[220] An den Schlaf

Für Cäcilie.


O Schlummer, der in heil'gem Schweigen
Am Rand der Quellen hingelehnt,
Sich träumerisch mit Blüthenzweigen
Die ewig heitre Stirn umkrönt,
Du holder, goldgelockter Knabe,
Schutzengel über Wieg' und Grab,
Komm zu der Leidenden herab
Mit deinem linden Zauberstabe.
Siehst du, wie er herniederschwebt,
Umglänzt von zarter Mondeshelle?
Des Waldes dunkler Gipfel bebt,
Und leiser rauscht die flücht'ge Quelle.
Still wie der Thau von nächt'gen Höhn,
Wie Harfenton aus finstrer Weite,
Umschlingt er sie mit Liebeswehn
Und flieht mit seiner holden Beute.
O bette sie auf weiches Wiesengrün,
Daß zart um sie ein duft'ger Flor sich schmiege;
Erwachet rings des Waldes Harmonien,
Daß sich ihr Herz auf leisen Klängen wiege;
Ihr Träume naht, den Zauberkreis zu ziehn,
Worin die Lust den wachen Schmerz betrüge;
Ein Engel mög' an ihrer Seite knien
[221]
Und auf die Stirn ihr kühle Lindrung hauchen;
Fern soll die Nacht der Wirklichkeit entfliehn,
Und gläubig sich auf süßen Phantasien
Ihr Geist in's Licht der ew'gen Klarheit tauchen.
Ach, viel des Grams hat diese dunkle Welt,
Vergebens sucht der Geist sie zu verklären;
Die Sonne steigt; vom goldnen Glanz erhellt
Prangt zauberisch Gebirg' und Thal und Feld:
Doch senkt auch rings der Thau die leisen Zähren.
Im Kelch der reinsten Freude wohnt der Schmerz,
Die Wehmuth sinkt vom heitern Himmel nieder;
Vergebens hofft und träumt das weiche Herz,
Was einmal schwand giebt ihm die Welt nicht wieder.
Ach, uns umfängt ein unbekanntes Land,
Wir sind allein hier in dem weiten Raume;
Was uns beglückt, das blühte nur im Traume,
Kein ird'sches Glück ist unsrer Brust verwandt;
Das Ziel, wozu des Geistes Wünsche schweifen,
Das kann und will der Busen nicht begreifen.
Was frommt der Ruhm errungner Wissenschaft,
Der Siegeskranz mit ewig welken Blättern?
Gebunden wird des Herzens junge Kraft
Und beugt sich kalt vor unbeseelten Göttern;
Kein lebend Bild schmiegt sich uns innig an;
Wohl prangt der Kelch, doch duftlos ist die Blüthe;
Das Heil'genbild, wofür der Jüngling glühte,
Das prüft und mißt mit kaltem Blick der Mann.
Du armes Herz, nicht für das rauhe Streben
Der öden Welt ward deine Gluth bestimmt:
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Gern möchtest du mit freiem Fittig schweben,
Wie durch die Luft das Silberwölkchen schwimmt,
In linder Ruh mit süßen Bildern spielen,
Wo dir's gefällt dir eine Hütte baun,
Auf dich allein im süßen Wahn vertraun
Und ohne Pflicht und ohne Prüfung fühlen! –
Voll Liebe weilt dein Blick auf jedem Traum,
Und ahnet nicht, daß die Gebild' entwallen;
Mit gläub'gem Sinn pflegst du den Blüthenbaum:
Kurz ist der Lenz, und ach, die Blüthen fallen.
Dein kühnster Wunsch, dein heißersehntes Glück
Wird wie der Ton, sobald er klang, verhallen;
Genaht entflieht der sel'ge Augenblick:
Doch ewig bleibt die Thräne dir zurück.
Der bunte Glanz, den rings der Lenz entfaltet,
Das Roth, womit der Dämmrung Traum sich schmückt,
Der duft'ge Hauch, der um das Leben waltet,
Der Kuß der Nacht, der sanft die Welt erquickt,
Und aller Reiz des Heiligen und Schönen,
Womit im Duft, in Farben und in Tönen
Der große Geist zu deiner Seele spricht,
Wohl weckt er dich zum ewig regen Sehnen,
Doch ach, er stillt des Herzens Wünsche nicht!
Mit Allem willst du innig dich vermählen,
Lebend'ger noch das Lebende beseelen,
Glanz soll der Duft, der Ton soll Rede seyn,
Dein Herz soll rings in allem Leben schlagen,
Verständlich soll das Stumme mit dir klagen,
Verständlich sich mit deiner Freude freun.
Schön steigt der Tag und schön entsinkt er wieder,
Holddämmernd schaut der helle Mond hernieder,
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Und golden ziehn die Stern' auf blauer Bahn:
Doch rastlos strebt hoch über Sonn' und Sterne
Des Menschen Sinn in's dunkle Reich der Ferne,
Dem Schönern, das ihn ewig flieht, zu nahn.
Zur Trauer ist der bess're Mensch geboren;
Der reinste Traum, der liebend uns umschlingt,
Hat sich zum Flor die Wehmuth auserkoren!
Wann kömmt der Tag, der das, was wir verloren,
Im goldnen Licht uns freundlich wiederbringt?
Drum säusle still um ihre Wangen,
Wo noch die hellen Perlen hangen,
Die stumm der düstre Schmerz geweint;
Kein rein'res Herz kannst du umfangen,
O Schlaf, des Kummers milder Freund!
Froh laß sie deinem Arm entgleiten,
Du freundlicher, du ernster Geist,
Der nur dem Sinn der Ungeweihten
Des Todes düstrer Bruder heißt.

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TextGrid Repository (2012). Schulze, Ernst. Gedichte. Vermischte Gedichte. An den Schlaf. An den Schlaf. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-05FF-9