[45] 4.

Nach einer geraumen Weile nahm er wieder das Wort.

»Ich schaute auf, um mich.

Ich lag auf der Rasenbank eines schmalen, aber tiefen Flusses. Mir zur Seite stand mein Mustang, neben diesem ein Mann, der, die Arme gekreuzt, eine strohgeflochtene Weidmannsflasche in der Hand hielt. Mehr konnte ich nicht ausnehmen, denn ich war zu schwach, mich aufzurichten. In meinen Eingeweiden brannte es wie höllisches Feuer. Die Kleider, die mir naß am Leibe klebten, waren ein wahres Labsal.

›Wo bin ich?‹ röchelte ich.

›Wo Ihr seid, Fremdling? Wo Ihr seid? Am Jacinto, und daß Ihr am – und nicht im Jacinto seid, ist, rechne ich, nicht Eure Schuld –. Damn it! Sie ist's nicht. Seid aber am Jacinto und auf 'm – wenn auch nicht im Trocknen.‹

Des Mannes höhnisch feindselig rohes Lachen hatte etwas so unbeschreiblich widerwärtig Zurückstoßendes, daß es mir Schmerzen in den Ohren verursachte, jedes Wort, das an die Ohrenfelle anschlug, schmerzte. Wenn mir die halbe Welt für einen freundlichen Blick geboten worden wäre – er wäre mir nicht möglich gewesen, mit solchem Grausen und Abscheu erfüllte mich dieses gräßliche Hohnlachen.

War es der äußerst gereizte, im Abschnappen begriffene Zustand meiner Nerven, war es ein sonstiger Umstand, der dieses gräßlich diskordante Lachen so unsäglich widerwärtig auf mich einwirken ließ, so viel kann ich mit Bestimmtheit versichern, daß, als das letzte Wort meine Ohren zerriß, mir auch der gräßliche Charakter des Lachers mit einer Deutlichkeit, einer Klarheit vor den Augen stand, in der ich in meinem ganzen Leben keinen Charakter, selbst die längst bekannten [46] befreundeten durchschaut. Ich wußte, daß er mein Lebensretter, daß er es gewesen, der mich aus dem Flusse gezogen, in den ich köpflings über den Hals meines Mustang gestürzt, als dieser wütend vor Durst über die Rasenbank in das Wasser hinabsprang; daß ich ohne ihn unfehlbar ertrunken sein mußte, selbst wenn der Fluß nicht so tief gewesen wäre; daß auch er es war, der mich mit seinem Whisky aus der tödlichen Ohnmacht zum Bewußtsein zurückgebracht. Aber wenn er mir zehn Leben gerettet hätte, ich vermochte es nicht, den unsäglichen Widerwillen zu überwinden. Es war mir nicht möglich, ihn anzusehen.

›Scheint nicht, daß Euch meine Gesellschaft zweimal lieb ist‹, grinste er mich höhnisch lauernd an.

›Eure Gesellschaft nicht lieb? Habe seit mehr als hundert Stunden keine menschliche Seele gesehen, keinen Bissen, keinen Tropfen über die Zunge ge bracht.‹

›Holla! da lügt Ihr‹, brüllte er lachend. ›Habt ja einen Mundvoll aus meiner Flasche genommen – zwar nicht eigentlich genommen, aber ihn doch den Rachen hinabgeschüttet. Und wo kommt Ihr her? Das Tier da ist nicht Eures?‹

›Mister Neals!‹ gab ich zur Antwort.

›Wessen ist es?‹ fragte er nochmals lauernd.

›Mister Neals!‹

›Sehe es am Brand. Aber wie kommt Ihr von Mister Neals her an den Jacinto? Sind gute siebzig Meilen quer über die Prärie zu Neals Pflanzung. Habt doch nicht mit seinem Mustang Reißaus genommen?‹

›Verirrt, habe seit vier Tagen keinen Bissen über die Zunge bekommen.‹

Mehr vermochte ich nicht herauszubringen, Schwäche und Abscheu schlossen mir den Mund. Die Sprache des Mannes verriet eine Verwilderung, eine Entmenschtheit, die alles weit überstieg, was ich derart je gesehen und gehört.

›Vier Tage nichts über die Zunge gebracht, und in einer Texas-Prärie, und Inseln auf allen Seiten!‹ lachte der Mann. ›Ah, sehe es, seid ein Gentleman, sehe es wohl – war auch eine Espèce von einem. Dachtet, unsere Texas-Präries wären Eure Präries in den Niederlassungen drüben oder den Staaten droben. Ha, ha!

[47] Und Ihr wußtet Euch gar nicht zu helfen?‹ lachte er wieder. ›Saht Ihr denn keine Bienen in der Luft, keine Erdbeeren auf der Erde?‹

›Bienen? Erdbeeren?‹ wiederholte ich.

›Ei, Bienen, die in hohlen Bäumen hausen; ist unter zwanzig hohlen Bäumen immer sicher einer, der voll ist, versteht Ihr, voll Honig. Und Ihr habt keine Bienen gesehen? Kennt aber vielleicht die Tiere nicht, denn sind nicht ganz so groß wie Wildgänse oder Truthühner; aber die Erdbeeren kennt Ihr doch, wißt doch auch, daß sie nicht auf den Bäumen wachsen.‹

Alles das sprach der Mann, den Kopf halb über den Rücken zurückgeworfen, höhnisch lachend.

›Und wenn ich auch Bienen gesehen, wie hätte ich ohne Axt zu ihrem Honig kommen können – verirrt, wie ich war?‹

›Wie kam es, daß Ihr Euch verirrtet?‹

›Mein Mustang – ausgebrochen.‹

›Verstehe, verstehe. Seid ihm nachgeritten, die Bestie hat ihren Kopf aufgesetzt, wie sie es immer tun, Euch zum besten gehalten. Verstehe, verstehe; aber was wollt Ihr nun? Was habt Ihr vor?‹

Noch immer sprach der Mann mit halb über den Rücken geworfenem Kopfe, wie als scheue er meinen Blick.

›Ich fühle schwach und matt zum Sterben – dem Tode nahe – zu Menschen will ich, in ein Haus, eine Herberge.‹

›Zu Menschen?‹ sprach der Mann mit einem höhnischen Lächeln. ›Zu Menschen?‹ brummte er, einige Schritte seitwärts tretend.

Ich vermochte es kaum, den Kopf seitwärts zu drehen, aber die Bewegung des Mannes war mir aufgefallen, und ich bezwang mich. Er hatte ein langes Messer aus dem Gürtel gezogen, das er spielend angrinste. Erst jetzt konnte ich ihn näher beschauen. Ein gräßlicheres Menschenantlitz war mir nie vorgekommen. Seine Züge waren die verwildertsten, die ich je gesehen. Die blutunterlaufenen Augen rollten wie glühende Ballen in den Höhlen. Sein Wesen verriet den wütendsten innern Kampf. Er stand keine drei Sekunden still. Bald vorwärts, bald rückwärts, wieder seitwärts schießend, schien es ihm nicht Ruhe zu lassen, spielten seine Finger wie die eines Wahnsinnigen mit dem Messer. In seinem Innern ging zweifelsohne ein Kampf vor, der über mein Sein oder Nichtsein auf dieser Erde entschied. Ich war jedoch vollkommen gefaßt; in meiner Lage hatte der Tod nichts [48] Qualvolles; hing ja mein Leben selbst an einem bloßen Faden! Die Bilder der Heimat, meiner Mutter, meiner Geschwister, meines Vaters tauchten noch einmal vor meinen Augen auf, und dann wandte sich mein Blick unwillkürlich zu dem droben! Ich betete.

Er war noch mehr zurückgetreten. Ich zwang mich, soviel ich es vermochte, und schaute ihm nach. Wie ihm meine Blicke folgten, trat mir dasselbe grandiose Phänomen, das ich am ersten Tage meiner Verirrung gesehen, abermals vor den Gesichtskreis. Die kolossale Silbermasse stand keine zweihundert Schritte vor mir. Er verschwand dahinter, kam aber nach einer Weile langsam und schwankend wieder hervor. Wie er sich mir jetzt näherte, trat mir allmählich sein Totalbild vor Augen. Er war lang und hager, aber starkknochig gebaut. Sein Gesicht, soviel der seit Wochen nicht geschorene Bart davon sehen ließ, war sonnen-und wettergebräunt wie das eines Indianers, aber der Bart verriet weiße Abstammung. Die Augen waren jedoch und blieben gräßlich, wurden es mehr, je länger man sie sah. Die Furien der Hölle schienen sich in diesen Augen umherzutreiben. Die Haare hingen ihm struppig um Stirn, Schläfe und Nacken herum. Inneres und Äußeres erschienen desperat. Um den Kopf trug er ein halb zerrissenes Sacktuch mit braunschwarzen dunklen Flecken. Sein hirschlederner Wams, seine Beinkleider und Mokassins hatten dieselben Flecken. Ohne Zweifel waren es Blutflecken. Das zwei Fuß lange Jagdmesser mit grobem hölzernem Griffe hatte er wieder in den Gürtel gesteckt, dafür aber hielt er jetzt eine Kentucky-Rifle in der Hand.

Meine Miene, meine Blicke mochten Abscheu verraten, obwohl ich mir alle Mühe gab, ruhig zu scheinen. Nach einem kurzen Seitenblicke grollte er.

›Scheint nicht, als ob Ihr viel Gefallen an meiner Gesellschaft findet. Sehe ich denn gar so desperat aus? Ist mir's denn gar so leserlich auf der Stirn geschrieben?‹

›Was soll Euch denn auf der Stirn geschrieben sein?‹

›Was? Was? So fragt man Narren und Kinder aus.‹

›Ich will Euch ja nichts ausfragen, aber als Christ, als Landsmann, bitte, beschwöre ich Euch –.‹

›Christ!‹ unterbrach er mich hohnlachend, ›Landsmann!‹ – schrie er, den Stutzen heftig zur Erde stoßend. ›Das ist mein Christ!‹ schrie er, diesen emporreißend und Stein und Schloß prüfend, ›der [49] erlöst von allen Leiden, ist ein treuer Freund. Pooh! vielleicht erlöst er auch Euch, bringt Euch zur Ruhe.‹

Die letzten Worte sprach er abgewandt, mehr zu sich.

›Machst ihn ruhig, so wie den – Pooh! – Einer mehr oder weniger. Vielleicht vertreibt der das verdammte Gespenst.‹

Alles das war zur Rifle gesprochen.

›Verrätst mich auf alle Fälle nicht‹, – fuhr er fort. – ›Ein Druck –!‹

Und so sagend warf er das Gewehr vor, die Mündung in gerader Richtung gegen meine Brust.

Ich zitterte nicht, von Furcht konnte keine Rede mehr sein. An der Schwelle des Todes verliert dieser seine Schrecken, und ich war an seiner Schwelle, so sterbensschwach! Es brauchte keinen Schuß, ein leichter Schlag mit dem Kolben löschte den Lebensfunken mit einem Male aus. Ruhig, ja gleichgültig sah ich in die Mündung hinein.

›Wenn Ihr es bei Eurem Gotte, meinem und Eurem Schöpfer und Richter verantworten zu können glaubt – tut, wie Euch gefällt!‹

Meine ersterbende Stimme mußte wohl einen tiefen Eindruck in ihm hervorgebracht haben, denn er setzte erschüttert das Gewehr ab – starrte mich mit offenem Munde an.

›Auch der kommt mit seinem Gott!‹ murmelte er. ›Gott! und meinem und Eurem Schöpf-er – und Rich-ter!‹

Er vermochte es kaum, die Worte herauszubringen, und als er sie jetzt wiederholte, schienen sie ihn zu würgen, ihm die Kehle zusammenzuschnüren.

›Sei–nem und – mei–nem Rich–ter!‹ stöhnte er wieder.

›Ob es wohl einen Gott, einen Schöpfer und Richter gibt?‹

Als er so murmelnd stand, wurden ihm die Augen starr.

›Gott!‹ wiederholte er in demselben gedehnt fragenden Tone – ›Schöpfer! Richter!‹

›Tut das nicht!‹ – schrie er plötzlich. ›Bringt keinen Segen, was Ihr vorhabt! Bin ein toter Mann! Gott sei mir gnädig und barmherzig! Mein armes Weib, meine armen Kinder!‹

Die letzteren Worte waren so entsetzlich, aus tiefster Brust heraus gestöhnt! Die Rifle entfiel seinen Händen – zugleich schlug er sich so rasend auf Stirn und Brust. Der Mann wurde mir jetzt grausig, [50] wie er, gepeitscht von den Furien seines Gewissens, umherschlug. Er mußte Höllenqualen ausstehen, der böse Feind schien in ihm zu toben.

›Seht Ihr mir nichts an?‹ – fragte er, plötzlich auf mich zuspringend, mit kaum hörbarem Gemurmel.

›Was sollte ich Euch ansehen?‹

Er trat noch näher.

›Schaut mich so recht an, so, was man sagt, in mein Inneres hinein. – Seht Ihr da nichts?‹

›Ich sehe nichts‹, sprach ich.

›Ah, begreife, könnt nichts sehen. Seid nicht in der Spionierlaune, kalkuliere ich – nein, nein, seid nicht. Wenn man so die vier Nächte und Tage nichts über die Zunge gebracht, vergeht einem wohl 's Spionieren. Zwei Tage habe ich's auch probiert. Nein, nein, kein Spaß das, kein Spaß, alter Kumpan!‹ redete er, wieder nach der Rifle langend, diese an. ›Sage dir, laß mich in Ruhe, hast genug, genug getan!‹

Und so sagend wandte er sich, drückte ab, aber das Gewehr versagte.

›Was ist das –?‹ schrie er, Schloß und Zündpfanne untersuchend – ›bist nicht geladen? – My! My! wie ich nur – versagst mir, weil ich dich nicht gefüttert, alter Kumpan! Nicht gefüttert, seit du! – Ah, hätte ich dich damals lieber nicht gefüttert, wäre vielleicht. – Wohl ist das ein Wink, soll mir eine Warnung sein – eine Stimme. Sollst ruhen. Schweig stille, alter Hund! sollst mich nicht in Versuchung führen, hörst du?‹

Alles das sprach er eifrig, heftig zum Stutzen, dann wandte er sich wieder zu mir.

›So, seid Ihr matt und schwach, sterbensmatt, schwach? Freilich müßt Ihr's sein, denn Ihr seht ja drein, als ob Ihr alle Tage Eures Lebens am Hungertuche genagt.‹

›Matt zum Sterben –‹, röchelte ich.

›Wohl, so kommt und nehmt noch einen Schluck Whisky. – Wird Euch stärken; aber wart', will ein wenig Wasser eingießen.‹

Und so sagend trat er an den Rand des Flusses, schöpfte mit der hohlen Hand einige Male Wasser, ließ es in den Hals der Flasche, und diese an meine Lippen bringend, goß er mir das Getränk ein.

Selbst der blutdürstigste Indianer wird wieder Mensch, wenn er eine menschliche Handlung geübt. Auch er war auf einmal ein ganz [51] anderer geworden. – Seine Stimme ward weniger rauh, mißtönig, sein Wesen sanfter.

›Ihr wollt also in eine Herberge?‹

›Um Gottes willen, ja. Habe seit vier Tagen nichts über die Lippen gebracht als einen Biß Kautabak.‹

›Könnt Ihr einen Biß sparen?‹

›Alles, was ich habe.‹

Ich holte aus meiner Tasche die Zigarrenbüchse, den Dulzissimus – er schnappte mir letzteren aus der Hand und biß mit der Heißgier eines Wolfes darein.

›Ei, von der rechten Sorte, ganz von der rechten Sorte‹, murmelte er in sich hinein. ›Ei, junger Mann, oder alter Mann – seid ein alter Mann? Wie alt seid Ihr?‹

›Zweiundzwanzig.‹

Er schaute mich kopfschüttelnd an. ›Kann es schier nicht glauben; aber vier Tage in der Prärie und nichts über die Zunge gebracht – wohl, mag sein! Aber sage Euch, Fremdling, hätte ich diesen Rest Kautabak noch vor fünf Tagen gehabt, – so – so. – Oh! einen Biß Kautabak! Nur einen Biß Kautabak! Hätte er nur einen Biß Kautabak gehabt, vielleicht! – ist ein Biß Kautabak oft viel wert. Liegt mir keiner so am Herzen, als – oh! hätte er nur einen Biß Kautabak gehabt, nur einen!‹

Seine Stimme, während er so sprach, hatte einen so kläglich stöhnenden und wieder wild unheimlichen Nachklang.

›Sage Euch, Fremdling‹, brach er wieder drohend aus – ›sage Euch! – Ah, was sage ich? – seht Ihr dort den Lebenseichenbaum? Seht Ihr ihn? Ist der Patriarch, und einen ehrwürdigern, gewaltigern werdet Ihr nicht bald finden in den Präries, sag' es Euch. – Seht Ihr ihn?‹

›Ich sehe ihn.‹

›Seht Ihr ihn? Seht Ihr ihn?‹ schrie er wieder plötzlich wild. ›Was geht Euch der Patriarch und, was darunter ist, an? Nichts geht es Euch an. Laßt Eure Neugierde, zähmet sie, rate es Euch. Wagt es nicht, auch nur einen Fuß darunter zu setzen!‹

Und ein Fluch entfuhr ihm, zu schrecklich, um von einer Christenzunge wiederholt zu werden.

›Ist ein Gespenst‹ – schrie er – ›ein Gespenst darunter, das Euch schrecken könnte. – Geht besser weit weg.‹

[52] ›Ich will ja nicht hin, gerne weit weg. Es fiel mir ja gar nicht ein. Alles, was ich will, ist der nächste Weg zum nächsten Hause, gleichviel ob Pflanzung oder Wirtshaus.‹

›Ah, so recht, Mann, zum nächsten Wirtshaus. Will ihn Euch zeigen, den Weg zum nächsten Wirtshaus. Will, will.‹

›Ich will‹, murmelte er in sich hinein.

›Und ich will Euch ewig als meinen Lebensretter dankbar sein‹, röchelte ich.

›Lebensretter! Lebensretter!‹ lachte er wild – ›Lebensretter! Pooh! Wüßtet Ihr, was für einem Lebensretter. – Pooh! – Was hilft's, ein Leben zu retten, wenn –. Doch will – will Eures retten, will, dann läßt mich vielleicht das verdammte Gespenst –. So laß mich doch einmal in Ruhe. Willst nicht? Willst nicht?‹

Alles das hatte der Mann zum Lebenseichenbaum gewendet gesprochen, die ersten Sätze wild, drohend, die letzten bittend, schmeichelnd. Wieder wurde er wild, ballte die Fäuste, starrte einen Augenblick, dann sprang er plötzlich auf den Riesenbaum zu und verschwand unter der Draperie der Silberbärte, die von Ästen und Zweigen auf allen Seiten herabhingen; kam aber bald wieder hervor, einen aufgezäumten Mustang am Lasso vor sich hertreibend.

›Setzt Euch auf!‹ rief er mir zu.

›Ich kann nicht einmal aufstehen.‹

›So will ich Euch helfen.‹

Und so sagend trat er an mich heran, hob mich mit der Rechten – so leicht war ich geworden – in den Sattel meines Mustangs, mit der Linken nahm er das Ende meines Lassos, schwang sich auf den Rücken seines Tieres und zog Pferd und mich nach. Sein Benehmen, während wir nun die sanft aufsteigende Uferbank hinanritten, wurde äußerst seltsam. Bald rutschte er in seinem Sattel herum, mir einen wilden Blick zuwerfend, bald hielt er an, bohrte ängstlich zwischen die spanischen Moosbärte des Patriarchen hinein, warf mir wieder einen scharf beobachtenden Blick zu – schien zu überlegen – stöhnte, seufzte – spähte dann im Walde wie nach einem Auswege herum – ritt wieder einen Schritt vorwärts, stöhnte abermals, zuckte schaudernd zusammen. Der Lebenseichenbaum schien ihn furchtbar zu quälen; offenbar näherte er sich ihm mit Entsetzen, und doch zog es ihn wieder mit einer so unwiderstehlichen Gewalt hin, als ob sein Schatz da begraben läge.

[53] Auf einmal gab er seinem Tiere wütend die Sporen, so daß es im Galopp ausbrach. Glücklicherweise hatte er in seiner schrecklichen Zerrüttung den Lasso losgelassen, sonst müßte mich der erste Sprung meines Tieres aus dem Sattel geworfen, mir die morschen Glieder gebrochen haben. So schritt dieses langsam nach.

›Warum kommt Ihr nicht? Was habt Ihr den Patriarchen immer anzuschauen? Habt Ihr noch keinen Lebenseichenbaum gesehen?‹ schrie er mir mit einem Fluche zu. Als fürchtete er sich aber vor meiner Antwort, brach er abermals aus, hielt jedoch, nachdem er beiläufig zweihundert Schritte fortgesprengt, wieder an, schaute sich um. Der Patriarch war hinter mehreren kolossalen Sycamores verschwunden.

Erst jetzt atmete er freier.

›Aber wo war nur der Anthony?‹ fragte er, auf einmal sichtbar erleichtert.

›Welcher Anthony?‹

›Der Anthony, der Jäger, der Halfbreed Mister Neals?‹

›Nach Anahuac geritten.‹

›Nach Anahuac geritten?‹ wiederholte er. ›Uh! nach Anahuac!‹ stöhnte er. – ›Bin auch dahin – aber, aber –‹

Er wandte sich schaudernd um.

›Er ist doch nicht mehr da, nicht mehr zu sehen!‹

›Wer sollte da sein?‹

›Ah wer, wer?‹ brummte er. ›Wer?‹

Ich wußte wohl, wer der Wer sei, hütete mich aber ihn zu nennen, abermals sein Mißtrauen durch Fragen aufzustacheln. In dem Zustande, in dem ich war, vergeht Neu- und Wißbegier.

Wir ritten stillschweigend weiter.

Lange waren wir so geritten, ohne daß ein Wort zwischen uns gewechselt worden wäre. Er sprach zwar fortwährend mit sich, da jedoch mein Mustang zehn Schritte hinter dem seinigen am Lasso nachfolgte, hörte ich bloß das Gemurmel. Zuweilen nahm er seinen Stutzen zur Hand, redete ihm bald schmälend, wieder liebkosend zu, brachte ihn in eine schußgerechte Lage, setzte ihn wieder ab, lachte wieder wild. Dann beugte er sich wieder über den Sattel hinaus, wie einen Gegenstand auf der Erde suchend. Zuweilen schaute er sich, während er so suchte, scheu um, und dann fiel sein Blick immer forschend auf mich, ob ich ihn auch beobachte. Wieder tappte, griff er [54] in der Luft herum, und wie er so herumtappte, fühlte, hing er so unheimlich auf seinem Mustang! Und wenn er dann in das unheimliche, hohle, teuflische Lachen ausbrach, dem wieder ein schauderhaftes Gestöhne folgte, bat ich immer zu Gott um ein baldiges Ende meines Rittes.

Wir mochten wohl zwei Stunden geritten sein, mein durch den gewasserten Whisky neu aufgeflammter Lebensfunke war auf dem Punkte, gänzlich zu erlöschen, ich fühlte, als müsse ich jeden Augenblick vom Pferde sinken; da gewahrte ich eine rohe Einfriedigung, die endlich eine menschliche Wohnung verkündete.

Ein schwacher Freudenruf entfuhr mir. Ich versuchte es, obwohl vergebens, meinem Tier die Sporen zu geben.

Mein Begleiter wandte sich, schaute mich mit wild rollenden Augen an und sprach im drohenden Tone:

›Seid ungeduldig, Mann! Ungeduldig, sehe ich – glaubt jetzt vielleicht?‹

›Ich sterbe, wenn nicht augenblicklich Hilfe –‹

Mehr vermochte ich nicht über die Lippen zu bringen.

›Pooh! Sterben, sterben. Man stirbt nicht sogleich. – Und doch – doch – Damn! es könnte wahr werden.‹

Er sprang aus dem Sattel auf meinen Mustang zu. Es war hohe Zeit, denn unfähig, mich im Sattel zu halten, sank ich hinab, ihm in die Arme.

Einige Tropfen Whisky brachten mich abermals zum Bewußtsein. Jetzt setzte er mich vor sich auf seinen Mustang und zog den meinigen am Lasso nach.

Wir umritten noch ein Pataten-, ein Welschkornfeld, eine Insel von Pfirsichbäumen und hatten endlich das Blockhaus vor Augen.«


»Bin nur begierig, wo das Ganze hinauswill«, murmelte Oberst Cracker. »Wird lange, die Geschichte.«

»So lang, daß wir darüber das Trinken vergessen«, lachte Oberst Oakley.

»Und das, glaube ich, ist wohl der beste Beweis, daß sie uns alle in hohem Grade anspricht«, fiel der General ein. »Oberst Morse, dürfen wir so frei sein, Euch zu ersuchen, fortzufahren?«

Der Oberst nickte und fuhr dann fort:

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TextGrid Repository (2012). Sealsfield, Charles. Erzählungen. Das Kajütenbuch oder Nationale Charakteristiken. Die Prärie am Jacinto. 4.. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-0A02-A