt,
Und sie entwickelte die Triebe
Teils ölgemalt, teils angewandt.
In solchen Fällen des Talentes
Zieht alle Welt nach München her,
Zum Studium des Ornamentes,
Zur Kunst im Handwerk in die Lehr'.
Auch Lilly Menk war angekommen
Voll Eifer und Bemalungssucht.
Wie hat ein Ende es genommen
Mit illegaler Leibesfrucht?
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Wenn man 'nem Kind das Beste bietet,
Dann glaubt man, es wird keusch und klug;
Doch Lilly hat sich eingemietet
In Schwabing, und das sagt genug.
Hier ging sie zu dem Malprofesser,
Wo sie den Geist der Kunst erfuhr,
Das Stilgefühl als Schönheitsmesser,
Die Ohrenschneckenhaarfrisur.
Auch sonst begann sie sich zu ändern,
Als an der Freiheit sie genippt,
Sie ging jetzt in Reformgewändern,
In denen leicht der Busen schwippt.
Und mit den andern Kunstbefliss'nen
Versank sie tiefer in den Sumpf,
Ging öfter aus mit 'nem zerriss'nen
Und durchgebrochnen Seidenstrumpf.
Sie trug mit größter Seelenruhe,
Noch eh' ein Vierteljahr verging,
Die abgelatschten Knöpfelschuhe
Und achtete es ganz gering.
Ein Weib verliert den Grundcharakter,
Wenn es den Ordnungssinn verliert;
Die Tugend scheint ihm abgeschmackter,
Sein fester Halt wird demoliert.
Man sieht es bald ins Laster hüpfen
Mit einem kühnen Sprunggelenk.
Nun lasset mich den Schleier lüpfen
Von unsrer armen Lilly Menk!
Sie nahm sich Atelier und Zimmer
Im vierten Stock mit eigner Tür,
Da gibt Gelegenheit sich immer
Zu der und jener Ungebühr.
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Erst wußte sie wohl selbstverständlich,
Da sie aus Hamburg war, es nicht:
In dieser Stadt ist unabwendlich
Die Keuschheit eine Lebenspflicht.
In München ist es nicht dasselbe,
Hier kann man vieles eher tun
Als wie in Hamburg an der Elbe
Als unerfahr'nes dummes Huhn.
Es war gerad' in jenen Tagen,
Da sich der Karneval erhob,
Wo das Vergnügen sozusagen
Sich in die Mädchenherzen schob.
Redouten, Bälle, Künstlerfeste,
Der Bal paré noch obendrein,
Wie kann dagegen selbst die Beste
Und Keuscheste gepanzert sein?
Nicht weit von ihr wohnt' ein Schlawiner,
Ganz ohne Geld und Broterwerb,
Sein Vater wirkte als Rabbiner,
Er selbst war nichts als bloß ein Serb'.
Doch trug er lange schwarze Haare
Und eingeschmiert mit Nierenfett.
Ein Mädchen sieht darin das Wahre
Und findet es auch wundernett.
Sein Angesicht war nicht gewaschen,
Doch lag darin ein stiller Schmerz;
Der kam von leeren Hosentaschen
Und rührte jedes Frauenherz.
Man muß dazu aus Hamburg stammen
Und unverstand'nes Mädchen sein,
Dann steht man gleich in hellen Flammen
Für ein Schlawinermoschusschwein.
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Wenn nur die Reinlichkeiten fehlen,
Was liegt der Malerin daran?
Für hochgestimmte Künstlerseelen
Ist Seife bloß ein leerer Wahn.
Nach diesem hier Vorausgeschickten
Will ich bemerken, daß sie sich
Zum erstenmal ins Auge blickten
Bei Klarinett und Geigenstrich.
Bei einem Künstlerlumpenballe
Ergab sich dieses Resultat,
Daß Lilly Menk in ihrem Falle
Vom Unschuldspfad danebentrat.
Ach Gott! Man kann im großen ganzen
Die armen Mädchen schon verstehn,
Wenn die Prinzipien beim Tanzen
Bei ihnen aus dem Leime gehn.
Das junge Blut muß sich erhitzen,
Das Herz ist sowieso entblößt,
Und bei dem fortgesetzten Schwitzen
Wird schließlich alles aufgelöst.
Und die verfluchten Walzertakte!
Die sind die rechte Melodie
Zum illegalen Trauungsakte
Und zur verbot'nen Lustpartie!
Wer dieses einmal recht begriffen,
Das Tralala im Wiegeschritt,
Hat auf die Tugend bald gepfiffen
Und gibt sie preis, i gitt, i gitt!
Als Lilly sich an Mirko drückte,
Vergaß sie alles ganz und gar,
Was sich für sie und Hamburg schickte,
Und was ihr früher heilig war.
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Sie spitzte ihre Rosenlippen,
Er spitzte auch sein fettes Maul,
Die Unschuld mußte überkippen,
Die Keuschheit war im Kerne faul.
Und Walzer, Schottisch und Française,
Ein Knutschen hier, ein Knutschen dort,
Wie sich das alles sachgemäße
Entwickelte so fort und fort!
Sie saßen in der großen Pause
Schon hinter einem Tannenbaum.
Zuletzt ging er mit ihr nach Hause,
Und da begann ihr Liebestraum.
Vorbei war's mit den Stilgefühlen,
Sie mußten schweigen. Vorderhand
Hat sie die Kunst nicht mehr an Stühlen
Und an Kommoden angewandt.
Für Teppich- und Tapetenmuster
Erlosch ihr Malerinnensinn,
Sie liebte täglich unbewußter
Und sah das wahre Glück darin.
Sie sprach nicht mehr von Farbenflecken,
Nicht mehr von »echt«, nicht mehr von »Kitsch«;
Sie wollte nur zusammenstecken
Mit Mirko Stanko Dobrowitsch!
Den Schluß kann man sich selber denken;
Von sowas kommt ein Kind davon,
Doch schwerer ist's, sich zu versenken
In das Gefühl von Menk & Sohn.
Die Mutter als gebor'ne Holle
War trostlos oder desperat
Und wußt' nicht, was sie sagen solle,
Daß ihre Tochter so was tat!
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Als Enkelin von 'nem Senater
Jetzt eine Serbengroßmama!
Und ähnlich dachte auch der Vater,
Sobald er die Bescherung sah.
Indes, man muß es mal goutieren,
Und wenn es noch so häßlich röch'!
Und muß die Sache korrigieren.
Vielleicht durch eine Hochzeit? Nöch?
Nun wurde Lilly eine Serbin,
Denn Mirko dachte sich als Mann,
Daß man mit Geld und einer Erbin
Am Ende schöner leben kann.
Wie lange sie am Honig schlürfen?!
Und was es für ein Ende nimmt??!
Doch, daß sie nicht nach Hamburg dürfen,
Das weiß ich heute schon bestimmt.

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TextGrid Repository (2012). Thoma, Ludwig. Lilly. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5209-E