[90] Am 14ten März 1815

1.

Sehnend sitz' ich in der Ferne,
Spähe wie aus dunkler Nacht
Nach dem holden Augensterne,
Ob er zürnet, ob er lacht.
Wollt' ich mein Verlangen fragen,
Ach, dann wüßt' ich's leicht zu sagen;
Doch wenn auch mit sel'gem Licht
Deine Blicke mich erfreuten;
Es zu deuten,
Wagt' ich nicht.
Denn mein Herz ist fromm bescheiden,
Und wenn du nur fröhlich bist,
Will es gern dein Zürnen leiden,
Das sein höchstes Leiden ist.
Aber wär' ihm auch vor Allen
Ein beglückend Loos gefallen,
Wüßt' es sich von dir erhört,
Dennoch würd' es schüchtern fragen:
Werd' ich's tragen?
Bin ich's werth?

[91] 2.

Ach, wer hilft mit kluger Wahl
All die Lieder mir gestalten,
Die um deine Lippen walten,
Die in deiner Augen Strahl
Ohne Zahl
Mit so holdem Liebesleben
Lächeln, blitzen, glühn und schweben!
Flüchtig, leicht und bunt beschwingt,
Schwärmen sie wie Frühlingsbienen;
Alles seh' ich blüh'n und grünen,
Lenz und Leben sind verjüngt,
Jedes bringt
Freundlich seine süßen Gaben,
Um mein traurend Herz zu laben.
Eines will mit Sonnenschein
Flur und Himmel mir besäumen,
Jenes singt auf blüh'nden Bäumen
Wie ein zartes Vögelein,
Und im Hain
Rinnt ein andres leis' und helle,
Rauscht und spielt wie West und Welle.
Bange Lust und linde Ruh,
Wünsch' und fröhliches Gelingen
Lächeln, flüstern, wehn und singen
Mir die Holden freundlich zu,
Und was du
Nimmer mir gewährst, das bieten
Mir die süßen Liebesblüthen.
[92]
Schon dein sel'ges Bild allein
Kann mir alles Schöne geben,
Denn es wohnen Lieb' und Leben,
Lenzgesang und Sonnenschein,
Lust und Pein,
Keuscher Thau und helle Flammen
Dir in einem Blick beysammen.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Schulze, Ernst. Am 14ten März 1815. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-0657-8