[135] Fragment über den Kuß

Nun ja, ich habe, daß ihrs wißt,
Ihr würdet sonst doch wenig von mir halten.
Ich will bekennen, in der alten
Und in der neuen Welt geküßt,
Trotz meiner Stirne finstern Falten:
Verstehet sich in allen Ehren,
Wie es seit Karls des Großen Zeit
In alter deutscher Züchtigkeit
Die strengsten Regeln nicht verwehren.
Nun fraget ihr mich, ohne Scherz
Die Hand aufs Herz,
Was ich von Küssen sage?
Verfänglich ist mir allerdings die Frage.
Ihr meint vor allem, wenn man küsse,
Daß man zum ganzen herrlichen Genuß
Des Himmlischen in einem Kuß
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Auch die Geküßte lieben müsse.
Ey, freylich das; und ich bekenne klar,
Daß dieser Fall auch meiner war:
Und überdies, – da hört ihr gleich,
Daß ich euch nicht belogen habe, –
Es war ein Mädchen, herrlich, schön und reich
An jeder seltnen Göttergabe.
Ich habe selbst mir oft geschworen,
Sie hätte des Olympus Horen
Mit ihrem Seelenblick besiegt;
Und hätte sie die Fabelwelt geboren,
Es hätte sie Urania vergnügt
Sich zur Begleiterinn erkoren,
So hatten sie die Grazien gewiegt.
Ein Mädchen war es, das so oft, wenn mich
Ein Phantasienrausch beschlich
Und mich mit Paradies belog,
Wo ich entzückt durch sieben Himmel sah,
Weit mächtiger mich nach Kolumbia
Als Washington und Franklin zog.
Nun denkt euch, Freunde, so ein Kuß,
Denn ich erst halb der stolzen Brittinn raubte,
Und denn sie dann mir ganz erlaubte,
Und selbst zurückgab, wie ich glaubte,
War doch wohl noch ein Kuß.
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Von einem köstlichen Genuß.
Auch sag' ich, kann ich gleich vor Zärtlichkeit nicht schmachten,
Ein solcher Kuß ist gar nicht zu verachten,
Doch aller Küsse Quintessenz,
Vom Rosenlenz bis zu dem Rosenlenz,
Ist, glaub' ich, und ihr glaubt es kaum,
Doch könnt' ich, wolltet ihr es hören
Auf mein Gewissen es beschwören,
Ist, nun was meint ihr? ist ein Kuß im Traum.
Ihr lacht? So wahr ich ehrlich bin,
Ich werde mein Gefühl doch wissen;
Ich laß' euch zwanzig Jahre küssen,
Und gebe nicht den Kuß, wie ich ihn küßte, hin.
Das war doch noch ein Kuß von Sinn.
Der grobe Sinnling mag in Rotten
Nur meine hohe Schwärmerey verspotten:
Der Kuß war, das versichre ich
Bey Ehr' und Wahrheit, wenig körperlich.
Ein Mädchen, das kein Künstler euch beschreibt,
Vor dem die Dichtung zagend stehen bleibt,
Und dessen Möglichkeit in stiller Weihe Stunden
Ich nur ganz leise vorempfunden,
Ein Urbild von Urania
Stand mit dem Zaubergürtel da.
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Die Gluth, die mein Gesicht umhüllte,
Die aus dem Puls des Herzens sich
Schnell und doch sanft durch alle Adern schlich,
Und magisch schnell mein ganzes Wesen füllte,
War nicht die Gluth in groben Sinnen,
Wenn sie, zu Stürmen angefacht,
Von Mitternacht zu Mitternacht
Den Kampf der Leidenschaft beginnen.
Es war ein helles, reines Feuer,
Erhöhter, himmlischer und freyer,
Das durch die ganze Seele fuhr,
Als ich auf einer Blumenflur
Mich zu dem göttlichen Phantome beugte,
Und die Gestalt mir halb entgegen kam,
Die Huldigung von meiner Lippe nahm,
Und sich ambrosisch seitwärts neigte.
Aus allen seinen Paradiesen
Durch seine ganze Ewigkeit
In einer einzigen Minute Seligkeit
Der Freuden ganzen Schatz zu gießen,
Hat Gott für Seelen, die es kennen,
Die glühen und die nicht verbrennen,
Das Meisterstück der Güte durchgedacht,
Und einen solchen Kuß gemacht.
Der Hauch der Göttlichen erhöhte
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Mit Himmelsathem mich, so sanft und süß und warm;
So ruhte sie an meinem Arm,
Und ihr Gesicht war Morgenröthe.
In ihrem Blick war hell das Glück zu lieben
Mit reiner Feuerschrift geschrieben;
Mit einer Schrift, die jeder nicht versieht,
Der an dem Lenkseil niedrer Sinnen,
Die Hesperidenfrüchte zu gewinnen,
Sich in der Erde Taumel dreht.
Ha, wenn ich hundert Jahre lebe,
Wer bürgt mir, daß ich noch ein Mahl
Mich aus dem tiefumwölkten Thal
Zu dieser Seligkeit erhebe?
Wer war die Himmlische, die aus Erbarmung sich
Zu mir, dem Träumer, nieder schlich,
Um mir von einem Götterleben
Ein leises Vorgefühl zu geben?
Wer goß Unnennbarkeit in meinen Busen?
Asträa, die sich noch ein Mahl
Auf unsre Sündererde stahl?
Wars eine von den jüngsten Musen?
Wie, oder küßte mich zum Lohne,
Daß ich bisher so ruhig trug,
Und frevelnd nicht nach ihrem Scepter schlug,
Die Tochter selbst der göttlichen Dione?
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So war vielleicht ihr erster Kuß,
Als Aphrodite mit dem Silberfuß
Zum schönsten Sieg
In Paphos an das Ufer stieg:
So war vielleicht nach Adams Traum,
Den er auf einer Blumenmatte
Vom ersten Mädchen sich geträumet hatte,
Der Kuß an dem Erkenntnißbaum:
So ist vielleicht einst unser Kuß,
Wenn Genius und Genius
Einander in die Arme sinken,
Und, von der Erde Last befreyt,
Zu dem Genuß der Ewigkeit
Entzückung aus der Strahlenquelle trinken.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Seume, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Fragment über den Kuß. Fragment über den Kuß. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-0A5D-2