7. Bild der christlichen Kindheit

Mel.: Zeuch meinen Geist, triff ... oder: Hier legt mein Sinn ...

1.
O liebe Seele, könnt'st du werden
Ein kleines Kindchen noch auf Erden,
Ich weiß gewiß, es käm' noch hier
Gott und sein Paradies in dir.
2.
Ein Kindchen ist gebeugt und stille,
Wie sanft gelassen ist sein Wille!
[330]
Es nimmt, was ihm die Mutter gibt,
Es lebet süß und unbetrübt.
3.
Man hebt es auf, man legt es nieder,
Man macht es los, man bind't es wieder;
Was seine Mutter mit ihm macht,
Es bleibt vergnügt und süße lacht.
4.
Vergißt man sein, es ist geduldig,
Bleibt allen freundlich und unschuldig,
Durch Schmähen wird es nicht gekränkt,
An Lob und Ehr' es auch nicht denkt.
5.
Ein Kindchen kann in Lust noch Schätzen,
Noch andern Sachen sich ergötzen;
Man mach' es arm, man mach' es reich,
Es gilt ihm alles eben gleich.
6.
Der Menschen Ansehn gilt ihm wenig,
Es fürchtet weder Fürst noch König;
O Wunder, und ein Kind ist doch
So arm, so schwach, so kleine noch!
7.
Es kennet kein verstelltes Wesen,
Man kann's aus seinen Augen lesen;
Es tut einfältig, was es tut,
Und denkt von andern nichts als gut.
8.
Mit Forschen und mit vielem Denken
Kann sich ein Kind das Haupt nicht kränken,
[331]
Es lebt in süßer Einfalt so
Im Gegenwärtigen ganz froh.
9.
Ein Kindchen lebet ohne Sorgen
In seiner Mutter Schoß verborgen;
Es läßt geschehen, was geschicht,
Und denkt fast an sich selber nicht.
10.
Ein Kindchen kann allein nicht stehen,
Geschweige, daß es weit sollt' gehen;
Es hält die liebe Mutter fest
Und so sich führ'n und tragen läßt.
11.
Und wenn es einst aus Schwachheit fället,
Es sich nicht ungebärdig stellet;
Man hebt es auf, man macht es rein,
Es geht hernach nicht mehr allein.
12.
Ein Kindchen kann nicht überlegen,
Es läßt sich heben, tragen, legen,
Denkt nicht an Schaden noch Gefahr,
Es bleibt nur überlassen gar.
13.
Ein Kindchen weiß von keinen Sachen,
Was andre tun, was andre machen;
Was ihm vor Augen wird getan,
Schaut es in stiller Unschuld an.
[332] 14.
Sein liebstes Werk und höchst's Vergnügen
Ist, in der Mutter Armen liegen,
Sie anzusehen spät und früh
Und sanfte zu umarmen sie.
15.
Es schätzet seiner Mutter Brüste
Mehr als die Welt und alle Lüste,
Da find't es, was ihm nötig ist,
Da schläft es ein und all's vergißt.
16.
O süße Unschuld, Kinderwesen,
Die Weisheit hab' ich mir erlesen!
Wer dich besitzt, ist hochgelehrt
Und in des Höchsten Augen wert.
17.
O Kindheit, die Gott selber liebet,
Die Jesu Geist alleine giebet,
Wie sehnet sich mein Herz nach dir!
O Jesu, bilde dich in mir!
18.
O Jesu, laß mich noch auf Erden
Ein solch unschuld'ges Kindlein werden;
Ich weiß gewiß, so kommt schon hier
Gott und sein Paradies in mir.

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TextGrid Repository (2012). Tersteegen, Gerhard. 7. Bild der christlichen Kindheit. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-4BC2-E