Johann Gottfried Seume
Mein Sommer

[637] Veritatem sequi et colere, tueri justitiam, aeque

omnibus bene velle ac facere, nil extimescere


Lieber Leser!


Ich war willens, über meine jetzige Ausflucht nach dem Norden nichts zu sagen. Als ich nach Sizilien ging, fühlte ich in mir selbst das Bedürfnis, meinen Zeitgenossen ein kleines Denkmal meines Seins und Wirkens zu geben. Das hatte ich getan und war zufrieden, der Drang war gestillt. Schreibsucht ist, wie alle meine Freunde bezeugen können, nicht meine Krankheit. Mehrere wackere Männer aber, die ich nennen könnte, haben mich aufgefordert, über meine letzte Reise ihnen meine Bemerkungen nach meiner Weise mitzuteilen; das habe ich denn getan. Ich setzte mich hin und nahm das wesentliche aus meinem Taschenbuche; und das Ganze war fertig. Für Leute, welche alles wissen, habe ich nicht geschrieben; ebensowenig als für Leute, welche nichts wissen; für die ersten wäre es viel zuviel, für die letzten viel zuwenig.

Der Druck ist das gewöhnlichste und leichteste Mittel der Vervielfältigung. Ich mache weiter keine Apologie darüber, sondern stelle die Dinge vor, wie ich sie sah. Ich bin mir der reinsten Absichten bewußt, ohne jemand meine Ansicht aufdringen zu wollen. Wenn meine Urteile zuweilen etwas hart sind, so liegt das leider in der Sache, ich wollte, ich hätte überall Gelegenheit gehabt, das Gegenteil zu sagen.

[637] Diesmal habe ich nur den kleinsten Teil zu Fuße gemacht, ungefähr nur hundertundfünfzig Meilen. Lieber wäre es mir und besser gewesen, wenn meine Zeit mir erlaubt hätte, das Ganze abzuwandeln. Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. Überfeine und unfeine Leute mögen ihre Glossen darüber machen nach Belieben; es ist mir ziemlich gleichgültig. Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Man kann fast überall bloß deswegen nicht recht auf die Beine kommen und auf den Beinen bleiben, weil man zuviel fährt. Wer zuviel in dem Wagen sitzt, mit dem kann es nicht ordentlich gehen. Das Gefühl dieser Wahrheit scheint unaustilgbar zu sein. Wenn die Maschine steckenbleibt, sagt man doch noch immer, als ob man recht sehr tätig dabei wäre: »Es will nicht gehen.« Wenn der König ohne allen Gebrauch seiner Füße sich ins Feld bewegen läßt, tut man ihm doch die Ehre an und spricht nicht anders als: »Er geht zur Armee; er geht mit der Armee, nach der Regel a potiori.« Sogar wenn eigentlich nicht mehr vom Gange die Rede sein kann, behält man zur Ehrenbezeigung doch noch immer das wichtige Wort bei und sagt: »Der Admiral geht mit der Flotte und sucht den Feind auf«; und wo die Hoffnung aufhört, spricht man: »Es will nicht mehr gehen«. Wo alles zuviel fährt, geht alles sehr schlecht, man sehe sich nur um! Sowie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen, wie man soll, man tut notwendig zuviel oder zuwenig. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft. Schon deswegen wünschte ich nur selten zu fahren, und weil ich aus dem Wagen [638] keinem Armen so bequem und freundlich einen Groschen geben kann. Wenn ich nicht mehr zuweilen einem Armen einen Groschen geben kann, so lasse mich das Schicksal nicht länger mehr leben!

Ich war willens, hier eine kleine Abhandlung über den Vorteil und die beste Methode des Fußwandelns zu geben, wozu ich vielleicht ein Recht so gut als irgendein anderer erworben habe; aber meine Seele ist jetzt zu voll von Dingen, die ihr billig wichtiger sind.

Wenn man mir vorwirft, daß dieses Buch zu politisch ist, so ist meine Antwort, daß ich glaube, jedes gute Buch müsse näher oder entfernter politisch sein. Ein Buch, daß dieses nicht ist, ist sehr überflüssig oder gar schlecht. Wenn man das Gegenteil sagt, so hat man seine – nicht guten Ursachen dazu. Politisch ist, was zu dem allgemeinen Wohl etwas beiträgt oder beitragen soll: quod bonum publicum promovet. Was dieses nicht tut, ist eben nicht politisch. Man hat dieses Wort sehr entstellt, verwirrt und herabgewürdigt oder es auch, nicht sehr ehrlich, in einen eigenen Nebel einzuhüllen gesucht, wo es dem ehrlichen, schlichten Manne wie eine gespensterähnliche Schreckgestalt erscheinen soll. Meistenteils gelingt es leider sehr gut.

Wo das Denken gänzlich aufhört, haben die Spitzköpfe ebensosehr gewonnen, als wo das Verkehrtdenken anfängt. Der Mensch braucht durchaus nichts als sich selbst, um Wahrheit zu sehen; nichts als seine eigene Kraft, um ihr zu folgen; und nur seinen eigenen Mut, um dadurch so viel Glückseligkeit zu erlangen, als seine Natur ihm gewähren kann. Ich habe nicht vorgegriffen, sondern gewissenhaft alles gegeben, wie es damals war, und wie ich darüber dachte. Wenige werden vielleicht hier etwas Neues finden, aber gewiß [639] viele sich selbst; und ich bin so stolz, diese für gut zu halten. Hunderttausende denken wie ich, aber niemand hat vielleicht die Pflicht oder die Gelegenheit, es öffentlich zu sagen. Wenn man mich nach meinem Berufe dazu fragt, so ist die Antwort: »Ich bin ein Mensch, ein freier Mann, glaube vernünftig zu sein und will allen meinen Mitbrüdern ohne Ausschluß gleichwohl.« Dessen bin ich mir so innig und fest und wohltätig bewußt, daß ich dafür mein Haupt ohne Reue auf den Block legen würde, wenn es nötig wäre. Stürmen will ich nicht, aber offen sagen, wo ich glaube, daß die Krankheit liegt.

Es ist mir seit langer Zeit ein etwas trauriger Gedanke, ein Deutscher zu sein; und doch möchte ich wieder meine väterliche Nation mit keiner andern vertauschen. Wir haben seit Karl dem Großen in unserm Vaterlande ein so sonderbares Gewebe von Halbgerechtigkeit, Halbfreiheit, Halbvernunft und überhaupt von Halbexistenz gehabt, daß sich die Fremden bei näherer Einsicht schon oft gewundert haben, wie wir noch so lange politisch lebten. Die Krisen waren häufig und sind jetzt gefährlicher als jemals. Solange wir verhältnismäßig noch Kraft und Stempel in Sitten und Verfassung hatten, oder vielmehr solange unsere Nachbarn um uns her auch noch im Chaos lagen, hielten wir uns noch mit Anstand und Würde. Der Dreißigjährige Krieg war die erste unserer großen letalen Nationaltorheiten. Wir wollen den Fürsten nicht vorzugsweise die Last des Unheils aufbürden, denn wo das Volk zur Entscheidung kam, ging es verhältnismäßig nicht besser; das zeigt die alte und neuere Geschichte. Alle tragen ihren Teil der Schuld.

Eine so traurige Rolle, als wir seit den letzten zehn Jahren gespielt haben, liegt kaum in den Annalen, [640] und noch schlimmer ist es, es ist durchaus keine Aussicht, daß es je im einzelnen und im ganzen besser werde. Wir sind wirklich nun ein Spott einer Nation, die uns seit Jahrhunderten mit ihren Torheiten gegängelt hat. Unsere Eupatriden waren ihre Affen, und unsere Übrigen waren nicht viel mehr als die Sklaven unserer Eupatriden. Woher kommt es nun, daß eine Nation, die Friedrich der Zweite, verachtungsweise bei ihnen der kleine Markgraf von Brandenburg, in seinen Kriegen nur als ein Parergon behandelte, jetzt das ganze Europa zittern macht, daß sie in einer neuen Riesengröße dasteht und rundumher alles zu verschlingen droht und wirklich verschlingt? Ich will kein Geschichtsgemälde aufstellen; das liegt leider nur zu grell jedem Sehenden vor Augen. Spanien, Italien, die Schweiz und Holland sind so gut als vernichtet. Es fehlt nur noch die Einverleibung, welche die wohlberechnete Interimsmäßigung bloß aufschiebt. Uns spricht man Hohn, und wir müssen es in unserer Schwachheit dulden. Woher kommt nun diese Schwachheit und die Stärke der Männer an der Seine? Ich will mit tiefem Trauergefühl als deutscher Mann noch ein Wort sprechen – weil ich will und Fug habe. Beherzige man es, oder beherzige man es nicht, ich habe dabei nichts zu verlieren. Nur höchstens meinen Kopf; und dieser fängt an grau zu werden und wird mir täglich entbehrlicher. Tausende müssen ihn mit wenigem Sinn täglich wagen für die Grille eines einzigen, den Wink eines Despoten, das Nicken seines Lieblingshandlangers, vielleicht für den Unterrock seiner Mätresse; ein unbefangener Mann wird ihn doch also wagen dürfen für das, was er nach seiner Überzeugung für Wahrheit hält. Mit Wahrheit ist, nach der alten Erfahrung, freilich keine Gunst zu verdienen, denn sie beleidigt fast[641] überall, weil fast überall Sünde ist. Desto besser, wenn sie nicht gefährdet.

Die Franzosen sind seit fünfzehn Jahren erst zur Nation im höheren Sinne des Worts geworden; freilich durch eine furchtbare Wiedergeburt, um die sie niemand beneiden wird, aber sie sind es geworden. Ich habe hier weder Zeit noch Neigung, mich über den Ursprung, die Ursachen, den Fortgang und das Ende der Revolution auszubreiten. Dem Forscher und fleißigen Bemerker der Geschichte ist alles klar. Sie haben die Nationalkraft gesammelt, und es stehen nun Männer da, die sich als solche denken und fühlen und als solche gehandelt haben und handeln. Das ganze Schibboleth und das Palladium der Staatsveränderung ist ein mathematisch richtiges Steuerkataster. Das übrige ist notwendige Folge. Nur dadurch besteht Freiheit und Gerechtigkeit und höchste Nationalkraft; nur dieses macht gute Bürger, und hält sie. Das hat die große Nation geschaffen und wird sie halten, solange es gehalten wird. Geht es verloren, so steigt sie herab zu den übrigen.

Bei uns zerstörten die Freiheiten die Freiheit, die Gerechtigkeiten die Gerechtigkeit. Jedes Privilegium, jede Realimmunität ist ganz gewiß der erste Schritt zur Sklaverei, so wie es die erste öffentliche Ungerechtigkeit ist. Das ist unser Urteil. Das sehen alle Vernünftigen; aber niemand hat den Mut, den Anfang zur Gerechtigkeit zu machen. So mögen wir denn die Schmach unsrer Schwäche tragen! Die Franzosen werden freilich jetzt hart gedrückt, aber welche Nation hat auch getan, was sie getan haben? Wo findet man ihresgleichen in der Geschichte? Das tat der Geist, der in ihnen erwacht ist. Schläft dieser Geist wieder ein, so sinken sie wieder zurück. Aber ehe er wieder einschläft, kann er noch viel um sich [642] her zertrümmern, so wie er schon viel zertrümmert hat. Ich erinnere mich, daß vor einiger Zeit einige Franzosen sich bitter beklagten über die Menge und Größe der Abgaben, die sie bezahlen. »Wollt ihr dieses?« fragte ich sie und hielt ihnen ein deutsches Steuerkataster vor. Sie fuhren elektrisch auf. »Nein, bei Gott«, riefen sie; »wir wollen geben, solange wir können; und wir wollen schlagen, solange die letzten Knochen halten. Wir tragen wenigstens gleich und haben alle nur eine Furcht und eine Hoffnung.« Das ist wahr; und dieses macht sie stark. Ob das lange währen wird, mag der Zeit bleiben. Ich glaube leider, die Keime des Verderbens wieder unter ihnen schlummern zu sehen.

Die Römer und Griechen hatten ein starkes Gefühl, aber keinen Begriff von Naturrecht und Völkerrecht. Ihre Geschichte ist Beleg. Die unglücklichen Gracchen sind die einzigen, in deren Seele ein Schimmer von öffentlicher Gerechtigkeit gefallen zu sein scheint. Als unsere Vorfahren, die Barbaren, eroberten, war, trotz des vielen Redens davon, bei ihnen kein Gedanke von Freiheit und Gerechtigkeit. Man schlug und vertilgte und machte Sklaven. Der sogenannte Freie oder Edelmann war der Zügellose; die Überwundenen wurden zur Schande der Menschenvernunft und der Religion als Dinge behandelt. Ich habe das Recht, meinen Feind zu töten, aber nicht das Recht, ihn zum Sklaven zu machen. Sklaverei ist mehr Erniedrigung als Tod, also ist der Tod das Minus. Es ist hier kein Paktum, oder es wäre null, und ohne Paktum ist kein Verhältnis. Der strenge Beweis gehört nicht hierher. Nur der Edelmann war Person; einige Städte ausgenommen, waren die übrigen ganz ohne Haupt, sine capite im Sinne des römischen Unrechts. Der Unsinn leuchtet freilich ein; aber wie vieles dieser [643] Art leuchtet nicht ein und dauert doch Jahrhunderte und vielleicht Jahrtausende?

Die Staaten waren damals einfacher, der Adel etwas anderes und in dem Chaos verhältnismäßig auch etwas besseres. Er allein trug die Last und tat und handelte. Von den übrigen war keine Frage. Die Zeiten änderten sich; man brauchte mehr, von innen und nach außen. Der Adel wollte nicht geben, denn die jetzige Seele des Adels ist ja nichts beitragen und alles genießen. Adel nenne ich die Inhaber der Privilegien und Immunitäten; alles übrige ist Kleinigkeit. Der Adel hörte auf, Pflichten zu leisten, fing aber nach den Verhältnissen nicht an, Lasten zu tragen. Man brauchte Krieger, Sklaven konnte man mit Sicherheit nicht unter den Waffen sehen. Daher die Personalfreiheit der deutschen Landleute von der Zeit Friedrichs des Dritten an. Die Bedürfnisse wurden nun mannigfaltiger; und alles ohne Ausnahme wurde den Städten und dem kleinen Landmann aufgebürdet. Die Stände kamen bloß zusammen, um zu bewilligen, was die andern geben sollten. Freilich ein Widerspruch! Aber es ist so. An eine philosophische Gründung eines Staats, am Ende doch die einzige haltbare, ist bis auf die französische Staatsveränderung nicht gedacht worden. Die Wirkung hat sich gezeigt. Solange sie auf dieser Base halten, sind sie gewiß unüberwindlich, und Nationalglück von innen und außen wird das endliche Resultat sein. Wenn sie zu dem Alten zurückgeführt werden, kommt das Alte wieder. Der Adel und der Klerus hatten die Franzosen dahin gebracht, wo sie waren. Ermannung und eine Anwandlung von Vernunft haben sie zu dem Grade geführt, wo sie jetzt stehen. Der gegenwärtige Dynast – ό παντα εν τοις κοινοις δυναμενος εστι δυναστης droht die Sache zurückzuführen, und sein Geist nach[644] ihm sie zu vollenden. Daher mein lauter, erklärter Widerwille, da ich doch die Größe des Mannes gern anerkenne. Ich fürchte bloß für die Vernunft und Freiheit und Gerechtigkeit; nie für mich.

Die letzten Kriege haben ganz die Ohnmacht unseres Systems gezeigt; vorzüglich der letzte. Freie Männer schlugen immer die Halbknechte. Auch Spartakus war ein freier Mann, solange er schlug. Kann man sich einen größeren Widersinn denken, als daß bei Nationalkrisen, wie die Kriege sind, gerade diejenigen Besitzungen, welche die meiste Kraft haben, keine Last tragen sollen? Daß sie nicht zahlen im Frieden, ist Ungerechtigkeit: daß sie bereit sein wollen im Kriege, ist Dummheit. Ich kann mir nicht helfen, ich brauche das harte Wort; es ist das eigentliche. Merkantilisch berechnet, ist freilich die Steuerfreiheit keine Beeinträchtigung; denn der Preis dieser Güter steigt um desto höher, sie müssen desto teuerer bezahlt werden, aber staatsökonomisch und in der teilweisen Sammlung der Nationalkraft ist sie Blödsinn. Nur der ist der Edelste, der das meiste für das Vaterland tut und das wenigste dafür genießt. Die Erfahrung hat belegt. Der Enthusiasmus der Freiheit ist, heller betrachtet, nichts anders als die Vorstellung der allgemeinen Gerechtigkeit. Diese hat getan, was wir gesehen haben. Man rückte sonst immer den Franzosen nur Roßbach und Krefeld vor, sie haben die Tage furchtbar gerächt. Hat sich etwa ihr Wesen geändert? Sie haben nur ihre Verhältnisse umgeschaffen. Die Gährung hat Männer zu Tage gefördert und die meisten an ihren rechten Platz gestellt. Österreich verkaufte seine Fahnen an die Milchknaben der Goldmäkler; dafür war denn auch Ehre und Vaterland verkauft. Nun soll Finanzerei retten, nur Ehre und Gerechtigkeit bewahrt den Staat. Es ist nur Scham zu[645] ernten, wo das Vaterland bloß merkantilisch behandelt wird. Dieser aktive und passive Handelsgeist ist bloß für die isolierten Briten weniger schädlich, aber immer auch ihre Schande; und ihre Armeen haben es unter Washington erfahren. To buy and to sell is the soul of their wisdom: Indes ist doch die Freiheit noch nicht in das Palladium ihrer Flotte gedrungen.

Der Franzose ohne Unterschied schlägt für ein Vaterland, das ihm nun lieb geworden ist, das ihm und seiner Familie eine gleiche Aussicht auf alle Vorteile vorhält und diese Vorteile wirklich gewährt. Nur der Mann wird gewürdigt nach dem, was er gilt, bei uns wird die Schätzung genommen nach dem, was das Kirchenbuch spricht, der Geldsack des Vaters wiegt oder das Hofmarschallamt vorschreibt. Für wen soll der deutsche Grenadier sich auf die Batterie und in die Bajonette stürzen? Er bleibt sicher, was er ist und trägt seinen Tornister so fort und erntet kaum ein freundliches Wort von seinem mürrischen Gewalthaber. Er soll dem Tode unverwandt ins Auge sehen, und zu Hause pflügt sein alter, schwacher Vater fronend die Felder des gnädigen Junkers, der nichts tut und nichts zahlt und mit Mißhandlungen vergilt. Der Alte fährt schwitzend die Ernte des Hofes ein und muß oft sie seinige draußen verfaulen lassen, und dafür hat er die jämmerliche Ehre, der einzige Lastträger des Staats zu sein, eine Ehre, die klüglich nicht anerkannt wird! Soll der Soldat deshalb mutig fechten, um eben dieses Glück einst selbst zu genießen? Er soll brav sein, und seine Schwester oder Geliebte muß auf dem Edelhofe zu Zwange dienen, jährlich für acht Gülden, oft ohne Aussicht ein Jahr um das andere ihr Leben lang; und seine alte, kranke Muhme, die kaum trockenes Brot hat, muß ihren zugewogenen Haufen Flachs spinnen für den Hof, damit ihr nicht[646] die Hilfe geschehe; und sein kleiner Bruder muß Botschaft laufen in Frost und Hitze für einen Groschen den Tag. Der kleine Landmann fährt und zieht und gibt; auf den großen Höfen rührt sich kein Huf und dreht sich kein Rad. Das nennt man denn Staat und gute Ordnung und Gerechtigkeit, und fragt noch, woher das öffentliche Unglück kommt! Wo keine Gemeinheit ist, ist kein Gemeinsinn. Gemeinheit des Rechts, Isonomie, ist ein göttlicher Gedanke, vielleicht der schönste, den wir haben; nur Sklavensinn und Despotensucht können Verachtung darauf werfen. Alle wollen nur genießen, und niemand will tun. Jeder bürdet dem andern auf; keine allgemeine Übereinstimmung zum Guten, kein tätiges Mitwirken zum Gemeinwohl! Die Feinde sind nur stark durch unsere physische und moralische Schwäche, die unsere Schuld ist. Überall ist unter dem Volke grobe, schmutzige Selbstsucht. Unter unsern Fürsten herrscht Mißtrauen; einer freut sich über das Unglück des andern, wird ohnmächtiger dur Trennung, greift unüberlegt nach jedem kleinlichen Vorteile des Moments und bringt endlich sich und die Nation an den Rand des Verderbens. Ein einziger ist jetzt Diktator von Europa, der vor fünfzehn Jahren nur eben Zutritt in das Vorzimmer der dummstolzen Minister hatte. So geht es, wenn Männer die Sache betreiben; und so geht es, wenn Knaben stehen, wo Männer stehen sollten. Wir sind, wenn wir so fortfahren, in Gefahr, weggewischt zu werden wie die Sarmaten; und bald wird man in unsern Gerichten fremde Befehle in einer fremden Sprache bringen. Ob die Menschheit dabei gewinnt oder verliert, wer vermag das aus dem Buche des Schicksals zu sagen?

Bonaparte ist ein großer Mann im gewöhnlichen Sinne. Das Schicksal hat ihn an seinen Posten gestellt. Erst haben die Verhältnisse ihn gemacht; nun macht [647] er die Verhältnisse. Aber weder Alexander noch Cäsar noch Friedrich hatten die Mittel, die ihm der Zufall in die Hände gab. Er verstand es, die aufgeregten Riesenkräfte einer großen, schönen, wackeren, liebenswürdigen Nation zusammenzufassen und sie nach seiner Neigung zu richten. Zum Glück für beide gehen beider Wege so ziemlich zusammen. So ziemlich, sage ich, denn von der reinen Harmonie bin ich noch nicht überzeugt. Ohne sein Verdienst und seine Größe zu schmälern, muß man der Nation die ihrige lassen. Seine Sache war, bloß das Gute der Revolution zu sammeln und es zu seinen Zwecken zu leiten. Was die Nation dabei gewinnt oder verliert, kann erst ein künftiges Jahrhundert entscheiden. Der Krieg hat Krieger gemacht, die Nationalsache hat sie zu Helden gebildet; alles hat sich in der Krise vereinigen müssen, die allgemeine Kraft zu erhöhen. Ob die neue Dynastie wie die alte sein wird, kann nur die Zeit lehren; sie fängt an wie jene und hat das Ansehen, sich zu machen wie jene. Dann war das heroische Reinigungsmittel umsonst. Wo die Bajonette der Söldlinge herrschen, ist von Vernunft und Freiheit, Gerechtigkeit und Volksglück nicht mehr die Rede. Man braucht fast überall nur das Minimum, um das System zu halten, und herrscht, weil man nicht weise genug ist zu regieren. Wenn es so geht, ist die gefürchtete Römerei fertig. Die Engländer sind von innen und außen nicht besser. Die Natur scheint sogar ihre Regierung durch ihre Lage kaufmännisch gemacht zu haben.

Bonaparte ist der Held des Tages und verdient es durch seinen Mut, seine rastlose Tätigkeit, seinen tiefen Scharfblick. Er hat die Soldaten laut zu seinen Kindern gemacht; dadurch hat er der Bürgerfreiheit ihr Urteil gesprochen. Überall beherrscht die sicher berechnete Kühnheit der wenigen die furchtsame Gutmütigkeit [648] der vielen. Er ist nicht der erste, unter dem die Nation ruhmvoll siegte; er trat auf die Schultern seiner Vorgänger. Für ihn sind alle gestorben, welche für die selige Republik starben, wie die Scipionen für Cäsar siegten. Von Pichegrü und Moreau weiß man nichts mehr; und doch waren auch sie einst die Männer des Tages. Nur er verstand die Stirne der Gelegenheit für sich zu fassen. Wenn ich überzeugt wäre, daß unter ihm Vernunft und Freiheit und Gerechtigkeit gediehe, ich wollte der erste sein, das Blut des Herzens unter seinen Fahnen zu vergießen. Der Tag, wo er erster Konsul ward, hat bewiesen, daß es so sein mußte, weil an diesem Tage in dem ganzen Senat der Nation kein einziger Republikaner lebte. Republik oder Nichtrepublik; wenn nur Freiheit und Gerechtigkeit gesichert wird. Die Vernunft wird nicht sterben, wenn man sie auch von Jahrtausend zu Jahrtausend foltert.

Für uns ist keine Rettung, als das Gute der Franzosen nachzuahmen und ihre Schrecknisse zu vermeiden. Sie sind durch Gleichung der Lasten, die einzige wahre Freiheit und Gerechtigkeit, zu der größten Nationalkraft gestiegen. Es ist bei ihnen, trotz dem eisernen periodischen Joche dieser und jener Despotie, immer noch die größte Summe allgemeiner öffentlicher Gerechtigkeit; also die größte Sammlung öffentlicher Mittel zu Nationalunternehmungen. Anstatt daß wir philosophischer und humaner als sie, zu ihnen hinaufsteigen sollten, hoffen wir verkehrt genug, sie werden wieder zu uns herabsinken. Ich bin kein Gegner der Alleinherrscher, wenn sie republikanisch walten, das heißt in emolumentum publicum ex aequo jure cum omnibus; aber ich werde mit meinem letzten Hauche jedes Privilegium und jede Realimmunität als eine Pest der Gesellschaft verabscheuen. Sie sind die[649] Schwelle zu allen Ungerechtigkeiten. In Frankreich hat man die alte Krankheit geheilt, aber der neuen nicht vorgebeugt; und es ist sehr zu fürchten, die Gespenster werden bald wieder erscheinen. Erbpachten und Emphyteusen sind die Einleitung zum Feudalsystem, und dieses zur Unterdrückung und Sklaverei. Man appelliere nicht an die Befugnisse des Besitztums! In detrimentum rei publicae non datur possessio. Der Staat wird nur gesichert durch reinen Besitz und reine Veräußerung auf gleiche Bedingung für alle. Intermediärleistungen schwächen das Ganze. Jedes Privilegium wird ein Staat im Staate und beweist die Krankheit der Gesetze. Wer sein Vermögen nicht mehr verwalten oder verwalten lassen kann, hat für sich und den Staat als Bürger zuviel; und wer nicht mehr Bürger ist, ist durchaus weniger und wird für das Vaterland negativ. Aber wer denkt an Bürgerpflicht, wenn sie der Staat nicht ordnet?

Wollen wir dem einbrechenden Verderben Widerstand tun, so müssen wir es mit der gesammten Kraft alle tun. Jede Ausnahme ist zweckwidrig und Nationalsünde. Die Franzosen kennen recht gut die Schwächen ihrer Nachbarn und hüten sich sehr, sie darauf aufmerksam zu machen. Das zeigt ihr sehr abgemessenes Betragen in Hannover und Österreich. Nur unsere Schwäche macht ihre Stärke. Können wir nun den Gedanken der öffentlichen Gerechtigkeit nicht wagen, so dürfen wir uns nur recht folgsam bescheiden auf das Joch gefaßt machen, das man uns nach der Reihe auflegen wird. So weit sind wir schon erniedrigt, daß unsere Fürsten für jeden ihrer Schritte erst das Wohlgefallen fremder Machthaber einholen müssen, und zwar einer Macht, die sie vor nicht langer Zeit noch echt stiftsmäßig verachteten. So rächt sich Ungerechtigkeit und Inkonsequenz!

[650] Diese Gesinnungen, die vielleicht nicht ganz methodisch geordnet, aber lebendig in meiner Seele sind, will ich hiermit bei meiner Nation niederlegen. Ich für mich selbst habe keinen Gewinn und keinen Verlust an allen Staaten. Meine Äußerungen sind meine Überzeugungen, die sich auf Geschichte und auf Beobachtungen der Menschennatur gründen. Freiheit und Gerechtigkeit sind Schwestern, ihr Vater ist der Geist und ihre Mutter die Vernunft, ihre Kinder sind Fleiß und Mut und Kraft und Glückseligkeit. Die Familie gedeiht nur zusammen und leidet zusammen. Die Furcht hat viele Götter des Himmels gemacht, und noch mehrere Götter der Erde. Wo sie eintritt, ist schon die Hälfte der guten Hoffnung verloren. Nur durch Verachtung des Todes lebt man mit Ehre; und das Leben hat nur Wert, insofern es Würde hat. Wer die Gefahr ohne weise Absicht sucht, ist ein Tollkühner, wer sie auf dem Wege der Pflicht mit Kleinmut scheut, ist ein Feiger; jener verdient lauten Tadel, dieser laute Verachtung. Der Gedanke ist das Eigentum jedes Geistes; selbst der Allmächtige kann ihn nicht rauben, ohne zu vernichten. Gedankenfreiheit ist eine Erfindung der Despotie. Sie ist und wird weder gegeben noch zugestanden: jeder denkt, indem er ist, durch sein Wesen. Wer den Tod nicht fürchtet, denkt auch laut, wenn er erst mit einer moralischen Natur gehörig in Ordnung ist.

Fast jeder Monat bringt jetzt eine neue Katastrophe. Jetzt hält man den Ölzweig empor; wer bürgt uns, daß, ehe Du dieses liesest, lieber Leser, nicht die Flamme über unserm Haupte schlage? Kraft und Mut hilft das Leben tragen; geschlossen ist es bald, wenn das Schicksal will, bei diesem etwas leichter, bei jenem etwas schwerer.

Ich war willens, noch ein Werk zu schreiben, das[651] mir noch einige Zeit nach meinem Tode sollte leben helfen; aber meine Verhältnisse erlauben mir nicht den dazugehörigen Zeitaufwand in Vorbereitung und Ausführung; und die Zeit wird bald kommen, wo auch die Kräfte dem Willen nicht folgen, wenn sich gleich die Muße fände. Ich beruhige mich also mit der Überzeugung, nach der besten Einsicht immer nur das Gute und Rechte gewollt und, wenn es galt, auch getan zu haben. In meiner Jugend führte mich der unbestimmte Tätigkeitstrieb hierher und dorthin. Dieses Mittels bediente sich vielleicht die Natur weise genug zur Ausbildung des Charakters. Die Wahl des Mannes zu bestimmen, der auf gewöhnliche Vorteile längst Verzicht getan hat, gehören höhere Gründe.

Ich liebe nun Ruhe, aber mit offener Liberalität; ohne diese wäre jene Todesschlaf. Was auch mein Los sein mag, ich bleibe fest in meiner Überzeugung:Es gibt nur eine Tugend, und diese Tugend ist Gerechtigkeit. Gebe der Himmel, oder vielmehr, helfen die Menschen, daß sie in Zukunft nicht mehr so oft entweiht werde, als es bis jetzt die Geschichte zeigt!

Den 3ten Januar 1806.

[652]

Breslau, den 18. April

Es ist so schön, wenn wir ein Glück uns bauen,
In lichten Höhn;
Doch mehr als Grab fühlt unser Herz mit Grauen
Es untergehn.
Da stirbt's in uns, da wird die Schöpfung öde
Melancholei,
Und stumm, als ob die gelbe Seuche töte,
Der vollste Mai.
Noch hangen wir mit Wehmut an dem Saume
Der Lichtgestalt,
Die, nun entflohn, uns magisch nur im Träume
Vorüberwallt.
Der Stolz verbirgt sich scheu in seine Falten;
Und knirschet nach;
Er konnt' es links nicht recht in Ordnung halten,
Wie er versprach.
Die Traub' erfreut, die Herrscherbinde glänzet,
Der Lorbeer ehrt:
Die Weisheit ziert, die Wissenschaft bekränzet,
Paktol betört;
Die Achtung hält, die hehre Tugend leitet
Dem Himmel nah;
Doch ganz wird er erst nur von dir bereitet,
Urania!
[653]
Es sterben mir die Funken, die noch flammten,
Nun nach und nach;
Und so gehör' auch ich zu den Verdammten,
Der nichts verbrach.
Wächst mir denn Flaum noch immer an dem Kinne,
Daß ohne Kraft
Ich noch mich in den schönen Zauber spinne,
Nur knabenhaft?
Als Jüngling trug ich trotz der Stoa weise
Das Haupt empor;
Und bin nunmehr, tief in der Lebensreise,
Als Mann ein Tor.
Mir wirds so dunkel und so abgestorben
Und menschenleer.
Bin ich es, oder ist die Welt verdorben
Rund um mich her?
Es liegt in mir wie lauter Totenhügel,
Und ich entflieh
Im Sonnenlichte kaum dem Rabenflügel
Der Phantasie.
Kannt' ich denn nicht das Rad, das alles treibet
In dieser Welt?
Den Griffel nicht, der die Gesetze schreibet,
Und dann sie hält?
Wird Eigennutz mir je den Geist belasten
Mit grober Sucht,
So werde mir, um Rollen Gold zu fasten,
Noch einst geflucht.
[654]
Hinaus, hinaus zum Kampf der Elemente!
Dort findest du
Als ob der Tod das Leben zaubern könnte,
Im Sturme Ruh.
Ob mich, den Pilger, wilde Samogeten
In ihrem Reich,
Ob Räuber mich am Fuß des Ätna töten,
Mir ist es gleich.
Und gleich ist's auch, so deucht es mir, für andre,
Ob ich dahin
Hier oder dort durchs schale Leben wandre
Und Niete bin.
Der Nacken brennt, die Wimper glüht; es hebet
Ein Tropfen sich;
Fort, fort, eh er empor zur Träne bebet!
Ermanne dich!

Ich habe mich ermannt. Dieses nehme ich eben für Dich aus meinem Taschenbuche, mein Freund; und die Wahrheit jeder Silbe ohne Dichtung behauptet, will es weiter nichts sagen, als daß ich mit meiner Weisheit etwas in den Brüchen und in der Leidenschaft – leidenschaftlich war. Es gehören Jahre dazu, ehe ich weich werde; dann wirkt es vulkanisch; aber mit einem einzigen heroischen Streiche ist auch die Kur vollendet; ich bin wieder der Alte und halte nicht nur an dem Begriffe der Pflicht und der Männerwürde, sondern lebe auch kräftig darin. Im September werden die Gewitter etwas seltener, und so wird dieses hoffentlich eines der letzten in meiner Natur sein. Weiß der Himmel, wie es zugeht, ich bin bis in mein achtundzwanzigstes Jahr ein Muster von Ernst und[655] Festigkeit gewesen; aber seitdem hat mich einige Male der Geschlechtszauber zwar nicht in die gewöhnliche Sinnlichkeit hinein, aber doch aus meiner alten Euthymie herausgezogen. Zum Glück rette ich immer noch meine Selbständigkeit; und sobald ich mit gehörigem Grunde sage: »Ich will oder ich will nicht«, bringe ich, obgleich mit tiefer Erschütterung meine drei platonischen Seelen sogleich wieder in ziemlich gute Ordnung. Es geht nahe an der Zertrümmerung meines Wesens vorbei; aber es geht. Genug davon! Und vielleicht mehr als genug!

Du siehst, die Vorbereitung und vielleicht die Veranlassung zu meiner Ausflucht hätte wohl etwas philosophischer sein können. Wenn es nur der Erfolg ist, mag es noch hingehen; gesetzt auch, daß ich in den Enthusiasmus einer andern Art geriete.

Der Weg nach Dresden ging wie gewöhnlich; und ich bedauerte nur in Meißen, daß man nicht mehr Ästhetik für unsere Porzellanfabrik studiert. Form und Malerei bleibt in dem Grade zurück, als der innere Wert Vorzug hat. Ich erinnere mich, daß ich für eine Tasse, auf welcher nichts als Friedrichs des Zweiten Bildnis stand, für einen reichen Russen in Berlin sechzig Taler bezahlt habe. Etwas ähnliches dürfte in Meißen wohl kaum eintreten.

Hat sich Dresden gebessert oder ich mich? Beides wäre gut, und vielleicht ist beides. Mich deucht, daß der Charakter der Leute daselbst um die Nasenläppchen und Mundwinkel sich merklich zum Vorteil geändert hat; und ich sehe jetzt nicht mehr so viele dumm despotische, vornehme Gesichter als ehemals. Die vornehmen Gesichter mit ihren korrespondierenden Nasen findet man glücklicherweise jetzt meistens nur unter den niedern Halbgebildeten, aber eine komplette, völlig konstituierte, ganz ausgearbeitete vornehme [656] Nase in der höheren Sphäre ist auch das Impertinenteste, was einem ehrlichen, schlichten Manne in der Natur erscheinen kann.

Diesmal besuchte ich die Gallerie und habe sie, ein halbes Dutzend der ersten klassischen Stücke abgerechnet, in den bessern italienischen Schulen bei weitem nicht so reich gefunden, als ich geglaubt hatte: desto reicher an Zahl und Gehalt ist sie aber an Niederländern. Die Pariser Sammlung ausgenommen, ist in Dresden nun doch wohl die erste in Europa. Ich weiß wenigstens in Italien keine, die ihr den Rang streitig machen könnte. Verhältnismäßig noch größer ist der Schatz der Antiken; und hier gilt wieder das obige, zumal nachdem die Mediceerin und die Familie der Niobe nun auch in Paris sind. Der junge Faun, der Torso, die Venus, die Ariadne, die Matrone und einige andere Stücke gehören unstreitig zu dem Kostbarsten, was der Geist der Kunst erschaffen hat. Es ist mir ziemlich wahrscheinlich, daß Canova die schöne Stellung seiner Hebe von dem jungen Faun zu Dresden genommen hat. Sie ist fast ganz dieselbe; und was meine Vermutung bestärkt, er selbst hat vorher die Statue in Dresden wiederholt lange mit stillem Enthusiasmus beschaut. Die Mumien hat man anderwärts besser. Eine antike Büste, die Caligula vorstellen soll, war mir noch besonders merkwürdig, da ich schon vorher im Abguß eine große Ähnlichkeit mit einem großen Manne unserer Zeit zu finden geglaubt hatte, und dieser Glaube gewann mehr, als er verlor durch die Beschauung der Antike selbst. Becker, dessen Verdienste und Urteile in der Kunstgeschichte ich so sehr schätze, als irgend jemand nur kann, sagt: »Wenn man in der alten Kunst nur neun klassische Stücke annimmt, so liefert Dresden davon fünfe.« Das heißt doch wohl die Vorliebe für seine Inspektion[657] etwas weit treiben; und er dürfte zufrieden sein, wenn man ihm den vierten Teil des Ganzen zugestände.

Im grünen Gewölbe sah ich, daß der Kurfürst ein steinreicher Mann ist.

Einen herrlichen Genuß verschaffte mir noch die Probe von Naumann Amphions Schwanenlied, seiner Bethulia, die erst zu Ostern in der Kirche gegeben werden sollte, welches ich aber nicht abwarten konnte. Schuster ließ mit exemplarischer Strenge vieles einige Male wiederholen, was man nicht vollendet gut gemacht hatte. Unmöglich kann ich Dir alle ausgezeichnet schöne Stellen anführen. Vorzüglich gut waren für mich die Arien »Se dio veder tu vuoi« und »Prigionier che fa ritorno dagli orrori al di sereno« und die Erzählung des Mords. Weniger sind ihm viel leicht einige andere Stellen gelungen. Nicht gelungen nenne ich alles, wo der Komponist mit dem Dichter in Widerspruch ist. Wo der Dichter nicht lyrisch ist, welches freilich oft der Fall sein mag, muß ihm der Komponist nichts geben wollen, ehe er es wagt, ihm etwas Falsches zu geben. Der Komponist darf ja wohl mit dem Dichter zuweilen etwas gleichgültiger bleiben; das gibt zufällige Erholungen. Nicht gut ist mir vorgekommen die Stelle »Corriamo al campo!«, aber die Gründe sind mir in Breslau von Dresden aus nicht mehr gegenwärtig. Wenn ich die Stelle wieder höre, will ich Dir die Gründe sagen. Die alte, unangenehme Wirkung tat von neuem auf mich die Stimme des Kastraten. Und wenn der Verschnittene wie eine Flamme durch die Tonleiter läuft und kräht und trillert, ich weiß nicht, wo ich in der Natur mit ihm hin soll; alle Augenblicke erregt er Mitleiden und Widerwillen. Der Mann ist in ihm verdorben und das Weib nicht gegeben. Ich würde mich für verstümmelt an Vernunft halten, wenn ich Wohlgefallen an der Gurgelkunst [658] des Hämlings fände. Psychologisch und naturrechtlich wäre noch weit mehr strenger darüber zu sprechen; ich wollte sogar behaupten, daß man einem solchen unglücklichen Halbgeschöpf moralisch durchaus keine Missetat zurechnen könne.

In Bautzen fand ich nur einen meiner Freunde zu Hause, und in Görlitz sah ich während der Umspannung nur Anton. Gern wäre ich nach Meffersdorf hinübergewandelt, aber meine Zeit erlaubte hier keinen Abstecher. Von Görlitz und Waldau aus hat man rechts einige Tage lang auf vielen Punkten die Aussicht in das Riesengebirge. Vorzüglich schön erschien es mir auf der Anhöhe zwischen Waldau und Bunzlau bei untergehender Sonne; und das Bobertal macht vor Bunzlau abends im Mondschein eine romantische Fahrt. Die Leutchen in Gnadenberg leben fast durchaus wie die Leutchen in Herrenhuth, und eine Kolonie sieht der andern so ähnlich wie Tücher nach ebendemselben Muster aus ebenderselben Fabrik. Ich bin den Anstalten gar nicht abhold, und bedaure nur, daß man in der übrigen Welt nicht ebensoviel Gemeinsinn, Fleiß und Ordnung hat, bei etwas mehr Vernunft und Klarheit.

Es geht doch nichts über die Momente, wo man das Gute des Lebens mit seinen Freunden oder allein in der Erinnerung noch einmal genießt. Was dann noch Vergnügen gibt, hält gewiß die Probe. Ein Freund in der Gegend aus dem Vaterlande schickte mich längs den Sudeten hin; und ich suchte auf der Fahrt die Punkte, wo ich das ganze große, herrliche Gebirge übersehen konnte. Von allen Gebirgen, die ich noch gesehen habe, ist das Riesengebirge eines der schönsten und fruchtbarsten. Bloß der Ätna ist beides mehr, und der Apennin zwischen Florenz und Bologna macht ihm den Rang streitig. Von den Alpen wird es übertroffen [659] an furchtbarer Größe und Erhabenheit, aber nicht an Freundlichkeit und Reichtum der Natur. Jetzt lebte ich zusammengedrängt den Frühling des letzten Jahres noch einmal und sah in der Ferne mit Augen, oder suchte mit dem Geiste, die vorzüglichsten Stellen des großen Rückens. Dort hob sich in der Abendsonne majestätisch das Schneehaupt des Riesen empor, wo ich den vorigen April, wie einst auf dem Ätna, der erste war, der sich durch Sturmwetter hinaufarbeitete und durch das magische Luftgewebe in die Täler herabsah. An seiner Schulter sah ich im Geist die Paude mit dem freundlichen Wirt und weiter herab die Paude mit dem unfreundlichen Namen. Rechts herüber lagen sichtbar die Schneegruben und weiter hin der Reifenstein; und weiter hin zog sich das lange, lange Joch bis an die vaterländische Tafelfichte. Tiefer verfolgte ich die Krümmungen bis an den Zackenfall und durchstrich an den Flüssen herab und herauf das ganze reizende Tal von Warmbrunn und Hirschberg und Schmiedeberg. Einen schöneren Winkel der Erde trifft man nur selten, und selten bessere Menschen. Vor mir stand in friedlicher, freundlicher Einsamkeit der Gräzberg mit der alten Ruine auf seiner Stirne wo ich im letzten Frühling die ersten Veilchen pflückte und die erste Nachtigall schlagen hörte. Der alte, berüchtigte Zobte beschloß den Gesichtskreis, und die Phantasie verlor sich sanft jenseits in Böhmen in dem Steinlabyrinthe zu Adersbach. Mit einiger Mühe unterdrücke ich einige schwärmerische Reime vom letzten ersten Mai in der Schlucht des Zackenfalles und vernichte sie hiermit, damit ich nicht künftig in Versuchung gerate, Dich oder sonst jemand damit zu quälen.

Die Ebene von Liegnitz ist vielleicht eine der größten in Europa; die bei Chalons ist nicht größer. [660] Die Dörfer in Schlesien haben meistens das Ansehen von Wohlhabenheit. Die Häuser sind zwar alle nur mit Stroh gedeckt, aber Schornstein und Fenster und Türe sind überall ziemlich nett und reinlich, und diese nehme ich immer zur Probe guter Haushaltung und liberaler Bewirtschaftung. Vor den Dörfern ist allemal der Name derselben auf einer Tafel an einem Pfosten geschrieben; eine Anordnung, die man, wie ich höre, dem Minister dankt, und die zu der guten Landespolizei nicht wenig beitragen muß! Die Schrift ist aber überall jetzt schon wieder seht unleserlich und braucht Auffrischung. Man täte vielleicht nicht übel, zu eben diesem Behufe jeden Hauswirt seinen Namen mit der Nummer über seine Türe schreiben zu lassen, wie ich wirklich in einigen Orten, ich weiß nicht wo, gesehen habe. Das gibt auch jedem Eigentümer ein Ansehen von Wichtigkeit, das ihm als Staatsbürger und vorzüglichem Kontribuenten wirklich zukommt. Alles klagt hier über Teuerung, der Scheffel Korn kostet schon sechs Taler und der Hafer drei; und beides ist fast nicht zu haben. Weit kläglicher ist es jenseits der Berge in Böhmen, wo eine förmliche Hungersnot sein soll. Die Ausfuhr ist, wie überall, streng verboten, aber es wird dennoch viel hinübergeschafft. »Unsere Nachbarn haben uns gefüttert, als wir Not hatten«, sagten die Schlesier ganz laut, »wir können sie also doch jetzt nicht verhungern lassen.« Wer vermag nun zu entscheiden, ob dies Menschlichkeit oder Gewinnsucht ist. Ein Glück ist es, daß die Vorsehung die Leidenschaften in das gemeinsame Wohl mit verflochten hat. Aus reiner Vernunft wird wohl der Mensch, so wie er jetzt politisch und moralisch ist, wenig Gutes tun.

Hier in Breslau hörte ich in der Elisabethkirche den Tod Jesu von Graun. Der Gesang war eben leidlich,[661] aber tief und feierlich wirkte die schöne volle Orgel zum Chor. Ich erinnere mich kaum, ein besseres Werk gehört zu haben. Die Rede des Tages ist hier noch die Geschichte von der Vitriolsäure, mit der man aus einer Loge während der Vorstellung das Gesicht einer Schauspielerin fast vernichtet hätte. Die Sache ist auf alle Weise ein trauriger Beleg zu unsern Sitten. Schon die Möglichkeit und Wirklichkeit, und zwar aus dem ersten Platze der Gesellschaft einer feinen Stadt, ist empörend. Nun kann oder will man aus sehr mißverstandener Ehre nicht einmal den Täter finden. Es ist freilich keine Zierde für einen Zirkel, ein Subjekt, das zu etwas fähig ist, in seiner Mitte zu haben, aber durch Verbergung wälzt man die Schande nicht weg. Die Ehre fordert die Sichtung der Gesellschaft, und zwar den deutlichsten, bestimmtesten Ausdruck des Abscheues in der öffentlichen Meinung. Wer so weit sinken konnte, verdient keine Schonung mehr. Die Bosheit hat übrigens nicht einmal den Stempel der Originalität; ich habe in Holland von einem Schneider gehört, der sich, doch noch etwas menschlicher, dieses Mittels bediente, bei öffentlichen Gelegenheiten die Kleider seiner Kundleute zu verderben, um sich desto besser in Arbeit zu halten. Er wurde dafür billig ins Zuchthaus gebracht.

Schaulen in Litauen, den 29. April

Da bin ich denn nun wieder einmal bei den Samojeden und schauere vor Frost während Du vielleicht im Rosentale den Nachtigallen zuhörst. Voriges Jahr war ich diesen nämlichen Tag oben auf der Schneekoppe; auch hier unten auf dem Blachfelde hat es heute hoch geschneit, und man geht fest über den [662] gefrorenen Weg. Ich merke jetzt mit dem Perser, daß ich zwei Hauptseelen habe; die platonische dritte ist noch leicht beschwichtigt. Eine treibt mich fort an den Kaukasus und den Baikal, und die andere zieht mich sanft zurück zu den vaterländischen Eichen. Welcher Konfuz sagt mir armen Araspes nun, welches die gute ist? Die zweite wird wohl die bessere sein, da sie die ruhigere ist und die Stimme der Pflicht auf ihrer Seite hat. Ihr werde ich also folgen. Meine Reise ist bis jetzt gutgegangen. Von meinen literarischen, statistischen, kosmologischen und ästhetischen Reisebemerkungen erwarte nur nicht viel! Ich weiß nicht, ob die Ursache in mir oder außer mir liegt, aber es kommt mir vor, als ob von Dan bis Berseba alles eitel, wüst und leer sei. Im Ernst glaube ich, daß jetzt eine Reise durch Polen mit Ehren für einen nicht kleinen Feldzug gelten kann. Die Bequemlichkeiten für Reisende haben besonders seit der letzten Staatsveränderung oder Staatsvernichtung noch beträchtlich abgenommen. Das scheint vielleicht unmöglich zu sein, aber es ist doch wahr. Ich kann die Vergleichung sehr wohl ziehen, da ich ehemals das Land unter Stanislaus Poniatowsky in verschiedenen Richtungen verschiedenemal durchreist bin. Besonders ist der Strich von Wartenberg bis Warschau, Petrikau und Rawa ausgenommen, bis zum Mitleid ärmlich und schmutzig, bei Christen wie bei Juden; bei den ersten womöglich noch mehr. Im eigentlichen Verstande ohne alle Übertreibung ist in den meisten polnischen Häusern auf dem Lande, und nicht selten auch in den Städten, der Mist das reinlichste Fleckchen, wo man noch ohne Ekel stehen kann. Warschau und hier und da einzelne Örtchen machen noch einige Ausnahmen. Nachdem wir einige Stationen gehungert und gehofft hatten, versprach man uns endlich in Wielky einen Tee auf[663] der Post. Da brachte man denn einen alten, zerdrückten, schmutzigen, kupfernen Topf, der seit der Revolution ohne Säuberung eine Zigeunermenage enthalten zu haben schien und das Ansehen hatte, als ob er bei Gelegenheit unseres Tees mit ausgekocht würde. Es gehörte unser huronischer Appetit und die Ode rundumher dazu, um die Tunke trinkbar zu machen. Der Post in Rawa muß man ausschlußweise das Zeugnis eines vorzüglich guten und billigen Hauses geben.

Schade, daß Buchhorn und Kompanie nicht hier in Schaulen bei uns sind, denn ein solches Quodlibet hogartischer Figuren und Gruppen sieht man wohl selten so reich als auf einem polnischen Jahrmarkt. Deutsche, Polen, Russen, Hebräer, alle mit dem verschiedensten hervorstechendsten Charakter; dagegen sieht der Brühl der Leipziger Messe wie eine Amphiktyonenversammlung. Nimm nur meine Personalität selbst, wie ich mir endlich den sechs Tage langen Bart abnehmen lassen mußte! Als Scherer erschien ein alter, langer, hagerer, geisterähnlicher Israelit mit einem Bart bis zum Gurt und einem gewaltigen Streichriemen am Talar. Der Mann sah aus wie der Prophet Elisa in Hübners biblischen Historien; aber seine Seife roch wie ein Extrakt des ganzen Tales Gehenna. Ich saß auf einem dreibeinigen wankenden Lehnstuhle ohne Lehne, ein großer, gigantischer Finne hielt das Licht, Waspan der Sarmate machte mir die Konversation und die grämliche Donna des Hauses schlich durch das Zimmer und brummte, daß man sie in ihrer alten gemütlichen Indolenz gestört hatte.

Es wäre schwer zu bestimmen, ob die Verwaisung in dem Preußischen oder Russischen größer sei. Das Land ist übrigens nicht arm, sondern nur elend und jämmerlich. Die Leute haben Beutel voll Gold, aber[664] liegen fast im Kote und haben nicht die gewöhnlichsten Lebensbedürfnisse, ohne die sich gewiß ein Leipziger Stadtsoldat totschießen würde. Vorgestern konnten wir in einem stattlichen Dorfe von fast hundert Häusern, das wohl ein Dutzend Fenster und sogar einige Schornsteine hatte, und wo das Wasser gelb und lehmig war, keinen Tropfen Bier finden. In einem andern hatte man das Bier mit Pflaumen und Branntwein sublimiert und eine stygisch köstliche Tunke daraus gemacht.

Ich hatte wohl ehemals in der Kirchengeschichte von allerhand Taufen, und unter andern auch wohl von der Korntaufe gehört; aber hier hatte ich zum erstenmal Gelegenheit, sie zu Ostern zu sehen. Man ging mit einem großen Gefäße voll heiligen Wassers auf den Äckern hinunter und befeuchtete damit die junge Saat und steckte von Zeit zu Zeit etwas in die Erde, das, wie ich hernach hörte, geweihte hölzerne Kreuzchen waren, und murmelte dabei seine Formeln. Wenn nur der Acker gut bearbeitet ist und gutes Wetter folgt, so wird wenigstens die gottselige Operation nichts schaden. Überall hielt man öffentlich gar lächerliche Osterfarcen, vorzüglich in Petrikau.

In Warschau hielt ich meinen Einzug den siebzehnten April, den nämlichen Abend, wo ich vor elf Jahren abwechselnd hier und da unter dem Kartätschenfeuer stand. Es waren zwei heiße Tage, der blutige grüne Donnerstag und der Karfreitag. Ich fand mein ganzes Tabernakel noch ebenso in Trümmern als damals am heiligen Ostertage. Es war noch kein Stein wieder gelegt, und man schien sich in dem Anblick des Monuments der letzten Nationalkraft melancholisch zu gefallen. Der Name Russen und Igelström wurde noch immer von den Vorübergehenden gemurmelt. Unser Speisesaal ist eine Ruine, das Wachhaus [665] eine Wäsche, die Kriegskanzlei eine Schmiede, und mein Zimmer im Hintergebäude des Palastes hängt ohne Treppe in der Schwebe. Die Zeit wird bald kommen, wo ich bloß von Reminiszenzen werde leben müssen; ich stand also an der Torecke, wo wir an dem heißen Tage den Eingang mit blutigen Leichnamen und taten Pferden verrammelt hatten, und durchlief die Verflechtungen meines Schicksals. Dort oben stand mein Bett, dort war das Gesimms, auf dem mein Taschenhomer und Musarion lagen; dort arbeitete ich lange Memoiren zu Organisationen, zu denen man vorher weidlich desorganisiert hatte; dort bratete ich mit Strick und Stenbock und Stakelberg meine Kastanien und trank mein Bier, das man nun zum Medium meiner Sehkraft machen will. Ich wiederholte alle Angriffe im Geiste noch einmal und zählte alle bedeutende Kugeln, die mir glücklich nahe am Schädel vorbeigeflogen waren, und deren Merkmale sich noch in der Mauer zeigten. Ich gab mir das ganze Trauerspiel noch einmal.


Dura satis miseris memoratio prisca malorum,

Et gravius summo culmine missa ruunt;


steht an den Fensterscheiben des Herrn Schulz in Petrikau. Was litaneie ich Dir die Bänkelei von Olims Zeiten vor? Meine Stimme ist gegen das Fuimus Troes der Sarmaten ein Tropfen im Eimer. Die Polen hangen mit Schwärmerei an dem Andenken vergangener Zeiten und ergreifen jeden Schimmer zur Hoffnung einer Auferstehung ihres Vaterlandes. Die Stimmung der Männer verdient Achtung, die über dem Grabe desjenigen trauern, was dem reinen Menschen das Heiligste auf der Erde ist. Manum de tabula! Das führt mich zu weit, und ich bin in Gefahr, Rhapsode zu werden.

[666] Ich zweifle gar nicht daran, daß der Landmann unter der preußischen Regierung mehr gewonnen hat als unter der russischen, denn das preußische Regierungssystem ist durchaus gegen die geringern Volksklassen etwas liberaler als das russische, da es auf Personalfreiheit beruht und darauf hinarbeitet. Der Adel hängt aus diesem Grunde mehr an der russischen Seite, weil er überall Unterdrücker und Freund der Sklaverei ist. Neigung für die Russen kann man, aller Bemühung der Regierung ungeachtet, auch wohl bei allen übrigen Klassen der Nation treffen, denn das Andenken an Lucchesinis Vorspiegelung und an sein Halten sitzt noch fast in aller Herzen. Dazu kommt noch die schnelle unerläßliche Einführung der strengen preußischen Ordonnanz, vorzüglich der Akzise, die man nicht ohne Grund als drückend und verhaßt ansieht, und bei welcher die Verwaltung nicht immer sehr human ist. Übrigens ist mehr Verwandtschaft zwischen den Polen und Russen, da sie Völker eines und desselben Stammes sind, sich sogleich leidlich verständlich gegeneinander erklären und sich bald als Brüder ansehen. Auch mag bei vielen der geheime Wunsch, unter einem einzigen Zepter zu stehen, mitwirken, weil sodann die Hoffnung zur Wiederauflebung des Staats aus vielen Gründen größer wird.

Warschau sinkt ganz gemächlich zur Gouvernementsstadt eines größern Reichs herab. Die Reichen ziehen sich nach Berlin oder Petersburg, nach der verschiedenen Eingrenzung, oder gehen ins Ausland. Nur diejenigen, denen ihre Familienverhältnisse so große Veränderungen nicht erlauben, oder die durch Grundsätze und Neigung an ihre Hufe gefesselt sind, bleiben dort. Das Militär ist jetzt stärker als jemals zur Zeit, als die Russen den Meister spielten; welches sich aus mehreren politischen Gründen leicht erklären läßt. [667] Die Wachparaden sind in dem sogenannten sächsischen Hofe, wo ich ehemals den barocken Suworow selbst die russische im bloßen Hemde kommandieren sah. Im Garten wird der große Pavillon in der Mitte der ehemals das Buffet für die feine Gesellschaft war, ich weiß nicht zu welchem Behufe niedergerissen. Viele Paläste stehen leer oder werden zu Wirtshäusern umgeschaffen, von denen der Palast der Familie von Borch, wo die russischen Gesandten wohnten unter dem neuen Namen »Hôtel de Prusse« das beste ist. Herr Boguslawsky, ein Mann, der nach Kosciusko vielleicht der letzte Pole genannt zu werden verdient, hat noch immer sein Theater und scheint nur zu leben, um seinem Vaterlande Totenopfer zu bringen und dann in und mit ihm sterben zu wollen. Er ist gewiß in seinem Fache einer der ersten Künstler des Zeitalters und verdient in vielen Rollen völlig Iffland an die Seite gesetzt zu werden, in einigen vielleicht sogar an die rechte Seite. Alle seine Einrichtungen sind mit dem besten Takt und mit dem feinsten Geschmack. Er ist noch ein Schüler von Stanislaus Poniatowsky, der bekanntlich der erste arbiter elegantiarum war. Ich sage dieses offen und unbefangen ohne deswegen weniger Ifflands Freund zu sein, und ohne zu fürchten, daß er mir etwas von seiner Freundschaft entziehe.

In Laschenka ist zwar alles öde und leer, aber doch in ziemlicher Ordnung. Im Amphitheater hinten am Wasser saßen zwei junge Leute und sangen von einem Musikblatte halblaut eine Lieblingsarie aus den Krakauern, hörten aber sogleich auf und verbargen ihre Noten bei meiner Annäherung. Hätte ich die Musik nicht gekannt, so wären mir die Laute zwar magisch traurig, aber weiter nichts gewesen. Ich will euch in eurer Andacht nicht stören.

[668] Sobieskys Statue steht gerade den ehemaligen Zimmern Poniatowskys gegenüber; eine bessere Satire konnte der gute Mann wohl nicht auf sich selbst machen. Die ehemaligen litauischen Kasernen, wo man die schönste Aussicht hat, sind womöglich noch weit unreinlicher als ehemals. Auf dem großen Platze vor demselben dressierte man Rekruten. Einige Stunden sah ich von allen Seiten zu, und ich gestehe mit Vergnügen, daß man die Leute mit vieler Güte und Freundlichkeit behandelte.

Vor Praga hielt ich eine Minute an dem Orte stille, wo der König Poniatowsky von seinen zärtlichen Frauen zurückgehalten wurde, als er zur Armee gehen sollte. Es ist in meinen Versen auf seinen Tod durchaus keine Silbe Dichtung; alles ist reine historische Wahrheit nach meiner Überzeugung. Jedem das Seinige ohne Furcht und Hoffnung!

Das Wasser war sehr groß, wir mußten zweimal mit dem Wagen über den Bug setzen und jedesmal zehn Gulden bezahlen, ohne daß etwas bestimmt gewesen wäre. Mich deucht, daß man an Polizei durchaus noch gar nicht gedacht hat. Nun fuhren wir einen ganzen Tag immer an dem Bug hinauf. Die Straße ist hier nicht ganz so leer an Bequemlichkeit als vor Warschau. Über den Fluß hinüber sieht man an vielen Punkten in das österreichische. Man treibt einen beträchtlichen Holzhandel auf dem Bug herunter, besonders in Brock, wo ein einziger Husar in Garnison lag, der sich als das ganze Militärkommando produzierte.

Zwischen Wischkow und Brock trat, wo man anhielt, ein Soldat zu mir an den Wagen, mit Papier in der Hand und Bitte um Unterstützung. Die Papiere waren sein Abschied und ein Brief von dem Generaladjutanten des Königs, dem Herrn von Kleist. Der Soldat hieß Joseph Haacke, vom Regiment Owstien[669] in Altstettin. Er erzählte, daß ihn sein Hauptmann, ein Herr von Schenk, beim Exerzieren mit dem Sponton vor die Brust gestoßen habe, daß der Knochen zerbrochen sei. Lange habe er im Lazarett gelegen und viel gelitten und sei nachher als untüchtig zum Dienst ohne weiteres verabschiedet worden. Sein Brustknochen, den er entblößte, sah allerdings sehr traurig aus. Er habe sich bei dem König um eine Pension oder eine Invalidenstelle gemeldet, habe vierzehn Tage warten müssen, und der König habe ihm dann zur Heimreise in sein Vaterland bei Dubno im Russischen, ungefähr hundertundachtzig Meilen von Berlin, zwei Friedrichsd'or als Gnadengeschenk geschickt. Das stand wirklich alles wörtlich in dem Briefe des Herrn von Kleist. Mir wären in einer ähnlichen Lage freilich wohl zwei Kugeln lieber gewesen als ein solches Gnadengeschenk, und die Wahrheit der Geschichte angenommen, machte ich in diesem Moment weder der König noch Kleist und am allerwenigsten Schenk sein. Besser für alle, wenn es anders und besser ist! Die zwei Goldstücke waren ziemlich verzehrt, und mein Gulden konnte ihn auch wohl nicht weiter bringen, zumal da er unter seinem zerstoßenen Brustknochen schwer atmete. So viel in die Seele des Joseph Haacke aus Dubno!

In Chechanowice, ganz nahe am Bug, hoffte der preußische Werbeoffizier an dem Jahrmarkt, der den folgenden Tag sein sollte, eine reiche Ernte. Es ist ein guter Zwickel, zwischen dem Russischen und österreichischen, wo an einem solchen Tage von allen Seiten mancher seine Freiheit vertrinkt. Auffallend war der Unterschied der Zehrung. Ich weiß, daß wir für ein Nachtlager in einem leeren Zimmer mit zerbrochenen Fenstern ohne Bettstellen und die geringste Bequemlichkeit einen goldenen Dukaten bezahlten [670] und für ein ziemlich gutes Frühstück, das aus Warmbier und Butterbrot bestand, in einer noch leidlich reinlichen Stube, nur sechs gute Groschen.

Bialystock, der Lieblingsort des letzten Königs von Polen, ist allerdings noch das freundlichste Plätzchen auf dem Zuge von Warschau nach Grodno. Hier und in Rawa und in Widawa wird ziemlich viel und ziem lich solid gebaut; und auch in einigen andern Orten sieht man wenigstens den Anfang zur Verbesserung. Von Buckstell aus geht der Weg immer bergan bis nach Sokolka, dessen Name schon Falkenberg bedeutet, und bis nach Kusniza immer auf der Höhe fort und sodann nach Grodno wieder etwas bergab. An dem ersten russischen Passe wurden wir wohl eine Stunde wegen Vidierung der Pässe aufgehalten, und die Kosaken baten sich sogleich ein Trinkgeld aus, ohne uns nachher fortzulassen. Der Offizier des Kommandos mochte wohl den Säbel besser führen können als die Feder; denn man hätte einen Stoß Kriminalakten schreiben können, ehe wir abgefertigt wurden. Ebenso langsam ging es oben im Zollhause; aber alles sehr anständig und freundlich.

Das russische Wetter macht flink. Als ich in einem sehr kalten Winter das erstemal in Pleskow war, ging ich aus einer Gesellschaft sehr rasch nach Hause. »Bosche moi, kak skorro on beschit!« »Mein Gott, wie schnell läuft er!« rief ein kleines Mädchen hinter mir her; und ich mußte das Bosche moi noch lange nachher bei jedem raschen Gange hören. Hier in Grodno im Zollhause, wo ich lange sitzen mußte, nahm ich mein Taschenbuch heraus und schrieb mir eine kleine Notiz vom Wege hinein. »Bosche moi, kak skorro on pischit!« »Mein Gott, wie schnell er schreibt!« sagte einer der diensttuenden Unteroffiziere, indem er zugleich nach der Langsamkeit des Ausfertigers schielte.

[671] Man schickte uns zu Herrn Harbatowsky, angeblich in das beste Wirtshaus, wo auch die Zimmer wirklich noch leidlich genug waren. Zum Abendbrot öffnete man einen ziemlich großen Saal mit einer Tafel, auf welcher ein reicher, schwelgerischer Osterschmaus stand. Es war eben dieses Fest bei den Russen. Pracht und Verschwendung waren hier beisammen. Desto spärlicher war den andern Tag die Wirtstafel. Ein Beweis, daß es wirklich wohl das beste Haus in der Stadt sein mußte: ein russischer Major brachte seine vornehmen reisenden Gäste, bekannte Kurländer, dahin, um sie zu bewirten; und er und seine Gäste und ich waren die einzigen am Tische, wo wenig gegessen und viel in fremden Zungen geflucht wurde. Die Terrine war gesprungen, kein Teller war ganz und keine Flasche hatte ihren Hals. Zum Belege der guten Ordnung dient noch, unser Pudel erhielt seine Kost in der nämlichen Schüssel, aus der wir gegessen hatten. Auch Grodno hat sich nicht gebessert. Vom Schloß bis zu den Hütten herab sieht man Verfall. Ich besuchte noch einmal das Lokale, wo man den letzten Reichstag spielte, auf dem man so viel sonderbare Dinge tat, zu denen nachher noch mehr gelogen wurde.

Von Grodno nach Kowno fuhren wir mit Juden die als die besten Fuhrleute dort bekannt sind, weil ich vergessen hatte, mir eine Podoroschne oder einen Postpaß zu nehmen, und nicht gern noch einen Tag warten wollte. Du mußt wissen, daß man hier mit einem allgemeinen Passe, und wenn er noch so diplomatisch wäre, nicht mit Post reisen kann, dazu muß man von dem russischen Gouverneur des Hauptorts, aus dem man reist, noch eine sogenannte Podoroschne haben. Der Paß ist zwar das Majus und sollte das Minus oder die Podoroschne einschließen; das ist[672] aber nicht der Fall; und die größte Unannehmlichkeit ist, daß man meistens mit dem Postpaß etwas aufgehalten wird. Wer heute spät in Grodno oder jeder andern Gouvernementsstadt ankommt, kann nicht eher weiter reisen, als bis ihn die Polizeiverwaltung abgefertigt hat; und so ist er also oft genötigt eine Nacht zu bleiben, wo er nicht will. Dieses kleine Übel der Gesellschaft muß man sich nun wohl des übrigen Guten wegen gefallen lassen. Es ist fast überall und war auch in Warschau. In Rußland hat die Abänderung deswegen größere Schwierigkeiten, weil man bei Lösung des Passes sogleich mit nach der Distanz, die darin angegeben ist, das Wegegeld bezahlt. Nun fuhren wir rechts an der Memel hinauf. Vor und nach Olita ist die Gegend recht artig, aber die Kultur ist nicht besser als auf der andern Seite des Flusses im Preußischen. Die Poststraße ist verändert, und man kann nicht mehr gerade nach Kowno fahren wie ehedem, sondern muß über Wilna zwölf Meilen Umweg nehmen; und die neue Einrichtung der Post auf russischem Fuß verursacht auch noch viele Schwierigkeiten. Alles war hier in der Mitte des Mais noch kahl und ohne Laub. Nur ein einziger, zuweilen ziemlich hoher Strauch hatte eine frühe, schöne Blüte, die wie die Pfirsichblüte aussah und fast wie Veilchen roch. Das Holz glich etwas der Zwergmandel, roch aber beim Reiben unangenehm und häßlicher als Faulbaum. Wenn ich Gurkenblätter und Kartoffelkraut unterschieden habe, bin ich mit meiner Botanik bald zu Ende; ich wußte also nicht, was ich daraus machen sollte, bis mir ein gescheiter Mann sagte, es sei Seidelbast. Der Strauch wuchs in großer Menge und gab mit seiner herrlichen Blüte dem nackten Walde oft einen sehr magischen Schmelz.

Die Russen hatten hier und da ihre Magazine in[673] den ersten besten Scheunen, eine Maßregel, die, wenn auch niemand beeinträchtigt wird, schon wegen der Sache selbst sehr mißlich ist! Jeder Funke fängt; und wie leicht ist nicht eine Vernachlässigung geschehen? Die Preußen auf der andern Seite haben wenigstens diesen Artikel mit militärischer Genauigkeit besorgt und längs dem Bug herauf hier und da schöne steinerne Vorratshäuser erbaut. Längs der Memel hinunter war unsere beste Zuflucht der schöne Hecht aus dem Flusse; und ich erinnere mich nicht, ihn irgendwo besser gegessen zu haben. In Kowno gab man uns noch eine Art Fische, die man Zerben nannte, und die den Heringen ähnlich sahen und schmeckten. Überall fanden wir noch Zerstörungen der Kosaken und Jäger aus dem letzten Kriege. Der Verwüstungsgeist ist doch etwas Entehrendes in der menschlichen Natur, er erscheine, wo er wolle und wie er wolle. Peter der Erste, dessen Humanität eben nicht die höchste war, ließ den Soldaten Gassen laufen und den Offizier ehrlos wegjagen, der nur einen Baum ohne Befehl niedergehauen hatte; und jetzt vernichtet man ganze Wälder und Gärten und macht das ohnedies schon kahle Land noch verödeter.

Das Wasser hatte auch hier vielen Schaden getan und die Werchnaja hatte die ganze Brücke mit fortgenommen und die Ufer zerrissen. Zum Übersetzen war noch keine Anstalt getroffen, und es konnte sogar noch kein Fußgänger hinüber. Wir hätten müssen aufwärts wenigstens zwei Meilen einen Umweg machen; das wäre langweilig und verdrießlich gewesen. Sogleich schafften sich auf einigen glücklich gelegten Planken und Stämmen einige Fußgänger herüber und deuteten an, wo es möglich sei, den Wagen etwas unter der Mühle durch den Fluß zu fahren. Das geschah denn mit großer Anstrengung und nicht ohne[674] Gefahr. Nun stand er aber im Müllhofe und konnte nicht herausgebracht werden, denn man hatte das Tor nicht gemessen, das wenigstens einen Fuß zu niedrig war, auch nachdem man den Wagen heruntergeschlagen hatte. Was war zu tun? Ein Dutzend Sarmaten legten sogleich Hand an und zogen rasch und munter die Räder ab, machten eine Schleifmaschinerie und brachten ihn so mit vieler Arbeit glücklich heraus auf die andere Seite des Flusses. Es war ein Jubel, als ob das Vaterland wiederhergestellt wäre, da der schwerbepackte Kasten wieder in sicherem Lichte stand. So viel rasche Dienstfertigkeit findet man nur selten in unserm lieben deutschen Vaterlande.

In Kowno mußten wir Fuhrleute wechseln und also etwas bleiben. Zur Sicherheit hatte ich immer bei dem Wagen wachen lassen, weil doch Sachen von Wert darauf lagen. Hier wollte der Wirt sich nicht damit befassen, einen Mann zu stellen, und meinte, das sei die Sache der Polizei. Als ich dahin schickte, kam auf einmal ein Korporal mit drei Mann in Schlachtordnung angezogen und besetzte den Wagen ordonnanzmäßig. Der Korporal hatte seine Not mit einem der Leute, der ziemlich selig berauscht zu sein schien. »Kerl, ins Teufels Namen«, fuhr er ihn an, »du bist ja schon vier Tage besoffen.« »Slawa bogu, Sudar, cebodni pjaetoi«, antwortete der Soldat mit heroisch philosophischer Ruhe. »Gott sei Dank, Herr; es ist heute der fünfte.« – Draußen vor der Stadt wird ein großes, schönes, neues Kloster gebaut, welches, wie ich hoffe, nun doch wohl eine Schule unter vernünftiger Einrichtung werden wird; denn was hier Mönche sollen, kann ich, alle Gottseligkeit eingerechnet, nicht begreifen.

Es ist nirgends mehr das papierne Jahrhundert als in Rußland. Als ich mit den neun jüdischen Fuhrleuten [675] bis Mitau abschloß, ließ der Gorodnitsche oder kaiserliche Stadtpfleger, der die Stadt pflegt oder sich von ihr pflegen läßt, sogleich einen schriftlichen Kontrakt aufsetzen, wofür ich einen silbernen Rubel bezahlen mußte. Ich und die Juden wären ohne einen Buchstaben Tinte in Einigkeit zusammen bis Irkutzk gezogen. Aber der Mann mußte für unsere Sicherheit sorgen, und der Judenprinzipal erhielt die Weisung, von Mitau aus von mir gehörig eine Quittung zu bringen, daß er seine Obliegenheiten alle zu meiner Zufriedenheit erfüllt habe.

Von dem russischen General Zapolsky in Kowno wollte das Publikum eben nicht die erbaulichsten Dinge sagen. Er rollte mit einer furchtbaren Satrapenmiene in einem großen Wagen mit großer, stolz gekleideter Bedienung über den Markt. Leute, welche mit Aufmerksamkeit etwas von der Welt gesehen haben, wissen, was zuweilen auf diese Weise in dem Wagen sitzt. Vor einiger Zeit war Feuerschaden in der Stadt, und der General hatte bei der Gelegenheit dem Kerl eines ehrsamen Bürgers ex plenitudine auctoritatis de facto mit furchtbaren Drohungen dreihundert Stockschläge geben lassen, weil er im Gedränge das Majestätsverbrechen begangen und einen Bedienten des Generals etwas geworfen hatte. Die Bürger beschwerten sich darüber bei dem Magistrat, der General aber meinte, daß ihnen nichts besseres gebühre und drohte noch härtere Züchtigung für ihre Kühnheit. Nun wollten die Bürger Gerechtigkeit bei dem Kaiser suchen, fürchteten aber seine Milde und Vorliebe für die Soldaten. Übrigens machten sie sehr frei ihre Glossen über den General und bemerkten, daß das Regiment nie so viele Kranke und Wegläufer gehabt habe, über zweihundert lägen im Lazarett und beständig liefen oder schwämmen Flüchtlinge über[676] den Strom auf die andere Seite, und fast alle alte, wackere Offiziere nähmen aus Ärger ihren Abschied. Wenn auch die Bürger, wie wohl anzunehmen ist etwas übertrieben, so ist doch nicht zu leugnen, daß die stolze, beleidigende, barbarische, gewalttätige Willkür des Militärs in Rußland noch mehr als in andern Staaten eine tief eingewurzelte Krankheit ist. Ich habe empörende Beispiele davon gehört und selbst gesehen. Es ist nichts Neues, zu hören, daß dieser oder jener Offizier einige Wochen gewissenlos im Standquartier zehrt, seinen Soldaten eine Menge Unordnungen nachsieht und beim Abschied den Wirt, wenn er so kühn ist und Bezahlung verlangt, mit Schlägen mißhandelt und mit der Heldentat triumphierend davon zieht. Selten kommt so etwas vor die Behörde, und noch seltener wird es gehörig bestraft. Die Militärgewalt behandelt besonders die Munizipalpersonen der kleinen Städte, auch wohl der größeren, mit einer solchen Härte und erniedrigenden Rohheit, daß alles Ehrgefühl getötet und alle Rechtlichkeit erstickt wird. Mancher Gouverneur, und nach ihm mancher Stadtpfleger, ist mit allen Kniffen der Schikane das Schrecken seines Bezirks, zumal in entfernteren Gegenden. Der Himmel ist hoch und der Kaiser wohnt weit, sagt das russische Sprichwort, und die Unbestimmtheit der Gesetze läßt der Bosheit eine lange Hand. Leb wohl! Wenn ich nicht schließe, hörst Du Jeremiaden, die sehr wahr und sehr unnütze wären.

Reval, den 18. Mai

Ziehe durch Polen und iß mit den Juden und schlaf unter dem Grunzen der Schweine, und du wirst fühlen, wie wohltätig, welche gesellige Wiedergeburt [677] es ist, wenn du in Kurland in ein reinliches, freundliches Zimmer trittst, von einem artigen, nettgekleideten Mädchen bewillkommt und mit einer guten Mahlzeit bewirtet wirst. Das war unser Fall, als wir in Medemkrug an der Grenze Mittag hielten und den Abend in Mitau bei Herrn Morelli im Hotel von Petersburg einzogen. In Mitau sah ich von meinen alten Bekannten durchaus niemand, weil ich den Abend ankam und den Morgen abzog. Welche angenehme Veränderung von dem letzten polnischen Juden bei Kaydan zu dem wirklich stattlichen Wirtshause Mellopkrug! Du wirst glauben, ich sei in Agrigent ein Sybarit geworden. Das nun wohl nicht. Ein gutes Kartoffelgericht ist mir noch immer ebenso lieb als eine Wildpastete, und wenn sie auch Potemkin durch Kuriere aus Paris bringen ließe. Aber ich kann nicht leugnen, daß mir ein reinliches Zimmer, eine gewaschene Schüssel und eine geputzte Gabel angenehm sind. Die Extreme sind hier wie überall übel wirkend. Unreinlichkeit macht Ekel und Überfeinerung Ängstlichkeit und bringt nicht selten nach Tische das Übelbefinden zur Zugabe.

Mit wahrem Vergnügen sah ich wieder einmal in der Sandferne die hohen Türme von Riga, deren Name schon wohlklingend ist. Der Reichtum hat sich hier durch die Wohltat des Stroms seinen Sitz auf der Armut des Bodens geschaffen, so weise weiß Natur die Versagung des einen Geschenks durch ein anderes großes zu ersetzen; wenn man auch nicht mit dem guten Pfarrer in Hamburg zum Beweise der Vorsehung annimmt, daß sie wohltätig die großen Flüsse bei den großen Städten vorbeiführe. Tief im Mai war hier die Schiffbrücke noch nicht gelegt, und es war noch schauerlich kalt. Erst in Dorpat kamen einige warme Tage, die den Frühling ankündigten. Meine[678] Freunde am Ufer der Düna empfingen mich mit offenen Armen und freundlich glänzenden Augen und zärtelten mich aus einem Hause ins andere. Da wurde denn das neue Leben an das alte geknüpft und die Erinnerung lebendig gemacht und dadurch der Geist des Moments erhöht. Es ist hier eine schöne Mischung von deutscher Frugalität und nordischer traulicher Hospitalität. Glanz und Überfeinerung blenden noch nicht die Augen; aber voller Wohlstand, Freundlichkeit und Wohlwollen sprechen zum Herzen. An jeder Ecke sieht man Geschäftigkeit und Segen.

Die hiesige Muße ist unstreitig eine der besten und geschmackvollsten Gesellschaften, die auf das Bedürfnis aller von der gebildeten Klasse eingerichtet ist. Du mußt mir wohl erlauben, daß ich es gut finde, daß man hier zur Geistesnahrung auch etwas Speise und Trank für den Körper hat. Man kommt hierher, um sich an Leib und Seele zu erholen. Es kommt mir eben nicht behaglich vor, wenn ich nach der Lesung eines guten Buchs oder nach einem gewürzten Gespräch erst anderwärts ein Abendbrot suchen soll. Ich habe es beliebter Kürze wegen fast immer in der Gewohnheit, wo ich nicht essen kann, bezahlt oder unbezahlt, da gehe ich nicht eher hin, als wenn es Pflicht ist; und das ist denn seltener. Man hat der Zeit so wenig, und ich suche lieber Zeithalter als Zeitvertreib. Warum soll ich mir die schönsten Stunden noch mehr zersplittern lassen? Der Himmel wird mich hoffentlich nie so sehr verlassen, daß ich geflissentlich meine Aussicht nach der Mahlzeit nehmen müßte; dafür sorgt mein guter Mut und der nächste Kartoffelbauer; aber ein Butterbrot ist nach meiner Meinung gar kein schlimmer Schluß der Gesellschaft. Wenn ich das zu finden nicht hoffen darf, schiebe ich lieber meinen Lucian oder Plautus in die Tasche, [679] streiche in dem Walde herum und kehre für vier Groschen bei dem alten Schmidt in Nimptschen ein.

Das Theater in Riga ist bekannt und hält wohl eine Vergleichung mit den bessern in Deutschland aus. Madam Taube, die ehemalige Demoiselle Brückl, und Madam Oehme, die ehemalige Demoiselle Koch, gelten für die vorzüglichsten Schauspielerinnen und sind es auch wohl; es fehlt aber beiden noch viel an der höhern Richtigkeit und Bestimmtheit in ihrer Kunst. Arnold ist noch immer der Lieblingssänger des Publikums; und wenn er nur allemal erst die schulmeisterliche Ängstlichkeit der ersten Szene überwunden hat, so ist sein Vortrag nicht ohne Leben und Anmut.

Das Publikum war eben nicht sehr zufrieden mit dem satrapischen Aufzuge des Generalgouverneurs Buxhövden, wo einige Kosaken mit der Pike jedesmal in großer Eile, Übereilung möchte man sagen, nicht sehr freundlich und oft tätlich in den engen Straßen Platz machen mußten. Solche Erscheinungen hatte man bei Browne und Repnin nicht gehabt; deswegen fielen sie auf, ob sie gleich sonst in Rußland nicht ungewöhnlich sind. Die Rede des Tages war noch der Prozeß gegen den Generalsuperintendenten Sonntag, einen Mann, der sich durch seinen Feuereifer für das Wahre und Gute immer ausgezeichnet und dadurch nur ein sehr problematisches Wohlwollen der Vornehmen gewonnen hat. Man kann wohl nicht leicht etwas schwächeres und unzusammenhängenderes lesen als die Anklagepunkte des Generals gegen ihn; und seine Verteidigung dagegen war leicht und bündig und geschah mit Mut und Offenheit. Der Monarch und das Ministerium hat ihm alle Gerechtigkeit widerfahren lassen, die er erwarten durfte; und es gelang dem Parteigeiste mit seinem Anhange nicht, die unschuldige,[680] unerschrockene Unbefangenheit in der guten Sache zu unterdrücken. Hier und da wunderte man sich sogar laut in die Seele des Monarchen, wie der Graf Buxhövden nach einem so problematischen Ausgange eines so schlimmen Prozesses in der Residenz noch einen solchen Posten verwaltete, der das uneingeschränkte Zutrauen eines reinen, unbescholtenen Charakters erfordere. Die allgemeine Meinung wird durch keine Ukase bestimmt.

Eine neue kleine Merkwürdigkeit in Riga war mir bei Marty noch die Arbeit eines Tischlers aus Lemsal, dessen Namen ich vergessen habe. Er komm: zwar Röntgen wohl noch nicht bei; ich habe aber doch weder in Sachsen noch in Berlin etwas gesehen, das seine Sachen an Festigkeit und Nettigkeit überträfe. Der Mann verdient allerdings Aufmunterung und Belohnung; auch werden seine Schüler schon gesucht, und einer von ihnen arbeitet in Dorpat in den akademischen Bauen, wo man außerordentlich mit ihm zufrieden ist. Eine seiner feinsten Unternehmungen ist eine in Holz, mit farbigen Hölzern eingelegte, ausgeführte Zeichnung der drei Schweizer, die den ersten Bund beschwören. Die Figuren sind, für die Art der Arbeit, sehr richtig, ohne große Härte und Schroffheit, und geben der besten neuen Mosaik nichts nach. Sie haben das Verdienst, daß sie mit großer Genauigkeit in beträchtlicher Tiefe eingelegt sind, und daß ihre Oberfläche ohne Schaden verschiedene Male fein abgehobelt und also ihr Glanz erneuert werden kann.

Auf einem meiner Spaziergänge von der neugelegten Brücke nach dem kaiserlichen Garten und von dort nach der Petersburger Vorstadt überraschte mich eine Kriegsmusik, die den Charakter des furchtbarsten Sturms hatte, ohne alle übrige Beimischung irgendeiner Leidenschaft. Wenn es denn einmal auch [681] despotische Musik geben soll, so ist mir die reine Energie ohne dumpfe Schwärmerei doch noch immer die liebste. Mir ward dabei die Wirkung zweier Musikstücke sehr verschiedener Art wieder so lebendig, daß ich sie nicht aus der Seele treiben konnte, der Märsche von Marengo und der Konsulargarde; und unwillkürlich setzte ich mich zu Hause an ein Fenster, das den Nachhall aufnahm und zog in meinem Taschenbuche die Parallele.


So hat Tyrtäus sich der Sparter Kraft bemeistert
Und, wenn sie rund der Feind umdrang,
Durch seinen göttlichen Gesang
Das Heldenvolk zu Schlacht und Sieg begeistert.
Der Lanzenwald ging furchtbar seinen Gang
Durch das Gefühl der Männerwürde;
Und Waffen waren keine Bürde,
Weil man sie kühn und ohne Zwang
Für seiner Enkel Freiheit schwang.
Ihm hat der Franke nachgesungen
Und führt mit Ernst und hohem festem Sinn
Sein Heldenvolk zum Kampfplatz hin:
So hat sein Geist der Krieger Geist durchdrungen
Doch fruchtlos war, was man zuletzt erwarb:
Die Freiheit siegte hier und starb.
Dort wälzet nun in vollem Taumel sich,
Von des Kokytus Dunst umgossen,
Ein Tongewirre fürchterlich
Und stürmt und bäumt, gleich ungezähmten Rossen.
Die Ordnung ist darin verloren,
Und wild bacchantisch kocht das Blut,
Und statt des Zornes bricht die Wut
Wie Erinnyen aus des Orkus Toren
Und stürzt sich wie des Waldstroms Flut.
Das ist das Rauschen stolzer Bassen,
[682]
Die auf dem Grabe der Vernunft
Des Aberglaubens Wiederkunft
Durch die Trabanten ihrer Zunft
Im Strahlentanz der Dolche feiern lassen.
Die Schwärmerei durchglüht den Zug;
Und mächtig spricht in jeder trunknen Note
Des neuen Sultans schlauer Bote
Und hebet mit allmächtigem Betrug
Die Fittiche zu immer kühnerm Flug.
Die Kechenäer stehen da,
Erstaunt ob allem was sie waren,
Begreifen kaum, wie es geschah,
Und tanzen schnell mit ihren neuen Schaaren,
Urania Volgivaga
Marengo und die Konsularen.

Von Riga aus geht es einige Stationen durch gar traurigen Sand, wo man Muße genug hat, wenn das Gehirn heiß genug dazu ist, unterdessen eine Reise mit Muhamed zu machen. Damit ich doch auch zur Kritik der Geographie und Statistik das Meinige beitrage, will ich Dir hier bemerken, daß mein Führer, das Reisebuch von Gotha, auf dieser kleinen Distanz in der Benennung der Posten einige ziemlich entstellende Fehler hat, die mir als einem alten Wanderer in hiesiger Gegend sogleich in die Augen sprangen. Eine Station heißt nicht Lenzendorf, sondern Lenzenhof; eine andere nicht Tepliry, sondern Teilitz; eine dritte nicht Kuikar, sondern Kuikatz. Dergleichen Quisquilien finden sich hier und da, die zwar von keiner Bedeutung, aber doch nicht angenehm sind.

Von Lenzenhof machte ich einen kleinen Abstecher nach Lindenhof, rechts durch die Nachbarschaft von Wenden. Schon der Name zeigt, daß die Gegend nicht unangenehm sein könne; und wirklich sind an [683] der Aa hinauf einige Partien von Tälern und Bergen, die von den Sandhöhen bei Riga sehr lieblich abstechen. Von Lindenhof ging es wieder links ein auf die Straße, nach Wolmar und weiter nach Dorpat. Von Wolmar bis Gulbin ist wieder viel Sand und Wald; aber von Teilitz aus über Kuikatz ist eine angenehme Abwechselung durch ziemlich fruchtbare, gute bebaute Gegenden.

Es verblüfft etwas, wenn man einen schönen Ruhepunkt vor der Nase sieht und sozusagen schon einen Fuß dahin setzt und durch einen Ruck eben vor dem Ziele hart genug abgesetzt und aufgehalten wird. Der Wagen jagte echt russisch reißend auf der ganz glatten Chaussee hin, als im Sturz die eiserne Achse brach, die große, hohe Maschine umflog und meine ganze Poetik in einem Bogen von vielen Klaftern rechts hinab in den Graben schleuderte. Die Pferde machten vernünftig Stillstand, und wohlbehalten arbeitete ich mich mit meinem jungen Freunde aus dem Gepäcke heraus und setzte mich mit einer nur kleinen Kontusion auf die Füße. Der Bediente aber, der kurz vorher die Geißel, trotz einem homerischen Fuhrmann, unbarmherzig geschwungen hatte, wehklagte laut mit den Fingern an den Rippen, an welche das Bockeisen ziemlich unsanft geschlagen hatte, und mußte in Dorpat der heilenden Hand des Herrn Kauzmann übergeben werden.

In Dorpat gewann ich wieder meine alte völlige Freiheit, weil ich hier meinen jungen Reisegefährten glücklich in den Schoß seiner Familie ablieferte. Man ist mit einem solchen Auftrage doch nie so ganz leicht und ruhig, da man bei Übernehmung desselben sich natürlich verbindlich macht, das junge Menschenkind wohlbehalten an Leib und Seele zu überbringen. Du weißt, welche Bedenklichkeiten meine Freunde zu[684] Hause hatten, als ich mich entschloß, so zu gehen; aber man hatte die Sorge übertrieben. Es ging pädagogisch alles sehr gut. Der Vater hatte das Söhnchen zu ungleich behandelt und verzärtelt; der nachherige Lehrer hatte bei der besten Meinung die Sache zweckwidrig und unpsychologisch genommen. Ich brauchte eben kein Seelenbändiger zu sein, um mit Ernst, Mut und Bestimmtheit das Gleis zu halten.

Nun wirst Du etwas hören wollen von dem Athenäum an der Embach? Rom ward nicht in einem Tage; aber mich deucht, es geht gut, und mehrere wackere, brave Männer arbeiten ehrlich aus allen Kräften, dem wiedergeborenen Institut Ansehen und Festigkeit zu verschaffen. Die Kollision mit dem Adel, – denn wo sucht der Adel nicht das Unwesen seiner Privilegien einzuimpfen? – ist nun im wesentlichen gehoben, das übrige wird durch Zeit und Bedürfnis der Umstände gemacht werden. Für die Solidität hat der Monarch gesorgt, so daß eine russische Universität nie ganz schlecht sein kann, wenn sie nicht ganz verwahrlost wird. Der Bau wird unter Krausens Aufsicht lebhaft und gewissenhaft betrieben; und die wissenschaftlichen Vorträge haben einen guten Anfang genommen und versprechen Gedeihen.

Eine Haupteinwendung, die man gegen die russischen Universitäten macht, ist gewöhnlich, daß es noch an Schulen fehle, daß man erst für diese sorgen müsse und ohne festen Grund nicht weiter bauen könne. Das klingt allerdings gegründet genug und mag es anderwärts auch sein, aber in Rußland ist die Einwendung nicht gültig. Dort müssen die kleinen Schulen erst durch die großen gemacht werden, wenn Hoffnung einer allgemeinen bessern Bildung entstehen soll. Die unerläßliche Bedingung einer festern schönen Kultur ist die Personalfreiheit aller; und das Palladium [685] des Adels ist die Bauernsklaverei. Die niedern Schulen werden nie eingerichtet werden und fortkommen, solange der kleinere Bürger und Landmann nicht selbst das Bedürfnis fühlt und das Wohltätige derselben erkenne und das Seinige dazu beitragen kann. Der Adel wird dazu nie etwas tun, ohne zugleich seine eigenen Absichten zu nehmen, wodurch das allgemeine Gute wieder zerstöre wird. Das liege in der Sache. Es wäre Unsinn zu glauben, daß unter den Edelleuten durchaus keine seien, die es redlich meinen, aber der Geist des Korps ist in Widerspruch mit allem Besseren und hebe alles Emporkommen der Vernunft und Gerechtigkeit auf. Gerechtigkeit und Adel, nämlich wie wir ihn in der Geschichte haben, sind immer im Gegensatz; und kein Edelmann ist gerecht und vernünftig als solcher, sondern nur insofern er aufhöre, es zu sein. An höhere Kultur in dieser Rücksicht ist in Rußland noch in Jahrhunderten nicht zu denken, so wenig als in Deutschland. Sogar die Franzosen konnten sie noch nicht vertragen. Die Professoren scheinen nicht mit Unrecht unter dem Adelskuratorium Adelsnepotismus in der Verwaltung der akademischen Güter und der Wahl der Stellen befürchtet zu haben. Man braucht aber nicht Edelmann zu sein, um von Familiensucht besessen zu werden. Nicht unbegründet ist also auch die Furcht, daß nun in eben diesem Falle auch Professornepotismus entstehe, wenn die Oberaufsicht nicht strenge Aufmerksamkeit hat. Die Gymnasien und Kreisschulen, die unter der Aufsicht der Akademien stehen, werden allerdings trotz den gelegten Schwierigkeiten nach und nach guten Fuß gewinnen. Das Gehässige der neuen akademischen Inspektion wird aufhören, wenn man die Sache liberal behandele, da alles in guter Ordnung ist. Wer sollte sonst die Aufsicht haben? Daß [686] man vielleicht hier und da die Sache nachlässig und illiberal behandelt, hebt das Gute nicht auf, das wirklich in der Anordnung liegt. Die größte Schwierigkeit liegt vielleicht darin, daß die Professoren die Inspektionsreisen nicht, ohne ihrem eigentlichen Amte zu schaden, bestreiten können, und daß doch wohl manche nicht den pädagogischen Takt haben, der zu einem solchen Geschäft nötig ist. Während der Ferien braucht der Dozent Ruhe, um sich zur künftigen Arbeit vorzubereiten. Vielleicht wäre es zweckmäßig, wenn der Monarch auf jeder Universität zu diesem Behufe einen eigenen Mann anstellte, dessen Fähigkeit und Tätigkeit erprobt wären, und der als Scholarch die nähere Aufsicht des Schulwesens nach bestimmten Regeln unter sich hätte, der Gesamtheit der Professoren meldete, welche dann für sich und ihn der Oberschulkommission gehörig Rapport machte. Ein solcher Mann dürfte nur verpflichtet werden, bloß eine kurze Zeit des Jahres über irgendeinen Gegenstand der physischen, moralischen oder scientifischen Erziehung eine Vorlesung zu halten.

Die Parochialschulen wird selbst der Monarch jetzt noch nicht durchsetzen können, was auch Parrot und andere wohlmeinende Enthusiasten ihm darüber vorbeweisen. Er selbst ist nicht imstande, den ganzen Fond zu bestreiten; der Adel gibt nichts; der Bauer kann nichts geben und fühlt noch lange nicht das allgemeine Bedürfnis einer bessern Bildung. Alles, was der Kaiser bis jetzt zu dessen Vorteil hat tun wollen, blieb kraftlos oder wirkt wenig.

Sklaverei läßt gar keinen Begriff öffentlicher Gerechtigkeit zu; und es ist doch die Sklaverei, was der ganze Adel so fest hält; nämlich die Sache, denn das verhafte Wort sucht man zu vermeiden. Das sogenannte neue Bauerngericht ist ein Mittel, wodurch der [687] Edelmann nur eben soviel Ordnung unter seinen eigenen Leibeigenen hält, als er zu seinen Zwecken braucht. Wo ich die Beisitzer wähle und nach Gefallen ein- und absetze, beherrsche ich auch das Gericht. Das Resultat ist, daß manche Gemeinen schon laut gewünscht haben, man möchte sie doch lieber bei dem Alten lassen. Auf einer Akademie, wo rundherum solche Unsätze, denn Grundsätze kann man es nicht nennen, geübt werden, ist es freilich schwer, unbefangene Geschichte und Naturrecht zu lehren. Jedes Gute wird da Gift. Wo man das Höchste nicht haben kann, muß man sich an das Erreichbare und Örtlichmögliche halten. Wo ist es nicht der nämliche Fall? Man hat mit Spekulationen aller Art noch so lange und so viel zu schaffen, daß es noch lange dauern wird, ehe man zur Aufstellung praktischer Vernunft im Staatsrecht kommen wird.

Das akademische Gebäude auf der Anhöhe vor der Stadt, auf dem Grunde der alten Domkirche, wird eine stattliche Erscheinung machen und als Kirche, Bibliothek und Museum seinem Zweck entsprechen. So viel Gutes sieht man schon, daß rundumher mehrere wüste Stellen zu Gärten bearbeitet und mit Häusern bebaut werden. Ob das andere Haus gegenüber als Anatomikum und Sternwarte seine Absicht erreichen wird, mögen Kenner beurteilen. Die Bibliothek ist schon ziemlich zahlreich und muß bald ansehnlich werden, wenn man die beträchtliche jährliche Summe von fünftausend Rubeln mit Wahl anwendet. Morgenstern lebt darin wie in einer Lieblingsschöpfung; und der Himmel gebe ihm viel schönen Genuß für seine Bemühungen. Auch das Museum gewinnt wenigstens schon einige Bedeutung, wo Germann mit vieler Tätigkeit Seltenheiten zusammenbringt und ordnet. Freilich ist es nicht mit den Schätzen in Moskau zu vergleichen. [688] Die Botanik ist die Lieblingsbeschäftigung mehrerer wohlhabender Edelleute in der umliegenden Gegend. Unter andern verwendet der reiche Herr von Lipphard auf Rathshof jährlich eine beträchtliche Summe darauf; und der Graf Münnich auf Lunia soll wirklich weit mehr als bloßer Dilettant darin sein. Der Geist der Universität und ihre Anlage ist gut, und von ihrem Kurator Klinger hat sie alle tätige Unterstützung zu erwarten; also ist wohl zu hoffen, daß sie trotz den Schwierigkeiten für das Reich und die Wissenschaften bald etwas Wesentliches leisten werde.

Von Dorpat aus nahm ich hohen Mutes meinen sizilianischen Seehundstornister wieder selbst auf eigene Schultern und pilgerte rüstig an der Embach hin auf, links ab nach Oberpalen, wo ich schon zu Hause einen Besuch versprochen hatte. Lieber breche ich mein Bein als mein Wort; also ging ich nach Oberpalen, und das ward mir sehr leicht. Die Frühlingssonne schien genialisch warm, ohne schon zu beschweren; und ich tanzte ganz lustig einige Lieblingsstellen aus dem Virgil ab. Man fühlt sich nie mehr in seiner Kraft, als wenn man geht; und so möchte ich einmal ganz abtreten. Es muß kein herrlicheres Ende sein, als der Tod in dem Gefühl seiner Kraft.

Im Roten Kruge sah es ziemlich traurig aus, aber man erbot sich doch sehr freundlich, mir zu Mittage ein Ochsenauge zu machen, weiter könne man nichts schaffen. Da ich in der estnischen Küchennomenklatur nicht sehr gelehrt bin, wußte ich durchaus nicht, welche Art von Gericht das sein würde. Indessen, es würde doch wohl etwas Eßbares kommen, dachte ich, und bestellte, ohne weiter zu fragen, frisch darauf los das Ochsenauge. Es erschien, was man auf Deutsch so eine Art von Eierkuchen nennen möchte, woran ich weit mehr Geschmack fand als an dem hochberühmten [689] estnischen Bierkäse, den ich nie sehe, ohne an Käsebier zu denken, wie es auch wohl richtiger heißen sollte. Noch brachte man mir einen Teller voll Krebse; und nun war ich froher als an dem Tische des Erzbischofs von Agrigent. Unbekümmert um den Weg wie ein Spaziergänger wandelte ich nun raschen Schrittes immer auf der Straße fort, bis mich der Abend überraschte und ich an dem Pfahle sah, daß ich siebenundfünfzig Werste gemacht hatte. Da war nun rechts und links und vorwärts und rückwärts kein Haus wirtlichen Ansehens, und ich hörte etwas verblüfft von einem russischen Fuhrmanne, daß ich viel zu weit rechts über Kurristan herausgegangen sei und sechs Werste zurück über Kawa müsse, um nach Oberpalen zu kommen. Kurristan klang mir ganz persisch und Kawa allerliebst italienisch. Was war zu tun? Ich hatte doch für siebenundfünfzig Werste Müdigkeit in den Knochen, und der Abend war da. Ich machte also stracks mit dem Fuhrmann die Übereinkunft, daß er mich durch das Irrsal über Kurristan nach Kawa führen sollte. Das tat er und gab mir für einen blauen Zettel eine gewaltige Schwere Kupfer zurück. Kawa in Italien ist ein gar lieblicher Ort zwischen Neapel und Salerno auf dem herrlichsten Wege in ganz Hesperien. Wenn Du in Neapel bist und nicht wenigstens einmal über Pompeji und Kawa nach Salerno gehst, müsse Dir keine Muse mehr hold werden. Hier in Estland ist Kawa eine traurige, verwaiste Gegend, so unfreundlich sie nur bei den Antihesperiden sein kann. Meine Füße taten mir von der ersten, etwas zu starken Anstrengung etwas wehe, so daß ich den andern Morgen das freundliche Anerbieten eines gelehrten Esten, mich hinüber nach Oberpalen zu bringen, mit Vergnügen annahm. Der Mann sprach Russisch, Deutsch und Schwedisch außer seiner eigenen Zunge, war in Paris [690] gewesen und hatte sich eine Menge Qualitäten als Bedienter erworben, die er als mein Fuhrmann weiter nicht gebrauchen konnte. Er brachte ein leichtes Fuhrwerk, nach Landessitte ohne alles Eisen, hoch mit Heu bepackt, um mir einen leidlichern Sitz zu bereiten. Ich versuchte es rechts und links; es wollte nicht gemächlich werden. Das Beste war, daß ich die Peitsche nahm und mich selbst in Funktion setzte. Mein Tornister war unten gehörig an der Leiter festgeschnallt, und so rollten wir mit einem kleinen Klepper in den Wald hinein. Mein Führer unterhielt mich, so gut es ihm seine Pfeife erlaubte, von seinen Reisen und seinen Erfahrungen in seinen mannigfaltigen Qualitäten. »Aber was riecht denn, Freund?« fragte ich und beschaute das Vehikelchen von allen Seiten. Er guckte mit, fand nichts, rauchte fort und sprach weiter. Aber der Geruch ward stärker, und nun brach die hell lodernde Flamme aus dem Heu hervor, auf dem wir saßen. »Hilf, Himmel, hilf!« schrie mein Vetturino aus Kawa. »Hat er mit seiner verdammten Pfeife den Brand angezündet, kann er ihn auch löschen«, sagte ich und griff nach meinem Tornister. Aber dieser war nun zum Unglück unten festgeschnallt, die Flamme schlug hoch, und ich konnte in der Eile kein Messer finden. Ich riß mit ganzer Gewalt und riß die Riemen entzwei und war nur froh, daß ich meine Hemden und meinen Aristophanes gerettet hatte. Dem Zollinspektor in Fondi hatte ich den Reisesack für mehrere Goldstücke nicht geben wollen; jetzt wäre es doch ärgerlich gewesen, wenn er hier in Estland verbrannt wäre. »Hilf Himmel, hilf!« schrie der Vetturino immerfort und sah sein Fuhrwerk jammernd in Feuer stehen. »Aber sieht Er denn zum Henker hier nicht, daß Flußwasser im Graben ist?« Nun ergriff er seine Ledermütze und schöpfte und goß Dutzende von Wasserfuhren, und ich [691] schlug mit Stock und Hut so wacker zu, daß der Brand bald gedämpft war. Wäre es im freien Felde gewesen, wo kein Wasser war, so wäre die Telege ohne Rettung verbrannt.

In Oberpalen war ich bei einer freundlichen Familie, in einem freundlichen Hause in einer sehr freundlichen Gegend patriarchalisch willkommen und genoß einige Tage die Wohltat des reinen Landlebens und einer feinen gebildeten Gesellschaft, unter welcher auch der alte, liberale, ehrwürdige Hupel sich befand, ein Mann voll heiteren Frohsinns mit dem Gepräge echter Humanität. Man kutschierte mich dann nach Weißenstein, einem Namen ohne Ort, wo einst die Ahnherren der heutigen Erbherren unter dem Mantel einer Religion, die ausgezeichnet Bruderliebe lehrt, Elend und Sklaverei über ein freies Volk brachten. Der Ort konnte auch wohl ehemals nur im Sommer durch die Sumpfgegend und nur gegen Halbbarbaren, wie die Esten und einige Jahrhunderte nachher noch die Russen waren, als Festung gelten. Jetzt tut die Regierung manches, wieder eine Stadt zu schaffen, das ist aber in den dortigen Verhältnissen nicht so leicht. Einige Regierungshäuser, einige Krämer und Handwerker sind alles, was man unter den Überresten der heiligen Unterdrückung sieht.

Nun schlug ich den Weg nach Reval ein, da ich doch einmal so ziemlich auf der Hälfte war und die große Straße zu weit rechts lag. Hier hörte nun aber auch alle humanere Kultur auf, und in den Wirtshäusern fand man gewöhnlich nichts als die leeren Wände. Außer der Hauptstraße reist selten jemand, der nicht seinen Speisekorb und Flaschenkeller bei sich führte so daß die ärmlichen Krüger ohne wahrscheinlichen großen Verlust nicht einmal etwas anschaffen können. Man reist also freilich unbegreiflich wohlfeil, aber [692] auch unbegreiflich schlecht. Die Bauerhäuser sind wahre Troglodytenhöhlen. In den Wirtshäusern hat man zwar meistens eine sogenannte deutsche Stube, welche zur Auszeichnung düstere, geflickte Fenster hat, aber sonst ist auch nicht die geringste Bequemlichkeit; und was man mitbringt, kann man bei sauerem Bier verzehren. Ein Livländer verzehrt in einem solchen Hause nichts; er ist mit allem gehörig versorgt und gibt nur ein kleines Geschenk von einigen Kopeken für den Aufenthalt; und auch dieses nicht allemal. Ich konnte zum Abend durchaus nichts finden als ein Stück altes, hartes ungekochtes Pökelfleisch, das mir denn nach dem herrlichen Tische, den ich seit dem Zuge in Polen bisher wieder gehabt hatte, nicht sonderlich behagen wollte, und gegen das hiesige Bier war das in Polen mit Pflaumen und Branntwein angemachte noch Nektar. Doch hatte ich mein eigenes Zimmer und eine Pferdedecke zur Erwärmung, denn die Nächte waren noch empfindlich kalt. In der andern Abteilung schlief der Fleischer Elring aus Reval und ein Schneider, der Exküster aus Karkus. Der Schneider Exküster hatte durch seine Bekanntschaft und Industrie den andern Morgen für zehn Kopeken hundert Krebse herbeigeschafft, die natürlich auf meine Rechnung kamen, und womit ich sodann großmütig das Triumvirat, den Metzger, den Küster und mich selbst, bewirten konnte. So wohlfeil kann man den Kredit der Großmut wohl nirgends kaufen; und die Krebse gehörten wirklich zu den besten, die ich in meinem Leben genossen habe. Die Qualität des gestrigen Abendbrots machte auch wohl dem heutigen Frühstück nichts schaden. Der Fleischer blieb zurück bei seiner gehörnten Gesellschaft, und der Herr Exküster schlenderte mit mir fort und erzählte mir aus seinem reichen Vorrat in einigen Stunden so gleich einige Dutzend [693] Skandale der Gegend. Besonders beschwerte er sich über den Pastor Seeburg, den Grafen Dunden und den Herrn von Siewers, die ich, nach dem Ton seiner Anklage zu urteilen, bei mir sogleich rechtfertigte. Der Kerl soff Branntwein wie drei Kosaken, radbrechte Latein wie ein abgesetzter Küster, räsonnierte wie ein Unwissender und Dummkopf und ging jetzt, als Gärtner eine Anlage zu einem englischen Park zu machen. Besonders drollig war seine Verteidigung wegen seiner Absetzung, denn es ging aus der ganzen Erzählung hervor, daß der Kerl gelegenheitlich Unterschleif mit den jungen Estinnen getrieben; ein Privilegium, das der Adel mit keinem Küster teilen will.

In Woit, wo ich die zweite Nacht schlief, war der große, weitläufige Gasthof wieder ebenso wüste und leer; und ich würde wieder ebenso übel gefahren sein, wenn ich nicht von ungefähr einen Bekannten meiner alten Bekannten, einen Herrn von Stakelberg, dort angetroffen hätte, der sich ritterlich meiner annahm. Sodann kutschierte ich, weil ich mir in einer Steingegend den Fuß vertreten hatte, etwas lahm mit einem Fuhrmanne in Reval ein und wandelte oder vielmehr hinkte zu Herrn Stolzenwald. Ein gutes Zimmer und eine gute Mahlzeit taten mir recht wohl. Mein Aufzug mit dem Tornister mochte doch wohl den Leuten etwas problematisch vorgekommen sein; man ließ mich nachher liegen, ohne sich einen Deut weiter um mich zu bekümmern. Das Vorzimmer war eine Billardstube, wo beständig großer Lärm von allerlei Publikum war. Du mußt wissen, ich habe seit mehr als zehn Jahren eine Kontusion am linken Fuße, wodurch die Bänder eine Art von Schwäche bekommen haben, die mir jeden Fehltritt empfindlich macht. Die beste Stärkung ist nun Gehen; und ich pflege zuweilen wörtlich wahr zu sagen, ich muß nur einige hundert Meilen zu Fuß [694] gehen, weil ich lahm bin. Das Stauchen ist indes eine verteufelte Sache. Mein Fuß war sehr geschwollen und schmerzte fürchterlich. Ich hatte mir einige Male ein warmes Bad bestellt; niemand erschien wieder. Ich rief, ich lärmte, ich polterte, ich schrie sogar; niemand hörte. So ging, oder vielmehr so lag es von früh sieben Uhr bis abends gegen fünfe; da ermannte ich mich an meinem Rohrstocke, hinkte mit großer Anstrengung heraus und hielt in meinem Ärger eine etwas starke Epanorthose der Humanität. »Bin ich denn unter die Irokesen geraten, daß ein ehrlicher kranker Kerl in einem öffentlichen Hause nicht die gewöhnlichen Bedürfnisse des Lebens für seinen Zustand haben kann? Soll ich zehen, soll ich zwanzig Dukaten Sicherheit wegen der Zehrung stellen? Das will ich, aber man schaffe mir doch wenigstens fremde Bedienung, wenn keine im Hause ist. Es ist ja unverantwortlich; es ist ja unmenschlich.« Ich drückte mich im Ingrimm wohl noch härter aus. Die Gesellschaft mochte doch aus meiner Wortfügung und der Art, sie zu sagen, schließen, daß ich nicht so ganz ein Burlak sein könnte. Man half mir mit dem Nötigen, und ich hatte nun gar nicht mehr Ursache zu klagen. Herr Stolzenwald hatte gar keine Schuld. Er beschäftigte sich in seinem Garten; und seine Leute hielten mich wahrscheinlich gar nicht für einen Menschen, mit dem man sich viel beschäftigen müsse. So geht es oft in Gasthäusern. Die folgenden Tage erhielt mein Name einige Komplimente aus der Stadt, und meine Person dadurch einen beträchtlichen Zuwachs von Höflichkeit zu Hause.

[695]

Bronniza, den 8. Juni

Damit Du nun nicht umsonst ein Dutzend Geographien nachschlägst, will ich Dir sogleich sagen, daß Bronniza die erste Post fünfunddreißig Werste hinter Nowogorod nach Moskau ist; ein Nest, wo es sich nach Mühseligkeit und Plage wohl noch eine Nacht ausruhen läßt. Das ist jetzt mein Fall. Denn Du mußt wissen, als ich gegen Abend aus Nowogorod abfuhr, taten sich alle Fenster des Himmels auf, und der Regen stürzte stürmend bis zum Erstarren kalt auf meine offene Posttelege herab. Ich lag auf einer Handvoll Stroh auf der Achse des rasselnden Karrens, schon die erste Viertelstunde bis auf die Haut naß, und ließ zitternd und mürrisch trotzig die Sündflut über mich hergießen. Eine Regennacht ist unter dem hiesigen Himmel noch in diesem Monate wie bei uns im März oder im späten Herbste. Was kann das Elegieren helfen? Ich will nur den Faden wieder aufnehmen und mich und Dich hierherbringen. Die schlechten Auftritte müssen bei einer größern Reise schon zu Hause mit eingerechnet werden. Das Wetter war in Reval unfreundlich und mein Fuß nicht in baulichem Wesen, so daß ich mich einige Male auf der Droschke herumbugsieren ließ, um die Gegend und vorzüglich den Hafen zu sehen. Ohne Bau ist in Reval kein Hafen, sondern nur eine Reede, und obgleich der Bau durch die hervorspringende Landspitze links an der Stadt etwas vor der Macht des Sturms geschützt wird, so möchte doch eben dieser Punkt noch immer sehr mißlich sein, wenn der Nordwest anhaltend wütet. Die Lage hat etwas Ähnliches mit Catanien gegen den Nordost, nur ist Catanien nicht so sehr als Reval durch den Vorsprung gedeckt und wird wohl schwerlich einen sichern Hafen bekommen, wenn ihn [696] nicht einmal glücklicher- oder unglücklicherweise der Nachbar Ätna macht. Mit russischer Anstrengung und russischem Aufwand mag es in Reval glücken; das kann man aber in Sizilien nicht leisten.

Schon das Eichenwäldchen bei Riga an der Roten Düna war mir als eine Pflanzung Peters des Ersten immre ein angenehmer Gang; noch mehr war es hier Katharinenthal, das nicht so weit von der Stadt liegt und eine freundlichere Erscheinung macht. Es ist auch der gewöhnliche und, wie mir es scheint, der einzige Vergnügungsort der guten Leutchen aus Reval. Bei unserm Auszug aus Reval, ich glaube den einundzwanzigsten Mai, schneite und stiebte es hoch und kalt. Jedermann beschwert sich hier über das späte und schlechte Frühjahr; und ich bin eben jetzt nicht gestimmt, der Advokat des Himmels zu werden. Mein Fuhrmann war der nämliche, mit dem ich in Reval einzog; und sein großer, bedeckter, britschkenartiger Wagen hatte, trotz der Ladung an Gütern, doch noch ziemlich viel Bequemlichkeit. Meine Gefährten waren ein junger Mensch aus Reval, der nach Petersburg in ein Handlungshaus ging, und der mir von seinem Vater, einem alten Hofrat und Schulmanne, geflissentlich empfohlen worden war, und ein Drechsler aus Kopenhagen, der auch in das Eldorado an der Newa zog. Der Bruder Kopenhagener Drechsler hatte sein bißchen Sittsamkeit vermutlich schon am Sunde gelassen und in Reval nicht viel davon wiedergewonnen, seine Reden waren also für den jungen Menschen freilich wohl unterrichtend, aber nicht auf die beste Weise und gar nicht erbaulich. Er schlug einige Male mit Zötchen an und aus. Ich schwieg und blickte dann ernst und brummte dann; und sagte ihm dann so katonisch als ich konnte, daß er über seine Gesinnung und sein Leben selbst richten möchte nach seiner Überzeugung, [697] daß er sich aber hüten sollte, seine Sittenlosigkeit vor jungen Leuten zur Schau zu tragen, wodurch er schlecht und verächtlich würde. Nach einigen Alltagsremonstranzen ergab er sich denn der Wahrheit und blieb die ganze Zeit über in den Grenzen des Anständigen. Das Nonplusultra seiner Freiheit in dieser Art war die öftere Wiederholung der Melodie:


»Du weißt es nicht, wie gut ich bin,
Mein Herz hegt zarten Liebessinn.«

welche er wirklich mit einem Ausdruck von feinem Instinkt sang, daß ich mich mit ihm und Schikaneder aussöhnte, welches aber wohl mehr das Verdienst der Musik war. Der Mensch war übrigens nichts als ein ehrlicher, etwas liederlicher Handwerksbursche, dem zum Gutsein nur etwas ernsthafte Überlegung und gute Gesellschaft fehlte.

In Reval hatte ich aller Wahrscheinlichkeit nach geglaubt, den Herrn von Kotzebue zu finden. Er war auch noch den Tag vorher dagewesen, aber aufs Land gegangen. Ich konnte so viel Zeit nicht aufwenden, noch Nebenpartien zu machen, reiste also ab, ohne ihn gesehen zu haben. Unterwegs trafen wir in einigen Wirtshäusern nacheinander einen Wagen mit Reisenden, welche, wie ich hörte, Kaufleute aus Reval waren. Ein Wort gibt das andre. Es wurde auch von Kotzebue geredet, und einer der Schützlinge Merkurs sagte ganz ehrlich gläubig, Kotzebue wolle nach Königsberg gehen und drei Monate dortbleiben, um die preußische Geschichte zu schreiben. »In drei Monaten?« sagte ich. »Ja, in drei Monaten«; sagte er. »Er hat schon viele Materialien gesammelt und viel vorgearbeitet.« Nun in drei Monaten möchte er wohl eine preußische Geschichte schreiben, aber nicht die preußische Geschichte. Ich hörte die alberne Anekdote noch [698] verschiedene Male wiederholen und kann nicht begreifen, wie man Kotzebues Kopfe so etwas beimessen kann. Wahrscheinlich will er während der drei Monate einige Dokumente zu dieser Geschichte genauer prüfen und benutzen. Mich deucht aber überhaupt, weder Kotzebue noch Müller müssen eine preußische Geschichte schreiben, eben weil sie preußische Historiographen sind. Wie können sie die Kollisionen vermeiden, die notwendig entstehen müssen, oder dem Vorwurf der Einseitigkeit entgehen? Müller kann in Berlin wohl die Schweizer Geschichte schreiben. Man darf nun leider nicht in einem Lande sein, um über ein Land Wahrheit zu sagen; wenigstens darf man mit dem Lande in keinen Verhältnissen stehen. Freilich ist dies kein Lob unserer Liberalität, aber es ist nun so, an der Spree und an der Elbe und der Seine und der Newa. London ist vielleicht, aber auch nur vielleicht, noch der einzige Ort, wo die Unbefangenheit ohne Rücksicht auftreten darf. Karamsin wird uns auch keine russische Geschichte geben, am allerwenigsten die Geschichte der ganz neuen Zeit. Auch hat Karamsins Geist, so weit ich ihn kenne, nicht den tiefern Ernst eines Geschichtsforschers.

Meinen warmen Rock hatte ich als nunmehr überflüssig in Dorpàt gelassen und mußte einige Male für meinen Übermut vor Frost zittern. Die Wirtshäuser sind ungewöhnlich schlecht, fast auf gleichem Fuß mit den polnischen und litauischen, und unser Fuhrmann brachte uns allem Anschein nach in solche, wo für sein Vieh besser gesorgt war als für seine Passagiere. Ich hielt mich unter diesen Umständen kontraktmäßig mit an den Speisekorb des jungen Herrn, dem mich seine liebe Mutter als Quasihofmeister zugegeben hatte, und tat nach meinem Gewissen mein Bestes in der Aufsicht und im Essen. Zu Jewe besuchte ich auf ein [699] Stündchen den Probst Koch, den Erzieher einiger Kinder von Kotzebue, konnte aber nicht so lange bleiben, um alle die alten und neuen Merkwürdigkeiten der Gegend in Augenschein zu nehmen. Die Umgebungen sind eben nicht vielversprechend, und die alten Erzählungen von der Unsicherheit des dortigen Waldes trugen nichts dazu bei, meine Meinung besser zu stimmen. Der Oberst Eckermann mit seinem soliden Pferdestalle, den er noch auf viele Jahrhunderte nach dem jüngsten Tage gebaut hat, mag allerdings für die Leutchen dort ein ganz komischer, genialisch unterhaltender Mann sein; mich konnte weder er noch sein Pferdestall aufhalten. Ich lief schon wieder recht rüstig voraus und hatte mich im Walde hingesetzt, mir in einem kleinen Bache die Füße zu waschen. »Was macht Ihr da, liebes Väterchen!« rief mir ein alter, bärtiger Russe zu, der vorbeifuhr. Ich konnte mich nicht gleich auf die Antwort im Russischen besinnen; und indem ich mich besann, machte meine Miene sonderbar genug aussehen, während ich mit den Füßen in dem kalten Wasser rührte. »Mein Gott«, sagte er zu seinen Gefährten, »der arme Mann hat den Verstand verloren.« Das Bad bekam aber meinen Füßen vortrefflich, und es ging immer besser und besser. Eine schöne und schön bebaute Gegend ist noch das Gut und die Postierung Waimar, nicht weit von Narwa, die dem Baron Arps gehört, der zu seiner Zeit den nordischen Herren als reicher Geldnegotiant bekannt war. Nicht weit davon schliefen wir in einem einsamen Wirtshause, in der Nähe einer alten Kirche, die man die Peterskirche oder nur die Schwedische Kirche hieß. Es wurde dort gebaut, und das ganze Haus war voll Russen, die bei dem Bau arbeiteten. Das sang und trank und sprang alles durcheinander mit der größten Jovialität und Gutmütigkeit bis zur[700] Vergessenheit. Vorzüglich zeichneten sich zwei Brüder aus, wovon einer dem andern die Wohltat des Branntweins bis zur Obermacht aufzwang. »Du bist nicht mein Bruder«, hieß es, »bist ein schlechter Kerl, ein Taugenichts; ich werde dich bei der Mutter verklagen; du kannst ja gar nicht trinken.« Der andere arme Teufel hatte sich schon mit seiner völligen Ladung hinauf zu Bette geschrotet, aber sein Bruder, der größere Held, brachte ihn wieder herab aus der Bucht und verfolgte ihn mit dem Glase in der Hand bis zum letzten Punkt der schweren Seligkeit.

Als eine Charakterzeichnung der gesetzlichen Verhältnisse und der schönen Liberalität der Machthaber in Livland ist mir noch oft vorgekommen, daß ich hier und da an der Wand eine große Peitsche hängen sah. »Das sind unsere Landesgesetze«, sagte man, als ich das Instrument mit einiger Aufmerksamkeit betrachtete. »Weiter haben wir keine, und weiter brauchen wir keine.« Alles ist so ziemlich aus der Seele der Peitschenträger herausgesprochen, die wirklich gern möchten, daß es weiter keine Gesetze gäbe, und meistens handeln, als ob es so wäre.

Bei Narwa sah ich den Wasserfall nicht, weil man zu eilig war. So kommt es, wenn man nicht allein ist und nicht auf seinen eigenen Füßen geht. Es ärgerte mich nachher etwas, denn nach der Beschreibung und nach dem allgemeinen Anblick der Gegend muß er sehr schön sein. Die Narwa führt bekanntlich das Wasser des Peipus herab in die Ostsee oder in den Finnischen Meerbusen. Der Lage nach zu urteilen müssen dergleichen unschiffbare Stellen auf der Narwa oder dem nördlichen Kanale mehrere sein, und es wäre wohl ein Gedanke, ob man durch Brechung und Reinigung nicht den ganzen Fluß für Fahrzeuge gangbar machen könnte. Bis jetzt ist er es nur bis Narwa. [701] Die Schiffbarkeit des Flusses wäre sodann noch das Wenigste, was man dadurch gewänne. Mich deucht, durch Wegbrechung der Felsenhöhen würde das Wasser oben mehr und stärker herab nach der großen See zu fallen, und links und rechts an dem Peipus, in Livland und nach Pleskow, würde man durch den Abzug beträchtliche Strecken Land erhalten, die man denn nun auch dort schon brauchen könnte. Der Sumpf rund um den See würde sich wenigstens sehr verlieren. Der See würde immer noch groß genug bleiben für die Fischerei, welches der einzige Vorteil ist, den man für die umliegende Gegend daraus zieht. Bei nassen Jahren muß die Versumpfung beträchtlicher sein, da nur allein zwei so stattliche Flüsse wie die Embach bei Dorpat und die Welika bei Pleskow hineinfallen. Man hat ja wohl in Rußland größere Werke unternommen und ausgeführt. Ich gebe dieses nur als eine Idee, deren Ausführbarkeit erst von einer nähern Untersuchung bestimmt werden muß.

Gamburg will trotz allen Bemühungen der vorigen Regierungen und ungeachtet seiner vorteilhaften Lage an dem Flusse sich nicht heben. Die Gegend umher ist ziemlich öde; und wie sollen Städte gedeihen in einer Wüste? Die Städte wachsen nur, wenn nicht andere ungewöhnliche Ursachen eintreten, im Verhältnisse der Kultur des Landes umher. Auch scheint überall die Strenge der Zolleinrichtungen dem Emporkommen junger Pflanzungen dieser Art oder ihrem Wiederaufleben hinderlich zu sein. Nach meiner Überzeugung dürfte Rußland seinem Handel wenigstens noch hundert Jahre völlige uneingeschränkte Freiheit geben und könnte sicher sein, immer im Vorteil zu bleiben. Was es an einem Artikel verlöre, würde es an andern doppelt gewinnen; und der allgemeinen Kultur würde eine solche Liberalität nicht anders als vorteilhaft[702] sein. Auch die Krone würde an ihren Einkünften wenig oder nichts einbüßen, und für das Wohl des Ganzen dürfte doch der Regierung auch eine kleine Aufopferung nicht zuviel sein. Die Hauptbedingung wäre wohl, daß man alle fremde Artikel soviel als möglich in russischen Schiffen herbeischaffte. Aber blühende Schiffahrt ist wieder ohne Personalfreiheit nicht denkbar. In andern Staaten, die in ihrer Kultur weiter sind und ihre Volksmenge mit Anstrengung nähren müssen, treten andere Rücksichten über den Handel ein.

Koskolowa ist das einzige gute Wirtshaus zwischen Narwa und Petersburg, einige Posthäuser ausgenommen. Ingermannland ist allerdings etwas ärmer als Livland, aber in der Tat etwas wohlhabender. Die Häuser sind nicht mehr so finstere, traurige Rauchlöcher; sie haben meistens schon freundliche, helle Fensterchen, die hier und da niedlich ausgeschnitzt und bemalt sind; auch findet man nicht selten wieder Schornsteine. Das spricht zum Vorteil des hiesigen Adels. Aber die vorzügliche Ursache ist wohl, weil hier schon sehr viel Russen wohnen, und der Russe ist überall tätiger und läßt sich nie so weit herabwürdigen als der Lette und Este. Wo Du in Livland einen Schornstein siehst, ist es sicher des Edelmanns Krug oder Branntweinsküche. Wir gingen über Ropscha und Strelna, und nicht über Krasno Selo.

Strelna, wo das Schloß des Großfürsten Konstantin ist, liegt angenehm genug zwischen Kronstadt und Petersburg. Die Kultur fängt nun hier an durchaus besser zu werden. Von Strelna aus sieht man rechts schon eine große Menge Landhäuser der Vornehmen aus Petersburg; und auf der zweiten Hälfte, vorzüglich den letzten sechs Wersten, gehen sie links und rechts ununterbrochen fort. Eine solche Nachbarschaft hat, soviel ich weiß, keine große Stadt in Europa als Petersburg [703] von dieser Seite. Es ist aber auch nur von dieser Seite, die andern sind verhältnismäßig bei weitem nicht so voll. Der Eingang in die Stadt selbst ist zu Lande nicht so glänzend, als man nach den prächtigen Villen wohl denken sollte. Aber wirklich groß und überraschend und vielleicht einzig ist die Fahrt zu Wasser von dem Galeerenhof herauf, und ebenso von oben auf dem Fluß von dem Stückhof herab. Wer aber dann die Newa hinauf- und herabgefahren ist und einige Gänge an dem Kai und den Ufern auf- und ab gemacht hat, kann auch sogleich mit Wahrheit bestimmt sagen, daß er das Glänzendste und in jeder Rücksicht das Merkwürdigste von Petersburg gesehn hat. Ich halte also den Engländer eben nicht für den tollsten Grillenfänger, der in London von Petersburg las, sich auf ein Schiff setzte, herüberfuhr, den Kai und die Balustrade am Sommergarten besah, ins Boot stieg und so zu Wasser wieder abreiste. Um die neue sonderbare, mächtige Kapitale also wirklich sogleich in ihrer größten Pracht zu erblicken, muß man zu Schiffe kommen; und ich kam nicht zu Schiffe. Dafür hatte ich den Vorteil, daß die Stadt bei mir immer gewann, welches bei denen, die vom Schiffe steigen, wohl nicht ganz der Fall sein mag. Städte und Gegenden und Menschen und ihre Pracht anzustaunen ist eben nicht meine Sache, wie Du weißt, aber wo ich Großes und Gutes sehe, bleibe ich mit Achtung stehen. Bis zur Bewunderung steigt meine Seele nur selten. Hier habe ich bewundert, wenn ich dachte, daß da, wo Paläste stehen und Monumente, die man kühn unter die größten zählen darf, da, wo sich Menschen drängen und in Glanz und Üppigkeit leben, wo eine kolossalische Macht jetzt ihre Propyläen errichtet hat, daß da vor hundert Jahren nichts war als rund umher eine ungeheure Sumpfgegend mit einigen Fischerhütten.

[704] Das ist Größe. Ob auch Güte, ist eine andere Frage. Vielleicht gelingt es Alexander, das Große gut zu machen, dann ist er größer als die übrigen. Petersburg ist mehr als Berlin und Wien und ist es in einem Jahrhundert geworden. Der Russe in seinem heißen Patriotismus findet es auch besser als Paris und Rom. Da hat er Recht, aber nur im einzelnen, und wird es ganz haben, wenn das Ganze fertig sein wird. Es ist schade, daß bei der großen, schönen Anlage nicht auch immer ein großer, schöner, reiner Geschmack in der Ausführung herrschte. Man hat in Petersburg keine einzige schöne Kirche, wie man sie nämlich in Petersburg bei solchen Unternehmungen zu erwarten berechtigt ist. Die Isaakskirche ist von außen ein schwerer, unförmlicher, winkeliger Marmorhaufen, dem keine Kunst mehr helfen kann. Die neue kasanische Kirche, die eben gebaut wird, hat schon den Nachteil, daß sie zu nahe an dem Kanale steht und feuchten Grund haben muß, wenn man ihr auch durch Wegschaffung der nahen Gebäude Platz und Tag macht. Soviel ich aus der Anlage gesehen habe, wird sie zwar groß und prächtig werden, Schönheit aber und hohe Einfalt habe ich noch nicht entdecken können. Nur blinde Vorliebe für das Vaterländische kann sich einbilden, daß sie mit der Peterskirche am Vatikan wetteifern werde. Der Kai an der Newa herab vom Stückhof bis zum Galeerenhof ist einzig, soviel ich gesehen habe; und die Säulen an der Balustrade des Sommergartens werden, in der alten und neuen Kunst, vielleicht nur von den Säulen des Pantheons in Rom übertroffen. Hier und dort ist der Schaft aus einem einzigen Stücke. Weder bei den Säulen in Agrigent noch in Pästum ist das der Fall. Nur die Säulen in der Kathedrale zu Messina, die aus dem alten Neptunstempel am dortigen Pharus genommen sind, [705] dürften ihnen noch den Rang streitig machen. Ich spreche bloß von dem, was ich gesehen habe. Was in Griechenland noch Großes und Schönes in dieser Rücksicht sein mag, weiß ich nicht. Paris hat nichts aufzuweisen, was den beiden oben erwähnten Stücken in Petersburg gleichkäme; deswegen möchte ich aber Petersburg noch nicht für besser und schöner halten. Einzeln ist Petersburg größer, im ganzen Paris; Rom übertrifft beide vorzüglich durch die Größe dessen, was es noch aus dem Altertum hat. Es ist schade, daß der Sommergarten nicht auch von den andern zwei Seiten, denn von den entgegengesetzten schließt ihn der Michailowsche Palast, gehörig umgeben ist, wenn es auch nicht ganz nach dem großen Maßstabe an der Newaseite wäre. Der Schloßplatz in Petersburg ist unstreitig der schönste und größte in Europa, trotz seiner Unregelmäßigkeit. Die große Parade auf demselben ist in jeder Rücksicht, an Zahl und Schönheit der Mannschaft und des Aufzugs, besser als die große Parade von den Tuilerien in Paris; auch in der Haltung. Wenn an der Seine bessere Krieger sind, so beseelt sie bloß ein besserer Geist. Ich habe beide mit Aufmerksamkeit gesehen und spreche ohne Vorurteil nach Überzeugung. Es hat mir wohlgefallen, wenn der Kaiser Alexander, der schöne, liebenswürdige junge Mann, ohne Furcht und Zwang zur Parade und von der Parade den langen Weg durch die gemischte, dichtgedrängte Volksmenge aller Klassen und Nationen offen und freundlich hinging, ohne daß jemand einen Erlaubniszettel nötig hatte, ihm so nahe zu sein, als es der öffentliche Anstand erlaubt. Der Schloßplatz hat zwar durch die Anlage der Promenade um die Admiralität herum an Raum beträchtlich verloren, ist aber deswegen immer noch der größte, den ich in irgendeiner Stadt kenne; den heiligen Petersplatz in[706] Rom nicht ausgenommen. Auch schon diese Anlage allein ist eine Unternehmung, die anderwärts Bewunderung erregen würde. Nur den Grund gehörig auszufüllen, zu ebnen und zu erhöhen, selbst über Kanäle hinweg, eine starke Viertelstunde Weges, war eine Arbeit, die in andern Hauptstädten nicht ohne große Anstrengung geschehen wäre, und ich begreife jetzt noch kaum, woher man eine so große Menge der schönsten, schenkelstarken jungen Lindenbäume in einem Klima wie Petersburg so schnell zusammengebracht hat. Die Stämme sind gegen die Strenge der Witterung alle hoch mit Moos umwickelt, stark gestützt und werden mit großer Sorgfalt behandelt. In einigen Jahren wird der Platz, wenn er so fortgepflegt wird und gedeiht, gewiß einer der schönsten Spaziergänge, die man nur aufzuweisen hat. Wer vor dem Tore der Admiralität als dem besten Punkte zum Orientieren steht und in die drei Hauptperspektiven hinuntersieht, hat allerdings einen Anblick, so groß man ihn vielleicht in ganz Europa nicht findet. Die Newskyperspektive ist die größte und schönste. Diese Hauptstraße ist so breit, daß der Kaiser Paul in der Mitte eine schöne Allee von Linden auf erhöhtem Grunde für die Fußgänger angelegt hat, und auf jeder Seite können doch noch drei große Wagen sehr bequem nebeneinander fahren. Nicht viel weniger Breite haben noch einige andere Straßen. Die ehemals so berühmte Million wird jetzt kaum mehr zu den Hauptstraßen gezählt, so sehr sie sich auch durch die Pracht einzelner Gebäude auszeichnet. Nun sind freilich die Petersburger, nach der Gewohnheit aller patriotischen Enthusiasten, auf diese Schönheiten noch stolzer, als sie wohl Ursache haben. »Ist das nicht das Größte und Prächtigste, was man sich denken kann?« wurde ich gefragt. »Ja«, war meine Antwort, »wenn es fertig[707] sein wird.« Man sah mich an; und ich war genötigt, bemerklich zu machen, daß die Ungleichheit und oft barocke Unregelmäßigkeit der Gebäude durchaus noch nicht der Pracht der Anlage entspreche. Man fragte mich, wo denn das zu finden wäre. »Der Toledo in Neapel«, war meine Antwort, »besteht ganz und gar und ganz regelmäßig fast aus lauter solchen Gebäuden, wie hier die schönsten sind, und hat viele noch schönere. Und die Hafenseite in Messina ist noch in ihren Ruinen so schön und groß als die beste Straße in Petersburg.« Das war freilich ungalant, aber abgeforderte Wahrheit. Indessen hat auch ganz Italien keine Straße aufzuweisen, die dem gleichkommt, was man noch jetzt in der Hafenseite von Messina erblickt. Das sogenannte Marsfeld zwischen dem Marmorpalast, dem Michailowschen Schlosse und dem großen und kleinen Sommergarten ist zwar ein Diminutiv gegen das Pariser, es hat aber den Vorteil, daß es mitten in der Stadt liegt. Suworows eherne Bildsäule zu Fuße, am Ende desselben, ist zwar kein gutes Kunstwerk nach dem Maßstabe der Alten, aber doch auch nicht ganz schlecht zu nennen, wie die Tadler schreien. Ein Mißgriff, wie viele andere, war es vom Kaiser Paul, nach Katharinens Unternehmung noch eine Statue Peters des Ersten zu geben, wo er den Charakter der ruhigen Größe ausdrücken wollte und in Härte, Frost und steife Gezwungenheit geriet. Seine Inschrift sticht ebenso gezwungen ab gegen die hohe Einfalt der andern. Er hat gesetzt: »Dem Vater der Vorväter«; dort steht, wie bekannt: »Peter dem Ersten – Katharina die Zweite.«

Eben war ich mit meinem Wirt und Freunde in einer gemütlichen und traulichen Unterredung, da trat ein großer, ernster, charaktervoller Mann herein, mit finsterem, fast mürrischem Gesichte, warf seinen Federhut [708] und Stock nachlässig auf einen Seitentisch und schritt schweigend einige Male im Zimmer auf und ab. Der Mann war Klinger; er kam von der Kaiserin. »Kinder!« sagte er mit dem Tone der tiefen, männlichen Rührung, »Schiller ist tot!« Werter hätte mir Klinger in langer Zeit nicht werden können als in diesem einzigen Moment durch diesen Ton, ob er mir gleich keine traurigere Nachricht hätte bringen können. Es war der Ton der wahren Teilnahme, mit welcher der Mann von Wert von einem Manne spricht, dessen Wert er mit reiner Freude anerkannte. Die Großfürstin Maria von Weimar hatte mit den kleinsten Umständen und dem ganzen Ausdruck einer schönen Seele den Todesfall sogleich ihrer Mutter in Petersburg gemeldet; und nie ist wohl ein Nationaldichter so allgemein betrauert worden als Schiller an der Newa. Wie groß muß nicht die Bestürzung und Trauer der Seinigen und seines ganzen dankbaren Vaterlandes sein!

Vorigen Sonntag war ich in einer hiesigen katholischen Kirche, die der Kaiser Paul mit allen großen Appertinenzen, nicht ohne Vorwurf der Ungerechtigkeit, der Gemeinde genommen und den Jesuiten gegeben hat. Sie ist in Rücksicht der Bauart wohl die einzige schöne Kirche in Petersburg. Es predigte ein Pater Jesuit Deutsch mit großem Feuereifer gegen die Greuel der Verführung durch die Aufklärung, natürlich durch die falsche. Aber welche ist diesen Herren wohl die rechte? Er führte dabei einige nichtsbeweisende Beweissprüche an. Solange man als die reinste Quelle göttlicher Wahrheit und als die heiligste Norm der vollendetsten Moral ein Buch aufstellt, dessen Inhalt dunkel und widersprechend, selten auf das Leben bezogen und voll moralischer Inkonsequenzen ist, und dessen wahres, brauchbares Gute auf unhaltbaren [709] Gründen eines finstern theosophischen Enthusiasmus beruht, wird die wahre wohltätige Aufklärung weder in der Kirche noch im Staate feste Wurzel schlagen. Ich kenne selbst jetzt noch mehrere, deren bißchen Verstand über der prophetischen Theologie apokalyptisch zugrunde gegangen ist, und es ist kein leichterer und gewöhnlicherer Sprung als vom Kardinal zum Atheisten, auch soll sich beides sogar zuweilen recht gut vertragen, wie die Geschichte sagt.

Lot trieb im Traubenrausch Unzucht mit seinen Töchtern, der war der frömmste Mann seiner Stadt. Das mag noch gehen, denn die andern wurden vertilgt wegen ihrer Bosheit. Abraham stieß seinen eigenen hoffnungsvollen Sohn mit der Mutter zum Raube des Mangels und der Angst hinaus in das Unwirtbare, um einen Sprößling zu verzärteln, dessen Abkunft sehr problematisch war. Der war ein Vater der Gläubigen. Jakob betrog seinen Schwiegervater um die Schafe und seinen wackeren, ehrlichen Bruder um die Liebe seiner Eltern. Der Bruder wuchs und gedieh durch die Größe und Reinheit seiner Natur und vergab großmütig dem furchtsamen Kriecher. Dafür ist dieser der Erwählte, und jener muß ausgerottet werden auf den Befehl des Herrn mit seinem Samen ewiglich. Joseph, das schmeichelnde Schoßkind, ist das Muster der Delatoren und Tyrannenhandlanger; ich weiß nicht, ob Narziß und Sejan ihm an Ränken gleichkamen, wenn ich die Wahrheit der Oberlieferungen annehme. Die löbliche Geschichte mit der Dame Potiphar ist mancher Deutung fähig. Er ward Minister durch den Zufall oder durch das Talent, das er sich in dem Hause seines Vaters erworben und in der Welt ausgebildet hatte. Er legte in den guten Jahren Magazine an, eine sehr lobenswürdige Vorsorge, die heutzutage leider alle Fürsten und ihre Minister, vielleicht mit besserm[710] Glauben an die Vorsehung, aufgegeben haben. Was tat aber der Minister Joseph mit den Magazinen? Rettete er das Land und ward sein Wohltäter? Mit einem Wort, er brachte es in Sklaverei. Erst zahlte man Geld für Korn, dann brachte man seine bewegliche Habe, dann verkaufte man seine Grundstücke, dann seine Person dem König zur Knechtschaft. Das nenne ich doch einen Fürstendiener, einen Finanzrat, wie er sein muß. Mir ist in den Annalen der Menschheit kaum ein größerer Bube bekannt, und der wird aufgestellt vor andern der Jugend und dem Volke zum Vorbild. Saul, der hohe, großmütige, königliche Mann, wird verworfen, weil er menschlich war, weil er nicht in das schändliche Ausrottungssystem des Pfaffen Samuel stimmen wollte. Freilich war der Knabe Isais folgsamer und frömmer, der dann die Weiber verführte und ihre Männer im Hinterhalt morden ließ. Dafür ward er ein Mann nach dem Herzen Gottes. Der Himmel behüte mich, daß ich je auf diese Weise ein Mann nach seinem Herzen werde. So geht es in Beispielen fort, die man dem gemeinen Menschenverstand, ich weiß nicht, ob zur Bildung oder zur Verwirrung, in die Hände gibt. Die schöne Moral Christi, obgleich mit mystischem Nebel umhüllt und durchwebt, gewann durch die Schlechtheit und Verdorbenheit der damaligen Sitten und Begriffe einen Einfluß, der nach und nach die alte Volksreligion beträchtlich veränderte. Man muß die Kirchengeschichte gar nicht und die politischen Händel nicht sehr genau studieren, wenn man nicht voll Bitterkeit gegen das sogenannte Christentum werden soll. Die Helden der Partei trennen mit Wärme, Eigensinn und Hartnäckigkeit immer den Mißbrauch von der Sache. Den Mißbrauch sieht man überall; wo ist denn aber die vorzügliche Wohltat der Sache? Der Herr Abt Henke will [711] auch mich sogar noch aus Gnaden selig werden lassen. Ich bin ihm sehr verbunden für seine Großmut, die er auf Kosten des Himmels übt; denke aber, wenn ich die Seligkeit nicht selbst und rein verdienen kann, so werde ich wohl verdammt werden, wenngleich nicht sogleich in Ewigkeit. Ich kann seine Begriffe nicht fassen. Der erste Akt des Himmels war Weisheit, alle folgende sind nur Gerechtigkeit; und ich wiederhole es, die Vergebung der Sünden ist das Palladium der Bösewichter und der Schwachköpfe. Ich glaube, die Polemik hat mich bei den Jesuiten in Petersburg angesteckt. Weg damit!

Nun entstand ein Zwist in mir, was ich von hier aus mit meinem übrigen Sommer noch machen sollte. Ich wäre gern an dem Bottnischen Meerbusen hinauf- und oben herumgezogen, um zu Torneo am Ende des Juni das Schauspiel der Sonne um Mitternacht am Himmel zu sehen. Das wäre doch auch noch vielleicht einen Spaziergang auf den Ätna zum Aufgang der Sonne dort oben wert gewesen. Aber es war mir zu früh im Jahre, ich hätte zu zeitig von der Newa Abschied nehmen müssen; und vor allem, ich hätte den Abstecher nach Moskau zu meinen Freunden nicht machen können. Nun waren mir meine lebendigen Freunde in Moskau doch lieber als die Sonne um Mitternacht in Torneo. Das wird mir schon die liebe Sonne zugut halten; ich kann ihr vielleicht noch ein andermal meine Achtung dort bezeigen. Ich packte also soviel als ich nötig hatte von meinen Siebensachen in mei nen alten, halbverbrannten Seehund, nahm eine Podoroschne, setzte mich auf eine Droschke über Zarsko Selo nach Sophia. Da hatte man mich denn von Petersburg aus den falschen Weg geschickt, ich hätte sechs Werste vorher links abfahren sollen; und der Postmeister in Sophia wollte mir ordonnanzmäßig[712] wohl Pferde nach Kleinrußland, aber nicht nach Moskau geben. Mein Jemtschik oder Lohnfuhrmann wollte sich durchaus nicht dazu verstehen, mich weiter auf die erste Station der Straße nach Moskau zu bringen, und forderte endlich für seinen dürren Gaul und ein ziemlich wankelmütiges Fuhrwerk für elf Werste vier Rubel. Die exorbitante Jüdelei verdroß mich; und die Leute schienen zu meinen, ich wäre in ihren Händen und müßte zahlen auf alle Fälle. Das war nun aber nicht; denn ich warf ganz trotzig meinen Sack über die Schultern und schritt rüstig die Allee hinunter, hinter Zarsko weg auf Ischora zu, eine Erscheinung, die den Hyperboreern gar sonderbar vorkam. Hier belugte zwar der Postmeister mich und meine Equipage von allen Seiten, gab mir aber doch auf meine Podoroschne ohne Widerrede weiter Pferde. Nun ging eine Höllenfahrt an und dauert ohne große Unterbrechung wahrscheinlich so fort bis Moskau. Der Weg ist das solideste, gröbste, etwas ausgefahrene Steinpflaster mit abwechselnden Knüppelbrücken; das Fuhrwerk gilt zwar für eine Postkibitke, ist aber bloß ein offener, sehr massiver, backtrogähnlicher Karren, Telege genannt, fest auf der Achse liegend und bei jedem Stoß durch alle Sehnen dröhnend. Ich bat um Heu oder Stroh, da war aber selten etwas zu haben, so daß ich in der besten gewöhnlichen Richtung im Kasten auf der Achse saß und nur die Wahl hatte, mich gelegentlich durch eine schlimmere Wendung auf kurze Zeit etwas zu verbessern. Nun jagt der gemeine Russe mit seinen Stahlknochen über kleine und große Steine polternd hinweg, daß die Haare fliegen, und fragt nicht, was Brust und Schenkel des Reisenden dabei empfinden, Das wirft und stößt und dröhnt von dem heiligen Bein bis in die Zirbeldrüse, so daß Gall einige Minuten nachher gewiß [713] kein einziges seiner Organe an dem Hirnkasten würde finden können. Auf einer solchen Fahrt sollte man sich mit Bruchbändern versehen. Ich setzte mit aller Kraft meine Hände in meine Seiten und hielt mir den Brustknochen so fest, als ich konnte, um mir den Thorax nicht zu zerbrechen. Ist man nun einige Stationen vom Schenkel bis zum Schulterblatte etwas gegerbt und gekerbt, so geht es nachher, bis auf einzelne Kapitalstöße, schon etwas leidlicher, weil man nämlich besser zu leiden gelernt hat. In Rücksicht der Unverweslichkeit kann ich mich nun mit Shakespeares bestem Gerber messen und bin nun kraft der Güte meines Felles wohl noch einige Jahre ewiger als er. Auch die russischen Kuriere fürchten sich, wie ich höre, nicht wenig vor diesem Wege und nennen ihn nur die Zitterpartie, oder in ihrem eigenen Idiom le tremblement de cul ein Ausdruck, den nur die Feinheit der französischen Sprache erlaubt, wenn man ihn nicht aristophanisch-griechisch geben will, wo er dann vielleicht ebenso bedeutend Pygisma lauten würde. Die Kuriere haben aber gegen die Dröhnung breite, starke Gurte und eine Ledermaschine zum Sitzen, die sie an die Telege schnallen, und die man in Petersburg für zehn Rubel in den Buden kaufen kann. Das erfuhr ich erst bei meiner Rückkunft; da kamen die Herren vom Rathause.

Schon in Ischora setzte sich kurz und gut eine alte Frau zu mir in den Wagen und plauderte, solange man vor dem Gerassel eine Silbe verstehen konnte. Die gute Maritorne klagte entsetzlich über allgemein teuere Zeit und trank zum Trost während der Fahrt doch eine ziemliche Flasche Branntwein in großen Zügen aus. Die Station nachher traf ich mit einem jungen Menschen zusamen, der den nämlichen Weg ging und mir den Vorschlag tat, mit ihm Partie zu machen; eine Sache, die sehr annehmlich war. Es [714] war doch Gesellschaft; und so reisten wir denn jeder mit anderthalb Pferd, da wir beide zusammen nur drei brauchten. Sein Gepäck gab überdies einen etwas bessern Sitz. Er blieb in Nowogorod; und mit ihm verließ mich das gute Wetter.

Petersburg, den 13. Juli

Schon wieder zurück aus Moskau und im Begriff, auch Petersburg zu verlassen, das geht freilich etwas zu schnell für eine wohlgeordnete Reise. Aber darauf kann ich nun eben keinen weitern Anspruch machen und Du bist vielleicht auch selbst ziemlich froh, wenn ich mit meinen Erzählungen zu Ende bin.

In Nowogorod übersieht man bloß das große Feld der ehemaligen Herrlichkeit. Das Schloß scheint noch ganz aus den Zeiten der Hanse zu sein und ist von einem außerordentlichen Umfange. Von ferne sieht die Stadt aus, als ob sie noch gewaltig viel zu bedeuten hätte; das Inwendige ist aber ziemlich öde und leer. An Kirchen fehlt es nicht, aber desto mehr an guten, volkreichen Straßen. Es sind so viele, große leere Stellen nach allen Seiten, daß ich fast glaube, die Bürger können ihr Brot und ihren ganzen Mundvorrat in der Stadt bauen, ohne aus dem Tore zu gehen. Wo ist die Zeit hin, wo Nowogorod die Zaren zittern machte, und wo das Sprichwort entstand: »Wer kann wider Gott und Nowogorod?« Ein Deutscher muß jetzt fast nur in dem Andenken an seine Nation leben. Hier ist ein Österreicher, dort ein Preuße; hier ein Sachse, dort ein Bayer; hier ein Hesse und so weiter bis zur Legion der kleinen Fürstenkinder; aber nirgends ein Deutscher. Was soll mir die patriotische Aufwallung an der Wolga?

[715] Von Bronniza fuhr ich denn getrocknet weiter. In Krestzy kam ich mit einem Kosakenoffizier zusammen, der mit seinem bärtigen Freund und Bruder einem gemeinen Kosaken, nach dem Kaukasus beordert war und wir machten nun den Weg immer in einer Gesellschaft, obgleich in zwei Kibitken. Der Kosak suchte mir einige Furcht wegen der Straßen beizubringen und war überhaupt auf die Russen gar nicht gut zu sprechen. Sooft er etwas Schlechtes sah oder zu sehen glaubte, sagte er ganz andächtig: »So ist nun das russische Volk!« Und nach seiner Angabe waren Gerechtigkeit und Vernunft und Freiheit und Ehrlichkeit und überhaupt das Paradies nur in seinem Vaterlande. Das bekräftigte denn sein bärtiger Diener, der Gemeine, immer sehr ernsthaft. Er kannte übrigens die Armee und die Generale, und so musterten wir denn nach Noten. Ich muß ihm die Gerechtigkeit wiederfahren lassen, seine Urteile kamen mir billig und durchdacht vor, und der ganze Mann schien mir sehr menschlich und wacker zu sein. Seine Gesundheit war eben etwas schwach; ich fuhr also mit ihm etwas langsamer, und doch habe ich ungeachtet des Aufenthalts in Bronniza die ganze Reise von Petersburg nach Moskau, über hundert Meilen, in weniger als fünf Tagen gemacht.

Von Petersburg bis Ischora ist die Gegend ziemlich bebaut. Von da über Tosna bis Podborre sind gegen hundert Werste links und rechts fast lauter Wälder, und der Weg ist einsam und langweilig. In Podborre, wo einige Anhöhen sind, öffnet sich links und rechts die Gegend; und bei Nowogorod wird sie, besonders links am Flusse hin, ziemlich angenehm. Wenn es nur nicht Klöster wären, die dem Lande einen Anschein von Kultur geben. Es ist ermüdend und nicht erfreulich, so viele Meilen immer auf der [716] Hauptstraße gerade fortzurollen, ohne daß ein Seitenweg einläuft oder ausgeht, ein gewisses Zeichen, daß die Kultur links und rechts auf eine ziemliche Entfernung ärmlich sein muß. Aber ich habe immer noch lieber einzelne ärmliche Hütten als reiche Klöster, die von jenen ernährt werden. Bei Saizowa und Krestzy ist die Kultur besser; nirgends kann man sie aber gut nennen. Gute, große und schöne Dörfer liegen allerdings oft genug an der Straße; aber des urbaren Landes ist doch wenig und auf beiden Seiten ist die Waldung ziemlich nahe. Als einen Beweis des Mangels an Kultur nehme ich immer wieder an, daß weder Landwege einlaufen noch ausgehen.

Ich hatte den Vorteil, in einer nicht übeln, ziemlich wohlhabenden Gegend die Landleute an ihrem Pfingstfeste zu sehen. Alles war Frohsinn, Heiterkeit und Jubel bis zum Übermaß, und die russische Lebendigkeit war hier recht in ihrem eigentlichen Spiel. Aber nirgends habe ich Unsittlichkeit und Ungezogenheit gesehen, wenn ich einige nicht sehr feine Landflüche ausnehme. Die Kleidung war sehr reinlich und leicht und geschmackvoll, und nicht selten ziemlich kostbar. Es ist unstreitig kein Anzug unbequemer und geschmackloser als die Kleidung der Frauen auf dem Lande in den meisten Provinzen Deutschlands. Die jungen Kerle schritten alle wohlgekleidet und genährt in dem stolzen Gefühl ihrer Kraft einher, als ob sie, wenns nötig wäre, sogleich eine Batterie nehmen wollten. Das ist freilich ein Menschengeschlecht, mit welchem Peter Narwa durch Pultawa gut machen konnte. Man trifft sie selten in andern Ländern so lebendig und mutig und kraftvoll. Alles überließ sich der natürlichen Freude, und die Nationalsünde des Trinkens war noch etwas merklicher als gewöhnlich, aber ohne die bösen Wirkungen, die man sonst fürchtet. [717] Ich habe weder Schlägerei gesehen noch Zank gehört. In Podborre führten zwei junge Burschen einen alten Graubart, der seiner Füße nicht mehr ganz mächtig war, freundlich nach Hause. »Aber, Väterchen, heute seid Ihr doch auch betrunken«, sagte einer der jungen Leute recht gutmütig, als ob er froh wäre, dem alten Schulmeister etwas zu geben, es aber doch sehr sanft machen wollte. »Ich betrunken, Brüderchen?« sah ihn der Alte gar silenisch an, indem er sich auf den andern Kameraden stützte und den langen Bart strich, »ich bin nicht betrunken, Brüderchen.« Aber Ihr könnt ja nicht gehen, Väterchen. »Nicht gehen, Brüderchen? Siehst Du, heute ist ein großer Festtag; da kann man ein bißchen torkeln, aber betrunken bin ich nicht.« So torkelte denn auch das Kleeblättchen zur großen Belustigung der übrigen jovialisch weiter.

Es ist eine Wohltat, wieder unter Menschen zu sein, die den Mut haben, sich als Menschen zu fühlen. Die Dörfer sind hier zwar alle von Holz gebaut, aber schön und groß, und man darf sagen, sehr freundlich und Wohlhabenheit zeigend. Die Giebel stehen meistens nach der Straße, und die Fenster sind hell, die Schößchen fast alle geschnitzt und bunt gemalt, das Dach zum Schutz gegen das Wetter traulich hervorstehend. Ich habe mehrere Bauernhäuser gesehen, die, quergezogen, acht schöne Fenster in einer Reihe hatten, die Hälfte mit weißen Vorhängen. Die meisten haben ein Stock hoch einen freundlichen Altan, der der ganzen Front ein heiteres, schmuckes Ansehen gibt. Auf einigen dieser Altane habe ich die Büste des jetzigen Kaisers und seiner Gemahlin stehen sehen.

Jaschelbiza liegt schon ziemlich hoch, und nun geht es immer aufwärts bis nach Simogore oder Winterberg bei Walday, in den davon genannten Gebirgen. Die Waldayschen Gebirge sind der bewohnteste[718] Landstrich zwischen Petersburg und Moskau. Man hatte mir Böses von der Gegend gesagt, und ich habe Gutes gefunden. Gleich am Fuße bewillkommten mich Rohrsperlinge, Schnarrwachteln und Nachtigallen, und ich muß bekennen, daß das trauliche Tongemische vaterländischer Vögel, die ich bis jetzt nur selten gehört hatte, es mir sogleich etwas heimisch machte. Auch fand sich hier überall gutes Wasser, welches ich von Petersburg aus nicht gefunden hatte. Oben ward es freilich kälter, aber die Dörfer waren nach allen Seiten zahlreich und nicht ganz schlecht. Ich kann mich einiger Punkte erinnern, wo ich acht Dörfer sah, welches in Rußland noch nie der Fall gewesen war. Die Mädchen oben in Walday gelten für die besten russischen Hetären; vielleicht weil dort Mönche sind. Ich habe keine Unsittlichkeit wahrgenommen, aber auch eben keine vorzügliche Schönheit an den Frauen gesehen. Mir tat am meisten wohl die Humanität meines Fuhrmanns, der ein Nachbar aus Simogore war. Es war eine kalte, schneidende Morgenluft, der Name sagt schon genug, Winterberg, etwas höher als unser vaterländischer bei Dresden. Ich hatte nichts als mein gewöhnliches Kleidchen, weil ich der Wärme in Dorpat zuviel getraut hatte. Ich sagte stolz keine Silbe und hauchte, so stark ich konnte; aber mein guter Russe von Simogore, der mich und die Luft gehörig taxierte, brachte mir reichlich Stroh und einen großen, warmen, neuen Schafpelz. Der Mann machte durch seine freie Freundlichkeit meiner Seele von innen ebenso warm als meinem Körper von außen, und wir fuhren neben einigen Seen hin rasch nach Jedrowa hinunter.

Von Krestzy bis Simogore und weiter hin sind eine Menge kleiner, kegelförmiger Berge, wie man sie auch hier und da in Deutschland findet. Sie sind augenscheinlich von Menschenhänden aufgeführt, und die [719] Eingebornen sagen davon nur: »Es liegen darunter die alten, großen Leute.« Sie sind also bei den Russen ungefähr das, was unsere sogenannten Hünengräber sind, wahrscheinlich die Grabmonumente irgendeines einzelnen Heerführers oder mehrerer Krieger, die zusammen in einer Schlacht blieben. Auch in neueren Zeiten hat man zuweilen bei Schlachten die Gewohnheit gehabt, auf diese Weise zu begraben.

In Rußland reist man immer nur mit Papier und Kupfer. So bequem das erste ist, so lästig ist das andere, zumal für jemand, der nicht immer die genaueste Aufmerksamkeit hat. Ich hatte in Krestzy eine Note von fünfundzwanzig wechseln lassen und bekam dadurch auch einen schweren Sack mit elf Rubeln Kupfer. Meine Telege war nur mit Bastdecken ausgeschlagen, und darüber war Stroh gelegt. Der Position hatte mit meiner Erlaubnis einen alten Kerl von Petersburg und ein junges Mädchen von Torschok mit aufgepflanzt. Es ging halsbrechend fort, und als ich auf der folgenden Station bezahlen wollte, war der große Beutel mit dem Kupfer weg. Ich war anfangs etwas grämlich und hatte einigen Verdacht auf meine Gesellschaft; als ich aber das große Loch unten in der Bastdecke fand, das mein wichtiger Mammon geschlagen hatte, und die Ehrlichkeit meiner Gefährten gerettet sah, war ich schon zufrieden und lachte herzlich über den Unfall, der so eigen und nicht größer war, und die Leute staunten mich sonderbar an, daß ich mit meinem Tornister über ein solches Unglück scherzen konnte. So etwas läßt sich wohl noch weglachen; und der Postkerl bekam nach dem Schelten über die schlechte Telege fünf Kopeken Trinkgeld mehr.

Wischney Wolotschok ist durch seinen Kanal als Handelsstadt bekannt; auch Torschock ist kein unbeträchtlicher Ort. Alle Stationen sind von da aus [720] nicht ganz unangenehm. Twer hat den Vorzug eines sehr guten Gasthauses auf der Post, wo man zugleich sehr billig ist; eine Wohltat, die in den dortigen Gegenden weit größer ist, als Du vielleicht denkst. Die Wolga gibt hier schon sehr gute Fische, und Du kannst glauben, daß ich sie mir bekommen ließ. Bei Klin ist eine sehr liebliche Gegend von Tälern und Anhöhen, vielleicht die beste auf dem ganzen Wege. Hier aß ich denn dankbar mit großem Appetit das letzte Stück von einem Paar gebratenen Birkhühnern, die mir meine gute Wirtin in Petersburg in meinen Tornister hatte packen lassen. Als eine Eigenheit fand ich hier vorzüglich kleine Pferde und sogar unbeschlagene Wagen, wie das Fuhrwerk der Litauer, Letten und Esten. Hinter Pesky, welches auf einer kalten Höhe liegt, wird der Weg wieder abwechselnd freundlich, bis auf die letzte Station Czernaja Grähs, die sich durch ihren Namen bezeichnet, Schwarzkot. Das Wetter und der Weg bestätigten sogleich die Benennung.

Die Einfahrt nach Moskau ist von der andern Seite von Pleskow über die Berge die schönste, wo man die ganze alte, große, sonderbare Kapitale übersehen kann. Von der Petersburger Seite ist alles flach, und links und rechts decken in einer nicht großen Entfernung noch Wälder die Aussicht. Links liegt, einige Werste von der Stadt, am Walde das neue kaiserliche Schloß, hat aber mehr das Ansehen einer großen Ritterburg als eines kaiserlichen Palastes. Am Tore der Stadt nahm ich von meinen guten Freunden, den Kosaken, Abschied, die nun ihres Weges weiterreisten. Da ich für sie einige Rubel in Auslage gewesen war, dachte ich etwas voreilig, das wird nun wohl kosakisch quittiert werden, und war schon willens, weiter keine Notiz davon zu nehmen! aber der wackere Mann bezahlte mich sehr freundlich, sogar [721] mit billiger Reduktion in Silbergelde. Nun fuhr mich mein Postkerl eine Ewigkeit von Straße gerade hinunter und hinauf bis an den Kreml und von da links in die Nikolaistraße, wo er mich dem griechischen Kloster gegenüber in ein deutsches Gasthaus brachte, zu dem ich schon die Notiz auf der letzten Station gefunden hatte, wo aber außer dem Herrn und dem Oberkellner niemand deutsch sprach.

Vor und nach Wischney Wolotschok ist etwas Sand: sonst ist der ganze Strich von Petersburg bis Moskau Land, aus dem der Fleiß etwas machen kann. Den andern Morgen suchte ich meine alten Freunde auf und fand auch neue, und ihre Hospitalität war so patriarchalisch, daß ich die acht Tage meines Aufenthalts in meinem Wirtshause nichts als einige Male mein Frühstück genommen habe, und so hatte es den Anschien fortzugehen, wenn ich noch acht Wochen dortgeblieben wäre, denn der Kreis erweiterte sich immer. Ich habe mit Küttner die Gewohnheit, daß ich überall, wo ich kann, die Höhen zur Aussicht suche und so führten mich denn Buhle und Goldbach sogleich den Nachmittag im Kreml auf den Turm Iwan Weliky, wo man eine Art von Aussicht hat, wie man sie vom Pantheon und Montmartre in Paris nicht haben kann. Moskau ist beträchtlich größer an Umfang als Paris, ob es gleich weit weniger Einwohner hat. Der Kreml liegt auf einer kleinen Anhöhe am Flusse, mitten hl der Stadt; und dieser Turm ist außerdem noch der größte von allen, so daß man hier rund umher die ganze sonderbare Herrlichkeit übersehen kann. Er ist beständig und für jedermann offen und hat oben nur eine Schildwache, die von unten abgelöst wird. Es muß allerdings ein höchst seltenes, prächtiges Schauspiel gewesen sein, als voriges Jahr an einem Tage auf der linken Seite der Stadt nach dem kaiserlichen [722] Garten zu ein großes, dunkles Gewitter zog, das auch in jenem Teile dreimal einschlug und zu gleicher Zeit diesseit des Kremls in glänzendem magischen Sonnenschein unter einem Gewühl von hunderttausenden Garnerin seine Luftfahrt machte. Gleich unten am Fuße des Turmes liegt ziemlich tief in der Erde die bekannte große Glocke, und einige hundert Schritte davon steht unter einem Verdeck zwischen mehreren andern die bekannte große Kanone; ein Kammerstück, das einem Göttinger Arzt, der noch tiefer hinein nach Rußland auf die Güter des Fürsten Kurakin zog, so ungeheuer merkwürdig vorkam, daß er ihren Anblick für den glücklichsten Augenblick seines Lebens hielt; wozu er noch rechnete, daß er soeben seinen Namen an die große Glocke geschrieben hatte. So, so, dachte ich, und hatte in diesem Augenblicke nicht die beste Hoffnung für die Kranken des Fürsten Kurakin.

Es ist hier ein eigenes Gemisch alter neugriechischer, halborientalischer Erscheinungen und besserer neuerer Architektur aus Italien, was man in Moskau sieht. Das Sonderbarste ist wohl die Kathedrale, die an Gold und Steinen vielleicht alle übrigen Kirchen der Christenheit übertrifft. Alle Verzierungen sind darin schweres, solides Gold. Die meisten Bilder sind freilich zur Ehre der Kunst am besten darin versteckt, aber es sind doch auch mehrere da, von denen es mir leid tat, daß man vor Gold kaum die Nase ordentlich sehen konnte. Wenn das Nimbus sein soll, so ist er nirgends so dick als hier. St. Peter in Rom ist ein gar armer Mann gegen diese Heiligen. Die übrigen besseren Schätze des Kremls, nämlich die Altertümer der Nation, waren eben verschlossen weil man baute; und es gehörte eine außerordentliche Erlaubnis des Generalgouverneurs dazu, sie zu sehen, um welche ich mich nicht bemühen wollte. Etwas davon hätte ich [723] allerdings vorzüglich gern gesehen, nämlich die Glocke von Nowogorod, die mir merkwürdiger gewesen wäre als die andern großen Glocken in Moskau und Erfurt, oder wo sie sonst hängen und liegen mögen. Dies war die Sturmglocke, mit welcher einst die Herren der großen Hanse in Nowogorod zu den Waffen läuteten, und deren Ton den Russen eine lange Zeit Schrecken und Tod war. Das war die Zeit des Sprichworts: Wer kann wider Gott und Nowogorod? Nach der endlichen Einnahme der Stadt wurde diese Glocke natürlich als ein Siegeszeichen nach Moskau gebracht, wo sie billig zu den ersten Merkwürdigkeiten der Nation gehört. Man erzählte mir glaubwürdig, zu Anfange der Regierung des jetzigen Kaisers Alexander sei auf Antrag des Generalgouverneurs ein Befehl gekommen, die alten, unbrauchbaren, lästigen Sachen, die nur die Rumpelkammern füllten, zu verkaufen, damit Platz würde. Das Schicksal habe nun auch die Glocke von Nowogorod treffen sollen; da habe sich aber der Kommandant des Kremls mit aller Macht dawider gesetzt und sie mit seinen Grenadieren zu verteidigen gedroht, bis man einen eigenen bestimmten Befehl darüber vom Monarchen einholte; und der Kaiser habe, wie zu erwarten war, befohlen, daß die Glocke nicht verkauft und eingeschmolzen werde, sondern bleiben solle, wo sie sei. Ein braver, wackerer Mann der Kommandant, der etwas Gutes auch auf Gefahr der Mißdeutung zu tun wagt Wenn geläutet werden sollte, brauchte man nicht erst Glocken von Nowogorod, das weiß Alexander, der so handelt, daß niemand den Gedanken haben wird, gegen ihn zu läuten. Das hiesige Findelhaus ist ein Institut, dem wohl kein anderes dieser Art an die Seite gesetzt werden kann; und so weitläufig auch die Einrichtung ist, herrscht doch darin die musterhafteste Ordnung, soviel [724] ich von dem kurzen Besuch urteilen konnte. Die Gebäude liegen ziemlich frei und gesund für eine große Stadt. Einer der Vorsteher versicherte mich, daß das Institut jetzt zwanzig Millionen besitze und über sechsunddreißig Millionen im Umlauf habe, und das Ganze ist aus Privateinrichtungen entstanden. Eine vielleicht zu glänzende Einrichtung für den Zweck ist das Spital der Familie Golizin, wo die Kranken wirklich prächtig gehalten werden. Gegen hundert werden darin versorgt; es scheint aber meistens auf Vornehmere gerechnet zu sein. Leute geringeren Standes würden hier wirklich verzärtelt und könnten auf den Einfall kommen, ihr ganzes Leben nicht wieder gesund werden zu wollen. Musterhaft eingerichtet ist die Apotheke, besser als ich irgendwo gesehen habe; und die Kirche zeichnet sich durch Geschmack und Zweckmäßigkeit aus. Es dürfte schwerlich eine Privatanstalt von diesem Umfange sonst irgendwo getroffen werden. Von der Kuppel der Kirche, die eine Rotunde ist, hat man eine der schönsten Aussichten, und das Ganze liegt an einem sehr freien, gesunden Orte. Der Verwalter des Hauses war ein sehr feiner, freundlicher Mann; aber der Gedächtnismangel des Arztes kam mir etwas beträchtlich vor, denn auf unsere Erkundigung, welche Art Kranke in diesem Zimmer wären, fragte er erst den Wärter darüber. Ich hoffe, daß es bloßer Gedächtnismangel war.

Einen andern Tag fuhren wir hinaus über die Moskwa auf die sogenannten Sperlingsberge, wo die Vegetation sehr reich ist und die Gegend mancher Schweizergegend nichts nachgibt. Von diesen Bergen übersieht man das ganze Amphitheater des Tals, in und an welchem die große Stadt gebaut ist. Es ist einer der auffallendsten Anblicke, den man haben kann. Wer die Lokalität gut innehat, kann alles unterscheiden [725] bis auf die andere Seite an den kaiserlichen Garten und die deutsche Vorstadt. Hervorstechend ist der ganze Kreml. Für mein eigenes Gefühl hatte ich noch einen andern Moment, wie man ihn nur selten hat. Man zählt, wie ich höre, in Moskau gegen sechshundert Kirchen. Die Kirchen sind dort voll Türme, und die Türme voll Glocken. Ich habe auf mancher Kirche sieben Türme gezählt; und unter dreien sieht man in Rußland selten eine, weswegen die Rechtgläubigen Ketzerei rochen, weil die Isaakskirche in Petersburg nur zwei Türme hat. Es war ein schöner, heller, stiller, freundlicher Nachmittag, wo der Wind sanft über die Stadt herüberwehte. Den Morgen darauf war ein Festtag, der mit allen Glocken den Abend vorher eingeweiht wurde. Stelle Dir nur das Gesumme vor; auf manchen Türmen sind über zwanzig Glocken. Ich habe in meinem Leben kein so magisches, gefühlbetäubendes, vernunfttötendes Tongewirre gehört als hier und in Warschau vor elf Jahren den Grünen Donnerstag und Karfreitag. Du erinnerst Dich wohl der Periode, wo Glocken und Kanonen konzertierten. Hier begriff ich in einer Minute mehr von der Kirchentaktik, als mich viele Jahre Nachdenken und Studium der Geschichte gelehrt hatten. Bemeistere Dich mit Deiner großen Leidenschaft der kleinen Leidenschaften anderer, und Du bist ihr Herr – das Schibboleth der geistlichen und weltlichen Despotie. Von Vernunft und Moralität behält man sodann nur die Namen, damit die heilige Sophistik daraus modeln und drehen kann, was sie nötig hat.

Die Moskwa hat hier ungefähr die Breite der Tiber bei Rom oder etwas mehr als die Saale bei Bärenburg. Von unserer Gesellschaft war auch der Etatsrat Schubert, der als Astronom mit der Gesandtschaft nach China geht. Seit langer Zeit habe ich [726] keinen jungen Mann gesehen, der mit so vielen guten Kenntnissen so viel feine Sitten und Bescheidenheit verbände, als dessen Sohn, der Offizier vom Generalstabe ist und seinen Vater begleitet und unter dessen Leitung ein sehr wackerer Mann zu werden verspricht. Von der Vehemenz der Bewegung auf unserer Reise von Petersburg hierher darf ich Dir anführen, daß nicht allein die Feder meiner Uhr gesprungen war; das wäre kein Wunder, da ich in einer Posttelege fuhr, sondern Schubert und einem seiner Offiziere war das nämliche widerfahren; und diese hatten doch in einem englischen Wagen mit Federn gesessen. Man kann dem ganzen Wege, vorzüglich in der Nachbarschaft von Moskau, nicht das beste Zeugnis geben. Der Uhrmacher in Moskau gab ehrlich die Bedenklichkeit, die Feder würde auf der Rückreise gewiß wieder springen, und wies mich mit der Reparatur nach Petersburg, welchem Rat ich denn auch folgte.

Die alten Gebäude des Kremls werden nach und nach niedergerissen und zum Behuf der jetzigen Zeit andere, geschmackvollere aufgeführt. Das Gouvernementshaus, wo die Dikasterien sind, zeichnet sich schon in dieser Rücksicht aus. Die einzigen, die sich wahrscheinlich noch viele Jahrhunderte halten werden, sind der Turm Iwan Weliky und die Kathedrale. An eine Festung ist bei dem Kreml gar nicht mehr zu denken, ob er gleich bei einem Auflauf immer noch als guter Posten gebraucht werden kann, da er auf der Anhöhe liegt. Seit der letzten Pest sind keine Unruhen in Moskau gewesen; und auch diese letzten entstanden bekanntlich mehr aus Fanatismus bei dem Unglück der Zeit als aus irgendeiner Unzufriedenheit mit der Regierung.

Das hiesige Publikum ist unstreitig eins der reichsten und liberalsten auf dem Erdballe. Es sind, wie[727] man weiß, mehrere Familien hier, die jährlich gegen fünfmal hunderttausend Rubel Renten haben; einige haben noch mehr. Der Hof hat sehr wenig Einfluß auf die Kapitale. Man mag mit ihm zufrieden sein oder nicht, das macht keine große Veränderung von keiner Seite, da alles seinen gewöhnlichen Gang geht und man von keiner Seite zu Extremitäten kommen wird. Man bekümmert sich gewöhnlich in Moskau nicht viel um das, was in Petersburg vorgeht, außer in den Familien, die in irgendeinen Zweig der Regierung verflochten sind.

Die hiesige Universität ist ebensowohl nur erst im Werden als Dorpat, ob sie gleich beträchtlich älter ist. Auswärts übertreibt man alles, das Schlimme wie das Gute. Moskau findet mehr Unterstützung als Dorpat, da der russische Adel weit humaner und liberaler ist, als der livländische sich bis jetzt in der Kollision gezeigt hat. Demidow und Urussow haben dem Museum der Universität ihre schönen Sammlungen geschenkt, mit deren Ordnung jetzt Fischer beschäftigt ist. Sie enthalten Schätze und Seltenheiten aller Art und haben vorzüglich einen großen Reichtum an Schlangen. Die Doubletten wird man mit Vorteil umzutauschen suchen und hat deswegen Verbindung nach allen Seiten eröffnet. Fischer ist schon von Mainz aus als kompetenter Mann in seinem Fache bekannt und wird es an Tätigkeit und Fleiß nicht fehlen lassen. Goldbach muß sich freilich sein Observatorium erst selbst bauen, wozu der Ort sehr bequem und angenehm in dem sogenannten Apothekergarten oder in dem botanischen Garten angewiesen ist. Alte und neue Professoren leben zusammen, wie ich merkte, in guter Einigkeit, und der Rektor, der sich durch Nepotismus persönlich perpetuiert hatte, mußte nach der neuen Einrichtung seine Stelle niederlegen, die nun[728] konstitutionsmäßig nach der Reihe durch Wahl jährlich besetzt wird. Der alte Herr, der den Kredit eines guten Pädagogen hat und gar drolliges Latein schreibt, machte zwar ein etwas saueres Gesicht und verteidigte sein Besitztum nicht übel mit dem Satze, daß kein Gesetz vim retroactivam haben könne, er war aber genötigt, sich der Einigkeit der andern, dem Ansehen des Kurators und dem Buchstaben zu ergeben. Man hat eine russische Literaturzeitung errichtet, wozu die neuen Professoren ihre Beiträge unterdessen in fremden Sprachen liefern, die dann unter der Aufsicht von Sachverständigen übersetzt werden. Da es allen billig zur Pflicht gemacht wird, selbst russisch zu lernen, so geben die meisten schon ihr Urteil über die Übersetzung, ehe sie abgedruckt wird. Es kann zwar nicht fehlen, daß nicht zuweilen kleine Quidproquos mit unterlaufen sollten, wie wir sie auch wohl in dem Französischen und Englischen haben. Das gibt aber zu lachen, und sie werden vergessen. Es geschieht doch etwas, und es entsteht Lust und Tätigkeit. Die Universität hat jetzt ungefähr zweihundertundfünfzig Studenten, worunter viele Stipendiaten sind; freilich eine sehr kleine Anzahl für die Hauptstadt eines so ungeheuern Reichs. Indessen geht es doch besser als vor zwanzig Jahren, wo nicht die Hälfte der Anzahl da war, ob man gleich damals Moskau fast die einzige Universität des Reichs nennen konnte. Die neuen Professoren sind mit den Vorkenntnissen der jungen Leute ziemlich zufrieden, die sich alle leidlich genug im Latein ausdrücken. Buhle sagte mir, daß er doch sechzig Zuhörer gehabt habe. Er mag aber freilich wohl die größte Anzahl gehabt haben, da seine Vorträge zuweilen auch von Privatleuten, die nicht zur Universität gehörten, besucht wurden. Philosophie und philosophische Geschichte hört jedermann gern, zumal [729] wenn sie gut vorgetragen werden. Die Professoren, welche aus Deutschland hingekommen sind, loben übrigens durchaus die freundliche Aufnahme und die gute Begegnung, die sie dort erfahren, von Russen sowohl als Deutschen, die schon längst dort sind; und das von allen Ständen. Auch können sie, wie sie selbst rühmen, von ihrem Gehalt von zweitausend Rubeln gemächlich, anständig und liberal leben, da in Moskau die meisten Bedürfnisse des Lebens ziemlich wohlfeil sind, weit mehr als in Dorpat, wo das Publikum klein und zugleich sehr reich oder ganz arm ist, und wo die etwas feineren Artikel entweder gar nicht zu haben oder außerordentlich teuer sind.

Karamsin war auf dem Lande, ich konte ihn also nicht sehen. Wenn er gleich kein Geschichtschreiber ist, so ist er doch ein interessanter, wackerer Mann und ein guter Dichter; Historiograph mag er immer sein. Zwei gute Männer lernte ich dort noch kennen: den Kollegienrat Pause, einen tüchtigen Schulmann und Literator, und Heym, der sich bekanntlich als Kenner der russischen Sprache auszeichnet und hier das Orakel der Fremden und nicht selten der Russen selbst ist. Beide sind zugleich fröhliche, gemütliche Gesellschafter.

Heute ging Klinger nach Dorpat, und morgen ging ich nach Moskau, heute fuhr Schubert mit seiner Abteilung nach Kasan, und morgen fuhr ich zurück nach Petersburg. Nun ging die Zitterpartie wieder an, und ich hatte bloß den Vorteil, daß mir die Uhrkette nicht mehr springen konnte, weil ich sie nicht hatte machen lassen, um mir einen Anspruch auf Shakespeares Gerberewigkeit mehr zu sammeln. Diesmal fuhr ich insofern allein, daß sich meistens nur irgendein Graubart oder eine alte Frau mit meiner Erlaubnis mit aufsetzte.

[730] In Gorodnaja, wo ich sehr durstig war, brachten mir die Leutchen eine Probe von Bier unter dem Namen Freibier, das man ihnen selbst zu brauen erlaubt hatte, mit einem Jubel, als ob jeder unter ihnen ein Paradies gewonnen hätte. Ein so gutmütiges, dankbares Geschöpf ist der Mensch, wenn man ihm einmal in einer sonderbaren Anwandlung von Gerechtigkeit eines seiner ursprünglichen, natürlichen Befugnisse zugesteht. Die oberste Staatsverwaltung kann allerdings wichtige, durch den Begriff des Staats selbst gegebene Ursachen haben, einzelne Einschränkungen in gewissen Erwerbzweigen zu machen, deren uneingeschränkte Betreibung dem Ganzen Schaden zufügen könnte; es ist vielleicht sogar anzunehmen, daß die Brauerei ein solcher Artikel sei. Daß man aber, wie in Deutschland hier und da wirklich geschieht, ganze Gemeinheiten zwingen will, ihren Trunk aus diesem und keinem andern Brauhause zu holen, wo man sodann in dieser Hinsicht das jämmerlichste Gesöff mischt und eigenmächtig den Preis setzt, ist eine Bedrückung, die an Sklaverei grenzt, und die schon in diätetischer Rücksicht gewissenlos und unverantwortlich ist. Aber wer denkt in solchen Fällen an Gewissen, Verantwortung und Moralität? Der Kastengeist will, das Bajonett blitzt, und die Vernunft schweigt.

Als ich in Twer einzog, sang ein junger Mann, der mit einer recht artigen Gesellschaft nicht weit von der Wolga saß, mit einer wohlklingenden, hellen Stimme die alte artige französische Melodie: »O Mahomet, ton paradis de femmes est le séjour de la félicité.« Ich weiß nicht, ob Du die Musik kennst; sie ist eine der lebendigsten und fröhlichsten, die je ein Franzose gemacht hat. Noch waren mir die Noten davon kaum am Trommelfell verhallt, so kam ich an das Tor, wo die Wache ein ebenso lebhaftes Gegenstück [731] dazu gab und echt russisch und sehr stark und laut und vernehmlich ein Lied abschrie, dessen Refrain drollig genug sehr oft im Chor wiederholt wurde: »J Ja schenilsa kak durak« – ich nahm ein Weib und war ein Narr.

Von Twer bis Medno tat ich nun fast nichts, als daß ich auf dem Sandwege die ungleichartigen Stückchen ruinierte, die ich soeben gehört hatte. Das Französische muß in Rußland sehr bekannt und beliebt sein, denn ich habe es ehemals von den jungen Fanten der Galanterie oft gehört. Das Russische bezeichnet sich durch diesen einzigen Gang schon hinlänglich. Es ist schade, daß ich dies nicht ganz geben kann, denn es ist ein gar barockes Stückchen Arbeit. Wir haben in unserer deutschen Literatur etwas, das ihm an Inhalt ziemlich ähnlich kommt, nur daß die Form nicht so gut zum Singen eingerichtet ist. Ich will nicht das Piakel begehen und es hier aus meinem Gedächtnisse von sechs Olympiaden der Länge nach niederschreiben. Es fängt sich an: »Der Teufel kam vor vielen Jahren«; – und nun kannst Du das übrige in Lessing oder Schiebler selbst nachsehen, denn einer von beiden ist gewiß der Verfasser. Du wirst darin unstreitig die sublimierteste genialische Bosheit gegen das Geschlecht finden, deren ich mich durch Wiederholung nicht mitschuldig machen will.

Da ich denn doch eben nicht als Kurier zu fahren nötig hatte, machte ich mir's bequem und blieb in Leipzig zu Torschock. Das Schild der Stadt Leipzig kam mir dort so freundlich vor, daß ich schon auf dem Hinzuge mir vorgenommen hatte, hier auszuschlafen; welches denn jetzt geschah. Die Wirtschaft sollte dem Zeichen nach deutsch sein; ich habe aber keine deutsche Silbe gehört. Dabei verlor ich jedoch nichts, denn ein Russe, der eine Art von Kellner oder Markeur [732] machte, versorgte mich so gut und billig, als ich beides in der ganzen Stadt Leipzig an der Pleiße wohl kaum hätte erwarten dürfen.

In Wydropust hatte ich einen kleinen Verlust, der mir viel Vergnügen machte. Ich habe ein ganz artiges, gut gearbeitetes Petschaft, von Döll in Karniol gestochen, das mich mit der Fassung dreißig Taler sächsisch kostet. Dieses hatte sich vom Uhrbande losgedreht, und ich hatte es im Troge des Wagens verloren. Es war natürlich, daß mir der Verlust wegen des Metallwerts und der Kunstliebhaberei nicht ganz gleichgültig sein konnte. Ich durchsuchte alles und fand nichts. Eine Menge lustige, dienstfertige Russen standen, wie gewöhnlich, um mich herum. Ich gebe zwei silberne Rubel, wenn mir jemand das Petschaft wiederfindet, sagte ich, und ging in das Posthaus. Die Bärte lärmten und suchten und störten und wendeten alles um, erhoben endlich ein Jubelgeschrei und kamen mit dem Petschaft herein und nahmen ihre zwei Silberrubel in Empfang. Ich weiß wohl, daß man psychologisch noch manches gegen ihre vollendete Ehrlichkeit sagen könnte; aber mir gefiehl es unendlich, und ich fühle mich bei dergleichen Gelegenheiten unter den Leuten so heimisch, als ob ich sogleich bei ihnen bleiben sollte. Doppelt angenehm war es, daß es eben ganz gemeine Russen waren, deren Ehrlichkeit man sonst nicht den besten Panegyrikus zu halten pflegt.

Von meinem Kupfersack hatte ich aber nichts wiedergefunden, als ich zurück in die Gegend kam.

Die Postmeister nennt man gewöhnlich hier nur Postillione und den fahrenden Mann den Postkerl. Dieser ist ein Bauer und jener ein kaiserlicher Offiziant und oft, wie es scheint, auch ein Bauer. Der Fuhrkerl ist mit zehn Kopeken Trinkgeld sehr zufrieden. [733] Was mir aber höchst sonderbar vorkam, war, daß auch der Postmeister für sich ein Trinkgeld forderte. Dies fing in Nowogorod an und dauerte fast regelmäßig fort bis Moskau. Ich muß ihnen zwar gebührend nachsagen, daß sie mit fünfzehn und zehn Kopeken auch zufrieden waren, aber es wollte mir doch gar nicht in meine Begriffe von Anstand und Ehre passen, daß ich dem Postmeister ein Trinkgeld geben sollte. Zwischen Nowogorod und Petersburg forderten sie nichts, welches mir meinetwegen und ihretwegen sehr lieb war, denn ich weiß durchaus nicht, wie man eine solche ärmliche Kleinigkeit mit dem feineren Gefühl zusammen reimen soll. Wenn es nötig ist, sollte man lieber das Postgeld erhöhen und ihnen gesetzlich einen Vorteil verschaffen, denn über zu hohes Postgeld wird sich auch jetzt noch kein fremder Reisender in Rußland beschweren.

In Tosna traf ich auf der Post zwei junge Leute, die in einem großen, schönen englischen Wagen den Weg reisen wollten, den ich kam. Der Wagen hatte durch das unhöfliche Werfen einen Kapitalbruch bekommen; die Herren mußten also die Reparatur abwarten, welche die Handwerker natürlicherweise noch wichtiger machten, als sie wirklich war. Unterdessen trösteten sie sich mit Wein und dem Speisekorbe, und einer von ihnen spielte schnackisch genug auf der Geige, und beide sangen abwechselnd allerlei in verschiedenen Sprachen, meistens aber jenaische Burschenlieder. Sie schienen mich als die gleichgültigste Person der ganzen Umgebung anzusehen und sich also vor mir auf keine Weise nur den geringsten Zwang anzutun. Das war schon gut. Da aber die Herren doch ihres Takts nicht ganz gewiß zu sein schienen, brummte auch ich, so gut ich konnte, einige Gänge italienisch aus dem Axur, guckte so bescheiden [734] als möglich mit in ihre große Karte und gab, als sie einen Ort lange vergebens suchten, durch einen Finger zu verstehen, daß auch mir die Sache nicht ganz wie böhmische Dörfer wäre. Nun waren sie merklich stiller, verloren weiter keine Silbe mehr von der Polyglotte und sprachen gleichgültige Dinge gleichgültig deutsch.

Das teuerste auf der ganzen Fahrt von Petersburg bis Moskau ist wohl der Kaffee, den ich einigemal diätetisch nahm, weil ich in der kalten Nacht fuhr. Die Portion kostete gewöhnlich einen Rubel und einigemal auch einen Rubel und zehen Kopeken. Zuweilen hatten die Postmeister, wie sie sagten, kein Kupfer, um die Papiere auszuwechseln, und ich mußte zu Krämern gehen, und da mußte ich jedesmal für einen Zettel von fünf Rubeln zehen Kopeken Verlust leiden. Das ist zwar widerrechtlich, wie ich höre; aber es geschieht wie vieles Widerrechtliche und kann nicht leicht verhindert werden.

Bei meiner Zurückkunft hier in Petersburg war ich doch ziemlich in den Mißkredit der Langsamkeit geraten, denn in Rußland macht man ungeheuere Strecken in unglaublich kurzer Zeit; und ich hatte trotz meiner Beweglichkeit doch eben keine Ursache gefunden, mit den Herren dort wegen Geschwindigkeit in die Schranken zu treten.

Klinger war auch von Dorpat wieder eingetroffen; und Du wirst leicht glauben, daß ich von seiner Erlaubnis, bei ihm zu sein, so oft als möglich und schicklich war, Gebrauch machte, daß bei diesen Besuchen philosophische, literarische und politische Reibung genug entstand, und daß ich diese Stunden zu den besten meines Lebens zähle. Daß wir nicht immer beide von einerlei Meinung waren, versteht sich von selbst; und daß jeder sodann die seinige so ziemlich hartnäckig [735] verteidigte, gleichfalls. Wenn gute Männer in der Hauptsache einig sind, gehört es zur Würze und vielleicht zum Glück des Lebens, wenn sie über die kleinen Schattierungen verschieden denken. Klinger war mit seiner Reise nach Dorpat außerordentlich zufrieden, welches mir seinetwegen und wegen des Instituts und der Humanität überhaupt sehr lieb ist.

Den russischen Johannistag, wenn dies nach unserm Kalender ist, magst Du selbst nachsehen, denn ich bin in diesem Punkte nicht sehr taktfest, war ich mit meinem Wirt und altem Freunde, dem Etatsrat Beck, in Pawlowsk, vorzüglich um Storch zu besuchen. Beck führte mich zur Oberhofmeisterin der kaiserlichen Familie, der Gräfin Lieven, deren Sohn, der General, von Polen aus mein alter Freund war und es hoffentlich noch ist, ob ich ihn gleich sehr lange nicht gesehen habe. Die Dame hat sich durch die Erziehung der liebenswürdigen Töchter des kaiserlichen Hauses billig die beste Meinung im Reiche und im Auslande erworben; und ich fand in ihr so viel schönen, freundlichen, reinen weiblichen Charakter, daß ich fast den Hof vergaß und nur das Ideal einer guten Matrone sah. Die Erscheinungen des Tages waren natürlich, sobald wir allein waren, der Gegenstand des Gesprächs, und die Gräfin klagte, wie es schien mit wahrhaft tiefem Gefühl, über die traurigen Aussichten in die Zukunft von mehreren Seiten und schrieb sie vorzüglich mit dem Verfall der Sittlichkeit und der Vernachlässigung aller Religion zu. Nichts ist mehr heilig, und überall behandelt man die Religion verächtlich. »Gnädige Frau«, antwortete ich, »der Grund dieser Erscheinung liegt aber auch vorzüglich mit darin, daß man den Nationen überall Dinge als das Wesen der Religion aufdringt, die damit nur in sehr entfernter oder in gar keiner Verbindung stehen.

[736] Kalte, sich oft widersprechende und vernunftwidrige Dogmatik, leere Formeln und nichts bedeutende Zeremonien werden den Völkern überall als etwas Wesentliches vorgehalten, während man die ersten heiligen Grundsätze der Vernunft, die unwidersprechlich die festeste Base aller Religion ausmachen, nichts achtet. Die Lehre von Gott und Vorsehung und Tugend und Laster, vorzüglich von Recht und Pflicht und Glückseligkeit und Elend, wird nur insofern berührt, als man es seinen Absichten gemäß findet. Was dem Menschen am nächsten liegt und ewig liegen muß, seine Obliegenheiten und seine Befugnisse, darüber läßt man ihn absichtlich in Unwissenheit und hält ihm Dinge vor, von denen er durchaus nichts verstehen kann, und die ihm in die Länge nicht ehrwürdig bleiben können, weil sie von der Vernunft nicht genehmigt werden. So machen es alle christliche Parteien, an der Tiber und bei uns und bei ihnen. Was wirklich rein wahr und echt ehrwürdig ist, kann nie verächtlich werden. Ich habe selbst noch nie von einem Bösewichte gehört, der die Tugend offenbar verachtet hätte.« In diesen oder ähnlichen Worten sprach ich mit Wärme und Teilnahme, vielleicht länger und heftiger, als wohl schicklich gewesen wäre. Die Gräfin schien indessen mit Aufmerksamkeit und sogar mit einiger Rührung zuzuhören.

Als ich in dem Quartier des Herrn von Block mit der Familie bei Tische saß und zu Johannis die Gesundheit der Herren Johannes trank, worunter der Wirt und noch ein Gast und, wie Du weißt, auch Dein alter Freund gehörte, kam eine Botschaft, daß die Kaiserin Mutter mich um sieben Uhr auf der Ferme sehen wollte. Das wir mir nun unerwartet genug, und meine halbhuronische Personalität geriet doch einige Sekunden ins Betroffene. Es versteht sich aber, daß[737] ich mich bald wieder sammelte, mich so gut als möglich kleidete und zur bestimmten Stunde auf einer kaiserlichen Linie hinfuhr. Man hatte mir eine Menge Dinge vorgepredigt, was Observanz sei; ich hatte aber wenig gemerkt und glaubte, jeder Schritt werde sich schon gehörig nach dem Takt des vorhergehenden messen. Die Kaiserin sprach mit mir ungefähr eine halbe Stunde, zuerst über mich selbst, meine kleinen Wanderungen und literarischen Arbeiten. Besonders fragte sie mich, da sie gehört hatte, ich beschäftige mich auch mit dem Griechischen, warum ich nicht eine Reise nach Griechenland mache. »Nach Italien, Frankreich und Rußland«, antwortete ich, »geht man bald und leicht und sicher; aber nach Griechenland zu wandern, wie Griechenland jetzt ist, ist in jeder Rücksicht über meine Kräfte. Auch bin ich eben nicht Antiquar und Literator, sondern nähre mich nur an dem griechischen Geiste zu meiner eignen Stärkung, und das kann ich bei den alten Schätzen, die wir von der Nation haben, zu Hause jetzt vielleicht besser als in Athen und Sparta.«

Die Kaiserin fragte mich viel über Schiller, dessen Tod noch das Gespräch der Stadt war, und sprach von seinen Schriften mit hoher Achtung und von manchen mit einer so feinen Kritik, daß auch Schiller, hätte er sie gehört, sie gewiß benutzt hätte Da ich mit Schiller immer in freundschaftlichen Verhältnissen gewesen war, konnte ich mit wahrer Wärme von seinem Charakter sprechen. Der bessere Mensch in ihm ließ von den minder guten Momenten keine Flecken einrosten. »Schiller ist mir am liebenswürdigsten gewesen als Hausvater«, sagte ich und erzählte der Kaiserin, wie ihn einst die Unruhe wegen seiner kleinen Tochter nicht einige Tage länger in dem Zirkel seiner Freunde in Kursachsen ließ. Er eilte nach Weimar; und als ich[738] einige Wochen nachher ihn besuchte, kam er mir im Vorhause mit dem lieblichen Ideale von Mädchen auf dem Arme entgegen und sagte: »Sehen Sie, das ist das kleine närrische Geschöpf, das mich nicht ruhig bei Ihnen lassen wollte.« Die Kleine klammerte sich freundlich an seinen Nacken und rechtfertigte, was er sagte. Der Kaiserin schien die kleine Erzählung nicht unangenehm zu sein. Sie sprach noch manches über unsere Literatur und mit vieler Bestimmtheit und Klarheit und einer Kenntnis, die mich vielleicht bald in Verlegenheit gesetzt haben würde, denn es ist natürlich, daß die Kaiserin mehr Zeit und Mittel hat, viel und gut zu lesen und sich zu unterrichten, als ich. Sie hatte vielleicht gehört, daß man mir einige nicht verwerfliche Anträge gemacht hatte dortzubleiben und fragte, warum ich das nicht wollte. Ich sagte ihr sogleich mit Wahrheit den Hauptgrund, daß ich in meinem Vaterlande eine alte Mutter habe, der ich für meine Entfernung durch nichts Ersatz geben könne, und die in ihren Jahren das Plätzchen, auf dem sie alt geworden, durchaus nicht verlassen werde. »Ihre Majestät werden das Gefühl gehörig würdigen, da Sie selbst Mutter sind«. »Dawider ist nichts zu sagen, dawider ist gar nichts zu sagen«, sprach sie mit sichtbarer Zufriedenheit.

Als ich wegging, ließ sie mich noch in den Gärten herumfahren und befahl, daß man mir das Schloß zeigen sollte. Von den Häusern, es mögen Schlösser oder Hütten sein, sind mir immer die Bewohner das wichtigste; also auch hier. Ich habe nicht außerordentlich viel Sinn für das, was außer dem Menschen ist. Man glaubt wohl mit Recht, daß in keinem Fürstenhause mehr Innigkeit und freundliche Humanität, mehr Güte und wahre Aufklärung herrscht als in der hiesigen kaiserlichen Familie. Selbst der verstorbene Kaiser [739] Paul hatte, wie alle Unparteiische versichern, bei seiner großen Exzentrizität und seinen vielen Mißgriffen eine entschiedene Stimmung dafür und genoß ungeteilt die Liebe der Seinigen. Storch hat, wie Du weißt, die Gärten von Pawlosk beschrieben, und es würde sehr anmaßlich sein, mich nach ihm in eine weitläufige Beschreibung einzulassen. Die Anlagen sind ziemlich groß, die Wälder schön, die Partien mit Geschmack verteilt und die Verzierungen ohne Überladung. Alles, was das Klima erlaubt, hat Fleiß und Aufwand geleistet. Nur schade, daß man nicht mehr und nicht besseres Wasser hat. Als Seltenheit hat man hier noch einige ziemlich hohe italienische Pappeln, die man aber gegen die Strenge der Kälte im Winter in große hölzerne Kasten einschließt und noch mit Stroh verwahrt. Sie sind die einzigen, die ich so hoch nordwärts gesehen habe; ich kann also nicht begreifen, wie Acerbi in Kengis, weit über Torneo oben, italienische Pappeln gesehen hat, er muß sich in der Art geirrt haben. Die Gruppe der Grazien, als das Beste dieser Art im Garten, scheint von Canova zu sein; ich habe es nicht erfahren können, auch von Storch nicht. Wenigstens wüßte ich nicht, wer von den Neueren dieser Zeit noch so etwas hätte machen können.

Im Schlosse war mir das Wichtigste ein kleines Kabinett, in welchem nur vier Gemälde hingen: ein Belisar, ein verlorener Sohn, eine Madonne, vermutlich von Raphael, und ein Bernet. Pauls Familie von Kügelgen, in einem andern Zimmer, wird vielleicht einst ein Familienstück von unschätzbarem Wert sein; die Arbeit des Künstlers verdient schon jetzt großen Beifall. Die Ähnlichkeit ist nach dem Zeugnisse aller, welche die ganze kaiserliche Familie näher kennen, außerordentlich.

[740] Storch ist mir durch seine persönliche Bekanntschaft lieber geworden, als er es vorher in seinen Schriften war. Ich hatte ihn in dem Verdacht der geflissentlichen Verschönerungen; aber er glaubt wirklich mit hohem Enthusiasmus alles, was er sagt; und das macht den ehrlichen Mann, wenn man gegen die Äußerungen moralisch nichts haben kann. Er ist wirklich überzeugt, daß Alexander um sich her die Paradiese schaffen wird, welche die schöne Schwärmerei sieht. Niemand kann das heißer wünschen als ich; niemand wird sich reiner darüber freuen, aber bis jetzt ist es mir noch unmöglich, alle die schönen Sachen mit meinen Augen zu sehen. Die Schwierigkeiten sind ungeheuer. Wenn es ihm gelingt, die überfeinerte Nation in die festen Schranken des Rechts zu setzen, so hat er mehr getan als Peter der Erste.

Vorzüglich merkwürdig war mir in Pawlosk noch die Musik in der Kapelle. Es ist die einzige Kirchenmusik, die ich in meinem Leben gehört habe, die ganz den reinen Charakter des Ernstes, der Würde und der hohen Andacht hatte, die der Religion zukommen. Alle Augenblicke kommen mir bei uns in den Kirchen musikalische Gänge vor, die mich glauben lassen, ich sei in der Oper. Wenn auch vielleicht viele die Kirche für die Oper nehmen, so irren sie doch sehr, wenn sie das Gefühl hier auf die nämliche Art behandelt wissen wollen. Mir ist nichts heiliger als hohe, reine, wahre Religion; und desto heiliger, je seltener ich sie finde. Das Verdienst, die Musik hier zu dem Zwecke der Religion so glücklich gestimmt zu haben, hat ein einziger Mann, dessen Name mir wieder entfallen ist; aber er hat meine Verehrung in einem ebenso hohen Grade als Mozart, den ich für den größten Musikus außer der Kirche halte.

Den andern Tag erhielt ich ein Billet zum Familientheater [741] der Kaiserin, wo zum Geburtstage des Großfürsten Nikolaus eine französische Oper gegeben wurde. Die Schauspieler waren von Petersburg gekommen. Die eklektische Musik war ziemlich mittelmäßig und der Gesang nicht ohne Ausnahme gut. Was mir am meisten wohltat, war die freundliche Mischung des Publikums, wenn man es so nennen kann. Es war nur ein Familienfest, bei dem das ganze kaiserliche Haus zugegen war, mit allen, die amtswegen bei Hofe sein mußten, und überdies so viel anständige Leute, als Gelegenheit hatten, Eingang zu erhalten. Alles hatte das Ansehen des Öffentlichen, bloß die Enge des Platzes beschränkte die Anzahl der Zuschauer. Der Kaiser kam und blieb und ging ohne Wache, kein Bajonett wurde gesehen. Bloß vor der Türe stand der gewöhnliche Posten der Hauspolizei. Das ist gewinnendes Zutrauen.

Nach Gatschina kam ich nicht, weil mir die Zeit fehlte, ob es gleich, nach der Gegend zu urteilen, nebst Peterhof wohl das interessanteste von allen kaiserlichen Lustschlössern sein mag. In Zarsko Selo herrscht wohl die größte Pracht; ein Artikel, von dem ich nicht urteilen kann, da ich selten die gehörige Aufmerksamkeit darauf habe. Für den Künstler ist dieses Schloß noch in der Rücksicht merkwürdig, weil es in einer Art von Portikus fast alles enthält, was die russische Kunst an Kopien und Originalen Gutes geliefert hat. Von der ersten Katharina erbaut und von der zweiten erweitert und bewohnt, ist es vielleicht der merkwürdigste Platz des europäischen Nordens seit einigen Jahrhunderten, man mag die Sache anthropologisch oder politisch nehmen.

Peterhof hat für die Naturliebhaber und sogar für die idyllischen Seelen mehr Reiz, wenn man auch vergißt, daß der größte Mann des Nordens aus der neueren [742] Zeit hier seine Schöpfungen dachte und ausführte. In Rücksicht des Örtlichen würde mir Peterhof weit lieber sein als Versailles, wenn nur die Strenge des Himmels nicht so unerbittlich wäre. Überall trifft man auf eine Stelle, wo Peter der Erste irgendeine Lieblingsanlage hatte, wo er seine ernsthaften Geschäfte trieb und seine Erholungen genoß, wo er seine Flotten in Kronstadt von Tage zu Tage unter seinen eigenen Augen entstehen sah. Hier sieht man seine kleinen Zimmer und folgt darin seinen großen Plänen, die er nicht allein dachte, sondern auch ausführte; ob auch wirklich immer zum Besten der Menschheit und seines eigenen Volks, wäre eine sehr problematische Frage. Dergleichen Dinge fragt immer nur erst die verwegene Nachwelt; die Götter der Gegenwart wagt man mit solchen Kleinigkeiten nicht zu behelligen.

Der wichtigste Überrest von Peters Händen ist wohl das kleine Häuschen in Petersburg an der Newa dem Sommergarten gegenüber, vor welchem auch noch das Boot liegt, das er selbst gebaut haben soll. Ich habe nie ein schöneres Fahrzeug dieser Art gesehen, so richtig und herrlich sind alle Verhältnisse; und es scheint noch so gut zu sein, daß man es mit geringer Mühe wieder flottmachen könnte.

Mit der Eremitage in Petersburg ging es mir wie mit dem Kreml in Moskau. Es wurde gebaut, und alles war eingepackt und verschlossen; ich konnte also die Schätze der Kunst nicht sehen. Und doch wären mir diese vielleicht das Sehenswürdigste in ganz Petersburg gewesen, denn es sollen herrliche Sachen darunter sein, wenn auch nicht so viele Raphaele dabei sind, als der Nationalstolz behauptet. Köhler war so freundlich, als sich nur von einem Freunde der Musen erwarten läßt; aber das Heiligtum blieb doch ein Adyton für mich. Voltaires Bibliothek, die ich hätte sehen [743] können, war mir so wichtig nicht. Ein anderes wäre es gewesen, wenn ich Zeit gehabt hätte, darin zu studieren, da hätte es wohl die Mühe belohnt zu sehen, womit der alte Satyr von Ferney sich vorzüglich beschäftigte.

Die Antiken in dem Taurischen Palast scheinen auch eben nicht zahlreich und ausgezeichnet für diejenigen zu sein, die die Pariser Sammlung und die besten in Italien gesehen haben. In dem großen Gartensaale desselben, von dem aber das Gerücht noch mehr Lärm macht, als es verdient, standen einige gute Sachen, es war aber nicht erlaubt, sie gemächlich näher in Augenschein zu nehmen, da man die Vorbereitung zu einem großen Feste darin machte. Ein Fremder kann wohl schwerlich in den schönen Anlagen des Gartens herumwandeln, ohne sich mit dem sonderbaren Manne zu beschäftigen, der hier eine ziemliche Zeit sein Wesen trieb und so ziemlich der Despot des Nordens war. Es geht Potemkin wie allen eigenen hervorstechenden Charakteren, es gibt einige, die ihn für groß und gut zugleich halten, und andere, die durchaus weder das eine noch das andere an ihm finden wollen. Die letzten irren unstreitig mehr als die ersten. Der Kaiser Paul hatte gar keine Ursache, ihn zu lieben; aber seine Empfindlichkeit gegen ihn ging nachher oft so weit, daß er manches Gute bei der Armee wieder vernichtete, wie es schien, bloß weil es unter Potemkin entstanden war. Potemkin war als Militär ein vortrefflicher Eklektiker, und seine Ordonnanz bestand aus dem Besten, das er von verschiedenen Nationen zusammengelesen hatte. Vieles hatte er von den Schotten, die ohne Widerrede vortreffliche Soldaten sind.

Ein großer Genuß war für mich die herrliche Aufnahme, die ich bei Suchteln fand. Mich deucht, so[744] nimmt sich der Mann von echtem Wert und echter Humanität. Kaum war ich gemeldet, als er mir mit offenen Armen entgegenkam: »Ah, mon cher camarade de malheur, soyez bien venu! A présent nous sommes un peu mieux qu'a Varsovie il y a onze ans.« – »Beaucoup, beaucoup, V. E., grace au ciel!« sagte ich; und er führte mich selbst an den Händen ein und stellte mich der Gesellschaft vor. Du weißt, daß dieses eben nicht meine Eitelkeit ist, aber es tut wohl, wenn man solche Freundlichkeit findet. Bei dem General Igelström in Riga ging es nicht so gut. Ich ließ mich melden, bloß um dem alten Herrn als meinem ehemaligen Chef meine Achtung zu bezeigen, eine andere Absicht konnte ich durchaus nicht haben. Er ließ mich ziemlich lange stehen und mir endlich sagen, er sei krank; wenn er wohl sein werde, wolle er mich sehen. Sein Arzt und sein Neffe hatten mich vorher seines hinlänglichen Wohlseins versichert. Ich ging und kam natürlich nicht wieder, denn ich war nicht hingegangen, um den Hof zu machen. Es war eine Zeit, wo er mir alle Geheimnisse seiner öffentlichen Ämter und seiner Privatverhältnisse anvertraute, ein Vertrauen, das ich nie mißbrauchte, wo ich wochenlang an seinem Bette saß und arbeitete, wo er mich wie einen vertrauten Freund behandelte und sich dann mit meinen Papieren vor der Monarchin rechtfertigte. Ich werde noch immer seinen Charakter gegen jeden verteidigen, denn ich habe nie eine Widerrechtlichkeit an dem Manne gesehen. Jetzt schien er auch zu Hause das Oberkommando nicht mehr zu haben.

Zu meiner wirklich großen Betrübnis erfuhr ich jetzt öffentlich in Petersburg zwei Nachrichten aus meinem Vaterlande, die mich mehr und länger beschäftigten als ich bei meiner isolierten Lage für möglich gehalten hatte. Die eine war der große Brotmangel; die [745] zweite, daß der Kurfürst auf dem Landtage den Gutsbesitzern für einige Bereitwilligkeiten die Freiheit zugestanden habe, die Justitiarien willkürlich abzusetzen. Beides setzte mich in einen Grad von Unruhe, über den ich mir weiter keine Vorwürfe machen will. Ich habe oft und laut gesagt, daß unsere Landesverwaltung so wenig Rücksicht auf möglich eintretenden Mangel nimmt, daß wir bei den ersten Mißwachsjahren wieder in weit drückenderer Not und in weit größerer Hungersgefahr sind, als in den Jahren siebzig des vorigen Säkulums. Nur Geld sucht man zu gewinnen und aufzuschütten, als ob nur allein Geld der Maßstab der Glückseligkeit eines Volks wäre. Mit Friedrichs des Zweiten Tode sind mit frommer Zuversicht fast alle Magazine leer geworden. Diese Frömmigkeit halte ich für sehr gottlos. Der Kurfürst von Sachsen, gewiß einer der gerechtesten und liberalsten Männer von Europa, ist Privatbesitzer von fast dem dritten Teile des Landes und könnte und sollte durch gemessene, humane Bewirtschaftung seiner Güter den Marktpreis des Brots in seiner Gewalt haben. Aber weil man die Pächter hinauftreibt, so hoch man nur treiben kann, kann man ihnen sodann weiter freilich keine Vorschriften über den Verkauf geben, da sie das Quantum erschwingen müssen, so daß unter diesem Vorwande der gröbste Eigennutz ein freies, weites Feld hat. Das Resultat läßt sich ohne große Weisheit berechnen. Den kurfürstlichen Pächtern folgen alle Güterbesitzer und größeren Landleute. Alles, was verkauft, gewinnt freilich Gold, aber der Verkaufenden sind doch immer wenige, und die größere Menge der Kleineren auf dem Lande und in den Städten muß notwendig leiden. Es entsteht dadurch ein gegenseitiges, verhaßtes Schrauben, das traurige Kollisionen herbeiführen kann. Zum Glück [746] war, wie ich bald erfuhr, nach der allgemeinen Sitte des Gerüchts, auch der Brotmangel in meinem Vaterlande in Petersburg übertrieben.

Den zweiten Artikel der Justiz würdigte man selbst in Petersburg öffentlich mit verdienter Strenge. Man arbeitet jetzt hier, eine festere Gerechtigkeit zu schaffen, und fand, daß man auf diese Weise in Sachsen daran arbeitet, sie wieder zu zerstören. Schon, daß ein Privatmann einen Richter, sogar auch in seiner eigenen Sache, einsetzt, ist eben nicht aus den geläutertsten Begriffen über Staat und Gerechtigkeit genommen; daß aber dieser Privatmann diesen Richter auch nach seinem Gutdünken soll absetzen können, führt die Freiheit der deutschen Bauern bald wieder dahin, wo sie jetzt unter den Letten und Esten ist. Wo die Willkür anfängt, hört gewöhnlich das Recht auf. Die Gerichtshalter waren bis jetzt leider schon abhängig genug von den Patronen, nun sind sie so ziemlich ganz ihre Geschöpfe. Es gehört mehr als gewöhnliche Stärke dazu, sich für das Recht eines Dritten der Macht des Reichtums und der Gewalt des Kastenwesens zu widersetzen und dadurch vielleicht sich und seine Familie dem Mangel preiszugeben. Durch diese Äußerung wird an der Rechtlichkeit der höheren Dikasterien nicht gezweifelt, wo sie nicht ausschließlich der Kastengeist in Beschlag genommen hat; aber man müßte die Schikane und Bösartigkeit der Menschen nicht kennen, wenn man sich in ihrer Willkür sicher halten sollte. Diese Maßregel, wenn sie wahr ist, ist unstreitig ein Schritt zu sehr harten Bedrückungen. So urteilten hier laut unbefangene Männer aller Art, und ich trete mit Bedauern ihrem Urteil bei. Gebe der Himmel, daß es anders und besser sein mag, als man hier sagte.

Ein sehr rührender, feierlicher Gang war mir der[747] Besuch in der Festungskirche, wo von dem Stifter der Stadt an die Leichname aller Regenten Rußlands hier im letzten Pompe beisammenliegen. Die Särge stehen ohne Gruft am Tage, ich wandelte vor ihnen auf und ab, las die Inschriften und überlief die ungeheuern Veränderungen, seitdem Peter den Sitz der Herrschaft von der Moskwa hierher trug. Ich bin kein moralischer Empfindler, aber ich konnte mich doch eines Schauers kaum erwehren bei dem Gedanken, daß ich hier unter den Resten der Fürstengröße einer Nation stand, die mit herkulischer Kraft nicht längst aus dem Chaos der Nacht hervortauchte und jetzt in furchtbarer Gährung liegt, was sie werden soll. Ich war schon mehrere Male mit eigenen Gefühlen in dem Michailowschen Palast gewesen, hier stand ich vor dem Sarge Pauls, des guten, verkannten, unglücklichen Mannes, der gewiß einer der liebenswürdigsten Privatmänner gewesen wäre und mit vielen andern unter der Zentnerlast der Krone strauchelte. Nach allem, was ich über den Charakter Pauls erfahren habe, war er gewiß ein Fürst, der das Gute wollte; und ein solcher Mann ist selbst gut. Er war nach meiner Überzeugung, trotz allem, was man vom Gegenteile sagen will, physisch und moralisch krankhaft, alle seine Bilder, kein einziges ohne Interesse und kein einziges ganz unähnlich, sagen das. Er geriet schon bei dem lebhaften Gedanken an Unordnung und Ungerechtigkeit in krampfhafte Bewegungen. Man war der vollkommensten Gerechtigkeit gewiß, sobald er selbst hören und urteilen konnte. Die geistige und körperliche Spannung, die daraus entstehende Mischung von Zärtlichkeit und Härte, das grenzenlose Hingeben und das ängstliche Mißtrauen, und überhaupt viele Widersprüche seiner Natur müssen größtenteils aus den Verhältnissen seiner Jugend erklärt werden. Er hatte die Menschen [748] einmal falsch gegriffen, und nun folgte ein Mißgriff auf den andern; die unglückliche Periode der Zeit wirkte unwiderstehlich mit ein und half den Irrtum letal machen. Hätte er einige Jahre länger gelebt, so hätte die Gefahr bloß eine andere Gestalt gewonnen, und es wäre ein Problem gewesen, welche Partie ein Mann wie er sodann ergriffen hätte. Unparteiische verkennen in vielen Punkten gar nicht die Wohltätigkeit seiner Strenge. Man fürchtete sie und blieb wenigstens aus Furcht vor ihm in den Schranken der Mäßigung. Leider hat es den Anschein, als ob die Milde seines Sohnes der Verwegenheit der kleinen Despoten wieder viel freies Feld ließe. Man spricht wieder laut von neuer, eigenmächtiger Bedrückung der Militäre, von dem Einfluß des Nepotismus in die Justiz, von der auffallenden Schlaffheit und Willkür der Polizei. Man nennt Ort und Zeit und Namen und alle Umstände, wo man mit bestimmten Geldsummen Prozesse bei dem Senate durchsetzt, und wenn man dem glauben darf, was man darüber hier und da von ganz rechtlichen Leuten fast apodiktisch hört, so herrscht in dem höchsten Tribunale eine offene, ehrlose Käuflichkeit, bei der man schaudern möchte. Es kann in unsern Staaten so nur wenig Gerechtigkeit in der Welt sein; und wenn dieses wenige noch dazu für Gold feil ist, so möchte man schon aus Philanthropie sich umsehen, wo der Weg zum Tempel hinausgeht.

Es geht aus der schönen Psychologie hervor, daß der Kaiser Alexander jetzt noch mehr das Ansehen der Milde trägt, denn welche Erscheinung wäre beim Antritt eines jungen Mannes die Austerität eines oft getäuschten, vollendeten Weltkenners? Aber es wird nötig sein, und ich hoffe, dann auch geschehen, daß er mit fester, unerschütterlicher Strenge auf der Ausführung [749] ernster Entschlüsse beharrt. Freundlichkeit und Milde liegt in dem Charakter dieser Jahre und der natürlichen Güte, aber der Regent wird wahrscheinlich oft ernster und unerbittlicher werden müssen, als er und die Guten mit ihm es wünschen und doch erwarten.

Eine der Geschichten des Tages war noch die Verurteilung des Verbrechers von Dago, der, wie bekannt ist, als Seeräuber auf seiner Insel mehrere Jahre den Kakus gespielt und eine Menge Menschen ins Verderben gebracht hatte. Das Leben dieses Mannes in unsern Tagen ist eine Erscheinung, die selbst in der Barbarei der Zeit des Herkules durch Bosheit merkwürdig gewesen wäre. Der Prozeß, der unter Paul angefangen hatte, wurde nun ziemlich langsam betrieben, und schon glaubte man, daß ihn die große Vetterschaft im Senat glimpflich genug durchbringen würde. Wirklich soll auch ein sehr sanftes Urteil schon abgefaßt und zum Vortrag fertig gewesen sein; da habe man zufälligerweise dem Monarchen einen sehr strengen Spruch gegen einen jungen Menschen zur Unterschrift vorgelegt, der für einige hundert Rubel Banknoten gemacht hatte. »Das ist hart, das ist sehr hart«, soll der Kaiser beim Lesen gesagt haben, »ist das so gesetzlich?« »Ja, Ihre Majestät«, sagte der Referent. »Dann kann ich ihm nicht helfen, dem unglücklichen Menschen, aber nun will ich doch sehen, welche Strafe man dem Bösewicht von der Ostsee zusprechen wird?« Der Referent, der den hohen Ernst des Monarchen gesehen, erzählt man, habe es nun nicht gewagt, das Urteil so vorzulegen, und es sei im Senat aus Gründen der Klugheit so geschärft worden, wie es nachher vollzogen worden ist. Ich gebe die Anekdote, wie ich sie von einigen nicht leichtsinnigen Personen gehört habe. Sie könnte wenigstens psychologisch [750] wahr sein und machte dem Herzen des Monarchen Ehre, denn Gnade gegen Bösewichter ist gewiß Ungerechtigkeit.

Wenn man öffentlich von der kaiserlichen Familie redet, rühmt man freiwillig und freudig durchaus von ihr den Charakter der schönen Humanität und der allgemeinen Güte. Nur von dem Großfürsten Konstantin spricht man hier und da mie lauter Mißbilligung; und es gibt sogar Leute, die ihn für schlimm halten. Nach allem, was ich von ihm in Erfahrung habe ziehen können, kann ich dies von ihm nicht glauben, aber es ist auch nicht zu leugnen, daß eine beispiellose, leidenschaftliche Heftigkeit, die an Unbändigkeit grenzen soll, ihm zuweilen das Ansehen großer Verdorbenheit gibt. Er war wegen der Lebhaftigkeit seines Geistes der Liebling seiner Großmutter; und es läßt sich leicht begreifen, wie auch die mütterliche Zärtlichkeit manche Jugendaufwallung weit gelinder sieht als der strengere Beurteiler in öffentlichen Verhältnissen. Seine Familie liebt ihn ohne Ausnahme, ein Beweis, daß er natürliche Güte besitzen muß. Sonst ist sein Mutwille fast grenzenlos und hat ihn zu Schritten verleitet, von denen ich gern die Hälfte auf die Entstellung des Mißvergnügens schreiben will. Es ist sehr traurig, daß der junge, wirklich liebenswürdige, sehr gebildete Mann Gefahr läuft, dem Jugenleichtsinn seinen bessern Charakter aufzuopfern. Die Wirkung ist schon sichtbar. Man flieht seine Nähe, weil man das Spiel seines Mutwillens fürchtet. Die Männer bürden sich bei sich selbst und der Nation eine schwere Verantwortung auf, die sich zu Gefährten und Ausführern seiner jugendlichen Einfälle hergeben. Sie müssen seine Achtung verlieren, sobald er zu ernsthafter Besinnung kommt; und das geschieht gewiß, wenn seine bessere Seele eine ruhige [751] Übersicht der Dinge gewinnt und er selbst das Bedürfnis fühlt, statt des rauschenden Beifalls der Schwärmer die Liebe und reine Achtung der Vernünftigen zu besitzen. Ich habe ihn nur ein einziges Mal ganz in der Nähe gesehen, wo er seine Befehle einem Offizier auf eine so ungestüme, für das Publikum so wenig schickliche Weise gab, daß ich an der Stelle des Offiziers den andern Morgen gewiß meinen Abschied gefordert hätte. Öffentliche Achtung ist das heiligste Unterpfand zwischen Männern von Ehre.

Der botanische Garten der Akademie wird jetzt besser gehalten als ehemals, und der Gärtner scheint ein wackerer, tätiger Mann zu sein, der in seinem Garten und seinem Linné zu Hause ist. Eine eigene Art von Ökonomie, die mir bei der reichen Akademie gar sonderbar vorkommt, ist, daß man die größere Hälfte des Gartenbodens an Gemüsekrämer verpachtet hat und dadurch die Wissenschaft, für die er bestimmt ist, auf ein ziemlich kleines Plätzchen einschließt, und dieser Pacht ist sogar noch unter Alexander verlängert worden, wie ich höre.

Ich war, wie Dir bekannt, halb und halb mit der Absicht ausgegangen, hier Zutritt bei dem Kaiser zu suchen und ihn um einen kleinen Jahrgehalt zu bitten, den ich verdient zu haben glaube und mit Selbstgefühl erwarten könnte. Schon unterwegs hatte ich den Gedanken ziemlich aufgegeben, und hier fand ich den Monarchen durch die kritische Lage der öffentlichen Angelegenheiten so sehr von wichtigen, auf keine Weise angenehmen Geschäften belagert, daß es mir nicht einfiel, einen Schritt deswegen zu tun. Es würde mir vielleicht so schwer nicht geworden sein, aber bei genauerer Prüfung fand ich, daß es doch wohl besser sei, aus eigenen Kräften durch mich so lange als möglich allein zu leben. Es ist für meine Art, zu sein und[752] zu denken, besser; ob ich meiner gleich so gewiß bin, daß mich kein Gold und kein Glanz der Erde zu irgendeiner Meinung bestechen würde.

Seit einigen Tagen ist der Gegenstand der allgemeinen Unterhaltung die Besetzung und Einverleibung von Genua und die Zurückberufung des Gesandten, der zur Beilegung der Streitigkeiten nach Paris gehen sollte. Das wird nun wohl die Eröffnung zu einem neuen Trauerspiele werden. Konsequent sind die Schritte der Franzosen, da sie ihre Stärke von dieser Seite und die Schwäche ihrer Nachbaren kennen. Von Gerechtigkeit ist die Frage nicht; die kommt gewöhnlich in Völkerverhältnissen wenig in Betrachtung und hat die Gefälligkeit, ihre wächserne Nase zu drehen, wohin die Bajonette wollen. Etwas gefällt mir doch bei der ganzen Sache, der Korse hat sein Vaterländchen königlich gerächt an den neuen und an den alten Unterdrückern; und so jämmerlich ist der Geist der Zeit, daß man noch alles für Wohltat halten muß.

Jetzt lief ich die Blätter meines Taschenbuchs durch und kann mich nicht enthalten, Dir ein kleines Krönungsgedicht mitzuteilen, wofür ich wohl schwerlich Ring oder Belobungsschreiben bekommen werde, das ich aber als meine unmaßgebliche Meinung eben weiter nicht ängstlich verbergen will. Die Verse lauten mit ihrer kurzen Übersicht der Sache so:


Der Bourbonide fiel durchs Beil
Und ließ zu seines Namens Rache
Der Nation entweihte Sache
Den Kühnsten im Verbrechen feil;
Schnell rief die Wut mit Hohngelache
Im Sturm entfernten Völkern Heil
Und überzog sie wie ein Drache
[753]
Mit neuer Knechtschaft Geißelseil.
Man tönte hoch die hehren Namen
Von Freiheit und Gerechtigkeit;
Und alle, die zu nahe kamen,
Sahn in des Himmels schönem Samen
Der Hölle Unkraut ausgestreut
Und bebten vor der Folgezeit.
Man drohte rundumher den Thronen,
Als bräch' ihr Weltgericht herein;
Und baute Konstitutionen,
Und riß sie trümmernd wieder ein;
Und predigte mit Legionen
Des neuen Glückes Litanein,
Und dezimierte Nationen
Ins herrliche System hinein.
Man ließ das Volk laternisieren,
Guillotinieren, septembrieren,
Durch Teufen es iniziieren,
Zur Freiheit es zu sublimieren;
Und die Verstockten zu kastein
Mit kurzer Hand sie kayennieren;
Und es erschienen lange Reihen
Verfassungen, auf schlechte schlechte,
Und immer kam noch nicht die rechte.
Nun holte man den Papst mit seiner Zunft
Den Erzhatschier der Unvernunft
Den Korsen unbedingt und rein
Zum Autokrator einzuweihn,
Und mit des Glaubens Nebelschein
Zum leidenden Gehorsam alle Frommen,
Die scharenweis zur Benedeiung kommen,
Von Licht und Freiheit zu befrein,
Das wird nun wohl die rechte sein.

[754] »Le peuple n'est rien pour qui le sait mener.« Er beweist sogleich die Wahrheit seines Satzes durch sein eigenes Beispiel, in der Tat ein großes Beispiel, das dem Menschenverstande wieder ein schweres Urteil schreibt. »Ich werde euch diesem oder jenem Fürsten geben!« soll er den Abgeordneten der Reichsstädte auf ihre demütige Vorstellung geantwortet haben. In einem solchen Grade wäre der Nation und ihren Fürsten noch nie Hohn gesprochen worden. Der Geber, die Gegebenen und die Nehmenden stehen alle in eigenem Lichte. Mir fällt dabei eine Stelle aus dem Plutarch ein, wo Metellus, der Volkstribun, sich vor die Türe des Ärariums stellte, als es Cäsar zu seinem Kriege gegen den Senat brauchen wollte. Der Patriot weigerte sich durchaus, sich zu entfernen, bis ihn der Cäsarianer hinwegriß. »Bedenke doch«, sagte Cäsar zu ihm, »daß es mir weit schwerer wird, Dir etwas Hartes zu sagen als zu tun.« Etwas Hartes gegen jemand tun, war damals ein gewöhnlicher Euphemismus für das Beil des Liktors oder einen Sikar. Ich konnte mich nicht enthalten, unwillkührlich die Parallele zu ziehen. Bonaparte scheinen die harten Worte nicht so schwer zu werden. Ich schätze den wirklich großen Mann so hoch als irgendeiner; aber ich kann ihn unmöglich lieben, denn ich halte ihn weder für rein liberal noch gerecht. Er hat mir in sich selbst das schönste Ideal meines Lebens zerstört, und ich bin so stolz zu glauben, meine Ideale sind nicht das Produkt eines spielenden, müßigen Gehirns. Das Schicksal hat ihm zwei Namen gegeben, einen schönen und einen furchtbaren. Den schönen trug er in seiner schönen Zeit; jetzt hat er ihn weggelegt und nur den furchtbaren behalten. Aber die Ewigkeit Bonapartes, des Retters, wird trotz der angestaunten Größe gewiß besser und schöner sein als Napoleons, des Löwen [755] der Bergschlucht. Ich will für mich immer lieber den schönen Namen behalten; Furcht ist quälend und soll nicht in meiner Seele wohnen, den schrecklichen überlasse ich gern den Diplomatikern.

Sippola, den 28. Juli

Ich wette hier mein bestes Stück Lachs aus der Woxa und einen ganzen Korb voll Mamurami, Du weißt nicht, in welchem Winkel der Erde Sippola liegt; und weder Büsching noch Schlözer noch Gaspari können Dir helfen. Höre also, Sippola ist ein gar feines Dörfchen in dem nordischen Paradiese der Lappen, Russisch-Finnland, etwas aus dem Wege nordwärts, zwischen Wilmanstrand und Friedrichsham. Die Länge und die Breite habe ich nicht gemessen, ich kann Dir also nur davon sagen, daß herrliche Beeren da wachsen, daß das Korn noch hohe Wellen schlägt, und daß man sich ein noch ziemlich idyllisches Haberrohr schneiden kann, welches mehr ist, als Du vielleicht in der Nachbarschaft der Lappen vermutest.

Von den Theatern habe ich in Petersburg nur noch das italienische gesehen, welches auch wohl das beste ist. Es war ein Sänger dabei, wie ich ihn wohl noch nie gehört habe. Indes er soll jährlich vierzehntausend Rubel erhalten; dafür läßt sich auch etwas Klarheit und Stärke und Wendung in der Stimme erwarten. Die Deutschen habe ich nicht gesehen, weil alle meine Freunde einstimmig erklärten, daß sie nicht viel Gescheites nicht sehr gescheit gäben. Miré verlor eben wegen seiner Unordnung das Direktorium, nun hofft man von dem neuen Unternehmer als einem Manne von Kenntnissen und Geschmack etwas Besseres. Die Russen sah ich nicht, weil ich bald hier, [756] bald da war und immer die Zeit versah. Es tut mir jetzt ein wenig leid, denn sie sollen treffliche Mimiker sein und einige Nationalstücke mit viel Geist und Leben aufführen.

Herr Pinnow versah mich zum Abschied freundschaftlich mit einigen guten Mitteln gegen schlechtes Wasser, und eine Gesellschaft begleitete mich in einigen Wagen bis Pergola, wo ich mit einer eigenen, sehr gemischten Empfindung das letzte Abendmahl mit meinen dortigen Freunden hielt. Ich denke immer mit dem unbekannten Etwas, das man Herz nennt, längst abgeschlossen zu haben; und aller Augenblicke spielt mir der Kobold noch einen Streich. Das kleine, herrliche Feuerwerk, das einige Offiziere zufällig ihrem General dort zum Geburtstage gaben, half mir über die trübe Stimmung der letzten Stunden hinweg. Wer weiß, ob ich je die guten Leute hier wiedersehe, die mich so brüderlich aufgenommen haben. Die Wagen rollten spät nach Petersburg zurück; ich packte die Proviantxenien der nordischen Hospitalität in meinen Reisesack und quartierte mich noch an der Hand der letzten Begleiter bei einem wildfremden Finnen ein. Meine Seele war voll Bewegung, die Stube war im Juli geheizt und voll Rauch; alle Augenblicke glaubte ich ein Dutzend Tarakanen zu hören und schlief – so gut nicht, wie gewöhnlich. Es war überdies jetzt noch die Zeit, wo es in dieser nördlichen Höhe ewig nicht Nacht werden will; und es kommt mir vor, als habe ich etwas von der Idiosynkrasie, daß ich nur die Nacht recht gut schlafen kann. Die Nächte sind aber dort in dieser Zeit so tagähnlich, daß wir in Petersburg um zwölf Uhr die Mitternacht im Garten ohne Licht einander ohne Schwierigkeit die Hamburger Zeitungen vorgelesen haben. »Trans Svionas«, sagte Tacitus, »aliud mare pigrum ac prope immotum, quo cingi [757] cludique terrarum orbem hinc fidas, quod extremus cadentis iam solis fulgor in ortus edurat, adeo clarus, ut sidera hebetet.« So sehr verdunkelt er sie, daß ich Myops gar keine Sterne gesehen habe. Die Abendröte fließt mit der Morgenröte zusammen. Die ersten Nächte kam mir das recht angenehm vor; aber mein Auge ward des immerdauernden Lichts bald müde und vermißte die schöne Abwechselung der vaterländischen Sommernächte.

Den andern Morgen wandelte ich nun gutes Mutes, links bei der alten Schanze vorbei, immer die Straße fort nach Wiburg zu. Die drei Tage von Petersburg nach Wiburg, zwanzig Meilen, wurden mir sehr schwer, denn es war unerträglich heiß. Der Schweiß troff mir vom Schädel mehr als irgend jemals, als ich mit dem Bataillon mehrere Stunden unter dem Gewehr stand und nach der Trommel mit Händen und Füßen arbeitete. Das Newawasser wollte mir in Petersburg durchaus nicht behagen, ich mochte versuchen, soviel ich wollte. Es ist rein und hell wie Kristall, aber über alle Begriffe weich, und ich bin immer an hartes Wasser gewöhnt gewesen. Die feineren Biere sind zu stark, und die übrigen fast alle mit schlechten Kräutern angemacht, vorzüglich mit wildem Rosmarin. Das Physikat sollte billig auf diesen Artikel der medizinischen Polizei mehr Aufmerksamkeit wenden. Meine Zuflucht waren also die verschiedenen Arten von Quas, oder Wein zu Wasser, wo ich Quas oder Kißlestschie nicht haben konnte. Nun hatte ich mich auf das finnländische Wasser gefreut, denn ich wußte, Finnland sei gebirgig, und glaubte deswegen von vorn schließen zu können, wo Berge wären, müßte vieles und gutes Wasser sein. Da hatte ich mich nun aber sehr geirrt. Denn obgleich ganz Finnland fast nur eine große, fortlaufende Granitschicht[758] ist, so ist doch das Wasser höchst selten. Ich habe die zwanzig Meilen von Petersburg bis Wiburg nur einen einzigen, kleinen, guten Bach, und nur einige Werste vor der Stadt selbst einige sehr schöne, reiche Quellen gefunden. Die letzten waren für mich eine wahre Nektarschwelgerei. Die übrigen Flüsse kommen alle aus Sümpfen und haben rotes, faules, ekelerregendes Wasser. Der Granit ist vielleicht zu hart, um Regenwasser einzunehmen und es geläutert in Quellen weiterzufördern. Es läuft alles sogleich in die Moorgegenden herab, wo es noch mehr verdirbt und fast ganz unbrauchbar wird. Ich habe zuweilen stundenlang geschwitzt und gearbeitet und lechzend gedurstet. Zuweilen mußte ich mich doch entschließen, ein Verbesserungsmittel bei dem blutroten Wasser anzubringen und sodann mit zugehaltener Nase zu trinken, ebenso wie ehemals auf den englischen Transportschiffen. Ich lief einmal wohl eine halbe Stunde in einer Bergschlucht lechzend herum, in der Voraussetzung, der Lokalität nach müsse hier durchaus Wasser sein, denn ein alter Wanderer kann, wie Moses und Alexander, so etwas sogleich aus der Lage sagen, ohne deswegen eben förmliche Ansprüche auf das Prophetenwesen zu machen. Endlich fand ich auch wirklich ein Quellchen unter einem hohlen Baumstamme und war froher, als ob mir der Vesuv alle seine frommen Tränen und Epernay alle seine Rebhühneraugen gegeben hätte.

In Wiburg zog ich, nachdem ich meine Polizeisachen abgemacht hatte, in dem italienischen Gasthause ein. Niemand war zu Hause als ein kleines Mädchen von ungefähr sechs Jahren, die mich erst furchtsam, dann ängstlich, dann schluchzend ansah und endlich laut zu weinen anfing. »Es ist niemand zu Hause«, sagte sie; »mein Vater ist in Petersburg, [759] meine Mutter ist ausgegangen; Sie sollen nicht hierbleiben, Sie dürfen nicht hierbleiben.« Weiß der liebe Himmel, was ich für einen verdammten Gesichtswurf haben muß; es ist mir oft so begegnet, und je freundlicher ich hier das Mädchen anzusehen glaubte, desto heftiger weinte sie. Ich legte ruhig meinen Tornister ins Billardzimmer, gab dem Träger sein Trinkgeld und wartete, was kommen würde. Da kam denn auf das Weinen der Kleinen ein großes Mädchen, eine Art von Aufwärterin, die mir auf mein Anbringen ganz freundlich sogleich ein ziemlich gutes Zimmer anwies, welches mir nach einem dreitägigen Fußzuge durch die Wüste Berseba, ohne alle Bequemlichkeit, bei schlechtem Wasser und schlechtem Brote, sehr gemütlich war. Von Pergola aus ist Krasno Selo, ein anderes als bei Petersburg auf der andern Seite, der einzige Ort, den man noch mit Ehren ein Dorf nennen kann, die andern sind meistens nur einzelne, zerstreute Hütten. In Krasno Selo, wo ich gegen Abend eintraf, war alles in Lärm und Aufruhr, nicht etwa wegen Revolution, sondern weil sich eben ein Bär in der Nähe hatte sehen lassen; und alles griff zur Flinte und Spieß und Stange, um den zottigen Gast zu bewillkommen. Zwei Soldaten sangen mich auf, mit ihnen noch einige Werste bis Nowa Derebna (Neudorf) zu gehen. Hier war denn neben einer Kabacke auch ein Traiteur; das klang gar fein, und ich fand wirklich auch ein Zimmer, das für Finnland hell und freundlich genug war. In Estland auf dem Lande wäre es ein Louvre gewesen. Nachdem ich die Soldaten mit Eierkuchen bewirtet und in die Kabacke abgefertiget hatte, legte ich mich ruhig schlafen unter einen Schafpelz, der dort auf einer Matratze lag, wie ich glaubte zu meinem Behuf. Zuschließen konnte ich nicht, denn man ist hier sehr patriarchalisch und hat kein Schloß [760] vor den Türen. Ich mochte schon einige Stunden geschlafen haben, da zupfte mich ein Kerl für einen Finnen freundlich genug an dem Arme. »Was willst Du, Freund?« fragte ich Russisch. »Ich will hier schlafen«; war die Antwort. »Aber ich schlafe schon.« »Aber es ist mein Bett«, sagte der Kerl. Was war zu tun? Wir mußten wohl freundschaftlich teilen. Ich überließ ihm die Matratze, nahm den Schafpelz und quartierte mich in einem andern Winkel fest auf dem Boden nachdem ich mir gegen die feindlichen Tarakanen gehörig die Ohren verbunden hatte. Die Tarakanen sind nämlich die nordischen Taranteln, eine Art von Insekt, vor dem man sich gewaltig fürchtet; nämlich die feine Welt, der gemeine Mann achtet es nicht sehr. Eine größere Species davon nennt man Prussaky, Preußen, und ist der festen Meinung, diese seien erst im Siebenjährigen Kriege mit der Armee von dort gekommen. Die Erzählungen davon sind abenteuerlich und unterhaltend genug. Den andern Morgen hatte ich bei der Bezahlung nur Silber, und meine alte Wirtin wollte den Rubel nur zu achtzehn Kopeken Agio annehmen; und da ich so gutwillig war, gab sie mir endlich gar nur zehn, mit der Versicherung, sie habe kein Kupfer mehr, und der Rubel gebe hier überhaupt nur fünfzehn Kopeken. Das freute mich, wenn auch die Frau log, wie ich gar nicht zweifle. Der Kaiser Paul wollte es mit Strenge und Ukasen zwingen, und das Papier ward immer schlechter. Der Kaiser Alexander läßt die Sache gehen und führt Wirtschaftlichkeit ein; und das Papier verliert nun schon nicht mehr als 25 Prozent. In Moskau und der dortigen Gegend sieht man fast lauter Silber und wenig Papier aber das Papier steht dort ebenso wie in Petersburg. Mich wundert die Ausprägung des Kupfers in Rußland, denn es ist so wohlfeil ausgemünzt, daß man[761] überall viel Mühe hat zu verhindern, daß es die Kupferschmiede nicht wieder verarbeiten. Es könnte mit weit mehr Vorteil verkauft werden, als es geprägt wird. Den Grund dieses Verfahrens kann ich nicht begreifen. Anderwärts ist man mit der Kupfermünze aufmerksamer und weiß den Gewinn besser zu berechnen. Vielleicht ist es in den russischen Münzstädten tiefer im Reiche so wohlfeil, daß man es aus Billigkeit nicht anders schlagen will.

Ich war den andern Morgen in Wiburg noch nicht aufgestanden, als mich schon Herr Tappe, Professor am neu errichteten Gymnasium, aufsuchte und in seine Behausung führte. Da ich mir vorgenommen hatte, einige Tage in Wiburg zu bleiben und meine Füße, die ich mir in der Hitze wundgelaufen hatte, etwas ruhen zu lassen, nahm ich sein Anerbieten mit Vergnügen an und pilgerte bei einem Bruder in Apollo ein. Wiburg, das ehemals meistens nur von Holz war, ist seit dem letzten Brande fast ohne Ausnahme von Stein wieder aufgebaut worden und hat eine ganz artige Lokalität. Es liegt von allen Seiten ziemlich angenehm, ist klein und nett und empfahl sich bei mir sogleich durch sein gutes Brunnenwasser. Der Eingang zur See durch die Scheeren bis in die Stadt muß nicht ohne Schwierigkeit sein; aber desto sicherer ist sodann der Hafen. Der Handel hat sehr abgenommen, seitdem die Krone das Holzfällen und Brettschneiden einschränkt. Diese Maßregel scheint aber auch ziemlich nötig zu sein, denn ich habe auf meinem ganzen Wege nur sehr wenig Baustämme gesehen. Das jetzige Holz ist alles klein und schwach. Worüber man sich aber bei der Einschränkung am meisten, und vielleicht nicht ganz ohne Grund, beklagt, ist, daß man überall noch den vollen Mühlenzins bezahlen muß, ob man gleich an den meisten [762] Orten gar keine Bretter schneiden darf. Einen eigenen Handelszweig, den ich, Überall für gute Finanzerei, aber schlechte Staatsökonomie halte, fast ebenso wie den Tabak, ist der Cichorienkoffee. Der hiesige preußische Konsul, Herr Hartmann, wenn ich nicht irre, hat den Anbau dieser Pflanze seit einiger Zeit mit aller Anstrengung betrieben und das Produkt für sich mit großem Vorteil in Umsatz gebracht. Ich weiß nicht, ob der Boden nicht weit besser Korn und Kartoffeln gäbe, zumal da der Brotmangel hier nicht selten und tragbare Erde eben nicht sehr im Überfluß ist. Was möchten wohl die Koryphäen der schönen, griechischen Galanterie aus der goldenen Zeit, Aspasia, Alcibiades und Aristipp, dazu sagen, wenn man sie mit dem schwarzbraunen Tranke bewirtete? Mich deucht schier, wenn sie es nicht für eine verdorbene Suppe vom Eurotas hielten, sie würden glauben, Charon habe eine Probe vom Kozyt heraufgeschickt.

Der reichste Gelehrte von Profession auf dem festen Europa ist jetzt wohl der Dichter und Redner Nikolai, der sich von Petersburg hierher gezogen hat, um die Jahre der Ruhe so philosophisch als möglich zu genießen. Monrepos, ein Gut ganz nahe vor dem Tore der Stadt, das er besitzt und bewohnt, ist vielleicht das lieblichste Plätzchen, das man im ganzen Norden einige Grade auf und ab finden kann. Die Natur scheint es zum Feenaufenthalt irgendeines freundlichen Agathodämons gemacht zu haben; und es hat seit einigen Jahren unter dem jetzigen Besitzer an Verschönerungen aller Art unendlich gewonnen. Der Eigentümer lebt darauf mit nordischer Liberalität und genießt die Achtung der ganzen Gegend; und es ist kein kleines Vergnügen, einen Mann, wie er ist, über die literarischen und politischen Erscheinungen des Nordens sprechen zu hören.

[763] Von hier aus machte ich eine kleine Ausflucht, den Wasserfall bei Imatra zu sehen wo sich die Woxa über eine halbe Werste lang, hier und da furchtbar steil, durch ein enges Granitbett herabreißt. Die Erscheinung ist einzig in ihrer Art und machte ein betäubendes Geräusch, mehr, als ich bei Schafhausen und Terni gefunden habe, obgleich das Wasser jetzt noch sehr niedrig stand. Die Woxa hat hier an Masse ungefähr soviel als die Elbe bei Außig, ob sie gleich etwas breiter ist. Die Saima, aus welcher sie und mehrere Abteilungen des Kymen kommen, ist ein Mittelding von See und Fluß, mit vielen Gruppen malerischer Inseln besät, die besonders bei Wilmanstrand eine Aussicht machen, die einer Schweizergegend gar nichts nachgibt. Ihr Ursprung soll noch nicht gehörig bekannt sein; ganz oben wohnen Lappen, und sie soll aus den ganz nördlichen Gegenden von Norwegen herunterkommen. Ihr Wasser ist außerordentlich klar und rein, aber ganz weich wie das Newawasser, kein Wunder, da es durch den Ladoga die Newa mit bilden hilft. Unten am Einfluß in den Ladoga sind noch einige Wasserfälle, aber nicht von Bedeutung, wie hier bei Imatra. Ich blieb mit meinem Gefährten, Herrn Purgold bei dem Gymnasium in Wiburg, einem wackern, talentvollen jungen Manne, nicht weit vom Falle am Ufer des Flusses die Nacht und ging den andern Tag über Wilmanstrand zurück.

Alle Städte hier im russischen Finnland sind Festungen, und das Land gewinnt dadurch überall ein ziemlich kriegerisches Ansehen, wohl mehr, als gut ist. Die Finnen sind verhältnismäßig zu ihren Stammbrüdern, den Esten jenseits des Meerbusens, eine offene, feine, wackere Nation, deren Charakter aber freilich nicht ausgezeichnete Energie ist. Das Land hat durchaus seit der russischen Besitznehmung eher verloren [764] als gewonnen, ein Phänomen, das sich leicht erklären läßt. Dessen ungeachtet herrscht in Vergleichung mit den Esten und Letten hier noch ein Grad von Kultur und persönlichem Wohlstand, den man auf dem Lande an der Düna und der Embach vergebens sucht. Der Landmann wird wahrscheinlich dort durch alle wohltätig scheinende und wirklich so gemeinte Verordnungen der Regierung wenig gewinnen, so wie er hier in Gefahr ist, täglich immer mehr zu verlieren. Von der Eigenmacht und der Bedrückung der kaiserlichen Beamten und der größeren Machthaber erzählt man auch hier überall empörende Beispiele, mit allen nötigen Belegen und Beweisen. Katharina die Zweite hatte die finnischen Bauern stets in Verdacht, daß sie heimlich Schwedisch gesinnt wären. Das ist nun wohl kein Wunder, da sie der willkürlichen Bedrückung so sehr preisgegeben werden. In Schweden herrscht Humanität, und es geht gut; hier will man mit der Peitsche treiben, und es geht schlecht. So wurde einem Bauer vor einiger Zeit ohne Schonung durchaus kein Aufschub der Frohnarbeit gegeben, ob er gleich – nur seinen Vater begraben wollte. Ärger kann man wohl kaum die Menschlichkeit mit Füßen treten. So wenig vermag selbst ein Fürst, der ein Genius des Wohlwollens ist.

Hier in Sippola stehe ich auf einer Felsenspitze und überschaue unter mir im Tale vier kleine Seen, deren Ufer mit kleinen Dörfern und Wiesen und wogenden Fruchtfeldern umzogen sind.

Finnland ist eine ungeheuere Granitschicht, zwischen welcher sich hier und da schöne, fruchtbare, bebaute Niederungen hinziehen. Das soll so fortgehen bis an den Bottnischen Meerbusen, nur sind die Schweden aus politischen und psychologischen Gründen ordentlicher und fleißiger. Das Land hier herum ist [765] das Land der Beeren, deren es eine Menge bekannte und unbekanntere hat. Unter die letzten gehören die oben erwähnten Mamurami, eine Art kleiner, rötlicher Beeren, die wegen ihrer aromatischen Natur berühmt sind, für die nordischen Ananas gelten und von den Schmeckern der Residenz häufig in Anspruch genommen werden. Sie wachsen nur erst wieder in Sibirien, und die Russen nennen sie vorzugsweise Knäschniky, Fürstenbeeren. Du begreifst also wohl, daß sie etwas mehr als gewöhnliche Brombeeren sind, zu denen sie übrigens gehören. Mein Wirt, der Hofrat Dähn, Schulinspektor des Friedrichshamer Kreises, ein freundlicher, sehr unterrichteter Mann, tut alles Mögliche, seinen Gast zufriedenzustellen; und ob ich es bin, dach mag Dir meine Genüglichkeit sagen.

Morgen pilgere ich über Friedrichsham nach dem neuen Kymengorod und so weiter über Aberfors nach Abo und Upsala, um doch wenigstens den Saal zu sehen, wo Linne lehrte.

Unserm Werner in Freiberg bringe ich ein Stück roten Quarz aus Finnland mit, der hier für eine Seltenheit gilt, ob er es wirklich ist, mögen Kenner bestimmen. Der Generalgouverneur Mayendorf, dessen Gemahlin man in unserm Vaterlande während ihres dortigen Besuchs nach Verdienst zu schätzen nicht unterlassen hat, schickt es durch mich als ein Zeichen der Achtung und Erkenntlichkeit und ist gesonnen, der hiesigen Seltenheiten noch mehr zu senden.

Jetzt studiere ich zu meiner Durchreise Schwedisch, wie ein Schwede. Zu Ende des Oktobers längstens bin ich wieder im guten Vaterlande, das bei allem, was man wohl anders wünscht, doch noch ein sehr freundliches Stückchen Erde ist. Gruß und Kuß und Freundschaft.

[766]

Abo, den 5. August

Die Zeit der Dichtung ist vorbei,
Die Wirklichkeit ist angekommen
Und hat des Lebens schönen Mai
Unwiederbringlich weggenommen.
Dem Geiste Dank, der mit mir war,
Daß mich mein Traum nicht weit entfernte;
So leb' ich ruhig nun das Jahr,
Wo Vater Cato Griechisch lernte.
Sonst hatt' ich noch den hohen Mut,
Trotz den Hyänen und den Wölfen,
Und wollt' in meines Eifers Glut
Die Erde mit verbessern helfen:
Jetzt seh ich die Verworfenheit,
Womit sich alle knechtisch schrauben,
Und lasse sie auf lange Zeit
Der Geißel und dem Aberglauben.
Wohl war es eine schöne Zeit,
Wo mich ein Götterfeuer wärmte,
Daß ich bis zur Vermessenheit
Für Schönes und für Gutes schwärmte.
Jetzt hat der Blick rund um mich her
Die heißern Flammen abgekühlet,
Daß meine Seele sich nunmehr
Nur stiller denkt und leiser fühlet.
Ich habe manche Mitternacht
Mit glühend zehrenden Gedanken
Der großen Rettung nachgedacht;
Nur hat mein Auge seine Schranken.
Man hat die himmlische Vernunft
Blasphemisch in den Kot getreten,
[767]
Und läßt der alten Gauklerzunft
Neu aufgelegten Unsinn beten.
Die schändlichste Pleonexie
Mit Kastengeist und Übermute
Zerstöret alle Harmonie
Und tötet schleichend alles Gute.
Und diese sind, spricht Cäsars Knecht,
Uns unaustilgbar eingegraben;
Da hat die Sklavenseele Recht,
Doch nur für sich und ihre Raben.
Die Pergamente streuen Staub
Anathematisch in die Augen;
Des Dolches Spitze trifft den Raub,
Und läßt dann die Harpyen saugen;
Die Frömmelei lügt für Gewinn,
Der Geldsack drückt nach allen Seiten;
Der Witzler quält den Menschensinn
Und preist die Schande seiner Zeiten.
Nichts gleicht des einen Gaunerei,
Als nur die Dummheit eines andern;
Bei dieser darf er kühn und frei
In seinem Nebelnimbus wandern.
Der Bonze brummt, der Zwingherr braust,
Der arme Sünder kniet und beichtet
Und folgt dem Rauchfaß und der Faust
Und wird begnadigt und erleuchtet.
Man raubet dieses Lebens Lohn
Mit Molochsblick und blankem Eisen
Und will mit Spottreligion
Nur in das andere verweisen
So spricht man dem Verstande Hohn;
[768]
Doch sprächen tausend Priesterzungen
Mit ihrer Salbung schwerem Ton,
Es blieben Gotteslästerungen.
Verzeih mir, Freund, ich glaube gar,
Daß ist oft wieder jünger werde.
Der Rückfall kommt zuweilen zwar,
Doch heilt ein Blick auf unsre Erde.
Ich bin zufrieden, daß ich mich
Für mich auf meinem Standpunkt halte;
Ein jeder tue das für sich;
Im ganzen bleibt es wohl das Alte.
Wer blickte mit Besonnenheit
Umher in unsrer Weltgeschichte,
Ganz ohne Furcht, daß nicht im Streit
Ein Dämon ihm den Mut vernichte?
Das Urteil drängt sich mächtig ein,
Als wärs vom Schicksal zugeschworen:
Der Mensch vielleicht kann weise sein;
Allein die Menschen bleiben Toren.

Wie kam es nun zu dieser grämlichen Stimmung in Abo? Recht deutlich weiß ich das wohl selbst nicht. Ich durchlief so ganz einsam die Geschichte meiner Erfahrungen, sah rückwärts und vorwärts, glaubte kalt zu sein und ward warm; und die Verse lagen da, ehe ich recht aufblickte. Ich nehme sie bei fernerer Überlegung nicht zurück, gebe sie Dir hin, und Du magst damit machen, was Du willst. Die Schweden sind eben nicht schuld daran, denn ich bin mit ihnen bis jetzt recht wohlzufrieden. Im Gegenteil, es gefällt mir hier so wohl, daß ich glaube, wenn ich ein reicher Mann wäre, ich würde wenigstens einige Jahre bei ihnen herumreisen.

[769] Ich knüpfe Dir den Faden meiner Wanderungen wieder an. Von Sippola ging ich zurück nach Friedrichsham in die große Straße und zog nach einer guten Mahlzeit zu Fuße weiter. Es kommt mir vor, als ob alle russische Städte in Finnland mehr sänken als stiegen, ohne daß das flache Land gewinnt; ein sicheres Kennzeichen, daß man es verkehrt angreift. In Schweden ist zur Freude eines jeden rechtlichen Mannes überall das Gegenteil. Sklaverei und Leibeigenschaft sind der politische Mehltau, in welchem alles verdorrt, und durch den nur die moralischen Fliegenschwämme wachsen. Die Gegend, die man freilich etwas voreilig mit der Schweiz vergleicht, ist überall freundlich und angenehm; und ich habe keine einzige Stelle gefunden, wo mein Gefühl mit dem Gedanken zurückgefahren wäre, hier ist es traurig, hier möchte ich nicht wohnen; welches doch wohl in Deutschland einige Male der Fall gewesen ist.

Einige Werste vor der Festungsstadt Kymengorod macht ein starker Arm des Kymen einen schönen Wasserfall, wo der Fluß in einer schön gruppierten Gegend, nicht weit von einer Kirche, durch drei Felsenengen viele Klaftern herabstürzt. Die Umgebungen sind sehr malerisch, und in der Schweiz würde der Ort berühmt genug sein. In Kymengorod sind die Schanzen und militärischen Arbeiten schon weit gediehen; aber die Stadt selbst hat noch wenig gewonnen, man kann so eben nur sagen, es ist ein Anfang gemacht. Jenseit des Wassers ist etwas mehr geschehen. Mir kommt die Lage der Festung doch etwas bedenklich vor; denn es ist nicht weit davon eine Felsenhöhle, von der man sie ziemlich wird ängstigen können, und diese Anhöhe selbst ist wegen der Umgebungen auch nicht sehr haltbar. Doch wenn die Stadt nur gedeiht, kann man die Festung leicht entbehren, und die besten [770] Verteidigungen sind immer wackere Leute, die mit der Bajonettspitze draußen tapfer das Feld halten.

Ein junger Mann, der spazieren ging, ein Offizier aus der Festung, gesellte sich am Flusse zu mir und fragte freundlich, woher und wohin. Mein Aufzug und meine Sprache mochten ihm gleich fremd vorkommen, denn ich spreche das Russische schlecht und das Finnische gar nicht. Das nämliche war sein Fall mit dem Französischen und Deutschen. Ein Wort gab das andere, und ich fragte, ob Suchteln schon angekommen wäre? Er wußte gar nicht, daß er kommen wollte. Ich sagte ihm aber, daß ich es von Petersburg aus Suchtelns eigenen Munde hätte, wie auch vom Hofrat Zagel in Wiburg, und daß dort schon Quartier für ihn bestellt wäre. Der junge Herr sah mit unter meinem Tornister hoch an, als er mich mit ziemlicher Vertraulichkeit von Suchteln und Meyendorf sprechen hörte, und examinierte mich so artig als möglich über mein Wesen und Wandeln. Ich gab ihm eine kurze Skizze meines jetzigen Ganges über Stockholm nach Hause, und er schied eilend sehr freundlich; wahrscheinlich um seinen Chef von der Ankunft seines Chefs zu unterrichten, denn vermutlich hatte man nicht weiter als bis Wiburg Bestellung gemacht.

Die Sonne war dem Untergange nahe, als ich vor Kymengorod vorbei schlenderte. Die Kabacke sah dort traurig aus, und ich ging, in der Hoffnung eine bessere zu finden, immer vorwärts, hörte aber zu meiner nicht geringen Verlegenheit, daß das nächste Wirtshaus zwanzig Werste entfernt wäre. Ich war schon ziemlich spät aus Friedrichsham gegangen, war müde, und ward natürlich immer müder. Der Wald ward dichter und die Gegend wilder; die Hitze war drückend gewesen, und meine Füße fingen an, mir den Dienst zu versagen. Hungrig war ich und der Proviant [771] in meinem Tornister zu Ende, ich war schon froh, wenn ich von Zeit zu Zeit etwas leidliches Wasser fand. Da ich kein Haus erreichen konnte und mich nur mit Mühe weiter fort zog, ging ich etwas von der Straße rechtsab waldeinwärts und legte mich mit ruhiger Resignation auf einen Granitblock zum Schlafe nieder. Der Himmel war schön über mir; nur war es eben deswegen etwas kalt, denn dort oben kommt, wenigstens die Nacht, die Kälte bald wieder, wenn die Kälte aufgehört hat. Dort oben im Norden reist man vor Menschen ohne Gefahr; es ist nicht wie in dem heiligen Lande Italien. Zu fürchten hatte ich also nichts als von den Wölfen, die doch auch wohl im Sommer zuweilen aus dem Dickicht herauswandeln und sich nach etwas umsehen. Indessen die Schlaflust war stärker als die Furcht vor den Wölfen, und ich schlief einige Stunden ganz ruhig, bis mich die Kälte erweckte. Nun setze ich mich wieder in Bewegung auf der Straße fort, fand bald einen ehrlichen, wackern Finnen, der mich so gut mit Frühstück versorgte, als sein Haus erlaubte, und rückte rüstig nach Aberfors hinüber.

Ich hatte einen Brief von dem Generalgouverneur Meyendorf an den hier kommandierenden russischen Obersten, der mich also sehr gütig aufnahm. Das ersparte mir aber nicht die sehr strenge Untersuchung auf dem Zolle, wo alles bis auf meinen Aristophanes durchlugt wurde. Meine russischen Papiere hatte ich schon in Friedrichsham gegen schwedische umgesetzt; und hier gab man mir auch noch für sechzig Kopeken russisches Silber schwedische papierne Schillinge. Auf dem Zollhause traf ich einen russisch finnländischen Geistlichen, der herüber fuhr und mich einlud, mich mit auf seine Droschke zu setzen. »Facundus comes in via pro vehiculo«, sagt irgend ein Alter; und hier [772] war beides; ich setzte mich also auf und fuhr mit ihm bis Lowisa, der ersten schwedischen Stadt. Ich hatte mir vorgenommen, recht genau den letzten Werstpfosten zu beschauen, der als Monument des letzten Krieges dasteht und gewaltig viel Kugeln haben soll. Die meisten sollen auf der schwedischen Seite sitzen, zum Beweis, daß die Schweden weit besser geschossen haben, da das Gefecht eben um den Werstpfahl am heißesten war. Im Gespräche hatte ich aber den Krieg und sein gebrechliches Monument vergessen. Der Kymen, oder vielmehr der Arm vom Kymen, hat dort wieder zwei Arme, zwischen welchen eine Insel von einigen hundert Schritten liegt, welche die Markscheide beider Reiche macht. Die BrückeQuaestionis ist also eine Doppelbrücke, die über den nördlichen Arm gehört den Russen, und die über den südlichen den Schweden. Nun darf keiner seinen Posten über seine Brücke hinaussetzen. Das taten denn die Schweden im letzten Zanke, der bald zum Kriege geworden wäre. Die Leute sind hier sehr glücklich in der Einbildung, daß hier in dem Kymen der beste Lachs in der ganzen Welt gefangen werde. Ich nahm mit dankbarem Herzen von Rußland Abschied, aber ich trat mit frohem Geiste nach Schweden.

Alles gewinnt sogleich ein mehr heiteres, freundlicheres Ansehen, so wie man herüber kommt. Als Maßstab der Bildung eines Volks nehme ich immer das Land, und nirgends wird man von dem äußern Anscheine sogleich schöner und wohltätiger angesprochen als in Schweden, zumal wenn man aus diesem Teile von Rußland kommt.

Es entsteht immer ein sonderbares, eigen gemischtes Gefühl in meiner Seele, wenn ich an Rußland denke. Gewiß sind im einzelnen nirgends bessere Menschen als in allen Teilen dieses ungeheuern[773] Reichs; nirgends tut die Regierung verhältnismäßig mehr für das Gedeihen der Provinzen; und nirgends wird doch weniger für Humanität, Gerechtigkeit und Aufklärung gewirkt. Das Radikalübel ist und bleibt, weil der Geist der Verfassung, wenn man so etwas Verfassung nennen kann, und einigermaßen auch noch die Regierung auf Sklaverei beruht. In Rußland gibt es keine allgemeine Bildung, sondern nur einzelne Verfeinerung; keine allgemeine Gesetzlichkeit, sondern nur einzelne Güte. Der Sprung geht von dem grassesten, dicksten Aberglauben zu der unbändigsten Zügellosigkeit, die nicht selten an Atheisterei grenzt und alle Moralitätt nur für den Kappzaum der Narren hält. Es gibt dort keine Wohlhabenheit, sondern nur Reichtum und Armut, Pracht und Elend, man springt von dem einen zum andern; oft trifft man beides beisamen; selten ist Häuslichkeit. Das ist die Folge der Sklaverei. Es ist nirgends Sicherheit, weder im Hause, noch in der Regierung, das ist auch ihre Folge. Nur Gerechtigkeit und milde Freiheit gewähren Sicherheit und allgemeinen Wohlstand. In Petersburg und Moskau ist es nichts Neues, zu sehen, daß ein Satrap in seinem Hause zwei- bis dreihundert Bediente hat, eine wahrhaft römische Familie, und sich dabei eben wegen der Menge desto schlechter befindet. Immer fällt mir dabei die Anekdote von einem altfranzösischen Herzoge ein, der zu einem Dichter kam und ihn höchst ärgerlich fand. »Mein Gott, was fehlt Ihnen denn?« fragte der Herzog. »Ei was«, antwortete der Dichter sehr mürrisch; »mein Bedienter ist ein Schlingel. Ich habe nur den einzigen, und denken Sie nur, ich werde fast ebenso schlecht bedient wie Sie, da Sie doch wohl dreißig haben.« – Je mehr Bediente, desto größer die Unordnung. Solche Leute werden hier für jede ernsthaftere Beschäftigung ganz unbrauchbar, und [774] viele verderben in dieser Kloake der Menschheit. Aus dieser Klasse entspringen sodann die meisten Betrüger und Bösewichter; unter ihnen ist die größte Gewandtheit und Verdorbenheit des Geistes, am meisten Witz und am wenigsten Vernunft. Wenn die Wahrscheinlichkeit einer rechtlichen Freiheit und dann die Hoffnung eines ordentlichen Unterhalts größer wäre, möchte es noch gehen. Aber für solche Leute ist selten Erlösung, darum halten sie sich meistens durch Liederlichkeit schadlos, wozu ihre Herren reichlich das Beispiel zu geben nicht ermangeln. Wie unmenschlich hart zuweilen solche Verhältnisse werden, habe ich selbst zu hören Gelegenheit gehabt. Ein junger Mensch hat Anlage zur Kunst und lernt und arbeitet mit der Erlaubnis seines Herrn mit den besten Fortschritten, so daß er dem größern Publikum und selbst dem Monarchen rühmlichst bekannt wird. Sehr natürlich ist nun das Verlangen, daß dieser Mann nun auch rechtlich über seine Person zu bestimmen wünscht. Dazu aber ist keine Möglichkeit, und sein Herr, mit dem er irgendeine kleine Differenz gehabt haben mag, beordert ihn hinaus auf das Gut zur härtesten Erntearbeit, die der gute Mensch längst vergessen, vielleicht nie gelernt hat. Da hilft kein Dazwischentreten für den Künstler. Der Monarch selbst ist zu gut, die sogenannten Rechte mit Gewalt anzutasten; der junge Mann soll zur Hofarbeit und vielleicht Mist laden, wo er unter der Peitsche des Verwalters, wenigstens dem sogenannten Rechte nach, steht. Ein humaner Mann hatte heimlich den Auftrag, bis 15000 Rubel für seine Freiheit zu bieten; denn dem Kaiser selbst würde ihn der Herr nicht gegeben haben, dann wollte ihn der Kaiser der Akademie schenken. In der ganzen Erzählung ist weiter kein vernünftiger Begriff als die große Liberalität des Monarchen, die man am[775] Ende doch noch sklavisch genug verdrehte. Der Kaiser wollte ihm eine Stelle bei der Akademie geben, aber nicht ihn der Akademie schenken. Einen Menschen schenken ist kein Begriff. Ich würde den dem Tode geben, der mit schenken wollte, oder ich gäbe mich dem Tode. Das begreift freilich kein Mensch, der es in seinem Leben nicht gewagt hat, eine eigene Persönlichkeit zu haben.

Ich erinnere mich, daß ich einmal in einer philanthropischen Aufwallung dem alten General Igelström in Pleskow einige Stunden lang zu beweisen suchte, daß es mit Rußlands Kultur durchaus auf keinem festen Fuß weitergedeihen könne, bis die Personalfreiheit unumstößlich gesetzlich eingeführt sei. Der alte Herr gab das wirklich zu und fragte nur nach dem Wie? Das ist freilich eine schwere Frage. Die Sklaverei der Bauern ist in Rußland erst seit einigen Jahrhunderten, ich weiß nicht gleich unter welchem Zar, eingeführt worden, und zwar nicht gesetzlich, sondern nur durch Mißbrauch. Bei einer sehr gefährlichen Pest, mit Hungersnot verbunden, wo jedermann dem Verderben zu entfliehen suchte, wurde die provisorische temporäre Verfügung gemacht, daß kein Bauer seinen Hof verlassen sollte. Was bloß temporär war, blieb durch Mißbrauch immer fort. Das ist das Ganze. Was ein Raubtier einmal in den Klauen hat, gibt es so leicht nicht wieder heraus. Die Sklaverei der Russen aber, als der Kernnation selbst, ist nie so schwer und drückend geworden als der Nebenprovinzen. Für Liefland und Estland und Finnland ist die russische Regierung, wie sie bisher war, ein wahrer Fluch. In Kurland war es unter den Polen nicht besser; und alles ist nun unter einer Verdammnis, wenn nicht einst ein menschlicher Genius die Harpyen vernichtet. Wo Sklaverei gesetzlich ist – von Gerechtigkeit kann [776] gar nicht die Rede sein, denn man ist es schon gewohnt, daß Gesetz und Gerechtigkeit oft in Widerspruch stehen – wo sie gesetzlich ist, kann nie eine humanere Kultur gedeihen. Man wende ja nicht die Griechen und Römer ein, Gott bewahre uns vor ihrer schändlichen Freiheit; dagegen ist selbst der Unsinn des Lehnsystems noch Vernunft; und Spartakus hat darüber einen furchtbaren Kommentar gegeben. Wenn ich ein deutscher Bauer wäre und sechs Söhne und keine andere Aussicht für sie hätte, als sie, auch unter guten Bedingungen, nach Rußland auf das Land zu schicken; bei der Heiligkeit jeder Tugend, ich würde sie alle sechse niederschießen, ehe ich sie hinschickte und der Stammvater eines Sklavengeschlechts würde. Daß die Regierung ihnen die Freiheit sichert, gibt keine Sicherheit. Der Edelmann hätte sie wenigstens im dritten Gliede schon in den Klauen. Wo das System Sklaverei ist, findet keine Rettung statt. Man geht von der Sklaverei zur Despotie, und von dieser zur Sklaverei. Wo die große Klasse in der Leibeigenschaft zeiht, ist kein einziger für die Freiheit seiner Nachkommen sicher. Und wer, auch ohne Nachkommen, nichts für Nachkommen fühlt, gehört zur Sentine der Weggeworfenen.

Man beschwert sich in Liefland, daß die Bauern so unerträglich faul seien; und ich wunderte mich, daß sie nur noch so viel arbeiten. Denn wozu soll ein Sklave mehr arbeiten, als er muß? Wer gibt ihm die Sicherheit seines Gewinns? Soll er ein Haus bauen, von dem er nicht weiß, ob er und sein Sohn darin wohnen dürfen? Einen Baum pflanzen, von dem es nicht wahrscheinlich ist, daß er und seine Kinder die Früchte davon brechen? Man wendet ein, daß ihm nun das Gesetz Sicherheit gebe. Das Gesetz ist längst dagewesen und immer verachtet worden. Man hat nie[777] einen Menschen verkaufen sollen, und verschachert sie noch jetzt auf allen Märkten schändlich für Jagdhunde; und sogar die Zeitungsblätter auch noch unter dem freundlichen Alexander sind voll von dergleichen Menschenfeilbietungen. »Er ist mein Erbkerl«, schnurrt ein junger Edelmann, dessen Großvater vielleicht noch Makler an der Düna oder der Newa war, mit unsäglicher Impertinenz durch die geschwollenen Nasenlöcher, und zieht den Mundwinkel in eine gräßliche Falte, »er ist mein Erbkerl, und ich kann mit ihm machen, was ich will«. Das tut er denn auch zuweilen mit einem Genie, das Adramelech Ehre machen würde. In Verhältnissen des Völkerrechts und Staatsrechts muß es leider ein Grundsatz der Sicherheit sein: das Böse, das ein Mensch tun kann, wird er wahrscheinlich tun. Die Geschichte hat mehr Bestätigungen als Widerlegungen desselben. Wo noch jemand anders den Personenzwang hat als der Staat, ist es um das Palladium der Menschheit getan. Man er zählt noch heute in Liefland hier und da eine Menge Abscheulichkeiten, die alle menschliche Vorstellung übertreffen. Merkel hat im ganzen noch sehr glimpflich gemalt; wenn auch einige seiner Belege vielleicht nicht ganz zu beweisen sein sollten. Man läßt junge Windhunde von Bäuerinnen säugen; noch jetzt geschieht das. Natürlich mit Bewilligung der Ammen. Wozu kann ein liefländischer Edelmann mit der ausübenden Gewalt am Gürtel den Bauer nicht bereitwillig machen? Die Branntweinsfuhre und das Bauen in den Städten für die sauberen Patrone geht jetzt, wie ehemals. Ein Sklave muß freilich schlecht sein; ich begreife gar nicht, wie er gut sein könnte. Herabwürdigung erstickt alles Edlere und Bessere. Daß der Herr für sie sorgen soll, muß wohl ebensowenig gewissenhaft beobachtet werden. Ich habe Blinde genug [778] am Wege gefunden, denen in den Rauchlöchern die Augen ausgebeizt waren, und denen der Herr nun die Erlaubnis erteilt hatte, im Gebiete zu betteln, denn freilich darf er sie nicht wohl in fremde Bezirke schicken. Deswegen gehen sie aber doch. Buxhövdens Bauern gehen zahlreich nach Petersburg betteln; Vittingshofs Bauern betteln in Dorpat, in der kleinen Entfernung von dreißig Meilen; denn so weit mag es wohl von Marienburg bis Dorpat sein. Buxhövden gilt bei dem größten Anschein von Humanität für einen der härtesten Privilegiaten; und Liberalität soll in den Fällen, die man dort unsinnig genug Gerechtigkeit nennt, seine Sache nicht sein. Das Christentum hat dort, wie in vielen andern Weltgegenden, unsäglich viel Unheil gestiftet, und die Kette unauflöslicher gemacht, da die Pfarrer, den Instituten gemäß, meistens mit den Edelleuten Hand in Hand gehen, oder vielmehr selbst temporäre Edelleute sind, und, zur Schande ihrer Lehre, nicht selten die schlimmeren. Die Letten, Esten und Finnen haben nicht Unrecht, die Deutschen im allgemeinen für eine Art böser Geist anzusehen, für welche der Himmel, da er sie hier so wüten läßt, einst eine ganz eigene Hölle schaffen wird. Du darfst nur die Erscheinungen nehmen. Liefland ist gewiß ein schönes, herrliches, gesegnetes Land. Die Russen eroberten es; und um der Provinz wieder aufzuhelfen, die durch Krieg und Pest fast zugrunde gerichtet war, wurden nicht allein die Abgaben sehr mäßig eingerichtet, sondern sie wurde auch von allen Rekrutenlieferungen befreit. Die Folge davon ist, daß die Edelleute ihre Einkünfte zu Hunderttausend zählen, daß die Bauern wie Troglodyten wohnen, hier und da kaum menschlichen Gestalten ähnlich sehen und daß nach hundert Jahren bei vielem Segen und keinen Unglücksfällen die Provinz noch auf dem nämlichen [779] Grade der Bevölkerung steht, nur daß das Elend des platten Landes größer ist.

Finnland wurde etwas später genommen, und dort war die Kultur etwas weiter gediehen. Deswegen befinden sich auch jetzt noch die finnischen Bauern etwas besser; obgleich die Besitzer alles möglichte tun, sie nach und nach einzurussen oder einzuliefländern. Möge durch die schweren Regierungsformen Alexanders Gefühl nicht hart werden und seine Kraft nicht ermüden, daß er rettend sich eine Ehre erwerbe, die nach Jahrtausenden der Nachwelt noch heilig sei; nicht schrecklich, wie es der Ruhm des Philippiden war.

Von Friedrichsham aus spricht man ziemlich viel Schwedisch; und die Geistlichen für russisch Finnland sind bis jetzt meistens von Abo genommen worden, so daß die Provinz noch immer in einiger Verbindung mit dem alten Mutterlande geblieben ist. Die Regierungsämter und Justizstellen wurden meistens mit Deutschen besetzt, und in den Städten ist nun die Hauptsprache fast überall Deutsch. Durch die neue Einrichtung gewinnt dort die deutsche Sprache noch mehr, da die Erziehung in Finnland förmlich unter der Universität Dorpat steht.

In Lowisa hört man nur Schwedisch und Finnisch. Mein Pastor brachte mich, da meine Zunge sich noch gar nicht recht Schwedisch eingerichtet hatte, in ein ganz gutes Wirtshaus, wo man mich auf alle Weise recht gut und anständig und billig versorgte. Hier saß ich gegen Abend in der Gaststube und studierte Schwedisch in einem alten in das Schwedische übersetzten Pepliers, den mir mein Wirt in Sippola gegeben hatte. Ein ziemlich wild aussehender Mensch nahm das Buch, das ich auf dem Tische hatte liegen lassen, und blätterte darin. »Das ist ja von unserm [780] vorigen Gouverneur Orräus aus Wiburg«, sagte er Russisch. Der Name war darein geschrieben. »Das ist wohl möglich«, antwortete ich und sagte ihm, wie ich dazu gekommen sei. Er blickte mich ganz zweideutig an und ward nur dann wieder freundlich, als ihm die Wirtin freundlich bedeutete, ich sei mit einem Geistlichen im Wirtshause angekommen.

Den folgenden Tag ging ich nach Ulby, wo ich sehr schlecht gespeist und sehr gut gebettet wurde. Wenn man nur immer eins mit dem andern kompensieren kann, hat es weiter nichts zu sagen.

Borgo gilt für eine ansehnliche Stadt in Schwedisch Finnland, hat ein Gymnasium und treibt einigen Handel auf einem Flusse, der bis dahin für kleinere Schiffe fahrbar ist. Von da bis Helsingfors ward es mir unerträglich heiß, weit heißer, als es mir um den Ätna und in der Lombardei geworden ist. Die Wirtshäuser waren weit voneinander entfernt und eben noch nicht sehr gut. Sie sahen von außen schön und freundlich und einladend aus; aber gewöhnlich war nichts darin zu haben als sehr saures Bier und sehr grobes Brot und sehr schlechte Butter. Nun waren die Gasthäuser auch zugleich die Posthäuser, und ich merkte, daß man doch nicht außerordentlich billig war und mich in der Rechnung das Postgeld mitbezahlen ließ. Denn die ehrlichen Schweden schienen sich einzubilden, daß ich ein milzsüchtiger Grillenfänger sei, dem man seine Phantasie miteinrechnen müsse. Die schwedischen Meilen sind bekanntlich verdammt groß, und das Postgeld ist nicht stark. Man fährt sehr schnell und nur mit einem einzigen Pferde, wenn man so leicht ist, wie ich bin. Ich setzte mich also auf eine Postkarriole und ließ mit weiter spedieren, erstlich, der Hitze zu entgehen, zweitens, um schneller fortzukommen, und drittens, weil es durchaus nicht mehr kostete, sondern [781] vielleicht noch wohlfeiler war als das Fußwandeln. In Italien hätten die Gründe freilich nicht alle gegolten. In Helsingfors spricht der Postmeister Deutsch und hält ein sehr gutes Haus; und durch Svensky hatte ich sogar einen Postillion, der Deutsch sprach und oft mit Schiffen in Reval gewesen war. Bei Mialbolsta sind einige sehr schöne Partien an einem See mit einigen Landhäusern.

Bei Sahlo öffnet sich das Tal, durch welches der Weg herunter geht, ziemlich weit und zeigt viele, zwar kleine, aber niedlich gebaute Dörfer, und zum ersten Mal wieder zwei Kirchen. Die Gerste wächst hier so hoch und üppig, daß ich sie nur bei Catanien am Ätna größer und stärker gesehen habe. Auch Weizen wuchs schon in solcher Vollkommenheit hoch über Abo oben, daß ich einige große Ähren zum Andenken in mein Taschenbuch legte. Das willkommenste waren mir aber Haselsträuche, die ich hier wieder zum erstenmal erblickte. Jeden Augenblick wuchs mein Vergnügen und meine hohe Meinung von der ökonomischen Gesellschaft in Abo. Arm sind die Schweden, sehr arm; man kann viele Meilen reisen, ohne nur ein Stückchen Kupfermünze zu sehen. Man findet nichts als Papier, sogar bis zu Zetteln von acht Schillingen, oder ungefähr vier Groschen. Aber der Schwede scheint seine Armut nicht zu fühlen. Sein Haus ist groß und hell und bequem. Wenn man in Estland und Liefland nur selten einen Schornstein sieht, so hat hier manches Bauerngut vier bis sechs Schornsteine und viele schöne Nebengebäude. Der schwedische Finnländer ist heiter und munter und reinlich gekleidet und zeigt Kraft und Selbständigkeit. Die Weiber sind meistens groß und wohlgebildet, und oft sehr schön; vorzüglich auf dem Lande, wo ihnen die leichte Nationaltracht eine fast griechische Erscheinung gibt. Kommt man in [782] die reinlichen, netten, meistens rot angestrichenen Häuser, so findet man freilich des köstlichen Mundvorrats nicht viel; aber alle sind bei den Wenigen so froh und freundlich und teilen so gern und willig mit, daß eine sehr überfeinerte Seele dazu gehört, sich bei ihnen nicht wohl zu befinden.

Den letzten Abend vor Abo blieb ich in Wista, einem angenehmen Kirchdorfe, wo der Postmeister ein alter abgedankter Lieutenant war, der leidlich Deutsch sprach, viel und verständig genug Politik schwatzte und mich in aller Frugalität sehr geschmackvoll bewirtete. Als ich den folgenden Morgen bezahlte, sollte ich auf mein Papier fünf Schillinge herausbekommen, und der alte Herr hatte in seinem ganzen Hauswesen nicht fünf Kupferschillinge, so genau er auch alle Kasten und Papierschätze durchsuchte. Als ich meinte, das hätte ja nichts zu sagen, er möchte an die Schillinge nicht weiter denken, rührte sich die alte Soldatenehre, und er behauptete, alles müsse durchaus seine Ordnung haben. Ich tat den Vorschlag, er möchte die fünf Schillinge dem Postillon zum Trinkgeld geben. Er sah mich groß an und fragte: »Wieviel geben Sie denn den Kerlen?« »Ei nun«, war meine Antwort, »gewöhnlich drei oder vier Schillinge, nachdem die Station ist; hier kann ich ja wohl einmal fünfe geben.« »Mit Ihrer Erlaubnis, das ist sehr schlecht«, fuhr er mich etwas an; »da verderben Sie uns die Kerle in den Grund. Sie müssen nicht mehr als einen Schilling haben.« Er ging hierauf selbst zu dem Nachbar und holte mir die Schillinge und bat sichs aus, daß ich dem Menschen durchaus nicht mehr als zwei Schillinge geben möchte; welches ich auch versprach und insofern hielt, daß ich die andern beiden als ein Surplus von Gratial wegen des guten Fahrens hinzulegte. Das Trinkgeld macht nach diesem Fuße auf drei schwedische [783] Meilen ungefähr sechs gute Groschen und ist das Nonplusultra von Großmut, wofür jeder Postillon otmickest, d.i. demütigst dankt. Eigentlich sollen sie nach den Gesetzen durchaus gar nichts verlangen, welches ich allerdings etwas hart finde; wie denn überhaupt das ganze Schußwesen oder die dortige Postanstalt viel Mißliches haben mag. Welcher Unterschied zu unserm lieben Vaterlande! Die Gesetze haben bei der Bestimmung des halben Guldens Trinkgeld bei uns schon die Liberalität mit eingerechnet und nur den Reisenden nötigen wollen, nicht unbillig zu sein. Mit acht Groschen versucht es nun wohl kein Reisender mehr, wenn er wegen seines Wagens und seines Halses ruhig sein will. Denn es müßte ein schlechter Postillon sein, der in seinem Murrsinn der Equipage nicht ganz geschickt für einige Gulden Schaden zufügen könnte. Ich bin selbst gegenwärtig gewesen, daß man dem Postillon einen halben Taler in die Hand gab. »Was soll das?« fragte der Kerl mit einem knurrigen, kaum verständlichen Tone. »Das ist sein Trinkgeld.« Der Mensch zog sein nicht feines Gesicht phlegmatisch in die Länge und in die Breite und sagte mit der neuen Schule göttlicher Grobheit: »Gibt auch ein ehrlicher Herr einem ehrlichen Postillon so ein lumpiges Trinkgeld? Das ist ja recht niederträchtig.« Dergleichen Höflichkeiten kann man in Sachsen von Dresden bis Naumburg ein halbes Dutzend hören. Dafür fährt man in Schweden jede Stunde sehr gemächlich eine schwedische Meile; und dort bin ich denn doch einigemal in sieben Stunden drei sächsische Meilen geschleppt worden.

Jeder Schwede hat hier um sein Haus seine eigene Pflanzung Tabak, und man sieht in der Gegend von Abo schon ganze Flächen mit diesem Giftkraute verdorben. Ich kann mir nicht helfen, ich empfinde jedesmal [784] sehr unangenehm, wenn ich auch in meinem Vaterlande ganze große schöne Felder damit bepflanzt sehe, und mir der betäubende Giftdunst des stinkenden Unkrauts entgegenzieht. Eine seltene Verkehrtheit, der Gebrauch des Tabaks! Wenn wir dann Brotmangel haben und die Kornspeicher aufgetan werden sollen, findet man sie mit beizenden Blättern dieses Afterbetels angefüllt.

Abo soll, wie man mich versichert, zwölftausend Einwohner haben; welches ich auch nicht übertrieben finde. Die Universität ist ungefähr dreihundert stark. Da eben Ferien sind und wenige Professoren sich in der Stadt befinden, habe ich niemand hören können. Das neue akademische Gebäude gleich hinter der Kathedralkirche wird der Stadt Ehre machen, wenn es gleich nicht so prächtig wird, als die hiesigen Schweden es behaupten wollen. Denn, wenn man sie hört, ist die Akademie in Petersburg eine Kabacke dagegen. Das Merkwürdigste davon ist, die Säulenschäfte aus Granit bestehen aus einem einzigen Stücke, sind von schöner Proportion und werden herrlich geschliffen. Sie kommen aber den Säulen in Petersburg am Sommergarten durchaus nicht bei; auch nicht einmal den Säulen an der neuen Bank, die Kaiser Paul hat bauen lassen. Die Bearbeitung des Granits auf diese Weise ist indessen in Schweden noch etwas Seltenes; in Rußland ist nichts gewöhnlicher, aber doch auch nur in Petersburg.

In Abo zog ich bei unserm Landsmann, Herrn Seipel aus Butzbach, ein, der jedoch nicht ganz der einzige Aubergist in der Stadt ist, wie Acerbi behauptet; denn man hat mir noch ein anderes Gasthaus genannt. Der beste mag er wohl sein, obgleich nicht gar zu gut bestellt. Aber ein Unikum gibt es in Abo, nämlich in der ganzen Stadt nur einen einzigen Barbier, wie mich [785] unser Landsmann, Herr Seipel aus Butzbach, versicherte! und da nun dieser einzige Bartinspektor über Land gereist war, mußte ich leider mit meiner schlechten Gerätschaft mich selbst peinigen.

Der Fluß Aurajocky hat schlechtes Wasser und ist von unten nur bis an die Brücke schiffbar; oberwärts der Brücke gehen nur kleine Kahne. Jocky oder Tjocky heißt im Finnischen ein Fluß, so daß der Name Aura ganz romantisch klingt. Ebenso ist Kemijocky oben bei Torneo. Du siehst, daß es der finnischen Sprache nicht an Anmut fehlt. Die finnische Sprache ist die Hauptsprache, und das Estnische und Lappische sind nur ihre Dialekte, wie ich höre. Daher ist es gar kein Wunder, wenn Liefländer diese ihre estnische Sprache tief in Asien gefunden haben.

Das alte Schloß unten am Ausfluß der Aura, ungefähr eine halbe Stunde von der Stadt, ist eben nicht wichtig; nicht einmal so wichtig als es Acerbi macht, ob es gleich fast von drei Seiten mit Wasser umgeben ist. Auch die schwedischen Militäre selbst geben es für nicht viel aus. Das Beste ist, daß dabei ein Teil der Scherenboote unter Dachung liege, die, wie Du weiße, im letzten Kriege den Russen so viel zu schaffen machten. Diese Scherenboote sind wohl nur deswegen besser als die russischen, weil die Schweden bis jetzt noch die besseren Matrosen sind. Auch die Bildung der Flotte empfindet in Rußland das Nachteilige der Leibeigenschaft. Schwedisch Finnland soll seit zwanzig Jahren um 60000 Menschen an Bevölkerung gewannen haben; und das ist bei dem großen Striche Landes nicht unwahrscheinlich, denn überall ist die Kultur der Gegend so ausgezeichnet schön, als ich sie weder in Deutschland, noch in Italien, noch in Frankreich irgendwo gesehen habe; nämlich in solcher Ausdehnung, und eingerechnet die überwundenen Schwierigkeiten. [786] Gerste und Roggen, und Weizen und Erbsen und Flachs, alles stand außerordentlich gut; bloß der Hanf war verhältnismäßig klein und mager. Die Düngung ist musterhaft. Indessen sagt auch jedermann, daß dieses Jahr überall in ganz Schweden eine vorzüglich gesegnete Ernte sei. Nirgends habe ich mehr Achtung vor dem menschlichen Fleiße bekommen als auf dieser Reise. Zuweilen müssen die guten Leute ihren tragbaren Boden erst den Granitbergen abtrotzen, ehe sie mit wahrhaft heldenmütiger Anstrengung es wagen können, ihm irgendwo etwas Samen anzuvertrauen. Und es ist sodann gewiß der schönste Sieg, wenn die Seiten der Berge von Korn wogen, und nur hier und da eine unbezwingliche Felsenspitze durch den Segen freundlich hervorragt. Solche Anblicke hat man in Schweden viele, in einer Provinz mehr als in der andern.

Finnland gilt durch seine kräftige, schöne Betriebsamkeit schon mit für die Kornkammer der umliegenden Provinzen; und in welcher Art es billig bei dem ganzen Reiche steht, beweist der Umstand, daß man auf das Papiergeld auch allemal den Wert in finnischer Sprache gedruckt findet.

Vor meinem Fenster, das in den Garten geht, steht hier ein schöner großer Apfelbaum; eine Erscheinung, die mich, zuerst wieder recht angenehm überraschte! In ganz Petersburg habe ich nur an einer einzigen Stelle, die von allen Seiten gegen den Wind geschützt war, einige Apfelbäume gesehen, aber keinen einzigen Birnbaum. Hier werden die Obstbäume nun schon wieder gewöhnlicher.

[787]

Stockholm, den 16. August

Von Abo aus hat man noch einige Stationen bis an das Wasser des Bottnischen Meerbusens, über den man sich setzen lassen muß, wenn man nicht über Wasa und Torneo oben herum reisen will. Acerbi gibt die Seereise im Winter, auf dem Eise von Grißleham bis herüber ans finnländische Ufer, nur auf neun Meilen an; da kann ich denn seinen Weg nicht begreifen. Ich will Dir hier die Wasserreise hersetzen, wie ich sie gemacht habe, und wie sie gewöhnlich alle russischen Kuriere machen, die nicht des Wetters wegen über Torneo gehen müssen.

Von Helsing an dem finnländischen Ufer, zu Wasser über Turwessi nach Wartsala, 2 Meilen Schwedisch. Desgleichen über Wattn Skiftet nach Brando 21/2 M. S. Desgleichen über Lappwesi nach Kumlingen 21/2 M. S. Desgleichen über Delet nach Wargata 31/4 M. S. Desgleichen nach Bomarsund 1 M. S. Zu Lande nach Skarans 1 M. S. Zu Lande nach Haroldsby, Emkarby, Frebenby 3 W. S. Halb zu Lande, halb zu Wasser nach Eckeroe 11/4 M. S. Über Alandsholm zu Wasser nach Grißleham 7 M. S. Nun zähle einmal zusammen, wieviele Meilen herauskommen! Ich könnte Dir wohl die ganze etwas unbekannte Tour von Petersburg nach Stockholm geben; aber es ist entsetzlich langweilig, dergleichen Zeug der Länge nach aus dem Tagebuche zu schreiben. Du hast genug an dem Pröbchen durch die Inseln. Von Stockholm aus ist der Weg in mehreren Reisebüchern angegeben.

Die Fahrt über den Meerbusen ist gar nicht unangenehm, wenn man ein guter Elementer, nämlich an das Element gewöhnt ist. Ich nahm mir Zeit und habe zwei Nächte ganz ruhig bei den Ichthyophagen geschlafen. Mich deucht, ich muß auf der Überfahrt zum [788] wenigsten zweihundert Inseln gesehen haben, größere und kleine, fruchtbare und unfruchtbare, bewohnte und öde. Man windet sich oft durch ein sonderbares Netz von Inseln hin, die niemand als Möwen zu Besitzern haben. Als ich von Lappwessi ausfuhr, war es schon ziemlich spät; die Sonne ging bald unter und der Mond silbern auf. Meine Gondoliere waren zwei alte wackere schwedische Matrosen, die Weltteile gesehen hatten und ihren beiden jungen Kameraden von ihren Fahrten erzählten. Die Wirkung der späten Abendröte und des fast vollen Mondes auf der spiegelglatten stillen Wasserfläche zwischen unzähligen Granitinseln, die nur hier und da einiges Gestrüpp hatten, war außerordentlich magisch. Es war so hell, daß wir auf einer von den Inseln, wo wir zur Pause anhielten, Erdheeren suchen konnten, die jetzt hier noch herrlich dufteten. In Kumlingen blieb ich; und es war auf der kleinen Insel so freundlich, als es nur in einem Dörfchen am Zuger See sein kann. Überall hat man ein gutes, reinliches Bett, überall ohne Erinnerung sogleich frisch überzogen; eine Wohltat, die man in unserm Vaterlande nicht einmal in allen Städten findet! Von Kumlingen nach Wargata war eine große Wasserfläche von 31/4 M. S. Das Wetter war nebelig und kalt, der Sturm blies stark, die See ging hoch. Ich hatte diesmal drei Kerle und einen jungen weiblichen Matrosen, wie das vorher schon oft der Fall gewesen war. Die Fahrt mochte dem Mädchen zu heftig werden, das Wasser schlug reichlich in das Boot, und die Heldin ward seekrank durch alle Instanzen. Mir tat das fast wohl; denn nun konnte ich doch auch sagen, daß meinetwegen auch ein Mädchen krank geworden sei, welches mir nicht leicht zum zweiten Male begegnen wird. Vor mehreren Jahren hat mir zwar eine unserer schönen Landsmänninnen etwas [789] Ähnliches versichern wollen, ich fand aber nachher Ursache, es nicht zu glauben.

Auf einer andern Station der nämlichen Fahrt ward sogar ein Matrose seekrank. Dabei setzte ich mich denn ganz ernsthaft in meine Behaglichkeit und freute mich, daß mir das Element nichts anhaben konnte; es müßte mich denn ganz verschlingen, wie es wirklich einige Mal drohte. Die Überfahrt ist nicht ganz ohne Gefahr in lauter offenen Booten, wo die Windstöße wohl zuweilen Unglück anrichten können. Zwischen Bomarsund und Heroldsby steht das alte bekannte Schloß Kastelholm als eine stattliche Ruine, und rund umher sind die Inseln äußerst fruchtbar an schönem Getreide. Vorzüglich wächst in Eckeroe Gerste und Korn in seltener Güte. Von Eckeroe bis Grißleham ist die größte Station, sieben Meilen. Der Wind war äußerst widrig und sehr stark, und die Leute machten Schwierigkeit auszulaufen. Ich hatte sechs Matrosen und noch zwei Gehilfen, um nur aus dem Hafen zu kommen. Mitten auf der See begegnete mir ein Postschiff, die Leute legten mit vieler Mühe in einer kleinen Bucht auf einer kleinen Insel an und wechselten. Die Post ging nach Eckeroe mit meinem Boote, und das Postschiff nahm mich ein nach Grißleham. Drei Taler waren als das Fährgeld im Posthause zu Eckeroe angesetzt und ich mußte durchaus achthalb Taler bezahlen. Das müßte sein, meinten alle ohne Ausnahme, und bekümmerten sich nicht einen Pfifferling um das Postbuch in Eckeroe. Ich zahlte, denn wie hätte ich anders den Prozeß hier im Sturm auf der kahlen Felseninsel im Bottnischen Meerbusen endigen sollen? Die Skandinavier hatten mich ohne Protest in Händen. Ob das rechtlich ist, mögen sie mit dem Postbuche in Eckeroe ausmachen. Ich fand die Bezahlung freilich nicht zu hoch und hätte dafür nicht halb so weit gefahren, [790] aber es soll nur niemand etwas wider Ordonnanz tun.

Als ich nun so einsam auf meinem Tornister dasaß und von Halifax bis Syrakus manche Reise noch einmal reiste und manche Stunde noch einmal lebte, blieb ich, wie wohl schon einige Male geschehen war, bei Schiller und der Katastrophe seines Todes stehen, der mich allerdings in Petersburg ungewöhnlich überrascht harte. Ich zog mein Taschenbuch, dachte weder an widrige Winde noch an die Skandinavier, und unvermerkt lagen die Zeilen auf dem Pergamentblatt, die ich Dir hier als eine freundliche Nekropompe eines Mannes gebe, der uns beiden oft großen Genuß verschafft hat. Daß die Verse hier unter dem Getöse der Wogen geschrieben wurden, ist vielleicht, nächst ihrer Wahrheit, das einzige, was ihnen einigen Wert geben kann.


Wir erzählten traulich und durchliefen
Noch einmal das Leben Jahr für Jahr,
Da erschien ein Freund, und seine tiefen
Hohlen, ernsten Trauertöne riefen
Uns die Botschaft, die gekommen war:
Schiller ist gestorben! – Alle schwiegen
Drei Minuten feiernd, bis empor
In des Schmerzes schweren Atemzügen
Unserm Liebling Totenopfer stiegen,
Und die Pressung ihr Gewicht verlor.
Schiller ist gestorben! scholls in allen
Zirkeln an der Newa auf und ab,
Von dem Marmor in den Kaiserhallen.
Freund, so schöne Blumenkränze fallen
Selten nur auf eines Dichters Grab.
[791]
Aber selten heiligen die Musen
Einen Geist auch so sich zum Altar,
Wohnen himmlisch so in einem Busen,
Wie vom Griechen bis zu dem Tongusen
Unser Liebling stets ihr Liebling war.
Von dem Rheine bis zum Oby haben
Tausende sich oft durch ihn erfreut,
Reicher sich gelebt durch seine Gaben,
Die er, ihren Seelendurst zu laben
Unerschöpflich um sich ausgestreut.
Mächtig klang dem Delier die Laute,
Wenn er ihre Saiten Schillers Hand,
Ihre Lieder seiner Brust vertraute;
Und die dichte stille Menge schaute,
Dann durch ihn sich in das Geisterland.
Seine Zauber öffneten die Pforte,
Daß der Blick in neue Welten ging;
Blumen schuf er, wo die Flur verdorrte,
Und der Sturm beflügelte die Worte,
Die er flammend von dem Gott empfing.
Groß und mit der Tugend hohem Mute,
Die den Männerwert in Lumpen ehrt,
Sprach er kühn und offen für das Gute,
Unbekümmert, ob der Tor verblute,
Der vom Mark der stillen Einfalt zehrt
Wem nicht er des Himmels Götterfunken
Aus des Wesens letzter Tiefe schlägt,
Wenn er göttlich singt und feuertrunken,
Bleibet, in des Stumpfsinns Nacht versunken,
Zu den Seelenlosen hingelegt.
[792]
Liebenswürdig war der Mann als Dichter,
Und der Dichter es noch mehr als Mann.
Glücklich, wer wie er so viel Gesichter,
So viel Herzen, auch als strenger Richter,
Auf den guten Weg erheitern kann!
Schiller wird mit seinem Posa leben,
Leben, wenn der Undank ihn vergißt.
Niemand kann ätherischer uns heben,
Niemand besser zu genießen geben,
Was der Silberblick des Lebens ist.

Der Wind hatte sich während meiner Nekropompe etwas gelegt und gewendet, und ich kam noch zeitig genug in Grißleham an.

Wenn man den ganzen Tag recht tüchtig auf den Wogen herumgeworfen ist und dann eine gute Suppe, schöne frische Schollen, frisches Knackabroe, und zum Dessert ausgesuchte Erdheeren findet, so kann man wohl mit der Landung zufrieden sein, und ich war es. Hier sagte mir der Postmeister, ich müßte dem Bauer durchaus nur sechs Schillinge für das Pferd die Meile geben, aber durchaus bestand man auf zwölfen. Wie ich das zusammenreimen soll, weiß ich nicht. Ich finde zwölf Schillinge freilich noch billig genug und habe nachher erfahren, daß es die jetzige Taxe ist, aber wie konnte der Postmeister das andere sagen? Er ließ sich übrigens verhältnismäßig seine Mahlzeit selbst teuer genug bezahlen.

Nun fuhr ich rechts ab, über Ahlby und Broe nach Upsala. Dieses ist zwar nur eine Nebenstraße, aber sie ist auch durchaus gut. Afu den Inseln des Bottnischen Meerbusens hatte ich in allem drei Kirchen gesehen; hier standen die Kirchen ziemlich dicht; und die Kultur des Bodens war musterhaft gut, vorzüglich bei [793] Ahlby. In Petersburg hat man einige Eichenpflanzungen, die wohl älter sein müssen als von Peter dem Ersten, wie man vorgibt. Man sagte mir dort, ich würde in Russisch-Finnland wenigstens eine Menge Eichengestrüpp finden, aber trotz aller Aufmerksamkeit hatte ich bis jetzt weiter kein Eichenblatt gesehen. Birken und Erlen waren das gewöhnliche Laubholz, nicht weit über Abo oben sahe ich zuerst wieder Haselstauden. Desto erfreulicher war mir die Erscheinung der Eichen, die von Grißleham an sich sogleich in Menge und ziemlicher Vollkommenheit zeigten.

In Edingen, einer Station zwischen Grißleham und Upsala, machte man Anstalt, mich geradezu nach Upsala zu bringen, und forderte dafür nicht weniger als sechs Reichstaler. Die Posttaxe machte noch nicht einen ganzen. Ich berief mich auf das Postbuch, wo ich auch schon meinen Namen eingeschrieben hatte, und wollte durchaus nicht mehr zahlen als die Posttaxe, zwölf Schillinge die Meile. Die Leute stritten hoch und sprachen viel von einem russischen Kurier, der entsetzlich langsam gefahren sei, den Weg sogar über Gothenburg genommen und gewaltig viel bezahlt habe, und schienen ihn halb und halb für einen Spion zu halten. Ich konnte nicht alles so recht fassen, da ich kein sonderlicher Schwede bin, und die Bauern vermutlich nicht den besten Dialekt sehr schnell sprachen. Ich nahm meinen Tornister, den ich schon an die Karriole geschnallt hatte, hastig auf den Rücken und erklärte, ich würde nicht mehr bezahlen als die Posttaxe. Endlich wollten sie dafür fahren; ich war aber schon im Gange und sagte, ich würde mich nun gar nicht aufsetzen. Sie kratzten sich am Kopfe, und ich ging fort.

Einige Stunden war ich schon gegangen, als ich erst überrechnete daß ich zu Fuß nicht nach Upsala[794] kommen würde, wohin ich doch gern wollte. Ich trat also in ein Haus nicht weit von der Straße, das ich für das Posthaus hielt, und bat um Pferde und erzähle meine Geschichte. Das war aber keine Post, sondern ein Familienlandhaus. Das Hauspersonal waren vier Damen, von denen zwei etwas Französisch sprachen, denn ich nahm meine Zuflucht zum Französischen, da es mit dem Schwedischen nicht recht fort wollte. Man versprach, mir Pferde zu schaffen, ob es gleich kein Posthaus war. Die Damen bewirteten mich mit Knackabroe, herrlichem Eingemachten von Beeren und gutem Bier, ein Artikel, der mir seit Friedrichsham nicht vorgekommen war! Aber die Pferde kamen sehr spät, und ich traf erst um Mitternacht bei Mondschein in Upsala ein.

Upsala hat einen großen Namen und ist eine kleine Stadt, wohl nicht größer als unser Lützen, wo der Wohltäter Upsalas starb. Busser von Linköping hat, wie ich höre, ein großes Buch über die kleine Stadt geschrieben. Die Kathedralkirche ist so groß, daß man wohl die Bevölkerung einer halben schwedischen Provinz hineinbringen kann. Linnes Monument ist darin ganz demütig versteckt, es steht so in einem Winkel, daß ich es nicht gesehen habe, ob ich gleich zweimal fast nur deswegen hineingegangen bin. Ich habe dafür eine Menge Grabmäler großer und kleiner Männer dort gefunden, um die ich mich so viel nicht bekümmerte, sie mochten hinter dem Altar oder in den Seitenhallen stehen. Das merkwürdigste war für mich das Monument des Grafen Stenbock, der das Kriegsrecht etwas zu strenge an Altona ausübte und dafür dann eine beträchtliche Zeit feine Mechanik in Kopenhagen trieb. Es war, als ob ich meinen Freund Stenbock von Warschau vor mir sähe, so auffallend war die Ähnlichkeit. Ich liebe Familiengesichter; sie sind immer besser und bedeutender als die Wappen.

[795] Den andern Morgen ging ich hinaus zu Thunberg, der auf seinem Landhause eine halbe Stunde von der Stadt wohnt; und er hatte die Güte, mir den folgenden Morgen selbst den neuen botanischen Garten zu zeigen. Die Herren von Palermo sagten mir, als ich dort war, sie hätten das Modell zu ihrem botanischen Hörsaal von dem linneischen in Upsala genommen. Da haben sie nun aber große Veränderungen gemacht, wenn das wahr ist. Weder der neue noch der alte linneische Hörsaal sieht dem palermitanischen sehr ähnlich. Das neue botanische Gebäude hier besteht aus einer Front mit Säulen nach dem Garten und zwei auswärts greifenden Flügeln. In der Front oder im Fond, nachdem man sich stellt, ist der Hörsaal und in den Flügeln sind das Museum und die warmen Zimmer für die Pflanzen. Auch der Professor hat eine ganze gute Wohnung darin. Die Säulen sind aus Sandstein von Gothenburg. Granit wäre wohl besser gewesen. Den Grund der Mauern hat man mit Granitquadern sehr schön angefangen, ihn aber nur mit unbehauenen Granitstücken fortgeführt, welches der Solidität und der Schönheit schadet.

In dem Museum sind vorzüglich die Sachen, die Thunberg von seinen Reisen mitgebracht und der Akademie geschenkt hat, und die nun nicht, wie Linnes Sammlung, ins Ausland gehen werden. Für einen Privatmann war es ein außerordentlicher Reichtum, und es sind viele Seltenheiten dabei. Besonders merkwürdig waren mir drei große Gazellen aus Afrika, ein Kasuar, ein kleiner Büffel aus Afrika, und eine kleine, seltene Art von Löffelgans. Der Garten ist ziemlich groß und in guter Ordnung. Als etwas Ungewöhnliches wurde mir noch ein Zuckerahorn gewiesen, der sehr selten so hoch nordwärts fortkommen soll.

[796] Du kannst wohl glauben, daß ich auch die Bibliothek besuchte, wo für mich die sogenannte silberne Handschrift des Ulphilas das einzige war, wonach ich mich umsah. Ich habe sie in den Händen gehabt und, ohne etwas davon zu verstehen, einige Minuten säuberlich darin geblättert. Schon dieser Umstand beweist Dir, daß sie nicht so sehr abgegriffen und zerrissen sein kann, als der verstorbene Küttner erzählt, weil man sie ohne Schwierigkeit und ohne Erinnerung einem gewöhnlichen Fremden in die Hände gab. Es haben nur wenige Blätter so gelitten, daß man sie für unleserlich erklären müßte. Ich verstehe freilich garnichts von dem Idiom. Daneben liegt die Ausgabe des Eduard Lyn, vielleicht kommt nun auch die schöne Ausgabe unsers Landmannes hin. Die Geschichte des Buchs, und woher der Name silberne Handschrift kommt, ist Dir bekannt, hier wäre es zu weitläuftig, mehr davon zu sagen. Die übrigen Merkwürdigkeiten der Bibliothek übergehe ich, bis auf die Toilette, welche die Stadt Augsburg, glaube ich, der jungen Christine geschenkt hat. Die Künstler sollten sie wohl sehen, welche zuweilen die mittelmäßigsten Produkte unserer Zeit ausposaunen. Herr Samuel Torner, der Kustos der Bibliothek, war ein gefälliger, unterrichteter Mann; und nachdem wir ziemlich lange zusammen Französisch und hier und da auch etwas Englisch gesprochen hatten, machte ich erst die Entdeckung, daß er auch Deutsch verstand, da er mir zum Andenken ganz richtig einen Vers aus Haller aufschrieb.

In meinem Zimmer hier in Upsala hingen die Köpfe von Biörnstahl, Stenbock und Linné, von Bernigeroth recht brav gemacht; und die Helden aus dem Siegwart, kläglichen Andenkens, gar jämmerlich anzuschauen; von Bumburg del. Schleich engraved.

Die Merkwürdigkeiten von Upsala sind, wenn man [797] kein Stockgelehrter ist, in einigen Stunden überschaue. Da ich aber zu Ehre der schwedischen Akropolis Minervens einige Tage dableiben wollte, setzte ich mich ganz gemächlich Siegwarts Mariane unter dem Spiegel gegenüber und las die Aristophanes Ekklesiazusen und seine Lysistrata, die ich mir nach den Wolken und nach den Rittern und den Fröschen zum Antinarkotikum erkieset hatte. Auch der Schönsprecher Seneka half mir hier und da ein Stündchen angenehm zubringen, meistens auf seine eigenen Kosten. Alle Augenblicke trat mir Tacitus vor das Gedächtnis, und ich zog unwillkürlich die Parallele zwischen ihm und Burrhus, wo denn der ehrliche Schulbeutel wie ein Tertianer vor einem vollendeten Manne zurücktrat. Er scheint aber auch gewissenhaft in seinen Busen gegriffen zu haben, indem er seine Apologie auf eine ganz naive Weise macht. »Non sum sapiens«, sagte er, »et ut malevolentiam tuam pascam, nec ero. Exigo itaque a me, non ut optimis par sim, sed ut malis melior. Hoc mihi satis est, quotidie aliquid ex meis vitiis demere et errores meos objurgare.« Das ist nun freilich wenig genug für einen Stoiker zur Zeit der Schande und allgemeinen Verdorbenheit, aber es ist doch offenherzig; und wir sind nun selbst Schuld daran, daß wir den Schulmeister so apotheosiert und den wackern Burrhus so ziemlich über ihm vergessen haben.

Noch einen Spaziergang machte ich hinaus nach Altupsala, das ungefähr eine Stunde von der neuen Stadt liegt. Dort soll bekanntlich die Residenz der alten heidnischen Könige gewesen sein; und man zeigt noch zwei Hügel als Grabmäler. Das ist wahrscheinlich genug; sie sehen ganz den übrigen sogenannten Hünengräbern ähnlich. Die jetzige Kirche daselbst soll nicht allein die älteste in ganz Schweden, sondern [798] auch noch aus dem tiefsten Heidentume sein. Die frommen Faseler lassen sie sogleich nach der Sintflut entstehen und würden sie noch gern auch hinter die Flut hinausrücken, wenn es nur die Bibel einigermaßen erlauben wollte. Strabo soll wenigstens schon davon sprechen. Das weiß ich nicht. Tacitus sagt aber von den alten Deutschen, zu denen man doch wohl die Bewohner der dortigen Ufer auch zählen muß: »Caeterum nec cohibere parietibus deos, nec in ullam humani oris speciem assimilari ex magnitudine coelestium putant«; wie die Parsen auch dachten. Das magst Du nun nach Deiner Weisheit untersuchen. Übrigens merkst Du wohl, daß ich in Upsala war. Ich glaube, ich habe seit zehn Jahren kaum so viel Latein geschrieben.

In einer Gesellschaft warf ich von ungefähr die Frage auf, woher wohl der Name Upsala käme; denn ich reite gern auf dem Steckenpferde der Etymologie. Solltest Du wohl glauben, daß die anwesenden Herren von Upsala ihre Unwissenheit gestanden? Eine solche Schande ließen deutsche Gelehrte nimmermehr über ihr Athenäum kommen; eher faselten sie eine ganze Atlantis von Aberwitz ab. Ich fragte weiter: »Wie heißt denn der hier vorbeiziehende kleine Fluß?« Antwort: »Die Sale.« »Also ist ja wohl ziemlich natürlich Upsala Upon the Sala.« Wir schlugen etwas Gelehrtes nach, und ich hatte das Vergnügen zu sehen, daß schon Nordheck meine Vermutung als die wahrscheinlichste aufgestellt hatte. Wenn ich nur fleißiger wäre und mehr Applikation zum Dienst hätte, sagen die alten preußischen Hauptleute, könnte ich wohl noch ordentlich die kritische Wurfschaufel führen lernen.

Der Weg von Upsala hierher ist äußerst angenehm und eine wahre Spazierfahrt zuweilen an dem Mälar[799] herab, zuweilen über kleine Anhöhen durch die schönsten Gruppierungen. Die Dörfer sind in Schweden klein; oft stehen nur einige Häuser zusammen, oft ist nur ein einziges, nachdem es der Boden leidet. Das gibt bei eben keiner starken Bevölkerung der Gegend doch ein freundliches, lachendes Ansehen. Das Nämliche ist einigermaßen der Fall in Liefland; nur sind dort die Häuser Troglodytenhöhlen und die Einwohner Bilder des Jammers. Von der Nettigkeit einer schwedischen Bauernwirtschaft hat man selbst in Deutschland keine Begriffe.

Und nun hier Stockholm? Stockholm wird nicht mit Unrecht das Paradies des Nordens genannt, wenn man die schöne Gruppierung der Gegend nimmt. Man kann es vielleicht kaum eine Stadt nennen, denn man merkt fast nirgends, daß man eingeschlossen ist und überall hat man die Aussicht ins Freie. Stockholm ist einer der lieblichsten Plätze, die ich gesehen habe: und wenn der Mälar die Sonne des Arno hätte, würden hier mehr Elysium sein als in Florenz. In Beschreibungen bin ich nicht stark und nicht glücklich, will also auch keine versuchen. Du magst die ganz gute Abbildung davon in Küttners Reise nachsehen. Acerbi steht mit Vergnügen auf der Brücke vor dem Schlosse. Dort ist es allerdings schön. Aber ich suche gern die Höhen, und da ist mir kein Punkt reizender vorgekommen als jenseits des Sees oben ein Garten neben der Katharinenkirche, der zugleich ein Gasthaus ist und Mosebak, oder Mosesberg heißt. Von hier übersieht man am besten die ganze große Szene, aufwärts und abwärts am Mälar, mit dem ganzen wogenden Getümmel zu Wasser und zu Lande. Der Aubergist des Gartens hat das Eigene, daß er mehrere Sorten Bier von Beeren braut, die hier für etwas Köstliches gelten und für gewisse Gaumen es auch sein[800] mögen. Ich ließ mir eine Flasche Himbeerbier geben, konnte es aber kaum trinken, so stark war es; und ich erinnere mich nicht, jemals ein so starkes Getränk dieser Art versucht zu haben. Ich trinke nur gegen den Durst und überlasse den Schmeckern die Würdigung dieser Art von Industrie. Das Wörtchen Mosebak hat übrigens ein gleiches Schicksal mit dem Namen der ersten Station von hier nach Norköping; nur daß die Zweideutigkeit hier nicht ganz so unartig und katullisch ist als dort auf der Post.

Sergel ist wieder ganz wohl, so gut man es nämlich von einem Mann in seinen Jahren erwarten kann. Ich ging nicht zu ihm, weil ich nicht glauben konnte, daß ihm die Störung von einem wildfremden Menschen Vergnügen machen würde; ob man mich gleich nachher versichert hat, ich würde ihn sehr freundlich gefunden haben. Seine Statue von Gustav dem Dritten ist fertig und wird jetzt von einem Franzosen vergoldet und poliert. Der Franzose selbst war äußerst poliert; wenn Sergel nur dafür sorgt, daß es die Statue nicht zuviel werde. Das Werk macht seinem Meister Ehre und wird unten am Wasser auf dem großen Platze hinter dem Schlosse, der schönen Pyramide gegenüber, sich sehr gut machen, wo auch schon das Piedestal gesetzt ist. Ich bin sonst gar nicht Liebhaber von Mischung des Antiken und Modernen, sie wirkt in Berlin auf dem Wilhelmsplatze sehr unangenehm; aber hier ist die Abweichung so sanft und noch so sehr im Geist der Antike, daß sie sehr gefällig erscheint und das Werk doch noch ernst bleibt. Das schwedische Kostüm ist dem Künstler schon willkommener als das deutsche.

Die schönsten Häuser in Stockholm, nächst dem Schlosse, sind wohl das Opernhaus und gegenüber das Haus der Prinzessin. Die Statue Gustav Adolfs[801] auf dem Platze dazwischen tut durch die unten eingelegten kolossalischen Medaillons seiner Minister und Generale keine schöne Wirkung. Der Huf von dem Pferde des Königs scheint fast die Stirne des Ministers einschlagen zu wollen, ein Anblick, der eben so grell und widerlich ist als die Sklaven unter dem ehemaligen Ludwig in Paris und auf der Spreebrücke in Berlin. Sind denn die Menschen so weggeworfen, daß sie keine Größe denken können ohne Herabwürdigung ihrer Natur? Ich kann mir keine mit ihr denken. In dem Palast der Prinzessin sind an den Treppen vier Säulen von Granit, die eine feine, glänzende Politur haben und vielleicht das Schönste sind, was man nicht allein in Schweden, sondern wohl überhaupt in dieser Art hat. Ich spreche nur von der Politur. Hier und da an den Brücken und an den Toren sieht man denn doch auch einen Anfang, daß man in Granit arbeiten will und kann. In Petersburg versteht man es besser. Das neue akademische Gebäude in Abo und diese Säulen hier in Stockholm sind das Beste, was ich an Granitarbeit in Schweden gesehen habe, sind aber mit den herkulischen Unternehmungen dieser Art in Petersburg nicht zu vergleichen.

Im Opernhause führte man mich durch die ganze unglückliche Maskerade, vom Anfang bis zu Ende, wo der vorige König das Leben verlor. Der Raum ist ziemlich klein, und wenn Ankarström nicht die Unbesonnenheit gehabt hätte, eben diese Pistolen zu gebrauchen, wäre er in der Menge der Mitwisser und Mithelfer wohl schwerlich entdeckt worden. Es drängt sich ein eigenes Gefühl auf in diesem Hause, sowie in dem Michailowschen Schlosse an der Newa, wo zwei Männer, von denen ihr Zeitalter sehr ungleich urteilte, sich selbst die Szene ihrer letzten Katastrophe bauten. Mir war das kleine Zimmer sehr merkwürdig, wo Gustav die [802] letzten Momente seines Lebens mit fester Besonnenheit zur Erhaltung eines politischen Gebäudes anwendete, von dem es noch sehr ungewiß ist, ob es zum Besten des Reichs und seines eigenen Hauses aufgeführt wurde. Ein guter König kann nie zu viel Gewalt haben, und ein schlechter hat bei der größten Einschränkung immer noch zu viel. Wer trifft nun die Mittelstraße? Freilich ist es immer das Sicherste, in öffentlichen Verhältnissen mehr auf das Schlimme im Menschen zu rechnen. Denn fast immer lehrt die Geschichte, daß in diesem Falle unter der Maske allgemeiner Philanthropie und in dem Namen der Gesetzlichkeit alles Böse geschieht, wozu die Macht da ist. Pleonexie scheint die einzige Erbsünde der Menschen zu sein. Nur wo der Eigennutz gar keinen Vorteil sieht, nimmt er sich nicht die Mühe, ungerecht zu sein, und macht sich dann kein kleines Verdienst aus dem schönen Kleide der Mäßigung, das er trägt.

Der Weg hinaus in den Park, rechts am Wasser hin in das Bad und links auf der andern Seite wieder herein, ist ein so romantischer Gang, als man ihn sich kaum in Hesperien denken kann. Es sind dort eine große Anzahl Landhäuser, unter denen sich die Sitze des spanischen, des englischen und des russischen Gesandten auszeichnen. Aber was mir mehr zusprach als alle Einrichtungen des Luxus, sind die großen schönen Eichen, die hier einen wirklich heiligen Hain bilden, wenigstens erweckt er dieses Gefühl, wenn man von den Hyperboreern herunterkommt. Zur Dokumentierung seines echten Geschmacks hat der spanische Gesandte einen schönen Teil davon niederschlagen lassen, um etwas eben nicht sehr Schönes auf die Stelle zu bauen. Kannst Du denken, daß ich einen Ball im Parke ausschlug, wo ich die Hoffnung hatte, die ganze schöne schwedische Welt, so viel[803] nämlich der August haben kann, beisammen zu sehen? Dafür lief ich erst draußen in den Felsenstücken herum und setzte mich dann zu Hause zu meinem ungezogenen Attiker Aristophanes. Was gehen mich die Bälle an? Ich tanze und spiele nicht, und bin schon vorher überzeugt, daß die Schweden artig und brav und ihre Frauen schön und liebenswürdig sind. Wenn ich länger hier bliebe, wollte ich auch ihre Bälle besuchen.

Eine neue, nicht unwichtige Erscheinung ist hier die Bearbeitung des Porphyrs oben am Elfdahl an der norwegischen Grenze. Der Stein ist von vorzüglicher Schönheit und die Politur vortrefflich. Eine Gesellschaft hat, wie ich höre, die Unternehmung auf Aktien gemacht, welsches insofern wohl nicht sehr gut ist, da man wahrscheinlich auf Gewinn sehen und dem Institut durch teuere Preise schaden muß. Man kann aus fremden Gegenden Bestellungen machen und seine eigenen Zeichnungen einschicken, die nach bestimmten Preisen recht gut ausgeführt werden. So viel ich weiß, ist der Porphyr in Europa höchst selten; und wenn der Schatz gehörig benutzt wird, kann er für Schweden noch eine wahre Wohltat werden. Die Formen haben noch nicht ganz die Zierlichkeit und Leichtigkeit, die man erst durch lange Übung in der Arbeit gewinnt, aber es ist auf alle Fälle ein Artikel, der sich bei dem bekannten Kunstsinn der Schweden zu einer hohen Vollkommenheit bringen läßt und die Aufmerksamkeit des ganzen nördlichen Europa verdient. Der Oberaufseher der Unternehmung ist der Münzdirektor Hjelm, ein Mann, der in dem Kredit gründlicher Kenntnisse und eines feinen Geschmacks steht.

Nun kommt eine kleine, für mich etwas demütigende Geschichte. Ich bin mehrere Male in Weimar gewesen, [804] und meine Freunde wollten mich wiederholt zu der schönen Dichterin Imhof führen. Aber wenn ich spazieren wandle, ist mein Aufzug selten so, daß ich mit einigem Anstand in die Schlösser der Fürsten treten kann, wo sie damals wohnte, ich hatte sie also nie gesehen. Hier am Mälarsee war ich billig weniger besorglich wegen der Förmlichkeiten des Aufzugs, und da ich hörte, daß sie in Marienburg wohne, nahm ich ein Boot und ließ mich hinausrudern. Man wies mich in ein stattliches Haus; ich gab meine Karte ab und wartete eine Minute. Es erschien eine junge, artige Dame und sagte mir nicht unfreundlich, ganz naiv und unbefangen und ohne alle Vorrede: »Ich habe Ihren Namen in meinem Leben nicht gehört.« Das war mir nun freilich eben nicht angenehm. »Habe ich die Ehre«, fragte ich, »mit der Frau von Hellwig zu sprechen?« »Meine Schwester ist krank«, sagte die Dame schnell, »und Sie können sie nicht sehen.« »Das tut mir leid«, sagte ich. »Wenn Sie in acht Tagen wiederkommen wollen«, sagte sie, »kann es vielleicht geschehen.« »Das kann ich nicht«, war meine Antwort. Sie zuckte die Schultern und ich unwillkürlich ein klein wenig auch, und ging. Siehst Du, das ist nun so immer mein Schicksal, wenn ich mich einmal zwinge, artig zu sein. Ich dachte ungefähr so, da du nun hier bist, mußt du denn doch die Frau sehen, die uns die lieblichen Schwestern von Lesbos gegeben hat, das glaubte ich, der deutschen Muse und meinem eigenen Geschmacke schuldig zu sein. Nun, nun; man tut seine Pflicht am Mälar und an der Arethuse, geht dann ruhig weiter und – tröstet sich. Ich habe Ihren Namen in meinem Leben nicht gehört, war der wörtliche Bescheid, der mir noch im Geiste einige Minuten im Boote nachtönte. Wenn aber meine Eitelkeit gar zu sehr dadurch gekränkt worden wäre, würde ich Dirs hier nicht erzählen, [805] da es außer meinem dienstbaren Mephistopheles aus Stockholm niemand hörte, und dieser verstand nicht Deutsch. Eben hatte ich die Sache mit ihrer Nutzanwendung gehörig durchmoralisiert, so hielten meine Bootsweiber – denn diese machen hier meistens die Gondelführer – rechts am Zollhause und meldeten, daß sie nichts Accisbares hätten, eine Ordonnanz, die mir sehr überflüssig scheint, da man nach Stockholm von hundert Ecken Contreband bringen kann und ihn gewiß nicht auf dem Mälar einführen wird. Also hat man denn doch auch hier auf die nämliche Weise die Art christlich israelitischer Beschneidung.

Von ihrem Könige sprechen die Stockholmer Schweden nicht viel; und über den letzten Reichstag wird hier und da etwas gebrummt. Es mag freilich nicht ganz erbaulich dort hergegangen sein, wie man hört. Sie haben dabei das Solamen miserorum miserum, daß es anderwärts wohl noch kaum so vernünftig hergeht. Man beklagt sich doch noch etwas, daß der König zu wenig freundlich und leutselig sei und vorzüglich gegen die Hauptstadt eine sichtbare Abneigung zeige. Wenn das wahr ist, so versteht der König freilich nicht ganz seinen Vorteil; denn ich dächte, die Stockholmer wären ein ganz gutmütiges Völkchen und durch Popularität leicht zu gewinnen. Man muß freilich die Sache auch etwas psychologisch würdigen. Der König war, als die Katastrophe mit seinem Vater eintrat, in den Jahren, wo die Ereignisse mehr auf die Nerven und die Empfindungen als auf den Verstand wirken. Die Fertigkeit der Stimmung in beiden über naheliegende große Begebenheiten bleibt, ohne daß der Verstand eine festere Herrschaft darin gewinnen könnte, zumal wenn ein rastloser Tätigkeitstrieb in engere Grenzen eingeschlossen ist. [806] Drotningholm hat mir besser gefallen, als Haga, nicht weil es größer und prächtiger ist, sondern weil ich die Lage am See schöner und gesunder finde. Die Gärten sind sehr weitläufig, aber ohne schöne, freiere Anordnung. Es sind sogar viel teuere Spielereien da, die ins Kleinliche gehen. Jetzt werden sie sehr vernachlässigt. Haga hat zwar eine liebliche, einsiedlerische Lage, muß aber der Gesundheit nicht sehr vorteilhaft sein, denn ich habe in dem Wasser umher eine Menge Sumpfpflanzen gesehen; und der Grund der Gebäude erhebt sich nur sehr wenig über die Wasserfläche. Man zeigt natürlich allen Fremden noch mit vieler Heimlichkeit das Fenster, wo die Verschworenen einige Zeit vor der Redoutenkatastrophe mehrere Tage lauerten, um ihren Vorsatz auszuführen.

Das schwedische Militär hat mir vor allen übrigen wohl gefallen. Die Leute sind gut gekleidet und gut genährt, haben Wendung und Anstand und zeigen große Geschicklichkeit. Es tut mir leid, daß ich etwas zu spät gekommen bin, um noch einige Übungen in Schonen zu sehen. Die Kleidung der Offiziere ist vorzüglich sehr ernsthaft und ästhetisch, nicht wie der neue russische und preußische Schnitt, der mir immer nur aussieht wie die personifizierte Armut und dem Offizier höchstens die Gestalt eines Solotänzers gibt, die diätetischen Einwendungen gar nicht zu erwähnen. Das vernachlässigte heilige Bein ist nach dem Ausspruch der Ärzte nur zu oft die Ursache zu den Erkältungsübeln, Koliken, Fiebern, Gichten und wie die ganze Kohorte heißen mag. Mir ist es eine sonderbare Erscheinung, einen alten wackern Stabsoffizier zu sehen, der seine etwas stattliche Korpulenz vorzüglich des mittleren Hinterteils mit der neuen Ordonnanz kaum decken konnte. Die Stutzerei bringt freilich dabei noch ihre Übertreibung an. Dem gemeinen Soldaten [807] hat man zum Glück nicht so viel zugemutet, und er ist verhältnismäßig etwas zweckmäßiger gekleidet. Gegen die jetzigen russischen Beinkleider habe ich einzuwenden, daß sie nicht über den Stiefel gehen und den Fuß nicht vor dem Einfallen des groben Sandes und der kleinen Steine schützen; eine Hauptsache bei dem Marsche! Daran scheint der Kaiser bei Abschaffung der Potemkinschen Ordonnanz nicht gedacht zu haben, dort war der Fuß gehörig gesichert.

Mit Acerbis Reise sind die Schweden sehr übel zufrieden; leugnen aber doch nicht, daß viele Wahrheiten darin stehen, und daß das Buch mit Geist und Leben geschrieben ist. Mehrere Irrtümer habe ich sogar auf meinem kurzen Durchzuge zu entdecken Gelegenheit gehabt, die ihm noch nicht alle gerügt worden sind. Es ist indessen nicht zu leugnen, er hat in so kurzer Zeit viel bemerkt, und man muß sich wundern, daß sein Buch, da es in so kurzer Zeit so viel enthält, nicht noch mehr Unrichtigkeiten hat.

Daß die Schweden nichts von deutscher Literatur wissen, ist eine ziemlich laute Klage. Es fragt sich, ob wir die ihrige besser kennen. Von scientifischen Dingen sind sie gewiß unterrichtet, sobald etwas Wichtiges in irgend einem Fache bei irgend einer Nation erscheint; in vielen gehen sie voraus. Wer kann ihnen aber zumuten, alle unsere Dichter und Romanschreiber näher zu kennen, deren vorzügliches Interesse doch nur für die Nation selbst und oft für diese nur sehr ephemerisch ist? Ich habe aber weit von Finnland oben herunter auch auf dem Lande viele Übersetzungen aus dem Deutschen gesehen, worunter besonders Lafontaines Romane waren. Man hat mir eine Anekdote von dem Regimentssekretär Leopold erzählt, welche auch hierher gehört. Er war im Schauspiel, als eben eine Übersetzung von Kotzebues Menschenhaß [808] und Reue gegeben wurde. Der Mann ist seiner Nation selbst als guter Dichter und strenger Kritiker bekannt, und er lärmte und fluchte bei der Vorstellung über Kotzebue mit vieler Heftigkeit und weinte abwechselnd bei dieser und jener Stelle die hellen Tränen. »Aber mein Gott«, sagte man ihm, »was Sie für ein Widerspruch sind, so bitter zu schelten und so gerührt zu sein.« »Aber ich bin kein Widerspruch«, sagte er: »der Tadel gilt dem Ganzen, und die Rührung ist von dem Einzelnen. Vieles Einzelne ist vortrefflich, und das Ganze ist nicht gut.«

Einige aufgefundene Landsleute hielten mich noch einige Tage länger hier. In Reyer, dem sächsischenChargé d'affaires, fand ich einen alten Universitätsbekannten, und es war natürlich, daß wir das Andenken der an der Pleiße zusammen verlebten Stunden am Mälar feierten.

Kopenhagen, den 28. August

Den siebenzehnten fuhr ich aus Stockholm, und den fünfundzwanzigsten fuhr ich über den Sund und hierher. Du siehst also, daß ich weder sehr schnell noch sehr langsam gereist bin. Es ist doch wohl durch Schweden die lieblichste Fahrt, die ich in meinem Leben gemacht habe; wenn auf dem Lande nur ein wenig besser für eine leidliche Küche gesorgt wäre. Ich vermisse sie zwar ohne weitere Unbequemlichkeit, das dürfte aber nicht der Fall mit jedermann sein. Man kann sich freilich leicht einrichten und von Stadt zu Stadt speisen; aber dann ist man wieder wegen der Reise verlegen, wenn man das Land genießen will, welches doch fast immer auf dem Lande besser ist als in der Stadt.

Den ersten Tag wollte ich den Abend in Nyköping[809] sein. Das geschah denn auch; aber ziemlich spät. Ich fuhr nicht früh von Stockholm aus, wurde hie und da aufgehalten, fand den Weg schön, eilte nicht; elf schwedische Meilen sind schon eine gute Entfernung; also kam ich erst gegen Mitternacht an. Alles schlief im Hause, ausgenommen die Schußkerle, die mich sogleich weiterspedieren wollten. Aber ich wollte hier schlafen. Es hatte den Abend stark geregnet, ich war ziemlich naß. Gern wäre ich die Nacht zu Fuße weitergegangen; aber zum Fahren war es mir in den nassen Kleidern bei starkem Winde zu kalt. Zu Fuße konnte ich nun hier nicht gehen, weil ich mir in Stockhohn dreißig Pfund Gelehrsamkeit hatte aufpacken lassen, die ich mit meinem Reisesack zugleich unmöglich tragen konnte. Ich klopfte und lärmte mit meinem Postillion an allen Türen des Hauses; niemand erwachte, wir riefen, niemand hörte; oder niemand wollte hören. Ich nahm also die schwedische Gelehrsamkeit des Herrn Ulrich aus Norköping, richtete sie mit meinem Tornister gehörig zum Kopfkisen ein und legte mich kurz und gut auf die steinerne Flur des Hauses hin, um zu schlafen, denn an Essen war nicht mehr zu denken, ob ich gleich ziemlich hungrig war. Das ging nun auch so gut es ging. Aber in Nyköping ist den siebzehnten August die Nacht doch schon etwas frisch zumal auf der steinernen Flur; und ich war durchregnet, also der kalte Schauer weckte mich. Überdies hatte ich ganz fremde Schlafkameraden in der Nähe, die ein gar sonderbares Tongemisch von sich gaben, so daß ich lange Zeit konjekturierte, was es wohl für Geschöpfe sein könnten. Sowie ich mich rührte schien es ängstlich zu werden und sich in Verteidigungszustand zu setzen. Ich riet hin und her, aut Papageien, Meerschweine und Eichhörnchen. Als es Tag ward und ich die Schlafstelle überschauen konnte, [810] sahe ich denn, daß ein Kater und eine Katze ihr Wesen dort trieben und vermutlich ihre Familie dort hatten. Du mußt mir meine Unwissenheit zugute halten, denn in meine isolierte Haushaltung ist nie ein lebendiges Geschöpf gekommen, und zu den Katzen habe ich besonders sehr wenig Anmutung. Nun machte ich endlich ernstlich Lärm und weckte eine Art von Wirtin, die mir aber sagte, daß ich hier im Hause durchaus nichts haben könne, gegenüber sei ein Traiteur. Ich ging dorthin und pochte auf, war willkommen und ließ mir ein Frühstück geben, um das Abendbrot zu ersetzen. Warum hatte mich nun der Pinsel von Postillion nicht gleich hierher gebracht? Hier wäre ich auf alle Weise sehr gut gewesen und hätte mir das kalte, schlechte Lager bei den Katzen mit dem gelehrten Kopfkissen erspart; denn ich bin jetzt eben nicht mehr in der romantischen Stimmung.

Nachdem ich mich gewärmt und gelabt hatte, setzte ich mich wieder in die Karriole und fuhr die kleine Tagereise herüber nach Norköping, wo ich zwei Tage blieb, weil – mirs gefiel; das heißt, vorzüglich gefiel; denn wenn ich überall hätte bleiben wollen, wo mirs gefiel, wäre ich wohl mit meinem Sommer an Zeit und Börse sehr zu kurz gekommen.

Die Lage von Norköping wird jedermann äußerst schön vorkommen, der nicht von Stockholm kommt. Die Motala, so heißt, glaube ich, der Fluß, der aus dem See herab durch die Stadt fließt, macht durch einige nicht unbeträchtliche Wasserfälle in der Stadt selbst eine sehr angenehme Partie. Unter der Stadt trägt er sogleich dreimastige, ziemlich schwere Schiffe, und der Schiffshau scheint dort an den Werften nicht unbeträchtlich zu sein. Hier ist nach Upsala wieder der erste beträchtliche Strich, den ein Bewohner des platten Landes für eine Ebene gelten lassen kann. Wenn [811] man aber in Schweden von einer Ebene spricht, darf man nicht an die Breiten bei Liegnitz, Lützen oder Chalons denken. Auch hier bei Norköping sind kleine, angenehme Erhöhungen, und in einer Entfernung von einigen Stunden gehen sogleich wieder höhere Berge an. Schon die Erscheinung der Wasserfälle zeigt, daß die Partie nicht ganz eben sein kann. Die Stadt hatte ehemals beträchtliche und einträgliche Messingfabriken, die aber seit einiger Zeit sehr gesunken sind. Das Bad, oder vielmehr der Lustort Himmelsdalund ist ein freundlicher Spaziergang nicht weit von der Stadt, wo der Genügsame mehr findet, als er hofft, an Natur und Lebensgenuß, und wo auch der feinere Schmecker befriedigt wird. Die Gesellschaft ist artig, gebildet und unterrichtet, wie man denn in keinem Lande mehr allgemeine Kultur findet als in Schweden. Herr Ulrich, dem ich seine Gelehrsamkeit von Stockholm ablieferte, nahm mich mit patriarchalischer Herzlichkeit auf und erwies mir alle Freundlichkeit, die ich, von einem Landsmanne er warten konnte. In seiner Gesellschaft machte ich die Bekanntschaft des Herrn Lindahl, eines Mannes, der durch seine Kenntnisse und liberalen Gesinnungen jeder Nation Ehre machen würde. Als Mann von Vermögen und ohne Kinder hat er die ehemaligen Handelsgeschäfte seines Vaters aufgegeben, hat viele Reisen durch mehrere Teile von Europa gemacht und ist auf denselben mit den besten Köpfen in Deutschland und Frankreich persönlich bekannt geworden. Jetzt lebt er nach seiner Neigung dem Vergnügen der Musen, und in seinem Hause, das freundlich und gut eingerichtet ist, findet man literarische Schätze, wie man sie vielleicht nur selten bei einem Privatmanne, am allerwenigsten bei Kaufleuten trifft.

Er hat die besten Bücher über Kunst und Kunstgeschichte [812] und besitzt selbst eine Kupferstichsammlung von Porträts von 20000 Stück. Auch an Geschichte und Philosophie ist er ziemlich reich. Unter seinen seltenen Büchern sind einige, die man vergebens in manchen größeren Sammlungen sucht. Er zeigte uns zwei schön geschriebene Korane; ein gedrucktes und ein geschriebenes Exemplar von dem verrufenen Buche problematischer Existenz de tribus impostoribus. Ich konnte während der kurzen Durchsicht nichts Besonderes darin finden. Auf alle Fälle war es nicht das alte echte vom Kaiser Friedrich dem Zweiten. Bayle hat ebensoviel Ketzerei, weit gründlicher und scharfsinniger. Sodann hatte er noch einen sehr seltenen, konfiszierten, schwedischen Katechismus von einem gewissen Bischof Emporagrius von Strengnäs, welcher den Weibern die Persönlichkeit absprach und sie zu den Mobilien des Mannes zählte. Du kannst denken, daß er abgesetzt und sein Buch verbrannt wurde. Seine übrigen Seltenheiten habe ich vergessen; aber der liberale Sinn des Mannes machte mir viel Vergnügen. Er kannte unser Vaterland und unsere deutsche Literatur besser als mancher deutsche Professor.

Den Store Kellar, oder das große Wirtshaus, bei Herrn Lüdeke, kann ich Dir in jeder Rücksicht empfehlen, wenn Du einmal nach Norköping kommst. Quartier und Kost und Preis ist gut; wenn nur alles so bleibt, welches freilich bei Wirtshäusern nur selten der Fall ist. Nirgends ist Veränderung schneller und merklicher als in Wirtshäusern und Regierungen.

Von Norköping bis Jonköping, über Linköping und Grenna, ist die ganze Fahrt schön und zuweilen höchst romantisch. Die Landeskultur ist überall lachend und musterhaft. Bei Bankeberg konnte ich auf einmal sechs Kirchdörfer übersehen, und bei Oestad[813] waren zwei Kirchen in einer so kleinen Entfernung, daß man mit einer Falkonetkugel von einem Turm zum andern hätte schießen können, welches man in Schweden kaum suchen sollte. Eine vorzüglich schöne, fruchtbare Gegend ist bei Miölby an einem Flusse, der rechts aus den Bergen herabkommt. Alle Gesichter zeigten Zufriedenheit und Frohsinn alles atmete Fleiß und Tätigkeit. Bei Linköping habe ich einige Mädchengesichter gesehen, ich möchte sie fast Gesichte nennen, die Raphael in seiner schönsten Phantasie nicht schöner erblickt und nachgeschaffen hat. Von Kumla aus hatte ich einen Karren erhalten, der an Leichtigkeit und Gebrechlichkeit wohl kaum seinesgleichen hatte. Die Karriole hat bekanntlich nur zwei Räder, und eins davon war hier, und eben auf meiner Seite, kein Kreis, sondern ein Sphäroid. Nun stelle Dir die Fahrt auf den Felsenwegen vor, die halsbrechend immer vorwärts, aufwärts und abwärts ging. Die Bewegung hatte etwas Ähnliches von dem Stampfen einer Ölmühle, bei dem sich meine Rippen fast so schlecht befanden als in der russischen Telege. Ich muß indessen den Schweden die Gerechtigkeit widerfahren lassen, ich habe nur wenig so schlechte Fahrzeuge bekommen. Dafür aber haben die schwedischen Postillione eine Gewohnheit, die ich mir nicht anders als aus ihrem Patriotismus erklären kann. Die Straßen sind nämlich in Schweden sehr gut und meistens ziemlich glatt. Nun kann es doch nicht fehlen daß nicht zuweilen hier und da kleinere oder größere Steine auf dem Wege liegen sollten. Über alle diese Steine scheint nun der schwedische Postillion recht absichtlich zu fahren und dieselben nie zu verfehlen. Vermutlich soll jedes Rad die Stelle eines Rammels versehen, den Stein endlich mit zerstoßen und den Weg glätten helfen. Das ist zwar nicht sehr gut für [814] die Reisenden und ihr Fuhrwerk, aber übrigens wirklich gemeinsinnig genug. Bei uns im lieben Vaterland ist davon in allem gerade das Gegenteil. Denn sobald da eine Chaussee fertig ist, fährt jeder achtzig Zentner schwere Lastwagen sogleich Spur und immer wieder Spur, so daß man eine halbe Stunde rückwärts den Weg schon wieder bessern muß, und was das schlimmste ist, nicht bessern kann. Gegen das Spurfahren hält kein Wegebau. Und wir Deutschen sind, wie in vielen andern Dingen, hier noch so naiv, daß wir kaum daran denken. »Er kann nicht Spur fahren«, sagen die Fuhrleute und Bauernknechte von einem erzdummen Kerl. Wollte doch der Himmel, daß niemand Spur fahren könnte, das würde uns gute Wege machen und erhalten helfen. Jede Arbeit des Spurzuwerfens ist fast so gut als verloren, weil der Boden nie wieder die erste Festigkeit gewinnen kann, weil sie sogleich von neuem, oder an ihrer Seite eine andere ebenso unsinnig eingeschnitten wird. Ich erinnere mich, daß ich einmal einem Menschen bei Lützen etwas darüber sagte, der mit der Schaufel dortstand und die Spur zuwarf. »Häh wärds wuhl bässer wüsse, als där knähdige Kuhrfärst!« sagte mir der dicke Kerl recht ärgerlich. Da hat alle Vernunft ein Ende, was ist dagegen zu sagen? Der Glaube soll selig machen. Wer ihn nur hätte; da könnte man freilich der Vernunft entbehren. Ich kann aber das Gegenteil nicht aus meiner Seele rotten. Ich gab mir geduldig Mühe, dem Menschen so deutlich als möglich zu zeigen, daß das Spurfahren höchst verderblich sei, und er fing an sich die Ohren zu kratzen und gab nun seine Überzeugung ebenso böotisch zu erkennen, als er mir zuerst den Einwurf machte.

Wenn ich es je dahin bringen könnte, daß niemand Spur führe, daß man die hartnäckigen Spurfahrer [815] endlich ins Zuchthaus steckte, so würde ich glauben, ich hätte eine Ehrensäule verdient.

In Schweden habe ich sehr wenige Spur gefunden, aber in Schweden auch gehen freilich nicht so viele und ungeheuere Lastwagen als in der Gegend von Leipzig. Um die Polizeischwere der Wagen bekümmert sich gewöhnlich auch keine Polizei; so wenig, als um die gesetzmäßigen Räderbeschläge.

Wenn man in Schweden ein Stündchen durch wilde Granitschluchten gefahren ist, kommt man oft wider Erwartung wieder in ein kleines, liebliches Paradies Von Osjö und Holkaberg und Grenna bis nach Jonköping herunter hat man rechts den Wennersee in unzähligen, oft romantischen Windungen.

Jeder Mensch hat seine eigenen Heiligentage, Bonaparte wie der Papst; also auch ich. Ehemals war einer meiner großen Heiligentage der fünfundzwanzigste April. Der Ursache liegt bei mir ziemlich tief in der Sakristei der Seele, die ich Dir gelegentlich wohl aufschließen kann. Der Aprilheiligentag ist nun etwas obsolet geworden, vermutlich, weil er – April war; nicht eben durch meine Schuld. Nun überraschte mich ein solcher Tag in Holkaberg. Du kannst zwischen dem fünfundzwanzigsten und siebzehnten aussuchen, welchen Du willst, und wirst in der Mitte wohl nicht sehr irren. Schon der Name Holkaberg hatte mich zur Andacht gestimmt; er klingt so voll und feierlich, vielleicht heißt er gar Heiligenberg. Das Wetter war das freundlichste des nordischen Sommers. Die etwas einsame, schön gruppierte Gegend am See hinauf und herab ist dazu gemacht, eine romantische Stimmung zu schaffen und zu vermehren. Als ich nun durch einen Blick in den Kalender um ein Jahr jünger ward, ward ich vielleicht dadurch nicht um ein Jahr weiser, aber doch einige Grade froher und lebendiger. Es war mir [816] alles wieder Gegenwart, als mich der Bursche so rasch am Strande des Landsees dahinfuhr, wie ich ehemals an diesem Tage Ananas suchte und nicht fand und halb grämlich, halb froh, doch ganz enthusiastisch, späte Hesperidenfrüchte zu einem kleinen Opfer wählte. Man mag doch wohl nur dann menschlich glücklich sein, wenn man sich etwas närrisch vergißt; doch so, daß man von der ernsten Mutterweisheit nicht zu niederschlagend strenge gestraft wird. Der ist doch ein armer Mann, der nichts in seinem Leben hat, das er noch einmal mit Genuß wieder leben kann. Gelbes Fürstenmetall will da nicht helfen.

Ich war aus dem Innersten meiner Seele, ganz allein in Skandinavien, ebenso froh, und vielleicht weit höher und reiner froh, als ob mir zehntausend vergoldete eiserne Söldlinge ein Lebehoch zugejauchzt und zugeklirrt hätten. Ich sang eine Menge Verse, eigene und fremde, und verlor mich mit den Worten: »Heureux celui pour qui ce jour sera la fête la plus chère«, auf einmal in eine stillere Träumerei einer andern Welt, aus der ich mich nur erst durch viele dunkle, unbekannte Übergänge wieder erholte. Ich wandelte unter den Manen der Männer, die mir im Leben viel galten, und denen auch ich nicht ganz unwert zu sein schien, bei Gleim und Herder und Schiller und Weiße. »Auch die Toten sollen leben, und die Hölle soll nicht sein!« brach ich plötzlich laut und stark aus, als ob ein Sturm von innen mich schüttelte; und der Knabe, mein Führer, blickte mich ängstlich an und hielt die Zügel sorgsamer, als ob er sagen wollte: »Ihr seid wohl ein sonderbarer, etwas unreimischer Mann.« Da aber bei mir die Ekstase der höheren Andacht vorbei war, und er mich wieder in Ruhe gesetzt sah, lächelte er ganz zutraulich und trieb seinen Gaul etwas lebendiger nach Grenna.

[817] Das sind meine Schäferstunden, wie Du wohl merkst, und ich würde sie wohl schwerlich für Rosts Schäferstunde hingeben, doch will ich die sechste Bitte weislich als Klausel angehängt haben. Wenigstens sind die meinigen um viele Prozente besser als die Schäferstunden des Herrn Amtmann Riem, dicken und groben Andenkens, der in Halle die Kollegia vergaß und die Nachtigallen totschießen ließ.

In Grenna fand ich zuerst wieder recht schöne Kirschen, in denen mein Appetit ziemlichen Aufwand machte. Sie waren freilich nicht ganz so gut als in Lodi, aber wenn man über den Bottnischen Meerbusen herunter kommt, ist man auch nicht ganz so schwierig, als wenn man den Monat vorher sich an die ganze Naturvergeudung am Ätna gewöhnt hat.

Von Grenna über Raby nach Jonköping ist die Fahrt am Wasser herunter noch sehr schön; besonders sind die Bergpartien rechts zuweilen äußerst malerisch. Bei Jonköping, einer ganz artigen Stadt am Anfang des Wennersees von dieser Seite, schließt sich die angenehme Partie, und nun kommen mehrere Stationen ziemlich wilder, undankbarer Wald. Aber auch hier hat der Fleiß aller Art mehr getan, als die Natur bei dem ersten Anblick zu erlauben scheint. Bei Stockholm hatte man angefangen zu ernten, und ich hatte von Zeit zu Zeit bis Jonköping herab Erntegruppen gesehen, aber von hier an hörten sie auf. In einigen Gegenden zwischen Norköping und Linköping habe ich Kornhalmen von einer Höhe und Stärke gesehen, wovon ich vorher gar keine Vorstellung hatte. Nicht weit von Jonköping zog ich in einem Kornfelde, das noch nicht das beste war, ohne weiteres Suchen einen Stock aus, der zehn gesunde Ähren hatte. Eine elfte, die krank war, warf ich weg, weil sie kaum einige gesunde Körner zu enthalten schien. Die geringste von [818] diesen Ähren hatte sechsundvierzig und die beste achtundfünfzig Körner, und in dem ganzen Stocke zählte ich fünfhundertundvier. Auch habe ich viele einzelne Kornähren von sechsundsechzig Körnern gefunden. Mich deucht, daß dieses alles schon in Thüringen für gut gerechnet werden kann. Doch bin ich zu Hause nicht praktischer Landwirt genug, um gehörig bestimmt darüber zu urteilen.

Banarp, Byarum, Skillingaryd, Kläfshult sind von Jonköping aus lauter ziemlich waldige, unfruchtbare Stationen. Bis Skillingaryd machte ich den Fourierschützen des Doktor Gothilander aus Jonköping, der mich dort einholte. Bärnamo und Tano sind wieder schön; das Letzte an einem ziemlich großen Landsee, aber im ganzen sind doch nun die schöneren Partien zu Ende, bis man über die Berge herüber kommt nach Schonen. Indessen haben selbst die wilden Höhen der kahlen, unfruchtbaren Steinberge zuweilen sehr angenehme kleine Striche, wo Lage und Boden dem hartnäckigen Fleiße nur etwas gönnen wollte. Auf meinem ganzen Zuge durch Schweden habe ich keine solche Wildnis gesehen als von Planina nach Adlersberg, hinter Laibach in Krain.

Solltest Du glauben, es kommt mir fast vor, als ob ich in meinen alten Tagen etwas Anlage zur Empfindsamkeit bekäme. Ich habe in einigen Aktionen gestanden, und es sind vor mir und neben mir mehrere ehrliche Kameraden zur ewigen Ruhe niedergeschossen worden, und es hat sich unter dem linken Knopfloche doch nicht außerordentlich bewegt. Hier sah ich zwischen Markaryd und Fagerhult in der Abendsonne wieder das erste Buchenblatt; und unwillkürlich fiel der alte Kerl daneben auf den Rasen und küßte das Blatt und verhüllte das Gesicht in den Strauch. Ich glaube gar, die Augenwimper fing an, mir [819] zu glühen. Das muß wohl so etwas von den dulcis patriae fumus sein, weswegen es der Lappe in Hamburg nicht aushalten konnte, und der Schweizer beim ausländischen Kuhreigen sogleich läuft, um ihn besser auf den Alpen zu hören. Wenn im Paradiese keine Eichen und Buchen wachsen, so bleibe ich bestimmt in die Länge nicht darin. Fagerhult scheint dem Tone nach schon Buchenholz zu bedeuten, und ich sah sie hier in der Gegend auf einmal in solcher Vollkommenheit und Schönheit, wie man sie kaum im Thüringer Walde oder am Albaner See sehen kann. Der Strich von Schonen, den ich hier auf meiner Fahrt durchzog, ist bei weitem nicht so schön, als man die Provinz im allgemeinen angibt. Sie muß unten an der See hin und nach Malmö und Lund hinüber besser und fruchtbarer sein. Von den Bergen herab gibt es allerdings an einem Flusse, dessen Name mir entfallen ist, mehrere reiche malerische Partien, aber so wie man Helsingborg auf einige Meilen nahekommt, ist die Kultur bei weitem nicht so schön als weiter oben. Die Nässe scheint zwar etwas hinderlich zu sein, aber es kommt mir doch vor, als ob mehr getan werden könnte und sollte.

Der König kam eben mit seinem Gefolge aus dem nahen Bade, als ich in Helsingborg einfuhr, und ein Ordonnanzoffizier befahl in einer großen Entfernung auf der Straße meinem Postillion mit einer solchen Donnerstimme Platz, als ob er wenigstens zwei Bataillone zum Angriff kommandierte. Von allen schwedischen Städten, die ich gesehen habe, hat wohl Helsingborg die wenigsten Annehmlichkeit des Örtlichen, ob es gleich von der Natur noch nicht ganz vernachlässigt ist. Von Festungswerken ist, nach den Verträgen beider Nationen, nicht das geringste auf der schwedischen Seite. Das alte Schloß hat einen Telegraphen, [820] von dem ich nicht weiß, wohin er schreibt, es muß von der Gegend von Malmö hinauf und so weiter an der Küste sein. Acerbi hat, wie er sagt, nur einen einzigen Telegraphen, und zwar in Grißleham, gesehen, es sind ihrer aber an verschiedenen Orten; und schon mehrere auf den Inseln des Bottnischen Meerbusens, um nach Finnland und aus Finnland zu schreiben. Es wäre kein Sinn darin, nur in Grißleham eine solche Maschine zu haben, mit welcher man unmöglich Nachricht an das finnländische Ufer geben kann. Auf der finnischen Seite habe ich freilich keinen gesehen; sie werden aber wahrscheinlich weiter unten am Seeufer stehen.

Für ein Boot über den Sund mußte ich 41/2 Taler Schwedisch bezahlen und hatte wieder das Vergnügen, bei ziemlichem Sturm fünf Stunden über einer Fahrt zuzubringen, die man sonst wohl in einer halben Stunde macht. Neptun scheint mir durchaus nicht hold zu sein. Gleich meine erste Fahrt aus der Nordsee nach Amerika dauerte zweiundzwanzig Wochen. Mir kommt es ziemlich sonderbar vor, daß man noch immer die feste Meinung hat, man könne eine tüchtige Flotte abhalten, die durch den Sund segeln will. Mehrere Beispiele haben schon den Irrtum gezeigt. Mit gehörigem Wind segelt nicht allein Nelson, sondern jeder andere Brite und Bataver mit einem nicht ganz schwachen Geschwader hindurch. Die Breite ist groß genug, und die Kugeln von den dänischen Batterien müssen schon ziemlich schwach wirken; es müßte denn die seichte Tiefe auf der andern Seite die Schiffe nötigen, sehr nahe an Seeland zu halten, welches ich kaum glaube. Einzelne Kauffahrteifahrer können freilich gezwungen werden, zu halten, aber auch mehr durch die Wachschiffe von der Flotte als durch die Batterien vom Lande. Mich deucht, man segelt ebenso leicht [821] durch den Sund, in Rücksicht des Widerstandes vom Lande, als durch den Kanal bei Messina. Doch mögen darüber Seeleute bestimmter urteilen, die den Boden des Wassers besser kennen.

Der Sund auf und ab, zwischen den beiden schönen Ufern, gewährt mit der großen Menge Schiffe aller Nationen und aller Kaliber, die fast beständig dort liegen, dem Auge einen überraschenden, höchst angenehmen Anblick. Helsingoer mit seinem alten festen Schlosse macht sich allerdings besser als das schwedische Helsingborg, aber dafür hat das schwedische Ufer, rechts hinauf nach Gothenburg zu, unendlich mehr malerische Schönheit.

Vom Ufer hierher bis in die Residenz sollen fünf Meilen sein, aber bekanntlich sind die dänischen Meilen ziemlich klein, vorzüglich wenn man aus Schweden kommt; und diese scheinen die kleinsten von den dänischen Meilen zu sein. Der Weg ist gut, nach deutschem Fuße, aber nach dem schwedischen nur eben leidlich. Man hat vielleicht in Europa keinen Strich, der so viel angenehme Verschiedenheit an Kultur gäbe, als von dem Sund hierher. Dörfer und Städtchen sind von einer Nettigkeit, die mit der englischen wetteifern kann. Alles beklagte sich schon von Schonen aus über ungewöhnliche Nässe und Kälte, und es war wirklich auffallend. Bis Jonköping war man in voller Ernte begriffen, und in Schonen und hier hatte man noch nicht daran gedacht. Alles war noch grün, und überall war man deswegen besorgt.

Es war Sonntag und alle öffentlichen Häuser waren voll fröhlicher Gäste, die nach ihren verschiedenen Stimmungen den Feiertag genossen. Überall scholl Musik, und man hörte die Tritte des einstimmenden Tanzes. Auf dem Wege von Helsingoer hierher sind einige ausgezeichnet schöne Buchenwälder, und Du[822] weißt, welchen Genuß mir der vaterländische Baum schafft, ob ich gleich weder Ökonom noch Weidmann bin. Was mich zuerst an die Kapitale erinnerte, war der große dreieckige Platz, von allen Seiten mit Lindenalleen besetzt, auf welchem Struensee seine Unbesonnenheit bezahlte. Denn wer kann bestimmen, wo diese in das Verbrechen übergeht?

Wenn ich auch in meinem Leben nicht wieder nach Schweden komme, so wird mir doch immer eine sehr angenehme wohltätige Erinnerung daran bleiben. Schweden ist wohl im Norden das humanste und freundlichste Land. Bei aller Armut, die nicht zu leugnen und nicht zu verbergen ist, herrscht doch überall eine Ordnung und ein Anschein von Wohlhabenheit, bei der sich alles patriarchalisch wohl befindet. Man trifft in Schweden sehr wenig Menschen, denen man sogleich an der dicken Übersättigung ansieht, daß sie es zum höchsten Zweck ihres Lebens machten, das beste Verdauungssystem praktisch zu studieren. Alles arbeitet verhältnismäßig mehr als anderwärts, vorzüglich in Deutschland und Rußland. Es tut mir leid daß ich nicht mehr von den nördlichen Provinzen und vorzüglich, daß ich nicht Dalekarlien sehen konnte, eine Gegend, auf welche die Schweden in jeder Rücksicht so stolz sind. Ich habe nichts als die gerade Straße von Abesfors nach Helsingborg mit dem kleinen Abstecher nach Upsala gesehen; aber doch wohl einen Strich von hundertundachtzig deutschen Meilen gemacht und kein einziges Fleckchen gefunden, von dem ich hätte sagen müssen: Hier ist es traurig, hier ist es verlassen, hier möchte ich nicht leben. Auf dem ganzen ziemlich langen Zuge habe ich nur einen einzigen Bettler getroffen, und diesen in Stockholm auf der Brücke vor dem Schlosse. Von welchem reichen Lande kann man das nämliche sagen? Bei den Briten,[823] die die Welt kaufen und verkaufen, machen die Bettler fast eine förmliche Gilde.

Die zwei größten Merkwürdigkeiten der Nationalanstrengung in Schweden, Brolhätta und Karlskrone, habe ich leider nicht gesehen. Sie sind aus Küttner und andern Reisenden schon so bekannt, daß Du nichts verlierst, zumal da Beschreibung nicht eben meine Stärke ist. Mir tat es freilich etwas weh, daß ich mich nicht soviel abmüßigen konnte, die beiden Umwege zu machen. Karlskrone hätte ich vielleicht noch besuchen können und hätte noch mehreres gewonnen. Der Weg wäre sodann füglich über Lund gegangen, und ich hätte dabei eine größere Strecke von dem schönen Schonen gesehen.

Eine ökonomische Bemerkung mußt Du mir noch erlauben, die vielleicht für unser Vaterland nicht ganz ohne Nutzen sein kann. Schon Küttner hat bemerkt, daß man in Schweden Maschinen im Felde und auf den Wiesen hat, einer großen aufgestellten Leiter oder Raufe gleich, auf denen man das Getreide oder das Heu trocknet, wenn es nötig ist. Küttner bemerkt es als etwas Eigenes von Schweden; man hat aber ähnliche Vorkehrungen auch in Litauen, Kurland und Liefland, und überhaupt in allen nördlichen Gegenden, wo man dem nassen Wetter nicht traut. Ich habe sie auch in Nordamerika bemerkt, und es sollte mich sehr wundern, wenn man sie nicht auch in Schottland haben sollte. Auch in den Marschgegenden von Niederdeutschland erinnere ich mich, sie gesehen zu haben. Überall, wo man die Nässe fürchtet, sind dergleichen Vorkehrungen ganz natürlich. Könnte und sollte man nun für die Haushaltung nicht einen Schritt weiter gehen und die Sache so einzurichten suchen, daß jeder Landmann vor seinem Hause einen solchen Trockenplatz mit solchen Vorkehrungen hätte, wo man dann [824] jeden Augenblick Sonne zum Trocknen und auch zum Bergen benutzen könnte? Desto besser, wenn es nicht nötig ist, aber es gibt doch viele Ernten, die es nötig machen, wie zum Beispiel eben die jetzige ist. Ehe man weit hinaus in das Feld geht, das Umsetzen besorgt und zum Einfahren Anstalt macht, ändere sich vielleicht das Wetter einige Male, und es kann nichts geschehen. Vor dem Hause kann die ganze Familie in der Nähe arbeiten, und, wenn es nötig ist, die Bergung so schnell als möglich besorgen. Daß dabei viel Arbeit eintritt, ist augenscheinlich, aber was tut man nicht, Frucht und Fütterung zu retten? Ich erinnere mich auch schon, daß gute Wirte in Deutschland es nötigenfalls wirklich so machten.

Das Urbarmachen des Landes durch Rödenschlagen oder Swadjeland, wie man es auch wohl nennt, nämlich durch Niederbrennen des Holzes zur Düngung, ist in Schweden doch nicht mehr so gewöhnlich als in Liefland und Russisch-Finnland. Indessen wird es auch hier noch zuweilen gefunden. Man schlägt das Holz nieder, schafft die Stämme zu besserem ökonomischen Gebrauch fort und verbrennt das übrige zur Düngung. In Russisch-Finnland gibt die Prozedur zuweilen einen furchtbaren Anblick. Ich habe sechs bis acht Menschen, Männer und Weiber, gesehen, die mit großen Stangen durch die kohlschwarze, noch rauchende Gegend selbst geschwärzt und halb verbrannt umhergingen und das Feuer unterhielten, daß es die letzte Materie verzehrte. Gräßlicher kann kaum die Erscheinung eines großen Vulkans oder eines zerstörenden Waldbrandes sein als hier das absichtliche Wirken der Menschen.

Auch in Schweden fängt man an vielen Orten schon an über Holzmangel zu klagen und nach Steinkohlen zu suchen, aber ohne großen Erfolg. Man kann schon[825] jetzt in manchen Gegenden die Bergwerke aus Mangel an Holz nicht gehörig bearbeiten.

Lübeck, den 8. September

Ich hatte dem Postillion gesagt, er sollte mich in Kopenhagen in ein gutes Wirtshaus führen, wo man etwas mehr als Dänisch spräche, denn meine Zunge wollte sich noch gar nicht geben. Je weiter ich in Schweden herunter kam, desto weniger wollte es mit meiner Buchgelehrsamkeit gehen, ich warf also den schwedischen Pepliers von Oräus beiseite und fing an, die Sache bloß praktisch zu treiben; wo es denn mit Hilfe des Englischen noch leidlich genug ging. Eben als ich nun anfing, kauderwelsch rüstig Schwedisch zu radebrechen und das Knackabroe vortrefflich zu finden, mußte ich über den Sund. So gehts mit dem ganzen Leben. Wenn man erst recht eingerichtet ist, segelt man ab. Mein Postillion brachte mich also in Kopenhagen dem alten Schlosse gegenüber in das Hotel Royal, besser konnte ich nach seiner Meinung freilich nicht wohnen, und ich war auch zufrieden. Es ist, wie Du denken kannst, ein Haus nach großem Stil; der schön geputzte Merkur sah mich und meinen Tornister ziemlich zweideutig an, als ob er intimieren wollte, wir gehörten wohl beide nicht hierher. Denn wer in der Welt nicht auch sogleich Gold von außen hat oder durch den Anschein verspricht, ist in Ewigkeit ein Lump, wie sich unsere feinen Leute ausdrücken, auch wenn er in der Tasche in Dukaten wühlte. Es kommt überall nur auf den Schein an. Man braucht weder gelehrt, noch weise, noch brav, noch gut, noch gerecht zu sein, wenn man nur so aussieht, als ob man es alles wäre. Das wissen die Kauze in der [826] großen und kleinen Welt sehr wohl, die für alle Bedürfnisse ein Dutzend Hauptgesichter haben, ohne die Menge kleinerer Schattierungen. »Ein Zimmer, lieber Freund, ein Zimmer!« sagte ich zu dem mich betrachtenden Mephistopheles. Mein Ton mußte doch besser sein als meine Figur, er nahm ganz höflich meinen Sack und führte mich hinauf in meine Klause, mit der ich sehr wohl zufrieden war. Es ist hier unstreitig einer der schönen Plätze der Stadt, an denen Kopenhagen nicht arm ist. Vor mir auf dem Kanal war ein sehr lebhaftes Gewimmel merkantilischer Geschäftigkeit, nichts als Ausladen und Einladen, und gegenüber arbeiteten oben eine Menge Soldaten an dem Abtragen der alten Schloßruine, um sie zum neuen Bau in den Stand zu setzen. Die Ruine ist eine der größten und schönsten, die ich gesehen habe, und würde dem Geschmack jeder Zeit und jeder Nation Ehre machen. Mich deucht, es ist weiter nordwärts durchaus kein solches Gebäude mehr, wenigstens soviel ich von Rußland und Schweden gesehen habe.

Seeland überhaupt und Kopenhagen insbesondere liegt sehr tief; es ist also kein Wunder, daß vorzüglich die Fremden über nasse, ungesunde und rheumatische Luft klagen. Marezoll ist vorzüglich mit seinen Beschwerden darüber laut geworden, und wenn ich nur nach der kurzen Zeit meines dasigen Aufenthalts, noch dazu am Ende des Augusts, urteilen darf, so bin ich sehr geneigt ihm beizustimmen, denn der trüben, ganz finstern Regentage waren selbst in der schönen Jahreszeit wenigstens die größere Hälfte.

In Kopenhagen glaubt man schon halb im Vaterlande zu sein. Fleißiges Aufmerken auf literarische und kleinstatistische Dinge, die man in allen Büchern findet, ist nicht mein Talent, Du wirst also schon Nachsicht mit mir haben, wenn meine Nachrichten in beiderlei [827] Rücksicht nun noch etwas magerer werden. Ich weiß nicht, woher es kommt, aber es kommt mir vor, als ob ich allen warmen Anteil an den menschlichen Dingen verloren hätte. Jeder denkt nur an sich und sich und wieder an sich, von Bonaparte bis zum letzten Torschreiber. Das mag freilich tief genug in der menschlichen Natur liegen, nur sollten die Erscheinungen etwas liberaler und billiger sein. Der Sache kann nun wohl nicht abgeholfen werden, wenn nur dem Übermaße gesteuert werden könnte. Die Unmöglichkeit, etwas rein Gutes zu wirken, wie ich mir es denke, macht mich zuweilen etwas traurig, bis ich mich wieder fasse und mich mit dem Waidspruch tröste: Sei ein Mann und tue das Deinige, und überlaß das übrige dem Schicksal!

Die dänische Regierung hat mich eben nicht in dieses Klagelied gesetzt, denn soviel ich urteilen kann, ist hier alles sehr freundlich und liberal, als man es irgendwo nur erwarten darf. Auch herrscht hier ohne viel Geld ein Grad von Wohlstand, der dem Zuschauer wohltut.

Von dem gelehrten Wesen habe ich hier nicht viel vernommen. Nur ein einziges Mal war ich in der königlichen Bibliothek. Sie ist nicht sehr reich, wenn man sie mit der Pariser, Wiener oder Dresdener vergleicht, aber denn doch ansehnlich genug. Es waren eine große Menge Doubletten beiseite gelegt, die zu den neuen Instituten nach Rußland gehen sollen. Moldenhawer war nicht gegenwärtig, und ich hörte an einigen Orten etwas über seinen literarischen Egoismus klagen. Bekanntlich hat Suhm Reiskens Nachlaß gekauft und ihn in die Bibliothek gegeben. Darunter seien Sachen von Wert gewesen, zum Beispiel, Golius mit Reiskens Noten, Reiskens Dissertationen über die arabischen Ärzte mit vielen späteren Anmerkungen, [828] desgleichen Stobäus, durchschossen, mit Reiskens Beiträgen. Das Ganze habe ohne Würdigung in Waschkörben in einem Winkel gestanden. Endlich sei es zwar geborgen und geordnet worden; aber der Golius werde auf Verlangen nicht gegeben, und man wisse gar nicht, wo Stobäus hingekommen sei. Es läßt sich denken, daß ein durchschossenes Buch von Reiske schon etwas Bemerkenswertes enthält. Das alles tut mir Moldenhawers wegen leid; ich habe dafür meine Gewährsleute.

Eine ungerechte Klage aber von einigen gegen die Bibliothek ist, daß man sagt, alles, was die Fremden und vorzüglich die Engländer gegen Dänemark geschrieben haben, werde sehr absichtlich versteckt. Die Ursache ist, weil, wie ich höre, die ganze dänische Geschichte in den Fächern der oberen Galerie steht. Ob es eine gute Methode sei, die Vaterlandsgeschichte auf diese Weise ein wenig zu beseitigen, ist eine andere Frage. Von neueren wichtigen Werken ist kein so großer Vorrat da, weder in der Kunst, noch in der Philologie, noch in der Geschichte.

Die Kunstkammer enthält, außer einer Menge artiger Spielereien, auch sehr viele Stücke, die nicht allein für die dänische, sondern für die ganze nordisch-deutsche Geschichte überhaupt von großer Wichtigkeit sind. Schade, daß die bekannten goldenen Hörner so schändlich verlorengegangen sind! Ein Beweis der Gelindigkeit der hiesigen Regierung ist, daß der Bube, der sie gestohlen und zerstört hat, nicht mit dem Tode, sondern nur mit dem Zuchthause bestraft wird. Von allen Kunstkammern ist vielleicht die hiesige für das anschauliche Geschichtsstudium die reichste und belehrendste, soviel auch übrigens noch Quinquaillerien darin sind. Wichtiger, als man glaubt, ist der Vorsaal derselben. Man findet hier eine Gemäldesammlung, [829] auf die gewöhnlich sehr wenig gerechnet wird, die aber mehr enthält, als man vielleicht überhaupt in Kopenhagen sucht. Die Gemälde in der Kunstkammer selbst haben nicht viel mehr als Geschichtswert, von Margarethe herab bis auf die jetzt lebende Familie. Aber hier im Vorsaale sind viele Stücke von großem Kunstwert, entschieden von den besten Meistern der guten strengeren italienischen Schulen. Der Inspektor behauptete von drei Stücken, die ich vorzüglich betrachtete, eines sei ein Angelo, eines ein Leonardo da Vinci und eines ein Raphael. Ich bin nicht Kunstkenner genug, um den Ausspruch gehörig zu würdigen; aber er ist nicht ohne Grund. Nur um Leonardo da Vinci möchte ich zweifeln, weil ich dazu in dem Stücke nicht die Vollendung, weder in der Zeichnung noch in der Färbung, finde. Aber es gibt bestimmt mehreres in der Sammlung, das klassisch italienisch ist; schon genug für einen Ort, von dem man gewöhnlich nur wenig hört, wenn man von Kunstsammlungen redet! In den andern Schlössern in Seeland sollen hier und da noch gute alte Stücke stehen, und man würde vielleicht wohltun, sie hier oder an irgend einem andern Orte alle zusammenzubringen.

Die Klassensche Bibliothek und die Universitätsbibliothek habe ich nicht gesehen. Der Stifter der ersten war, wie Du wahrscheinlich schon weißt, in jeder Rücksicht ein Mann, der das Lob und den Dank seines Vaterlandes und Achtung aller Rechtschaffenen in ganz Europa verdient. Als unbekannter Privatmann stieg er durch eigene Kraft und einen umfassenden Geist in vielen Kenntnissen, und vorzüglich in Mechanik und Physik, zu Unternehmungen auf, die ihn endlich in den Stand setzten, der Wohltäter einer großen Stadt zu werden. Es ist fast keine öffentliche [830] Stiftung hier, die nicht etwas von seiner Güte genösse, und überall wird sein Name mit herzlicher Verehrung genannt.

Einige der schönsten Partien für mich waren im Boote auf der Rhede mit Scheel, der als Stadtphysikus die Besorgung der Quarantäne hat, die hier musterhaft eingerichtet ist, und auf die sich sodann alle übrigen nordischen Häfen ruhig verlassen. Was hier untersucht und gesund gefunden ist, geht überall sicher, wo das nicht ist, ahmt man die hiesigen Sicherheitsmaßregeln nach. Scheel ist von dieser Seite ein sehr glückliches Menschenkind, wo er nur erscheint, erscheint er immer als Erlöser und Freiheitsbringer, weil vor der Untersuchung niemand an das Land gehen darf. Die Dänen sind jetzt nach den Engländern wohl die größten Seereisenden; und fast alle Tage kommen Schiffe aus allen Weltgegenden an, und meistens dänische. Daher sie denn den Reichtum des Luxus aller Länder an den Sund bringen, wo man auch nicht ermangelt, ihn mit Geschmack gehörig zu genießen, ehe man ihn weiter fördert. Ein Schildkrötenschmaus mit dem gehörigen Gefolge fremder Weine ist bei den hiesigen Kaufleuten ein gewöhnliches Fest, mit dem Kato wohl schwerlich zufrieden gewesen sein würde. Wer wird aber auch bei den Erstlingssöhnen und Lieblingskindern Merkurs Frugalität suchen? Sind sie mit Merkur dem Reichtumbringer fertig, so gehen sie freudig mit Merkur dem Nekropompen. Alle Augenblicke bringt hier ein Schiffer ein Sortiment fremder Tiere mit, aus bloßer Ökonomie oder Phantasie, und ohne daran zu denken, daß er dem Naturhistoriker damit eine große Freude macht. Kopenhagen ist durchaus der beste und freundlichste Hafen. Nur Syrakus würde besser sein, wenn die Leute dort nicht zu faul wären. Nirgends findet man wohl eine so [831] große Menge Schiffe aller Nationen, da es überdies der beste Intermediärhafen des Nordens und des Südens ist.

Eines der westindischen Schiffe, das ich mit Scheel besuchte, war ursprünglich ein amerikanisches, dessen ganze Mannschaft von den Schwarzen auf Guinea niedergemacht worden war. Von den Schwarzen war es an die Portugiesen, und von diesen an die Dänen gekommen. Man zeigte im Schiffe noch die Merkmale von der Wut der Schwarzen. Es wäre gar nicht übel, wenn es allen Bristolern und Liverpoolern so ginge, die mit echt britischer Humanität zu ihrer und des Christentums Schande den Sklavenhandel verewigen. Es wäre ein ganz kleines Vergeltungsrecht für die Greuel, die sie teils verüben, teils veranlassen.

Mit einem der Schiffe aus Westindien erhielt die hiesige Sanitätsinspektion vor kurzem den Stoff des gelben Fiebers in einer Flasche, hermetisch versiegelt, zur Untersuchung; denn die dortigen Ärzte waren durchaus der Meinung, daß die Krankheit zwar epidemisch, aber nicht kontagiös sei. Ein eigener Einfall, das gelbe Fieber versiegelt über den Ozean zu schicken! Der Stoff bestand aus der ausgebrochenen bösartigen Materie, in der heftigsten Krise der Krankheit. Du kannst Dir denken, daß die Erscheinung der Flasche mit der Meldung im Briefe eine sonderbare nicht ganz freudige Wirkung gemacht haben muß, und der Physikus erhielt den Befehl, mit aller Sorgfalt das herrliche Geschenk zu nehmen und es vorsichtig zu versenken ins Meer, wo es am tiefsten ist. So sind denn weiter keine Untersuchungen damit gemacht worden; ob es gleich auch hier Ärzte gab, die für sich überzeugt waren, daß es wohl ohne Gefahr hätte geschehen können.

Jedermann ist hier noch voll Enthusiasmus von[832] dem Gefechte des dritten Aprils und weiß irgend einen Zug der Tapferkeit und Großmut zur Ehre der Nation zu erzählen, und der britische Dreizack erfuhr in der Tat an diesem Tage, daß er doch noch nicht so allmächtig ist, als er in seinem Wahn wohl träumt. Wenn die russische und schwedische Flotte zu gleicher Zeit hätte eintreffen können, so möchte das Wagstück dem Triton Nelson doch übel bekommen sein. Aber freilich hatte er das Klima weislich eingerechnet. Es ist wohl selten eine so schöne tätige Übereinstimmung zum allgemeinen Widerstand gewesen als hier in dieser Krise. Alles gab damals willig seine ganze Kraft dem Staate, und der Tag ist sicher einer der schönsten in den Annalen der Nation. Junge Leute ohne Namen bewiesen sich als Helden, und gemeine unerfahrene Leute als geübte Krieger; dieses ist jederzeit die Folge, wenn man eine Nation als Nation antastet und sie für Haus und Herd vor Haus und Herd zu schlagen zwingt. Der Tag hat aber auch gezeigt, woran es der Stadt noch zur Verteidigung fehlt. Von der Landseite ist Kopenhagen eine der beträchtlichsten Festungen, die ich gesehen habe, der größte Fehler ist ihre Größe, der manchen andern unvermeidlich machte. Von der Wasserseite hat sich die Gefahr gezeigt, und wenn auch eine Landung mit Gefahr verbunden und nicht so wahrscheinlich ist, so konnte es doch bisher in ziemlich enger Blockade gehalten werden. Diesem wird jetzt durch Erbauung von zwei Batterien ziemlich tief im Wasser abgeholfen. Die eine, die sogenannte große Batterie nach dem Sund hinauf, ist nun ziemlich fertig und ist wirklich ein riesenhaftes Werk. Sie liegt ungefähr einen Kernschuß der Kanone vom Lande, gerade dem Zollhause und Hafen gegenüber, und kann alle Bedürfnisse zu einer langen Belagerung halten, wenn sie auch nicht immer aus der Stadt versehen [833] werden könnte. Wenn sie recht gebraucht wird, kann sie eher eine Flotte zerstören, als daß sie durch die Flotte zugrunde gerichtet wird, der Feind müßte denn die Ufer besetzt haben. Ihre Solidität muß nur noch gegen das Element selbst gewinnen. Auf der Stelle der andern Batterie, rechts herauf an der Spitze von Amager, liegen jetzt nur noch drei alte zusammengestoßene Linienschiffe, die mit ihrem Wracke auf dem Grunde stehen. Ihr Bau soll erst unternommen werden, und ihr Name Provesteen heißen, wenn ich nicht irre nach dem Namen des wackern Kapitäns, der in dieser Gegend mit seinem Schiffe den Feind nachdrücklich aufhielt und zuerst in der Schlacht fiel. Das heißt schön handeln, schön sterben und schön belohnt werden. Wenn diese beiden Batterien fertig sind, möchte es wohl ziemlich schwer werden, Kopenhagen durch eine Blokade zu schaden, wenn es nur einigermaßen durch seine Flotte unterstützt wird. Aber der Bau und die Vollendung und Unterhaltung dieser beiden Werke ist auch billig die erste Unternehmung, woran der Staat denken muß, wenn die Hauptstadt sicher so fortgedeihen soll.

Kopenhagen liegt zwar nicht so schön und romantisch wie Stockholm, aber es hat eine Menge sehr angenehmer freundlicher Partien, und wenn man an einem schönen Abend in einem Boote auf der Reede über die große Batterie hinausfährt, hat man rundumher einen Anblick, den man wahrscheinlich in der ganzen Ostsee nicht mehr hat. Auf einiger Höhe sieht man das schöne Ufer von Seeland bis an den Sund und die schwedische Küste bis fast hinauf nach Malmö. Selbst Neapel hat nur den Vorzug der üppigen Natur und der klassischen Umgebungen, Kultur des Landes und Humanität stehen hier im allgemeinen unstreitig höher.

[834] Friedrichsberg ist wohl die beste Partie und auch zu Fuß ein schöner Spaziergang, und wenn man sich die Mühe nehmen will, unten links durch die Dörfchen und am Meere wieder hereinzulaufen, hat man vollen Genuß für verdorbene Augen und holt sich Würze zur Mahlzeit. Der Kaiser von Rußland würde wohl noch einige Millionen darum geben, wenn er nur die Vegetation von Kopenhagen in Peterhof haben könnte. Welsche Nüsse wachsen in dem Garten von Friedrichsberg schon mit großer Üppigkeit, und das Obst hat schon einen ziemlichen Grad von Güte.

Münter habe ich zweimal gesucht und nicht gefunden. Hätte ich gewußt, was ich erst nachher auf der See erfuhr, wäre ich wohl noch zweimal zu ihm gegangen. Er hatte nämlich kurz vorher Briefe von Landolina bekommen, der von ungefähr zur Zeit des letzten Erdbebens in Neapel gewesen war und die ganze furchtbare Katastrophe seinem nordischen Freunde sehr genau beschreibt. Schon etwas von dem Syrakuser zu hören und zu sehen, würde mir höchst angenehm gewesen sein. Vielleicht sehe ich ihn selbst noch einmal wieder an der Arethuse und dem Anapus zum Traubenfeste, und er teilt mir dabei alle seine Belehrungen über die Gärten des Alcinous mit.

Bei Scheel oder Schuhmacher, ich weiß nicht gewiß mehr, bei welchem von beiden, sah ich von einem Engländer, Herrn Hunter, vermutlich Anverwandten des alten berühmten Arztes, ein Buch über die Fieber unter den Laskarn, das in Kalkutta gedruckt war. Der Druck war so schön wie man ihn in Deutschland nur selten findet und gab selbst den englischen schönen Typographien wenig nach.

Die Insel Amager, welche mit der Stadt durch eine Brücke der Festungswerke zusammenhängt, ist der Kohlgarten der Hauptstadt, und die holländische reiche [835] Kultur derselben gibt dem Auge eine sehr angenehme Abwechslung. Es war nachmittags einigemal meine Erholung, die Artillerie dort Bomben werfen zu sehen; ich kann ihren Übungen aber nicht durchaus das beste Zeugnis geben, denn so oft ich dort war, trafen sie nur selten nahe an das Ziel; das Ziel selbst sah ich nie treffen.

Ich bin nur in schlechter Proviantmeister; es war mir also eine wahre Wohltat, daß unser Landsmann, Herr Fiedler, mir zur Überfahre den Speisekorb reichlich mitbesorgen ließ. Neptun und Aeolus sind selten meine günstigen Patrone. Auch jetzt bliesen die Winde ziemlich stark aus der Gegend von Kiel, wohin wir wollten, so daß wir fünf ganze Tage über eine Reise brauchten, die man sonst zuweilen in vierundzwanzig Stunden mache. Das beste war, daß ich nicht große Eile hatte, daß gute Gesellschaft war, und daß wir alle reichlich mit gutem Proviant versehen waren. Einer meiner Freunde in Kopenhagen hatte mir befohlen, ruhig zu sein, er wolle mit dem Schiffer wegen der Überfahre schon alles in Richtigkeit bringen, daß ich Kajüte und Bete bekäme. Ich war also ruhig gewesen und hatte mich um nichts bekümmere. Aber es ging nicht so gut wie mit dem Proviant; ich mußte für mein Zutrauen, in seine Vorsicht, ohne Bete auf dem ersten besten Kasten schlafen, welches auf alle Weise ebenso schlimm war als ehemals die Pökelei auf den englischen Transportschiffen nach Amerika in den Kolonialkrieg. Ich zog mich die zweite Nacht von dem Kasten unter den Tisch, wo ich mich dann wiegen ließ, so viel der Sturm wollte. So quareierte ich mich denn von dem Kasten unter den Tisch, und von da auf den Kasten. Den letzten Abend gab mir ein Hamburger Arzt, halb aus Ärger, wie er sagte, weil seine Korpulenz in seinem Bettkasten wie eingestopft war, seinen [836] Bettplatz; die Gutmütigkeit des wackern Mannes mochte wohl den größten Anteil an der Abtretung haben. Die Fahrt ist bekannt und ging schlecht genug, was das Schiffen anlangt, und lustig genug, was die Gesellschaft betrifft. Wir hatten eine gute Ladung Damen mit in der Kajüte, die alle bis zur letzten Instanz gehörig seekrank wurden, und zwar wiederholt, je nachdem der Sturm brauste und schwieg. Da bin ich denn doch in meiner Grämlichkeit einigemal ganz artig gewesen und habe hinauf und heruntergeführt und führen helfen, wo es fehlte. Sonst war meine Galanterie billig nur negativ, daß ich schnell wegging, wo ich zuviel war.

Der männliche Schiffsklub bestand aus einem dänischen Offizier, einem dänischen Zivilisten, dem erwähnten Hamburger Aeskulap, einem Herrn Pontoppidan, Vetter des berühmten Mannes dieses Namens, dem Naturhistoriker Lenz, einem stummen Engländer, meinem Landsmanne Schmidt aus Grimma und meiner eigenen Wenigkeit. An Schnack fehlte es nicht; denn wenn er in der Kajüte ausging, wurden wir von dem Verdeck damit versehen. Es wurde viel gesungen, und sogar ich mußte mein eigenes letztes altes Soldatenstückchen »Ich ging Egidi sind's drei Jahr« zu Weißens und Hillers Ehre ableiern, welches ich denn auch noch mit ziemlich leidlicher Miene tat.

Der dänischen Schiffspolizei kann ich wegen der Anordnung des Paketboots kein großes Lob geben. Die Kajüte war nur so eben leidlich und hätte weit besser sein können und sollen. Auch finde ich es nicht gut, daß man nicht mit Essen versehen wird. Wenn die Reederei unter Festsetzung der Regierung mit liberalem Vorteil eine gewisse Summe bestimmte, die man für Überfahrt und Kost zugleich zahlte, würde das für die Reisenden große Wohltat sein, und die gute Ordnung [837] würde gewinnen. Wer mit der gewöhnlichen guten Kost der Kajüte nicht zufrieden wäre, könnte sich extra etwas mitnehmen, wenn er Geld und Platz hat. Den Vorrat könnte sodann der Kapitän in seinem Raume in Verschluß haben. Jetzt machen die Proviantkörbe aller Passagiere eine sehr unangenehme Rummelei, und es kann doch zu keiner festen Ordnung in der Diät kommen. Jetzt gibt man vier Taler für die Überfahrt ohne alle Kost. Wenn man nun mit der Kost zehn gäbe, wäre alles in gehöriger guter Ordnung, wenn man nämlich Ordnung hielte. Auch sollen nicht alle Kapitäne höfliche und freundliche Leute sein; wir hatten einen sehr humanen Mann. Vor einiger Zeit setzte ein Werbeoffizier mit vielen Rekruten von Kiel über; die Fahrt ging langsam und schlecht, der Proviant fehlte, und der Schiffskapitän wollte den Soldaten durchaus nichts zu essen zukommen lassen. Das ist Schlaffheit und Unordnung, und bei einem solchen Vorfall wird eine gute Einrichtung am empfindlichsten vermißt. Sehr inhuman werden die Leute auf dem Verdecke behandelt, gewissenlos hart. Es war September; die Luft ist um diese Zeit schon rauh und kalt, zumal in dieser Gegend, zumal auf der See. Es waren ungefähr achtzehn gemeinere Leute auf dem Verdeck. Diese waren die ganze Zeit über dem kalten Regen und dem einschlagenden Seewasser ausgesetzt. Eine solche Überfahrt ist soviel als ein Feldzug; kein Dach, keine Decke, kein Stückchen Segeltuch! Unten in, Raum waren Kaufmannswaren. Wir hörten Heulen und Zähneklappern unter den Leuten, und überall war Fieberschauer. Wenn der Kronprinz, von dessen Güte und Freundlichkeit alle mit Enthusiasmus sprechen, so etwas sähe, würde er gewiß Sorge tragen, daß es abgestellt würde. Auch diese Leute könnten gehalten werden, etwas mehr zu bezahlen, und würden es gern [838] tun, wenn sie gegen Sturm und Wetter einen gedeckten Schlafplatz bekämen. Die Menschlichkeit fordert es; es sind vierzig Meilen, und auf einem solchen Wege ist man zur See schon vielen Zufällen ausgesetzt. Ein Obdach gesteht man doch sonst dem letzten Bettler zu. Die beste Einrichtung von Überfahrt findet man vielleicht auf den königlichen Paketbooten von Neapel nach Palermo.

Wir konnten die Inseln gar nicht loswerden: Moen und Langeland und Falster, und wie die Nester alle heißen, waren uns ewig im Gesichte; und wir glaubten alle Stunden links hinüber nach dem Mecklenburgischen geworfen zu werden. Endlich leierten wir uns doch bis auf einige Entfernung von der Kieler Festung Friedrichsort herein; aber es ging unerträglich langsam. Da kam ein Fischerboot, das einige von der Gesellschaft aufnehmen und einbringen wollte; aber man konnte, weiß der Himmel warum, lange nicht einig werden. Ich hatte zum ganzen Handel noch keine Silbe gesagt, weil ich Resignation spielte und niemand den Platz im Boote nehmen wollte. »Wieviel kann denn das Boot halten?« fragte ich endlich. »Wohl sechzehn«, war die Antwort. Kaum war die Antwort gefallen, so hatte ich auch schon Hut und Stock, war hinaus, über Bord, und saß im Boote. »Wer mit will, mache eilig«, rief ich, »sonst zahle und fahre ich allein.« Denn Du mußt wissen, wenn meine Kasse in der tiefsten Ebbe ist, hat mein Mut immer die höchste Flut. Sogleich hatte man sich gesammelt. Es blieb niemand zurück als der einsilbige Brite, und wir fuhren, was die Arme der Fischer vermochten, herein in die Stadt. Die keilförmige Bucht von Kiel, von welcher wahrscheinlich die Stadt den Namen hat, macht bei der Einfahrt einen schönen Anblick. Rechts die Festung und der Kanal und der Wald, und links einige [839] schöne Dörfer mit schön gruppierten Bergschluchten. Ich hatte nicht geglaubt, daß hier ein so starker Schiffbau wäre, als ich fand. Der Hafen hält bis an die Stadt sehr große Fahrzeuge.

In Kiel traf ich einige alte Bekanntschaften und machte einige neue. Unter den letzten waren auch die Herren Weber, Vater und Sohn, die Dir als Gelehrte hinlänglich bekannt sind. Der Sohn war vor kurzem auch in Schweden gewesen, und es freute mich, daß es ihm dort auch gefallen hatte. Für ihn als Botaniker mag Schweden allerdings sehr reiche Ausbeute geben. Heinrich von Breslau, der, wie Du weißt, hier Professor ist, scheint sich hier unten an der Ostsee weit besser zu befinden als oben an der Oder. Wenn den guten Mann hier nur nicht auch die Polypragmosyne verfolgt, die ihm dort nicht eben viel Ruhe ließ. In Kiel gefällt mir's nicht sonderlich, aber bei Kiel desto besser. Die Gegend ist äußerst freundlich und lieblich, und man könnte wohl sagen malerisch, wenn man darunter das versteht, was die Seele durch das Auge in angenehme Bewegung setzt. Ich weiß nicht, welcher Kritiker, ich glaube es ist Ramdohr, soll die hiesigen Umgebungen etwas bitter mitgenommen haben, und die guten Kilonier sind billig darüber etwas unzufrieden. Einige begründete Kunstbemerkungen mögen wohl darunter gewesen sein, und diese hat man benutzt. Es ist hier allerdings keineswegs die hohe Schönheit der Alpen und die furchtbare Größe ihrer Gipfel und Schluchten, sondern es ist die gefällige Wellenlinie, die die Seele in Ruhe und Betrachtung zieht. Es wird hier kein Tell den Bund zum großen patriotischen Trauerspiel schwören; aber Voß kann seine Idyllen singen. Ramdohr hat der Gegend wohl zuviel getan, wenn er sie nicht für schön gelten läßt. Doch Meinungen stimmen selten überein; seine Venus [840] Urania wäre auch nicht ganz meine Urania. Für den Landschaftsmaler ist freilich nichts Ausgezeichnetes hier, aber sehr viel reiner Genuß für den unverdorbenen Sohn der Natur. Wenn man die Partien mit dem Gaurus und dem Ciminus und dem Rigi mißt, verlieren sie freilich; aber das bekanntere Deutschland hat vielleicht nicht noch zwanzig so freundlich Gegenden aufzuweisen, als die Kieler ist, und dann kann man in der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes schon sagen, sie sei schön.

Ein Morgenspaziergang durch Düsterbrook nach der Mündung des Kanals, und von diesem hinauf bis Knop, ist ein Genuß, den zehn Seestädte nicht gewähren. Ich möchte wohl an dem ganzen Kanal hinauf bis an die Nordsee gehen, die Schönheiten müssen zahlreich und mannigfaltig sein. Von der Mündung bis nach Knop, kaum eine Stunde Weges, begegneten uns eine Menge Schiffe, und ihre Durchfahrt durch die Schleusen gibt Unterhaltung, wenn man es auch schon sehr oft gesehen hat. Das Gut und der Garten des Grafen Baudissen sind zwar auch nicht in dem Stil der hohen Schönheit – das würde die Gegend kaum erlauben – aber es ist in beiden viel Mannigfaltigkeit, und das Nützliche und Angenehme in freundlicher Verbindung. Selten habe ich eine fröhlichere Mahlzeit gehalten als das Frühstück dort am Kanal im Wirtshause. Fast wurde, was nur sehr selten geschieht, die Stimmung meiner Seele idyllisch, und wenn ich zufällig länger in Holstein geblieben wäre, so hättest Du Gefahr gelaufen, wieder etwas Theokritisches von mir zu bekommen, die Hexe oder die Ernte, wie Dich meine abgelaufenen Stiefelsohlen in Palermo mit dem Cyklops beglückseligten.

Zwei meiner Bekannten brachten mich mit vieler Artigkeit bis Prez, wo der Wirt von unserm ganzen[841] lieben Vaterlande vorzüglich die Schätze von Pillnitz pries. Ich Laie mußte mich erst besinnen, daß Botaniker sprachen, und es muß Dir lieb sein zu hören, in welchem guten Kredit die mannigfaltige Gelehrsamkeit unseres Kurfürsten steht. Das ist billig, aber ich sähe ihn doch noch lieber auch dann und wann die Landstraßen besehen und die Leute besuchen. Die Pflanzen werden wohl wachsen und die Sterne wohl gehen, aber auf den Straßen und unter den Leuten steht es nicht immer, wie er wohl selbst wollte. Der Fürst ist gut und gerecht und wird gewiß geschätzt und geliebt; ich würde meinen Kopf zum Pfande setzen, er könnte an der Hand jedes einzelnen Bürgers sicher und willkommen durch sein ganzes Land gehen; wehe also den Menschen, die ihm Argwohn gegen sein Volk beibringen! Ich fürchte und erwarte nichts von Fürsten, kann also mit Anstand und ganz freimütig sprechen.

In Ploen besuchte ich auf dem Schlosse ein Stündchen den Herrn von Hennings und bedauerte, daß ich nicht länger konnte. Das Städtchen ist nett genug, aber der See ist eine etwas wilde Schönheit. Die hinter dem Larten liegende Halbinsel ist romantisch, aber die Ufer umher sind zu wenig bebaut und zu tot. Nur das Leben spricht zum Menschen. Das Auge sucht Gegenstände, wo es sich Menschen denkt, die mannigfaltig ihr Wesen treiben; und wo es diese nicht findet, klagt es seine youngschen Nachtgedanken ab und eilt der Stimmung loszuwerden. So ging es mir mit dem Wasser hier und mit dem Wasser bei Eutin. Die Partien sind recht schön auf einige Minuten, und wenn Menschengewimmel dort wäre, würden sie es sein auf viele Tage.

In Eutin war ich von ungefähr in einem Wirtshause wo der öffentliche Klub war; das heißt, man spielte,[842] sprach vom Kriege und aß. Die Gesellschaft war ziemlich zahlreich; ich war allerdings nicht sehr zierlich gekleidet, war draußen am Wasser einige Stunden herumgelaufen, und meine Taciturnität hielt sich den ganzen Abend, ohne weiter ein Wort zu sprechen, als daß ich von dem Markör Wein und Selterswasser forderte. Man ging auf und ab, belugte mich von allen Richtungen, schien mich anreden zu wollen, aber zu zweifeln, ob es der Mühe lohne, und bei dem Zweifel blieb es, wobei ich mich denn ziemlich wohl befand. Meine Seele war bei dem Eutiner, der nicht mehr hier war, und ich suchte ihn im Geist an der Saale und am Rhein auf. Zu verraten gab es hier nichts, und ich habe den ganzen Abend keine einzige politische und philosophische Ketzerei gehört, von kirchlichen Dingen wurde billig gar nicht gesprochen. Übrigens ging es dabei her, wie in jeder andern guten Gesellschaft.

Heute kam ich zeitig nach Lübeck, habe einige Gänge durch die Stadt und um die Stadt gemacht und Dir geschrieben und gehe morgen nach Hamburg.

Leipzig, den 1. Oktober

Da bin ich nun wieder zu Hause in meiner Klause zu Sankt Thomas. Von Lübeck hierher hätte ich Dir nur sehr wenig zu erzählen, da der Weg und die Merkwürdigkeiten jedem ehrlichen Deutschen bekannt sind, der eine Geographie und ein Zeitungsblatt gelesen hat. Aber ich melde Dir ja meistens nur, was mich angeht, in der Voraussetzung, daß Du Anteil daran nimmst. Also will ich nur ohne Bedenklichkeit fortfahren und vollenden.

Zwischen Hamburg und Lübeck, ungefähr auf der Mitte des Weges, ist ein Gasthaus, wo die meisten[843] Gesellschaften zu speisen pflegen. Das taten wir denn auch, mein Landsmann Schmidt und ich. Es war in der Gaststube schon Gesellschaft von Herren und Damen aus Hamburg, die in mehreren Punkten eine Parallele zwischen Lübeck und Hamburg, natürlich zum Vorteil des Letzteren, zogen. Ich glaubte, wir würden die Ehre haben, zusammen zu sein; das geschah aber nicht. Sie dekampierten in ein besonderes Zimmer, nachdem sie eine Menge gemeine nichtssagende Dinge in leidlich gutem Englisch und leidlich schlechtem Französisch verhandelt hatten. Dawider war nichts zu sagen, jeder tut nach seinem Willen, oder seinen Grillen, und Hamburger Kaufleute sind gar stattliche Gäste, die ihrer Ehre nicht so leicht etwas vergeben. Wir gerieten dadurch freilich in einen sehr subalternen Stand, und der Wirt bewirtete uns, ob wir gleich ebenso stattlich fuhren wie jene, mit einem sehr alten, fleckigen Tischtuche und sehr fleckigen, zerrissenen Servietten und schlecht geputzten Messern und Gabeln; unstreitig dem schlechtesten Apparat, den ich, Polen und Estland bei den Aboriginern ausgenommen, auf der ganzen Reise gehabt hatte. Das Essen war nicht ganz so schlecht als der Apparat, und eine geforderte Flasche Wein lockte dem Aubergisten sogar eine freundliche Miene ins Gesicht. Die Hamburger hatten für sich eine abgesonderte Tafelmusik, schichten uns aber sodann die Musikanten zur Mitbezahlung zu, und ich gab ganz brummig einen dänischen Taler. Das war wohl ziemlich närrisch, und ich hätte es füglich können bleiben lassen. Es kann wenigstens nicht auf meine Galanterie geschrieben werden, denn das Gesicht der sammelnden Virtuosin war kein westfälisches Fettmännchen wert. Das war kein guter Vorgeschmack. Wenn es in Hamburg so fort geht, so hätte Noahs Mittelster sein Tabernakel lieber den Kamtschadalen aufschlagen können. [844] Auch lief ich, nicht sehr zufrieden, eine ganze Stunde voraus und ließ die großen Holsteiner mich einholen. In Wandsbek war ich willens, Herrn Claudius meine Deferenz zu bezeigen; ich hörte aber, daß er sich jetzt ausschließlich mit sehr hohem Mystizismus beschäftigte, so daß er und ich gestört worden wären. Ich ließ ihn also in seiner Frömmigkeit und wandelte in der meinigen weiter.

In Hamburg brachte man mich, allen Kaisern am Rathause gegenüber, in das große Gasthaus, das, glaube ich, Kaisers Hof heißt. Die Einteilung des Hauses kommt mir gerade vor wie das deutsche Reich. Man studiert lange, die eigentliche Einrichtung in den Winkeleien zu finden, und bringt am Ende heraus, daß gar kein Plan darin ist. Dessen ungeachtet befindet man sich bequem genug darin, wenn man es sofort flickt, und möchte es nicht gern ganz eingerissen sehen. Hier wäre ich für Geschäfte im Mittelpunkt gewesen, aber alle meine Geschäfte waren jetzt, das selige Faniente, mit den dazu gehörigen Perquisiten. Ich muß den Hamburgern samt und sonders gewissenhaft ein recht gutes Zeugnis geben, aber leben möchte ich doch nicht in ihrer Herrlichkeit. Die Stadt ist mir zu groß und enge und zu finster, nur wenige Quartiere ausgenommen. Mit einiger Erweiterung kommt sie mir fast vor, wie ein deutsches Venedig, wo man, zumal an den Kanälen, jeden Kubikzoll Raum merkantilisch für schweres Gold ausmißt. Das mag recht gut für die Herren vom Komtoir sein; aber unsereiner muß fürchten, alle Augenblicke mit dem Ellenbogen auf beiden Seiten anzustoßen. Doch wird jetzt hier und da etwas niedergerissen und gelichtet; wenn man den Platz nur nicht wieder zur Dunkelheit verkauft.

Die einzige Promenade der Stadt mit dem artigen[845] Namen ist, wie man mir zeigte, etwas erweitert worden, aber doch immer noch enge genug und kaum so breit als eine Hauptstraße in Petersburg. Die angepflanzten Bäume scheinen nicht sehr aufmerksam besorgt zu werden. Viele davon waren verdorrt, und es sollten sogleich wieder gut sortierte neue an ihre Stelle kommen, damit die andern gesunden nicht zuviel vorwachsen. Der Pavillon in der Mitte mit Erfrischungen gehört einem Fremden und ist eine recht hübsche Anlage.

Die Mahlzeiten der Hamburger sind bekanntlich gut, das habe ich auch gefunden. Indessen tritt der Luxus doch nicht aus den gewöhnlichen Grenzen der Zeit, und man tut es ihnen hier und da noch zuvor. Die Sperrung der Elbe müßte denn etwas von der Wirkung eines katonischen Aufwandsgesetzes gehabt haben; – welches nicht unwahrscheinlich ist. Daß die Leute satt aussehen, daran haben sie ganz recht, weit besser, als wenn sie hungrig blickten, was auch mein Freund Merkel darüber sagen mag. Die Gesichter der Einwohner sind immer ein guter Barometer der Regierung. Übersatt fällt freilich ins Böotische.

Hier traf ich Iffland und sah ihn nicht allein auf der Bühne, sondern konnte auch einige Stündchen mit ihm und bei ihm und bei mir verbringen. Du kennst den Mann als Gesellschafter vielleicht noch nicht. Ein Viertelstündchen im Gespräch mit ihm ist zuweilen, wenn sein Genius im leichten Spiel ist, noch mehr wert als eine seiner schönen Rollen auf der Bühne, und sein Genius ist das sehr oft. Hier sah ich ihn öffentlich nur einen einzigen Abend, in seinem eigenen Amtmann Riem in der Aussteuer. Er trug, wie mir vorkam, gewaltig auf und konnte doch nicht mit den Leuten ins Spiel kommen. Die Leute konnten nicht zu ihm hinauf, und er ebenso wenig zu ihnen herab. Die[846] hiesige Theatergesellschaft habe ich unter aller meiner Erwartung gefunden, und wenn ich nicht ganz gewiß wüßte, daß noch vor kurzem Schröder hier war, so würde ich durchaus nicht glauben, daß noch mehrere darunter seien, die seine Leitung genossen haben. Gefolgt sind sie ihr gewiß nicht. Woher es kommt, weiß ich nicht, aber das Theater ist schlecht, äußerst schlecht für Hamburg. Ich glaube, die Hälfte der Subjekte muß nicht lesen können, was man nämlich vernünftig lesen nennt. Da Iffland eigentlich nicht mit ihnen spielen konnte, dürfte man fast sagen, daß er ihnen mitspielte. Nur ein einziger war darunter, den ich für gut hielt; dieser machte, wenn ich nicht irre, den Präsidenten. Der den Fremden spielte, fing ziemlich gut an, ward aber bald ein Jammerprediger, und der Hofrat wütete seine Rolle sehr dich ab. Es mögen jedoch wohl noch taugliche Subjekte darunter sein, vorzüglich glaube ich einige unter den Subalternen bemerkt zu haben, und ich will aus einer einzigen Vorstellung nicht geradezu ganz verurteilen. Man erzählt, wenn sich bei Eckhof jemand um Anstellung meldete, so gab er ihm ein gewähltes Buch mit der Bitte zu lesen; sodann ließ er ihn einigemal in einem geräumigen Zimmer auf und abwandeln. Daran hatte der Kenner genug und er gab seinen Bescheid. Wie viele würde er auf diese Weise von unsern Bühnen weisen? Die Frauen waren besser als die Männer; ein ziemlich seltener Fall! Denn auf den meisten Theatern ist aus sehr erklärlichen Ursachen fast immer die größte Armut an Frauen.

Eine traurige Erscheinung für Hamburg ist der Eingang und der Ausgang am Theater. Das Schauspielhaus selbst ist bekanntlich schlecht genug, aber man findet in dem letzten polnischen Städtchen kaum solche Winkel als hier die beiden Schluchten, durch die man eingeht und ausgeht.

[847] Noch eine Vorkehrung muß ich bemerken, die mir sehr aufgefallen ist. Man hatte, um mehr Platz zu gewinnen, das Orchester den Zuschauern mit eingegeben, also eine Art von Parkett gemacht. Dawider ist nicht viel zu sagen, obgleich die Musik übel dabei fuhr; aber man hatte den Ort meistens mit so jämmerlichen, zerbrochenen Bänken besetzt, wie sie nur ein Holzhacker braucht oder ein Kabackenhalter gibt. Meiner Person ist das ganz gleichgültig; denn ich biwakiere so gut als irgendeiner, aber es ist wider allen Anstand; denn es befanden sich daselbst Männer und Frauen von dem besten Ton, wie schon der Ort anzeigt.

Wenn ich Dir etwas Geordnetes von den Partien und Anlagen über Altona hinaus bis Blankenese sagen sollte, müßte ich ein Buch schreiben. Die Blankeneser standen ehemals bei mir in gar schlechtem Kredit; denn man hatte mir gesagt, daß sie und die Helgoländer gelegentlich die kleinen Algerier der hiesigen Küste der Nordsee seien. Ganz rein mögen sie sich wohl nicht gehalten haben. Du hast doch wohl irgend etwas von einem Strandrecht gehört. Hier machte es einen großen Zweig der Unrechtsgelehrsamkeit aus, und man soll sogar noch hier und da in den Tempeln der Humanität um Segen in diesem christlichen Nahrungszweige beten. Ob dies wahr ist, weiß ich nicht; aber Schande genug, daß die Sache existiert! Mich deucht, unter den Römern, Griechen und Phöniziern habe ich nichts davon gehört, und wo je dort Leute solche Dinge trieben, hießen sie geradezu bei ihrem wahren Namen Piraten. Wenn dieses Recht auch eine Sanktion des Christentums ist, wie die niederträchtige Unmenschlichkeit gegen das schwarze Antlitz der Afrikaner, so mag es sein Erröten darüber in den Mienen von Potosi verbergen. Hat man je von einer größeren Barbarei gehört, als die Unglücklichen [848] zu dezimieren? Nein, das Wort ist noch viel zu gelinde; sie werden abgedrittelt, denn den dritten Teil verlangen und erhalten die christlichen Brüder rechtlich, wenn sie eine Hand zur Rettung ausstrecken sollen. Wenn doch einmal das Strandrecht ohne Rettung strandete, das Albinagium ist zur Ehre des Menschensinnes doch endlich vernichtet, und es lebt nur noch ein Bastard davon in dem Abzugsgelde der deutschen Edelleute.

Blankenese heißt weiter nichts als die blanke Nase, und der Fleck muß ehemals ziemlich kahl und wild gewesen sein. Jetzt baut man überall, und die Hamburger Landhäuser machen schon eine lange Reihe schöner Anpflanzungen bis hierher. Die Aussicht von dem Berge am Flusse hinauf bis zur Stadt macht ein herrliches Bild der reichen Kultur und des Wohlstandes. Aber weit herrlicher muß der Anblick von der anderen Seite des Flusses im Hannoverischen sein, wo man die Stadt und das mit Villen besäte Ufer auf und ab auf einmal überschaut.

Täglich fing man hier mehr an, von Krieg und Kriegsgeschrei zu reden, und ich wurde überall befragt, was ich darüber aus dem Norden mitbrächte. Ich, wußte weiter nichts zu sagen, als daß die Regimenter aus Finnland nach der entgegengesetzten Seite mit mir zugleich abmarschiert waren; wohin und wozu, das war mir unbekannt, denn ich hatte nicht mit im Rat gesessen. Und wäre dieses gewesen, so hätte das Fragen doch wohl auch nichts geholfen.

Unser guter Hofmann, der Patriarch Reimarus, Wächter und Körner und einige andere wackere Leute machten mir die Tage in Hamburg viel kürzer, als sie im Kalender standen; und es ärgerte mich fast, daß ich schon davonreisen sollte, da ich nur so eben mich ein wenig besser mit allem orientiert hatte.

Meine Fischreise wäre also hier geschlossen; denn[849] Du kannst nachrechnen, daß ich in dieser Rücksicht diesen Sommer einen herrlichen Zug gemacht habe. Mit der Elbe angefangen, mit der Elbe geendet. Die Oder, die Memel, die Düna, die Embach, die Newa, die Wolga, – bedenke, welche fischreichen Ströme, die großen und kleinen Landseen nicht mit eingerechnet. In Moskau hatten wir Fische aus dem Schwarzen Meere und dem Weißen Meere und der Kaspischen See, und mein Schicksal führte mich zu Schmeckern, wo sie gegeben wurden. Und nun der Strich am Finnischen und Bottnischen Meerbusen und der Ostsee herunter bis zur Nordsee, das gab Reichtum an Floßfedergeschöpfen, vom Lachs bis zum Strömling. Und an keinem habe ich mir den Magen verdorben.

Nachdem ich meinen dänischen Paß bei dem französischen Gesandten gehörig hatte vidiren lassen, – denn leider kann man im Vaterlande fast keinen Schritt mehr tun ohne Erlaubnis des Allmächtigen an der Seine – , fuhr ich ruhig an der Elbe hinauf nach Lüneburg zu. Gall war angekommen, als ich wegging. Es tut mir leid, daß ich ihn überall verfehlen muß, denn ich hätte doch gern einen Kurs über sein System gehört. Es durch Fremde zu verlieren, wird mir zu weitläufig. Das Neue dürfte vielleicht nicht sehr viel sein, außer in der Anatomie.

Die Franzosen in Lüneburg fragten uns gar nicht, und weiter fanden wir keine mehr, weil sie sich eben schon zu irgend einer Unternehmung zusammengezogen hatten.

Von Lüneburg nach Braunschweig könnte und sollte die Kultur wohl etwas besser sein. Ich kann mir nicht einreden lassen, daß der Boden so gar undankbar sein sollte, wenn man ihn nur recht anhaltend behandelte. Es müßte lehrreich sein, wenn unbefangene, freimütige Sachkenner dieses gehörig untersuchten.

[850] In Braunschweig wäre ich am Eingange bald in der Atmosphäre des Zichorienkaffees des Herrn Schmidt erstickt. Der Kaffee mit seinen Surrogaten und der Tabak sind doch sonderbare, unbegreifliche Thelkterien der Seele bei unsern Zeitgenossen. Man hat kaum Brot, aber Tabak muß man eher haben, und das schwarze, bittere Branntwasser ist durchaus nicht zu entbehren. Hier in der Gegend waren große, große Strecken mit Zichorien bepflanzt. Wenn nur alles, was einzeln merkantilisch richtig ist, auch für das Ganze staatsökonomisch wahr wäre! Ich kann mich nicht überreden.

Hier besuchte ich nur den Agathodämon der Kinderwelt. Campens Ruheplätzchen hat vielleicht mehr von Sanssouci als das große bei Potsdam. Einem Könige ist es selten gegeben, ohne Sorgen zu sein, wenn er wirklich König ist, und es wäre wohl zu beweisen, daß Friedrich seine größten Sorgen in Sanssouci gehabt hat. Was Campe wenigstens in ebenso großen Kredit bei mir setzte als sein Robinson und andere seiner guten Bücher, war, daß er mir auserlesen schöne, herrliche Kartoffel gab. Kartoffel werden höchst wahrscheinlich bei mir immer den Vorzug vor Wildpasteten behalten, Du magst nun über meinen Geschmack urteilen, wie Du willst, und Du wirst mir nachrechnen, daß ich Wildpasteten und Schnepfendr... geschmeckt habe, sogut als einer. Nun denke Dir, frische Kartoffeln im September mit einigen andern, guten, erfreulichen Zugaben bei Campe, der das Essen besser zu würzen versteht; so beschließt man die Reise noch besser, als man sie anfängt.

Mit etwas Sehnsucht sah ich in dem schönen Wetter hinüber, hinauf zu dem Vater Brocken. Hätte ich nur noch einige Tage spenden können, so wäre ich gestiegen, in dem neuen Hause auf dem Scheitel bin [851] ich noch nicht gewesen. Als ich das letzte Mal oben war, wurde eben der Grundstein dazu gelegt, und ich schlief unter den Bauleuten. Jetzt zeigte es sich dem Auge ziemlich deutlich durch die dichtere Atmosphäre um den Berg. Du weißt, ich bin kein sonderlicher Freund von Romanen, aber ich habe bei Gelegenheit des Brocken doch einmal in Gedanken einen Roman gemacht, von dem ich Dir hier das wesentlichste sagen will. Wenn es kein Roman gewesen wäre, ich glaube fast, ich hätte ihn nach meiner Weise aufgeschrieben und drucken lassen. Aber wer wird Wahrheiten für Männer erst in Flitterstaat putzen? Der Roman hieß in meinen Gedanken: »Tagebuch des Mannes im Monde«. Die Veranlassung dazu war: ich stand einen Abend oben auf der Stirn des Vater Brukterus und sah hinab nach dem Ilsenstein, um das Brockengespenst zu belauschen. Am Firmament glänzte der Vollmond. Da sah ich dann einen Meteor an blendendem Licht herabschießen und unter mir auf eine Steingruppe fallen. Noch eine Minute leuchtete er und verlosch dann. Ich arbeitete mich mit Mühe und Gefahr hinunter an die Felsenkluft und suchte und fand. Es war ein Buch in Rollen, ungefähr wie eine Handschrift aus dem Herkulanum, nur nicht ganz so übel zugerichtet. Ich wickelte auf und las, und las, da war es denn das Tagebuch des Mannes oben. Daß dergleichen Dinge aus dem Monde herabkommen, ist seit Plutarch unter den Physikern und Historikern eine bekannte Sache, die sich auch neuerdings in Frankreich, dem Lande der neu auferstandenen Wunder, wieder bewährt hat. Nun weißt Du aus dem Ariost, daß unser Verstand im Monde wohnt; daher ein Mensch, der nach Verstand schnappt, auch mondsüchtig genannt wird. Wieviel entflogener Verstand muß nun nicht im Monde sein, wovon hier auf Erden das Gegenteil ist? Nun registriert [852] der Mann im Monde alle bunte und krause Nachrichten von Erdenpilgern in seine Blätter und macht darüber nach seiner Weise und Weisheit seine Anmerkungen übe; die Vorkehrungen im Hauptplaneten. Du siehst leicht, daß der Inhalt eines solchen Tagebuchs für manche Wissenschaften unserer Erde eine einträgliche Ausbeute geben muß. Das ist der einzige Roman, den ich in meinem Leben, aber auch nur in Gedanken, geschrieben habe.

In Halberstadt wallfahrtete ich noch mit Sonnenuntergang hinaus in den Garten zu dem Grabe meines väterlichen Freundes und Wohltäters, des alten Gleim. Unten hatte ich an der Elbe an Klopstocks Grab gestanden und hatte dem Genius gehuldigt; hier tat ich mehr, ich opferte der reinen Herzlichkeit in heiliger Weihe. Hier in diesem Hause, hier auf der Stelle seines Denksteins hatte ich mit ihm selbst gesessen und mich mit ihm warmgesprochen über das Große und Gute. Stichle der Kritiker seine kleinen Fehler auf, Gleim war ein edler Mann, wie es nur wenige sind. Hätte ich mit Klopstock in so naher Berührung gestanden, vielleicht hätte ich die nämliche Anhänglichkeit bekommen wie gegen diesen; aber so war ich mit ihm nur in sehr ferner literarischer Beziehung. Ich muß Dir bei dieser Gelegenheit doch eine Kleinigkeit erzählen, die ich mir zu einigem Verdienst anrechne. Du weißt, daß ich bei dem Drucke von Klopstocks Oden und seiner Messiade die Handlangerarbeit eines Korrektors verrichtete. Der alte Herr muß wirklich ein autos-epha-ähnliches Ansehen behauptet haben. Er wies diktatorisch auf sein Manuskript, das doch nicht ohne kleine Fehler war. Daraus entstanden Differenzen, oft über Adiaphora. Er berief sich auf sein Papier, das aber wider ihn zeugte, und ich schrieb ihm im heiligen Eifer einmal einen [853] sehr freimütigen Brief, voll von Anerkennung seines wahren, großen Wertes, aber mit Aufstellung sehr vieler kleiner Unrichtigkeiten. Er ließ mir mündlich etwas grämlich sein Concedo antworten, hatte sich aber gegen Herder, wie mir Herder selbst sagte, bitter über mich beklagt, daß ich unbarmherzig mit ihm umgegangen sei. Meine Rechtfertigung ist sein eigenes Papier. Sein einziger Fehler ist, daß er in Minuzien unfehlbar sein will. Nur ein einziges Beispiel! In einer Ode, ich glaube die Gestirne, steht in allen vorhergehenden Ausgaben in einem Verse: Vater so rufen wir an. Das Metrum lag in meinem Ohre und wollte durchaus, daß das Wörtchen an wegfalle, und die Ästhetik ist sehr damit zufrieden. Es wurde ihm geschrieben, und ihm zugleich ein Korrekturbogen geschickt. Er hatte darauf das unterstrichene Wort wieder unterpunktiert; es wieder ausgestrichen; es wieder oben hingeschrieben und es wieder ausgestrichen. So schickte er den Bogen ohne eine Silbe zurück. Man sieht, mit welcher väterlichen Ängstlichkeit er den alten Verstoß retten wollte. Es war jedoch unmöglich, und die Göschensche Ausgabe ist die einzige, wo dieser Vers durch meine Strenge richtig steht.

So wie ich den einen Tag von Braunschweig nicht weiter als nach Halberstadt gefahren war, fuhr ich den andern nicht weiter als von Halberstadt nach Könnern. – Könnern will ich schreiben, und Köthen und Köln und Kölleda, nach den Gesetzen der Aussprache. Es war Späternte, und nirgends waren Pferde zu haben, und gern hätte ich meinen Sack auf den Rücken genommen und wäre zu Fuß etwas schneller gegangen, wenn ich nicht versprochen hätte, die Partie mit auszuhalten.

Es tut mir leid, daß ich die Bemerkung machen muß, aber die Wahrheit fordert sie, ich habe auf meinem [854] ganzen Sommerzuge keine Orter gesehen, die ein so ärmliches, verfallenes Ansehen hätten als die preußischen Städte von Braunschweig hierher. Halberstadt und Aschersleben und Könnern sehen dürftig aus, an Dächern und Fenstern und im ganzen. Dafür sehen aber wieder die Dörfer ordentlich und wohlhabend aus; eine Erscheinung, die ebenso erfreut, als jener Anblick traurig macht! In Halberstadt beschwerte man sich ziemlich laue, daß der König bei Einziehung des reichen Klosters Huisenburg der Armenkasse von Halberstadt nicht etwas zur Unterstützung habe zufließen lassen wollen, warum man ihn doch, wie man sagte, inständig gebeten habe. Der Anschein ist freilich hart; aber die mißlichen Konjunkturen der Zeit fordern auch von dem Monarchen eine Vorsicht, die der einzelne nicht immer beurteilen kann.

Überall hatten die Regimenter Befehl, marschfertig zu sein, und niemand wußte, wohin. Alles brannte vor Begierde zu fechten, und niemand wußte mit wem, gleichviel, wenn nur geschlagen wird. Das ist so der echte Charakter der gedankenlosen Menschennatur. Doch muß man nicht zu rasch sein und den psychologischen Grund aufsuchen, ehe man es sogleich einer primitiven Wildheit und Mordlust zuschreibt. In der Einrichtung unserer Staaten ist nun leider sehr wenig gereinigter Sinn. Das Soldatenwesen ist nicht die schönste Seite davon, und solange Soldat noch ein vorzüglicher Ehrentitel ist, darf man durchaus nicht sagen, daß in unsern Einrichtungen Vernunft herrsche. Soldat heißt seinem ersten Ursprunge nach wohl eigentlich weiter nichts als Söldner, Dukatenkerl, und ist selten etwas anders als der Handlanger der Despotie gewesen. Dem Krieger für Recht und Vaterland seine Ehre! Der Soldat als solcher kann nur wenig Anspruch darauf machen. Nun sind aber die Soldaten[855] doch Menschen, und keine bösen Menschen. Ihr Leben ist Zwang und Untätigkeit, zwei Dinge, die der Menschennatur wehe tun! Der Soldat freut sich also, auf irgend eine Bedingung, unter irgend einer Rubrik, in freiere Arbeit gesetzt zu werden. Er fühlt Kraft, Anstrengung vermehrt sie, Gefahr hebt sie, dadurch gewinnt er Wichtigkeit und auf alle Fälle mehr Selbstständigkeit, als er in seinem jetzigen Leben gehabt haben kann. Es ist also nichts als Tätigkeitstrieb, auch mit Gefahr seine Existenz zu zerstören. Der Mensch lebt lieber eine kürzere Zeit in dem Gefühl seiner Kraft als Jahrhunderte in hinlungerndem Nichtstun. Etwas Göttliches ist in uns, wenn es vernünftig benutzt würde.

In Halle wurde mein armer Tornister unbarmherzig versiegelt, dem man von Palermo bis Moskau mit seinem Inhalt liberalen Durchzug gestattet hatte. Doch nein, in Wien und Aberfors war er ja förmlich ausgeweidet worden. Das arme Seehundsfell hat viel ausstehen müssen.

Man sprach hier noch von der Brotnot des vorigen Sommers. Aus allem, was ich davon erfuhr, gingen Fehler von allen Seiten hervor, wie überall, wo ähnliche Kollisionen eintreten. Vernachlässigung rächt sich oft schrecklich. Die Bestrafung der Unruhigen war zwar eben nicht hart, aber wenn alles wahr ist, was man davon sprach, doch ziemlich unregelmäßig; welches dann auch an Ungerechtigkeit grenzt.

Als ich in der Abenddämmerung die Türme von Leipzig wiedersah, das ich nun für mein Tabernakel zu halten gewohnt bin, ward es mir doch unter der linken Seite etwas angenehm unruhig, so sehr ich auch meinen Stoizismus vorschob.


[856]
Lieblicher lispelt der Buchenhain
Und freundlicher kräuselt der Hütte Rauch
In des Tals Silbergewölk still empor,
Weht uns nun heimischer an Vaterlandsluft.
Stürmenden Söhnen des Nordens ist
Die rötliche Beere der Felsenwand
Palmenwein; jubelnder hallt längs dem Berg
Ihr Gesang, über des Bergs Erntegeschenk.
Köstlicher nickt mir der Apfelbaum,
Und herrlicher als Atalantens Frucht:
Schöner ist Weizengebind auf der Flur
Als am Glutgürtelgestad' Ananashauch.
Rauschet, ihr Eichen des Blumentals,
Vertraute des Knaben der schönen Zeit!
Wenn der Lenz wieder erscheint, grüß ich euch
Froher noch laut in des Hains Nachtigallchor.
Kröne, Irene, das Vaterland
Im Schnittergesange mit Ährengold;
Aber geuß Kraft in den Arm, wenn es gilt,
Daß der Mann schwinge den Speer hoch für den Pflug!
Himmelgeborenes Wahrheitslicht!
Nur Freiheit regier' und Gerechtigkeit!
Wo Vernunft spendet das Recht gleich und gleich,
Wächst empor dauerndes Glück über den Gau.

Unter diesem herzlichen Willkommen war es Abend geworden, und ich war vor dem Tore der Stadt. Schnorr war soeben aus der Schweiz gekommen, eine Reise, von der ich seit meiner Abwesenheit gar nichts[857] wußte, und schnitt freundschaftlich wieder seine besten Gesichter, als ich in das Zimmer trat, ebenso als vor einigen Jahren, da ich von der Arethuse kam. Das ist nun mein Sommer, lieber Freund. Ich glaube wohl, daß Du manches daran auszusetzen haben magst; es geht mir sogar selbst so.

Nun will ich während der Meßfeiertage noch einen kleinen Spaziergang nach Dresden und Weimar machen, weil ich mein Wort gegeben habe, und das muß feststehen wie die Berge Gottes. Wenn auch andern eben nicht viel daran gelegen sein sollte, so ist mir doch selbst meines Charakters wegen daran gelegen. Dann setze ich mich wieder zu meinem Griechischen und verschulmeistere mein Amphibienleben so gut es geht.

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TextGrid Repository (2012). Seume, Johann Gottfried. Reisebeschreibungen. Mein Sommer. Mein Sommer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-0A99-9