[214] Das scheidende Jahrhundert 1

Wer wird der Menschheit noch ihr Heiligthum verbürgen?
Bey jedem Tritt ist Scorpion.
Der hohe Wahnsinn schwelgt, wo die Hyänen würgen,
Und spricht entsetzlich Hohn.
Hier hält die Tyranney mit ihrer Eisenruthe
Noch blutig alte Büttelzucht,
Indeß geplündert dort ein Volk dem Aftergute
Der Frevelfreyheit flucht.
Ich las das große Buch, in welchem die Verbrecher
Auf Marmor an dem Schandpfahl stehn:
Auf jedem Blatte schlägt die Schuldigen ein Rächer
Für irgend ein Vergebn.
[215]
Noch trifft des Persers Hand, der Sclavenvater lächelt,
Im Trunk den Knaben in das Herz;
Und Sulla, wenn um ihn die Stadt Verwüstung röchelt,
Schreibt Todesschrift zum Scherz.
Man baut mit Riesenkraft am Celtenkapitole
Und donnert von dem Tempel her;
Und Molochsopfer glühn dem steigenden Idole
Vom Meere bis ans Meer.
Die alte Hyder zischt mit allen ihren Giften
Den Neuling an, und Blitz und Dolch
Schlägt; wo sie kämpfen flieht der Segen von den Triften
Wächst Schierling nur und Lolch.
Von jeder Alpe bricht der Tod aus Feuerschlinden,
Und in dem Waldstrom rauschet Blut;
Der Heerdenhüther blickt mit Angst aus Felsengründen
Nach seiner Hütte Gluth;
Sieht seinen Friedenshain von Äxten nieder stürzen,
Sieht, wie das Roß die Saat zerstampft,
Wie sich die Wüthenden zu der Zerstörung schürzen,
Und wie die Gegend dampft;
[216]
Sieht sprachlos auf, und bebt, und kalte Tropfen zittern
Dem Bebenden die Stirn herab.
Indeß sinkt unter der Verheerung Ungewittern
Ein ganzer Gau ins Grab.
Mit unverwandtem Blick und der Vergeltung Miene
Spricht Nemesis ihr Flammenwort;
Der milde Genius weint über der Ruine
Und geht voll Wehmuth fort.
Hat endlich schrecklich uns das Heer der Blasphemieen
Dort vor dem Richter angeklagt,
Daß nun die Geyerwuth der stygischen Harpyen
Uns an der Seele nagt?
Durch Leichen schreiten kalt, mit ihrer wilden Horde,
Die Tilly und die Attila,
Als wäre wieder nun mit ihrem alten Morde
Die Zeit des Faustrechts da.
Wir harreten noch jüngst, den Blick in Morgenröthe,
Asträa, deiner Wiederkunft:
Die Morgenröthe schwand, und auf der neuen Öde
Bleibt kaum ein Strahl Vernunft.
[217]
Mit Ruthen peitschte man, und nun mit Scorpionen.
Der Areopagitenspruch
Hielt seine Spenden aus für die in Hütten wohnen;
Sprach Segen, und gibt Fluch.
Was ist der Unterschied, wer Länder ausgesogen?
Ob der Satrap, ob der Prälat?
Ob Fürstenschwelgerey, ob freche Demagogen?
Die That bleibt stets die That.
Sonst fabelte der Mönch der Dummheit Heiligkeiten
Mit breitem Wolkenangesicht,
Wo mit dem Schild des Lichts jetzt grimm nach allen Seiten
Der neue Schwindler spricht.
Rühmt, wie ihr wollt, das Recht, die Freyheit und die Siege
Der alten großen Tiberstadt,
Wo Spartakus, der Knecht, vor allen in dem Kriege
Die Ehrenrolle hat;
Wo man den Bürger peitscht, vor dem Karthago zittert,
Wo Kato Sclavenhandel treibt,
[218]
Wo man mit Menschenfleisch zum Schmaus Muränen füttert,
Die sich Lukull verschreibt.
Der Himmel schütze mich und meine bessern Brüder
Vor dieser Freyheit Tyranney!
Erzeugt durch Unvernunft, ernährte sie die Hyder
Von Andrer Sclaverey.
Wenn hier der Celte Karl den orthodoxen Glauben
Mit Dolchen von Bajonne lehrt,
Dort Phalaris-Anton mit Morden und mit Rauben
Die Vaterstadt verheert;
Wenn Nero Rom verbrennt und Robespierre Bürgern
Durch Mienen Todesurtheil spricht,
Sie würgten alle kühn; wer war von allen Würgern
Der größte Bösewicht?
Vernunft, wann wirst du einst die wahre Freyheit setzen,
Vor welcher Recht und Ordnung geht?
Die kein Tribun, kein Fürst, kein Bonze zu verletzen
Sich frevelnd untersteht?
[219]
Erwärme du mein Herz, des Lebens Götterflamme,
Die tief durch meine Seele glüht,
Daß nicht mein Auge kalt rund um sich her verdamme,
Wenn es die Gräuel sieht;
Daß Kleinmuth nicht und Angst zuletzt mich niederziehen,
Wenn höhnend Druck und Willkühr siegt,
Wenn weit, weit aufgerollt, wohin die Blicke fliehen,
Die Sündenmappe liegt.
Bleib, Genius, damit uns nicht die Hoffnung schwinde,
Die über der Ruine schwebt,
Daß bald die Menschheit sich aus der Geburtsangst winde,
In der sie jetzo bebt.
Hilf du uns, Göttlicher, ihr Heiligthum bewahren,
Das im Orkan sich fast verlor,
Und trag' es herrlicher aus tödtlichen Gefahren
Und heiliger empor.

Fußnoten

1 Der Herausgeber des deutschen Merkurs hat schon bey der ersten Erscheinung dieses Gedichts angemerkt, daß es durch Matthisons Sarkophag des Jahrhunderts veranlaßt wurde. Der Inhalt zeigt, daß ich nicht ganz Matthisons politischer Glaubensgenosse bin, und also nicht alles unterschreibe, was er dort gesagt hat. Jeder sieht die Sache auf seine eigne Weise, und jeder mag diese Weise vor sich und andern durch Gründe rechtfertigen. Dadurch, daß ich den Gegenstand anders sahe und behandelte, ist mir auf keine Weise eingefallen, mich gegen Matthison als Dichter aufzustellen.

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TextGrid Repository (2012). Seume, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Das scheidende Jahrhundert. Das scheidende Jahrhundert. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-0A94-4