[54] Gebeth 1

Gott, Gott, den Mönch und Bonze nennet,
Und weder Mönch noch Bonze kennet,
Den man von Nation zu Nation,
Durch schleichenden Betrug geblendet,
In frömmelnder Verehrung schändet,
Hier beth' auch ich, des Staubes Sohn.
Des Weisen forschender Gedanke
Bebt ehrfurchtsvoll in seiner Schranke,
Und blickt mit Ahndung in dein Heiligthum,
Und stehet, wenn in ihren Kreisen
Dich Myriaden Welten preisen,
Anbethend still zu deinem Ruhm.
Du säest Welten aus wie Saaten,
Und das Geheimniß deiner Thaten
Ist blendend Licht und Harmonie und Sturm;
Und in der Kette deiner Wunder
Ist eine Sonne nur ein Zunder,
Und eine Erde nur ein Wurm.
[55]
Und ich, was mag ich Pünctchen wollen?
Die Sphären deiner Ordnung rollen
Nach deinem Maß in ihren Kreisen hin;
Ob unter Jubel oder Wimmern,
Auf Rosenwegen oder Trümmern
Ich glücklich oder elend bin.
Du hast gerecht zu meinem Leben
Mein Theil mir von Vernunft gegeben;
Genug zum Segen und genug zum Fluch:
Ich bin, wenn ich, was ich verschulde,
Nicht ruhig ohne Murren dulde,
Mit dir und mir in Widerspruch.
Das Urverhängniß aller Dinge
Liegt weislich in dem großen Ringe
Durch lange Folgen an Nothwendigkeit;
Und nichts wird, wenn auch schwache Seelen
Mit Gram sich bis zur Folter quälen,
Im Schicksal anders angereiht.
Wer kann, o Wesen aller Wesen
Des Schicksals große Rolle lesen,
Auf welche du der Himmel Ordnung schreibst?
Wer hat mit dir im Rath gesessen,
[56]
Das ewige Gesetz zu messen,
Nach welchem du die Sphären treibst?
Man legt dir, Weisester, wenn Thoren
Durch Unverstand ihr Glück verloren,
In lauten Klagen den Verlust zur Last;
Und niemand mißt genug die Mittel,
Die du im Purpur und im Kittel
Den Sterblichen beschieden hast.
Nur wenn des Lebens Riesenplagen
Der Freude letzten Keim zernagen,
Erliegt dem heißen menschlichen Gefühl
Die schwankende Vernunft und fluchet,
Wenn sie umsonst nach Rettung suchet,
Frech sich und dir in dem Gewühl.
Wenn übertünchte Bösewichter
Das Recht durch den erkauften Richter
Der Unschuld rauben, und in hohem Spott
Das Mark der Wimmernden verschwenden,
Verzweifelt in des Henkers Händen
Die Tugend selbst an ihrem Gott.
[57]
Wenn häuchlerische schwarze Seelen
In ihrem Kleid ihr Gift verhehlen,
Und Völker an dem Gängelbande drehn,
Und desto blutiger zu zehren,
Mit Finsterniß die Dummheit nähren,
Wagts der Gequälte dich zu schmähn.
Die Zwietracht schwingt mit Schlangenarmen
Die Todesfackel ohn' Erbarmen,
Und würgt mit Wuth in einem Augenblick,
Der göttlichen Vernunft zur Schande,
Die ganze Hoffnung ganzer Lande
Und mancher Jahre schönes Glück.
Der Ocean durchbricht die Dämme
Und greift im Sturme ganze Stämme
Von Glücklichen mit ungeheurer Fluth;
Die Erde wirft mit giftgem Hauche
Verderben aus dem Naphtabauche,
Und frißt Provinzen in der Gluth.
Wenn rund, wohin das Auge fliehet,
Wo nur der Strahl der Sonne glühet,
Die Menschheit unter ihren Geißeln weint,
Wenn in unendlichen Gestalten
[58]
Harpyen ihre Mahlzeit halten,
So knirscht vor Grimm der Menschenfreund.
Wenn in dem stürmischen Gewühle
Sich qualvoll kreuzender Gefühle
Die schwache Lampe der Vernunft erlischt;
Wenn hinter ihm Verwüstung gähnet,
Und vor ihm, furchtbar ausgedehnet,
Sich Finsterniß mit Schrecken mischt;
Wenn er umsonst nach Lichte spähet,
Und zweifelnd an dem Abgrund stehet,
Wagt er die große fromme Frevelthat,
Voll hoher Gluth in seinen Adern,
Mit dir, Gott, seinem Gott zu hadern,
Und lästert dich und deinen Rath.
Gott, in den Glanz des Lichts gehüllet,
Gott, dessen Hauch das Weltall füllet,
An dessen Kleid die Sonnen funkelnd stehn;
Auf dessen Wink die Welten fallen,
Und aus den Trümmern neue wallen,
Die jubend sich in Sphären drehn:
[59]
Gott, Vater, Schöpfer, Ordner, Walter,
Des Cherubs und des Wurms Erhalter,
Laß nichts mir, wenn die Bosheit teuflisch glotzt,
Laß nichts mir meinen Kinderglauben
An deine Vatergüte rauben,
Der aller Bosheit Giften trotzt.
Ich bin, kann ich in Hypothesen
Gleich nicht das große Räthsel lösen,
Ich bin ein Funke deiner Ewigkeit;
Und mein Gefühl mit Feuerschwingen
Kann auf zu deiner Größe dringen
In seines Werthes Trunkenheit.
Laß mich nicht, wenn mein Busen wüthet,
Und Lästerung und Wahnsinn brütet,
Im hohen Wahnsinn deine Weisheit schmähn;
Ich stehe blind am großen Spiele,
Und kann hinab zum fernen Ziele
Nicht mit dem schwachen Auge sehn.
Laß mich nicht, wenn in ihren Rotten
Verführer frech der Unschuld spotten,
Und jeden Tag ein neues Opfer fällt,
Laß mich, wenn sie mit Molochsaugen
[60]
Aus ihren Thränen Nahrung saugen,
Nicht richten über deine Welt.
Laß mich nicht, wenn mit Hohngelächter
Des Rechtes rechtliche Verächter
Der Tugend kaum den Götterwerth verzeihn,
Laß mich nicht, wenn des Elends Knaben
Umsonst nach Futter schreyn, wie Raben,
Durch Lästerung die Zung' entweihn.
Laß mich nicht, wenn Hyänenhorden
Provinzen zur Verwüstung worden,
Und jubelnd über Menschentrümmern gehn,
Laß mich nicht unter Menschenteufeln
An deiner Vaterhuld verzweifeln,
Wenn Höllengeister mich umwehn.
Laß nie mich in der Angst es wagen,
Dich hochvermessen anzuklagen,
Da Dunkel noch das große Jenseits deckt,
Nicht fluchen, wenn das Laster sieget,
Und Tugend, die im Schlummer lieget,
Zu ihrem Untergange weckt.
[61]
Wenn jenseits noch zur Qual gerottet,
Der Tugend frech die Bosheit spottet,
Die hier das Blut der Unschuld gierig sog;
So ist es, Herr, dein Himmelsfunken,
Der, waren wir hier wonnetrunken,
Uns göttliche Verwandtschaft log.
Wenn du uns hier in unserm Staube,
Trotz der Verheißung, die ich glaube,
Zum todten Stoff der fremden Wesen legst,
So sinkt die Hälfte meiner Brüder
In nahmenloses Elend nieder,
Womit du zwecklos sie zerschlägst.
Wenn Angst und Zweifel in mir stürmet,
Und Nacht auf Nacht um mich thürmet,
Und alle Sinne sich im Schwindel drehn,
So will ich meine Hände falten,
Und mich an dich im Sinken halten;
Und sinkend werd' ich nicht vergehn.
Ich will, wie an dem Helm im Schiffe,
Am alles tröstenden Begriffe
Von dir und deiner weisen Güte stehn,
Und wenn des Weltbaus Angel sinken,
[62]
Der Hoffnung vollen Becher trinken,
Und ruhig in die Trümmer sehn.
Es sollen mich nicht Widersprüche,
Nicht infulirter Männer Flüche,
Nicht Edda, Vedam, und nicht Alkoran,
Nicht Bibel und nicht irre Weisen
Von meiner Felsenwarte reißen,
Auf der ich sicher harren kann.
Aus deiner Hand gehn Orionen,
Du hauchst der Geister Millionen
Mit Götterkräften hin in ihre Bahn,
Und zündest, wenn die Geister zagen,
Aus Mitternacht zu Sonnentagen
Gewiß die Fackel wieder an.
Aus Tod und Grab bricht meinen Blicken
Dann unter himmlischem Entzücken
Gewiß der Ordnung Morgenlicht zuletzt:
Dann tauch' ich mich in jene Kreise
Der Welten, wenn zur Weltenreise
Aurore mir die Füße netzt.

Fußnoten

1 Dieses Gebeth wurde geschrieben an dem Morgen, wo Suwarow die Prager Linien vor Warschau nahm, und wo in einer Zeit von zwey Stunden fast achtzehn tausend Menschen im Sturm umkamen. Ich war damahls in Warschau Gefangener als russischer Officier, und fast alles geschah unter unsern Augen, da wir nur durch den Fluß getrennt waren. Die Catastrophe drohete uns und der Stadt den Untergang, und nur die Weichsel war unsre Rettung. Ismail und Praga sind des schrecklichen Suwarow schrecklichste Tage; ich habe mich an einem andern Orte darüber erklärt. Der Gedanke, daß jetzt ein Reich in Trümmer fiel, war mir nicht sehr gegenwärtig in dem physischen und moralischen Sturme, der um mich und in mir war. Die nächste Veranlassung zu diesem Stücke war die entsetzliche Seelenstimmung eines verwundeten pohlnischen Officiers, der auf seiner Flucht von Praga durch Warschau, Gott weiß wohin, uns noch besuchte. »Die Ihrigen haben wieder gesiegt, knirschte der unglückliche Mann mit den Zähnen und hob den zerschossenen Arm halb in die Höhe; wenn mir künftig noch jemand etwas von Gott und Tugend und Vorsehung sagt, will ich ihm die Antwort ins Gesicht speyen.« So stürzte er aus dem Zimmer, und ich sahe ihn nicht wieder.

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TextGrid Repository (2012). Seume, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Gebeth. Gebeth. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-0A7E-7