2. Die Missethäterin an ihren Säugling

O weh mir armen Mutter!
O unglückselig Kind,
Daß in der Wehenstunde
Wir nicht verschmachtet sind!
O schlage nicht dein Auge
So froh zum Morgenrot!
Das Weib, das dich geboren
War ihres Gatten Tod!
O blicke nicht so suchend
Aus deiner Wieg' umher:
Den du so gierig suchest,
Dein Vater ist nicht mehr!
Er liebte fremde Dirnen
Samt der verhaßten Brut,
Mehr als die Angetraute,
Mehr als sein eigen Blut;
[419]
Ach Gott! da übermannte
Mich Eifersucht und Schmerz;
Dies blanke Messer stieß ich
Dem Schlafenden ins Herz!
Mit deines Vaters Blute
Färbt' ich dies Messer rot!
Mit meinem Blute färb' ich
Das Henkereisen rot!
Neun lange Jammermonde
Wardst du für Schmach und Not
In diesem Kerker reifer,
Ich aber für den Tod!
Noch eh' ich meinen Namen
Dich stammeln hören kann,
Schleppt mich zum Blutgerichte
Die Rache schon hinan.
Bei Menschen, armes Würmchen!
Lass' ich dich nun allein!
Sie werden taub wie Steine
Bei deinem Jammer sein!
Dir Herz und Pforte schließen
Und, statt des Trostes, gar
Dich foltern mit der Frage,
Wer deine Mutter war?
Und weh dir, wenn du Rache
Gleich deiner Mutter übst,
Dir selbst, des großen Rächers
Uneingedenk, sie giebst!
Drum Thränen und Gebete
Und Segen über dich!
Ihn, den ich selbst mir raubte,
Den Segen über dich!
[420]
An diesen Mutterbusen
Komm' dann zum letztenmal
Und schlürfe du dir Labung
Aus dieser Brust voll Qual!
Vergebens streckst du wieder
Die Händchen aus nach mir
Und nimmermehr wird Labung
An diesem Busen dir!
Ach! wer wird künftig Vater,
Wer wird die Mutter sein?
Ihn deckt ein Kirchhofhügel,
Und mich der Rabenstein.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Stäudlin, Gotthold Friedrich. Gedichte. Gedichte. 2. Die Missethäterin an ihren Säugling. 2. Die Missethäterin an ihren Säugling. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-168B-A