Neujahrslieder

1. Zum neuen Jahr

1820.


Es geht der Wunsch, der holde Knabe,
Am neuen Jahr von Haus zu Haus,
Sieht sich in eines Jeden Habe
Wohl um, und spürt die Lücken aus.
Er geht, im Himmel zu bestellen,
Wohin er, irdisch zwar gezeugt,
Doch wie ein Götterkind mit hellen
Von Lust bewegten Schwingen fleugt.
Wer will die Bitten alle zählen,
Die er mit Lächeln übernimmt,
Das Heer, das ihm aus tausend Kehlen,
Von Seufzern leis' entgegen schwimmt!
[93]
Was Geiz begehrt, was Ehre fodert,
Was Armut weinend ihm empfiehlt,
Was aus verliebtem Sehnen lodert,
Was aus beklemmter Brust sich stiehlt!
Doch Eines ist, was edle Herzen
Dem Himmelsboten anvertraun,
Die nicht aus Lüsten und aus Schmerzen
Des Pöbels ihre Zukunft baun;
Die selbst ihr Leben nur empfinden
Als eines großen Leibes Glied:
Eins ist, was sie dem Wunsche künden,
Und also lautet es im Lied:
Flieg' auf durch diese Nebelschichte,
Die unsern Winterhimmel drückt,
Und flehe zu dem ew'gen Lichte,
Daß es uns seine Sonne schickt;
Wohl zittert durch der Wolken Decke
Ein Stral nach diesen, jenen Gaun,
Doch Gottes Sonnenschein erstrecke
Sich über alle deutschen Aun!
Wir bitten um des Himmels Gaben
Für kein verworfenes Geschlecht:
Es trug so lang sein Haupt erhaben,
Auf Licht und Leben hat's ein Recht:
Bei Allen, so im Lande wohnen,
Sei es in diesem Jahre Licht,
Licht in den Hütten, auf den Thronen;
Hinauf, o Wunsch! und säume nicht!

2. Die neue Zeit

1824.


Seltnes ward von uns erlebet,
Einer von den großen Tagen;
Ja, die Weltuhr hat geschlagen,
Daß die Mitternacht erbebet.
[94]
Funkelnd glänzten die Gestirne
Einem neuen Tag entgegen,
Auf der Erde keimte Segen,
Und der Mensch erhub die Stirne.
Morgenwolken rot und blutig
Kamen drauf herangezogen,
Nebel kamen aufgeflogen,
Doch das Herz blieb fest und mutig.
Bis der Stral vom Himmel zückte,
Bis die Stürme heulten wütend,
Und die alte Nacht sich brütend
Auf die müden Häupter drückte.
Und es zagten alle Frommen,
Und es seufzte der Gerechte:
»Soll vergehen dieß Geschlechte,
Noch bevor die Sonn' ist kommen?«
Sieh, da tönet eine Stimme,
Macht sich Bahn zu aller Herzen,
Durch die Seufzer, durch die Schmerzen,
Durch das Element im Grimme:
»Einst geschieht des Himmels Wille,
Ihr geht unter All' im Ringen,
Aber Er wird es vollbringen.
Und die Weltuhr steht nicht stille.
Wollt ihr in die Räder fahren?
Wollt ihr am Gewichte zerren?
Wißt ihr's nicht? vor Gott dem Herren
Ist ein Tag gleich tausend Jahren!«

3. An das Wasser

1825.


Wir stehen an des Jahres Schwelle,
Ein Thor der Zeit ist aufgethan;
Doch hinter uns wogt deine Welle,
Du tobend Element, uns an.
[95]
Wir blicken rückwärts noch mit Schrecken;
Folgst du uns durch die Pforte nach?
Willst wieder unsre Fluren decken
Und wallen über unser Dach?
Was in der Zukunft sei verborgen,
Wir brüteten darob ein Jahr,
Wir stritten uns um unsre Sorgen –
Da braust uns nahe die Gefahr;
Die Völker hören auf zu hadern,
Sie schweigen staunend, graun-erfüllt,
Indeß dein Strom aus allen Adern
Der alten Erde zornig quillt.
Willst du den Boden wieder fressen,
Der einst entstiegen deinem Schooß?
Zürnst du dem Menschen, der vermessen
Dich furchet auf dem stolzen Floß?
Der spielend, mit beseelten Dämpfen,
Durch deine wilden Wogen schlüpft,
Und trotz der Winde grimmen Kämpfen
Das leichte Boot an's Ufer knüpft?
Du wirst ihn doch nicht unterwerfen:
Aus deiner Tiefe strömst du nur,
Ihm dessen Willen einzuschärfen,
Der Herr ist über die Natur;
Erkennet er des Schöpfers Stärke,
Und übt in Demut seinen Geist,
So schützt ihn der bei'm guten Werke,
Der deine Flut sich legen heißt.
Er brauchet dich zu seiner Ehre,
Sein Wort bezeichnet dir die Bahn;
Hier schwellest du den Fluß zum Meere,
Und klopfest an Pallästen an;
Dort schützest du der Helden Nachen,
Die stolzer Dränger Schrecken sind,
Und wiegst die Freiheit im Erwachen
Auf deinem Pfühl, das zarte Kind.
[96]
Und wo mit unbarmherz'gen Fluten
Dein Strom des Armen Flur erreicht,
Da öffnet Gott die Hand der Guten,
Da wird des Nachbarn Herz erweicht;
Da sprießt in tausend goldnen Aehren
Die reiche Saat des Mitleids auf,
Und, wo er meinte zu verheeren,
Entkeimet Segen deinem Lauf.
So diene denn dem Herrn der Erde
Im neuen Jahr, du dunkle Kraft!
Wir glauben, daß er schirmen werde,
Was Leib und Seele Heil verschafft.
Und ob den Himmel Nacht umzogen,
Und ob ein Sturm die Welt durchweht:
Wir sehen seinen Friedensbogen,
Der über allen Wassern steht.

4. Gottes Engel

1826.


Seiner Boten einen
Aus der Engel Schar
Läßt der Herr erscheinen
Jedes neue Jahr.
Aus der Zeiten Pforte
Schwebt der Himmelgeist,
Den er seine Worte
Uns verkünden heißt.
Oft erscheint ein Engel,
Fried' ist er genannt,
Der den Lilienstängel
Neigt ob allem Land:
In die Beete nieder
Sinkt der Blumenstaub,
Da erwachen wieder
Blüt' und Frucht im Laub,
[97]
Oft herab zur Erde
Fleugt der Engel Krieg,
Mit dem Racheschwerte
Gottes oft der Sieg:
Und als Schnitter stehen
Sie in reifer Welt,
Fangen an zu mähen
Wie es ihm gefällt. –
Wen hat er gesendet
Uns in dieses Jahr?
Wen, emporgewendet
Wird der Blick gewahr?
Ach, es ist der ernste
Diener, ist der Tod!
Trägt bis an das fernste
Ufer sein Gebot.
Einem Fürstengreise
Schob er jüngst den Arm
Unter's Haupt, das leise
Fortschläft ohne Harm.
Dann von Thron zu Throne
Zog er, und dem Zar
Nahm die goldne Krone
Er vom blonden Haar;
Und worauf hienieden
Sein Gedanke sann:
Zu dem ew'gen Frieden
Zeigt' er ihm die Bahn.
Und es geht der Engel
Weiter seinen Pfad,
Vor ihm grünt der Mängel
Und der Sünden Saat.
[98]
Gräber stehen offen:
Doch – was kommen mag –
Freunde, laßt uns hoffen,
Gottes ist der Tag.
Laßt den Dichter schwärmen,
Laßt ihn prophezein,
Sonnen sich und wärmen
An der Ahnung Schein:
Fremden Regionen
Eilt der Engel zu,
Euch, ihr Hütten, Thronen,
Gönnt er lange Ruh!
Dort wo müde Streiter
Bang gen Himmel sehn,
Wo Egyptens Reiter
Dicht, wie Mauern, stehn:
Dorthin seht ihn fliegen,
Seht ihn unbemerkt
In den Reihen liegen,
Die kein Andrer stärkt!
Ist er nicht der alte
Würger ohne Schlacht,
Dessen Köcher schallte
In der Mitternacht?
Der die Erstgebornen
In Egypten schlug,
Bis daß Halbverlornen
Wurde frei der Zug?
Schreite, Gottes Bote,
Nur ins neue Jahr!
Was dein Blick auch drohte,
Uns droht nicht Gefahr.
[99]
Unsre Herzen schwellen,
Sind in Hoffnung froh:
Stürmt, ihr Meereswellen,
Ueber Pharao!

5. Griechenlands Hoffnung

1827.


Es ging das Jahr in mattem Schlummer
Verachtet seinem Ende zu,
Im Osten wühlt der alte Kummer,
Und um uns her ist Grabesruh;
Das Licht der Wahrheit – mag's ersterben!
Das Volk der Freiheit – mag's verderben!
Geht, hoffet noch auf Wunderwerke,
Und glaubt, daß euer rost'ger Stahl,
Hineingesandt, die Schwachen stärke,
Zu trotzen Feinden ohne Zahl!
Geht, reicht den Weibern, Kindern, Greisen,
Fünf Gerstenbrote, sie zu speisen!
So sprach der Zweifel, hohen Hauptes
Ging er durch unsre Straßen hin;
Den Geiz erfreut's, die Schwäche glaubt es,
Der kalten Bosheit däucht's Gewinn:
Jetzt ist die letzte Glut verglommen,
Ja, bleiern wird die Nacht jetzt kommen!
Und anderwärts hebt schon die Schande,
Die Thorheit schon ihr Banner dreist: –
Da regt sich an Europens Rande
Der niebezwungne, freie Geist;
Im Land, um das die Fluten wallen,
Läßt Ein Mann seine Stimme schallen.
Wer heftet nicht auf Ihn die Blicke,
Von dessen Mund die Rede weht,
Daß durch die langsamen Geschicke
Der Zeit ein Fieberschauer geht,
Und daß von seinem Wink erschüttert
Der dumpfe, ferne Süden zittert!
[100]
Zwar gilt es nicht dem armen Volke,
Das schmachtend nach dem Ritter blickt,
Auf das die steh'nde Wetterwolke
Vertilgungsstralen niederschickt:
Doch darf das eine Leid schon hoffen,
Wenn andrem Leid ein Ohr steht offen.
O die ihr Worte habt wie Schwerter,
Beschwingte Schiffe, Waffen, Gold:
Dort drängt die Wut, die Not noch härter,
Als wo der Mönch die Fahn' entrollt;
Dort, wo das Sichelschwert seit Jahren
Wild durch die fremde Saat gefahren.
Die Saat des Korns, die Saat der Helden,
Der Mütter und der Kinder Saat!
In Haufen liegen sie und melden,
Was dort der Schnitter niedertrat!
Dort helft, dort stellt euch an die Spitze,
Dort schleudert rettend eure Blitze.
Ihr aber, ihr in allen Landen,
Die noch erweichet andrer Not,
Auf, laßt uns rütteln an den Banden,
Auf, theilet euren Bissen Brot;
Daß hier und dort ein Arm, der bebet,
Erstarkt zum Kampfe neu sich hebet.
Die Zeit blickt uns mit Hoffnungsaugen
Tiefsinnig funkelnd, fragend, an;
Jetzt will sie Herzen, welche taugen,
Jetzt rüst'ge Wandler ihrer Bahn.
Drum nicht mehr lau, nicht mehr verzaget;
Laßt wirken uns, so lang es taget!

6. Biston

Am Jahresschluß 1827.


Vorbereitet
Sind die Geschicke der Welt.
In allen Zonen drängt sich aus dem Boden
[101]
Die Saat hervor,
Decket mit ihrem Sammte
Die Erd', als einem Festgewand,
Und harrt des befruchtenden Donners.
Wen in den zögernden Himmel
Sendet die Erde hinauf
Zum Vater
Mit dem Flehen der Völker,
Daß ihm gefalle zu lenken
Seiner Allwissenheit Stral
Auf des Menschengeschlechts arbeitende Flur.
Und zu senden schaffende Allmacht?
Einer aus seines Königes Rat
Steht auf.
Kaum erhöhet, räumt er
Den ersten Platz.
Erschrocken sehen's,
Denn sie liebten ihn, die Menschen;
Doch bei der Wellen Triumphlied,
Die sein Eiland umschlingen,
Wandelt hinauf er zu Gott.
Vor des Höchsten Throne
Wirft er sich nieder und spricht:
»Begonnen ist, o Herr, dein Werk!
Die in der Völker irrenden Händen
Lange geschwankt,
Gefaßt hab' ich die Fackel
In meine Hand,
Habe sie hoch gehoben in die Luft.
Sie zündet! riefen die Thoren,
Aber sie leuchtete nur.
Ein Sämann ging ich aus
In ihrem Scheine,
Warf in langdurchwühlten,
Lockeren Boden
Körner des Heils.
[102]
Sprießen sollte sie
Den Geschlechtern der Erde allen,
Deiner Freiheit köstliche Frucht.
Frei im geselligen Tausch
Mögen die Schätze des Erdballs
Rollen von Lande zu Land;
Frei wandle das vernünftige Wort,
Frei glühe der fromme Glaube
In jeder Menschenbrust;
Frei diene der Bürger dem Gesetz,
Jede Fessel falle,
Von der neuen Welt jungbrausenden Strömen
Bis zu des Eurotas versiegender Flut.
Nicht geraubt, wie der Titanensohn,
Hab' ich dein Licht;
Auf dein eigen Geheiß
Hielt ich's den Völkern vor,
Und der Erde besorgte,
Zweifelnde Herrscher
Haben mir, trauend, Gnade genickt,
Haben gefüget die mächtigen Hände
Zu dreifaltigem, heiligem,
Freiheitspendendem Bund.
Und jetzo fleh' ich:
Laß nicht umsonst sein
Deiner Erdensöhne Thun.
Was die Höchsten wollen,
Was die Niedrigsten hoffen,
Was meines Lebens Licht verzehrt hat,
Schaff' es, du ewiges Licht!«
Und nieder zu des Thrones Stufen
Winkte der Allmächtige
Den harrenden Geist;
Und eingewiegt ward er
Vom tiefen, träumelosen Schlaf
Der Ewigkeit.
[103]
Bis daß die Zeit gekommen war,
Da berührte der Herr
Des Unsterblichen Haupt,
Und der fernen Erde Getümmel
Zog herauf in Aug' und Ohr,
Und ihn weckt' ein schmetternder Donner.
Und im Schlummer halb
Rief der selige Geist:
»Ich höre meiner Herren Schiffe!«
Und nieder staunet er, erwacht:
Er schaut die griechische Bucht,
Und der berstenden Kiele Qualm.
Eines Welttheils Jubel
Dröhnt durch sein wunderbar fassendes Ohr.
Aber bange durchläuft sein Blick
Die entrollten Lande,
Denn mehr als Eins
Ist, was ihn kümmert.
Nach dem Norden schaut er,
Wo das riesige Land
Bewaffnete gebiert, wie Drachensaat.
Doch aus der Zare Pallast
Tönt ihm entgegen
Der Selbstverläugnung
Lautrer, Frieden betheuernder Schwur.
Weiter,
Nach der heimischen Insel
Schweift sein sorgliches Aug'.
Aber am Ruder dort
Sieht er sein eignes
Herrliches Schattenbild
Immer die Straße noch weisend stehn,
Und den Steuermann ihm gehorchen.
[104]
Und hinüber zur Seine
Flieget der Blick.
Siehe, welch Wunder
Gestaltet sich dort?
Im Lande des Aufruhrs, im Lande des Bluts,
Friedlich, in des Gesetzes Schatten,
Unter der einverstanden Menge
Wirkendem Flüstern
Bildet die Volksgemeinde sich um.
Und die Krone glänzt,
Und die Freiheit wird
Unverdunkelt,
Wie in Albion, unter ihr leuchten.
Und auch anderswo stralt's:
Der Einigkeit Geist
Kehrt segnend ein
In gespaltnen Gauen.
Zölle sinken,
Und der Welt zum Beispiel
Oeffnen weise Fürsten
Der freien Völker tauschenden Markt.
Aber fern im Süden
Sieht er die Lande dunkel,
Oder gerötet
Von der Zwietracht Brand und Mord.
Nur an der fremden
Heißesten Küste
Hält die Gerechtigkeit Wacht,
Und es bebt der Raubstaat
Vor alter Jahrhunderte
Plötzlich reifendem Plan.
Sinnend blickt Jener hinab,
Da verschwindet das Gesichte vor ihm,
Und die Erde
Mit ihrem Lärm und Glanz
Sinkt hinab in die wolkige Tiefe.
[105]
Doch im durchstralten Gemüte
Lebt der Glaube an's Licht,
Und mit dem Danke der Menschheit
Wirft der selige Geist
Schweigend sich nieder am Throne des Herrn.
Und der Sänger erzählt,
Was er träumend gesehn,
Wenn in den Himmel
Sich verlieren darf seine Seele.
Lächelnd vernimmt es,
Unglaubig, die Menge;
Sie schauet nur den Keim,
Den niedrig sprossenden;
Gleichgültig wandelt sie
Ueber den schwarzen Kern,
Den die Hoffnung dem Boden vertraut.
Dem Dichter aber ist's gegeben,
Schon offen zu schaun
Im Kern und im Keim,
Die dereinst erscheint,
Die Frucht und die duftende Blume.

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