Christian Friedrich Daniel Schubart
Leben und Gesinnungen
Von ihm selbst im Kerker aufgesetzt

1. Theil

[Motto]

:דיוד הזב אל ויויסא-תאו הוהי םינויבא-לא עמש


Der Armen erbarm't sich der Herr; seine Gefangenen verläßt er nicht.

David.

Vorrede

[5] »Αρισα οιμαι ζην τους αρισα επιμελομενους τουσ ὡς βελτισους γιγνεϑαι, ἡδισα τε τους μαλιστα αιϑανομενους, οτι βελτιους γιγνονται.«

ΣΟΚΡΑΤΗΣ.


»Die führen das beste Leben, die sich mühen, die Besten zu werden, am angenehmsten aber leben diejenigen, die es fühlen, daß sie besser geworden.«

Sokrates in Xenophon's

Denkwürdigkeiten.


Ob ich gleich von dem Nutzen solcher Lebensbeschreibungen überzeugt bin, die mit Wahrheit und Herzlichkeit abgefaßt sind – wo der Erzähler [5] gleichsam mit Zerknirschung vor das Publikum, wie vor einen Beichtstuhl tritt, und aufrichtig bekennt, was er besser gemacht haben sollte; so würde ich doch nie mit meiner eigenen Lebensbeschreibung hervorgetretten seyn, wenn nicht so gar viel Falsches, das von mir in die Welt geschrieben wurde, mir diese Arbeit gleichsam zur Pflicht gemacht hätte. Zwar kam 1778. zu Mannheim bei Bender mein »Leben und Karakter« heraus, wo der mir noch zur Stunde unbekannte Verfasser mehr Gutes von mir sagt, als ich in dieser meiner Lebensbeschreibung von mir ahnden lasse. [6] Ich danke dem Menschenfreunde für seine Güte, daß er mich zur Zeit meiner bittern Verwerfung mit diesem günstigen Zeugnisse vor der Welt rechtfertigen wollte. Auch hat Archenholz, der Mann hohen Sinnes und edlen Herzens, so wie der Verfasser der »Biographien aus dem achtzehenden Jahrhundert,« die in Bern heraus kamen, manches Gute und Schlimme von mir gesagt, wovon ich doch das wenigste auf meine Rechnung sezen kann. Der weite Kreis meiner Bekanntschaft, und die Liebe zu meinem Vaterlande fordert mich also auf, diese Beschreibung meines Lebens, meiner [7] Meinungen und Gesinnungen, dem Publikum mitzutheilen, und zwar mit derjenigen Offenherzigkeit, die der vorspringendeste Zug in meinem Karakter ist. Ich bin zwar nicht so stolz wie Rousseau, meine Bekenntnisse gen Himmel zu heben, und zu sprechen: »Gott, mit diesem Büchlein will ich vor deinen Gerichtsstuhl treten!« – Dort fleht man nur um Gnade, rühmt sich keiner Tugend, und verzweifelt – um Jesus Christus willen – um keiner Sünde wegen. Ader wahr ist's, was ich hier geschrieben habe, wie die Hunderte, die Tausende aufzeugen mögen, die mir auf [8] der Laufbahn meines Lebens begegnet sind.


Ich habe dies mein Leben bis zum Schlusse des zweiten Theils in der traurigsten Lage verfertigt, in die ein Mensch kommen kann, der mit diesem brennenden Freiheitsgefühle gebohren ist. Ich lag, gleich einem Todten in der Grube, die kein Wasser giebt – als Thränen. Ich hatte kein Buch, kein Papier, keine Schreibtafel, keine Feder, keinen Bleistift, keinen polirten Nagel – und habe doch diese meine Lebensbeschreibung verfertigt. Denn mir zur Seite lag [9] ein Mitgefangner, der mehrere Freiheiten hatte, als ich: dem diktirte ich dies mein Leben durch eine dike Wand in die Feder. Da mir das Schreiben aufs strengste verbotten war; so verbarg ich dies mein Leben mehrere Jahre unter dem Boden, wo es beinahe vermoderte. Jetzt, nachdem mich wieder die Lust der himmlischen Freiheit umsäuselt, erscheint es öffentlich, mit dem herzvollsten Wunsche seines Verfassers, daß es Männern eine angenehme Stunde gewähren, und den Jünglingen meines Vaterlandes zuweilen die ernste Weisung geben möchte, was sie zu vermeiden haben,[10] wenn sie weise und glückliche Menschen – glücklich für Zeit und Ewigkeit werden wollen. Basilius, der grose Kichenvater, sagt gar schön: »Du Mensch mußt dein eigner Kampfrichter seyn. Dein Gewissen muß schon hier deiner Tugend die Krone flechten, und deinen Lastern die Gerichtsmiene zeigen.« 1 Noch stärker sagt Paulus: »So ihr öfters eure eigne Richter wäret, so würdet ihr dort nicht gerichtet werden.«

[11] Ich schliesse mit der Einigen Bitte: Dein Urtheil, Leser, über mein Buch so lange zurükzuhalten, bis es vollendet ist. Die zween übrigen Theile sollen in möglichster Eile nachfolgen.


Stuttgart, im Merz

1791.

Schubart.

Fußnoten

1 »Αγωνοϑετης – αρετη πλεκων σεφανους, κακιας δε τροπω ευτρεπιζων την κρισιν.«

1. Period
Erster Period.

Ohne Grundsäze leben, oder in den Fesseln verderblicher Grundsäze durchs Leben rasseln, ist eine gleich erbärmliche Existenz. Jenes ist zweiflendes Schweben zwischen Seyn und Nichtseyn, und dieses ein beständiges Aechzen der Seele nach Freiheit – denn falsche Grundsäze tirannisiren die zur Wahrheit geschafne Seele mehr, als die Tirannen der Erde den Leib. – Sieh, Leser, die vom Sturm gejagte Wolke; – dort in der Wüste zerfließt sie in unbefruchtenden Tropfen!! Ach, [2] ein Bild von meinem Leben, das ich dir mir wankender Hand vorzeichnen will. – Nur Gott kan das ganze Leben des Menschen vom ersten zitternden Punkt an, der in der Mutter schwimmt, biß hin lezten Herzschlag, darstellen; – ein Gott, der die Geister, die er schuf, kennt, und also allein wissen kann, was sie aus sich selbst wirken, oder was sie durch fremden Zug, Druk und Stoß gethan haben. Daher sind menschliche Lebensbeschreibungen, sonderlich die man von sich selbst macht, kaum mehr, als agonisirende Körper, die nur einige matte Odemzüge von würklichen Leichen unterscheiden. –

So Leser, beurtheile mein Leben und diesen Trümmer auf meinem Grabe!

Ich bin 1739 den 26sten Merz zu Obersontheim in der Grafschaft Limpurg gebohren.

Mein Vater, Johann Jacob Schubart, 1 war daselbst Kantor, Präzeptor, [2] und Pfarrvikar, gleichgeschikt für die Orgel, den Sang, den Schulkatheder, und die Kanzel. Er war auf der Universität Altdorf gebohren, in Nürnberg erzogen, studirte in seinem Geburthsort, und erhielt den erstgedachten Ruf nach Obersontheim. Mein Vater rang von [3] Jugend auf mit der bittersten Armuth, er konnte also keine andere Bildung erwarten, als die ihm Mutter Natur gab. Er sang mit Empfindung und Geschmak, eine Baßstimme, dergleichen ich in meinem Leben in dieser Tiefe, Höhe, und mit dieser Anmuth [4] nie gehört habe; spielte ein gutes Klavier, war zum Schulmann gebohren, enthusiastisch für die lateinische Sprache eingenommen, und hatte die treflichste Anlage zum Redner. Die Schönschreibekunst verstand er als Meister und war daher ein Todfeind vom Sprichworte der Sudler: [5] »Gelehrte schreiben schlecht.« Sein Zeitvertreib bestand im Schach und Bretspiele, worinn er ebenfalls wenige Seines gleichen fand; denn was er treiben wolte, das trieb er biß zur Meisterschaft. Er blieb bis aus Ende seines Lebens Verehrer und Förderer der Tonkunst und sein Haus war – sonderlich in seinen jüngern Jahren – ein beständiger Konzertsaal, drinn Choräle, Motetten, Klaviersonaten und Volkslieder wiedertönten. Seine Phisiognomie war edel, Seelenfeuer verkündend, und seine ganze Person stellte den gesunden, kühnen, deutschen Mann dar, der weder vom Siechthum, noch weicher Pflege was zu verraten schien. Dabei war sein Geist frei, heiter und zu einer Jovialität gestimmt, die, zumal in seinen jungen Jahren, seinen Umgang äuserst angenehm machte. Sein Herz ergoß sich in Mitleiden und Wohlthun gegen die Armen; oft entzog er sich selbst die dürftigsten Erfrischungen (denn sein Einkommen war immer sehr eingeschränkt) um sich am Anblike des erquikten Elenden zu weiden. 2 [6] Sonst war mein Vater ein großer Freund der Ordnung und Reinigkeit, und Schade, daß ich mir ihn nicht auch hier zum Muster wählte, wie in seinem Wohlwollen gegen das Menschenelend. Kurz, daß ich meines guten Vaters Zeichnung vollende: hätt' er nicht von Jugend auf sich durch Armuth und Mangel durchkämpfen müssen, und wär er in nicht so ganz enge und geschnürte Lebenslagen gekommen; er würde ein wichtiger und berühmter Mann geworden seyn; dann er hatte Schnellkraft, Muth, deutschen Sinn, Mark in Worten und Thaten Naturgeschmak, und Gefühl für alles, was gut, groß, edel und schön ist. Er ruht nun auf [7] dem Kirchhofe zu Aalen, mitten im Schose seiner Beichtkinder, die ihn wie ihren Vater liebten; denn manchen Schlummernden um ihn hat sein geistvoller Zusprach im Tode erquikt. Friede über deiner Asche, du lieber Mann, und mit deinem Geiste die himmelvollen Ahndungen einer seeligen Urständ!!

Meine noch lebende Mutter ist Helena, die älteste Tochter des rechtschaffenen Forstmeister Hörners zu Sulzbach am Kocher, der 1764 umringt und geseegnet von sieben Kindern, zweiundsiebzig Enkeln und acht Urenkeln, und beklagt von seinem Vaterlande im achtzigsten Jahre seines Alters starb. Einfalt und Mütterlichkeit zeichnet meine Mutter in einem hohen Grade aus. – Seegne sie, Gott, denn sie ist es werth! Erbarme dich über ihre grauen Haare, und lohn' ihr die Thränen, die sie über mich – ihren Liebling (ich verdient' es nie ihr Liebling zu seyn) zu Tausenden hingoß! –

Mit diesen Eltern kam ich als Säugling 1740 nach Aalen, wohin mein Vater als Präzeptor und Musikdirektor berufen wurde, [8] aber schon 1744 diese Stelle mit dem dasigen Diakonat vertauschte.

In dieser Stadt, die verkannt, wie die redliche Einfalt, schon viele Jahrhunderte im Kocherthale genügsame Bürger nährt – Bürger von altdeutscher Sitte, bider, geschäftig, wild und stark wie ihre Eichen, Verächter des Auslands, trotzige Vertheidiger ihres Kittels, ihrer Misthäufen und ihrer donnernden Mundart – wurd' ich erzogen. Hier bekam ich die ersten Eindrüke, die hernach durch alle folgende Veränderungen meines Lebens nicht ausgetilgt werden konnten. Was in Aalen gewöhnlicher Ton ist, – scheint in andern Städten Trazischer Aufschrei und am Hofe Raserei zu seyn. 3 Von diesen ersten Grundzügen[9] schreibt sich mein derber deutscher Ton, aber auch mancher Unfall her, der mir hernach in meinem Leben aufstieß.

Im Jahr 1744 muß' ich die Dolchschnitte [10] eines Wundarztes aushalten, der mich nach vielen Martern von einem Leibschaden heilte. In meinen jungen Jahren ließ ich wenig Talent bliken, dagegen destomehr Hang zur Unreinigkeit, [11] Unordnung und Trägheit. Ich warf meine Schulbücher in Bach, schien dumm und troken, schlief beständig, ließ mich schafmaßig führen, wohin man wollte, und konnte im siebenten Jahre weder lesen noch schreiben. Plötzlich sprang die Kinde, die mich einschloß, und ich hohlte nicht nur meine Mitschüler in weniger Zeit, und meist durch eigne Anweisung – ein, sondern übertraf sie auch alle. Sonderlich äuserte sich in mir ein so glückliches musikalisches Genie, daß ich einer der großesten Musiker geworden wäre, wenn ich diesem Naturhange allein gefolgt hätte. Im achten Jahre übertraf ich meinen Vater schon im Clavier, sang mit Gefühl, spielte die Violin, unterwieß meine Brüder in der Musik, und sezte im neunten und zehnten Jahre Galanterie- und Kirchenstüke auf, ohne in all diesen Stüken mehr, als eine flüchtige Anweisung genossen zu haben. Auch im Lateinischen, Griechischen und andern Elementarkenntnissen nahm ich durch den Unterricht des damaligen Präzeptor Rieders – Ausschweifungen der Wollust haben ihn an Bettelstab gebracht, ich beklag' [12] ihn mit dankbaren Thränen – so schnell und sichtlich zu, daß mein Vater den Entschluß faßte, mich den Studien zu widmen, ohnerachtet ihn meine Blutsverwandte drangen, mich ganz der Tonkunst aufzuopfern, und in dieser Absicht nach Stuttgard, oder Berlin zu schiken, wo damals die Musik beinah ihren Hochpunkt erreicht hatte.

Im Christenthum genoß ich nächst den täglichen religiosen Ermahnungen meines Vaters, der ein eifriger Jesusjünger war, den Unterricht des damaligen Stadtpfarrer Koch, eines christlichgesinnten Mannes, dem es auch gelang, mir die ersten Empfindungen für die Religion einzuflösen, die niemals ganz verloschen sind.

Ich glaubte in Himmel zu bliken, als ich das erstemal zum heiligen Abendmal gieng; aber – ach! mich pakte die Welt, und Gott ließ den Vorhang fallen. –

Im Jahr 1749 schüzte mich mein Engel vor dem Brudermorde. Mein Großvater, obgedachter Forstmeister, besuchte meine Eltern, legte zwei geladene Pistolen aufs Clavier, und gieng mit meinem Vater auf eine Hochzeit. [13] Ich ergrif eine mit zwo Kugeln geladene Pistol, sezte sie meinem jüngsten Bruder, dem jezigen Stadtschreiber in Aalen, auf die Brust, – »Soll ich schießen?« sagt' ich lachend – »Schieß!« erwiedert' er – losdonnerts, und Gott weiß, welche unsichtbare Hand die Kugeln von der Brust meines Bruders ableitete, daß sie durch seine Taschen und durch die Wand hinter ihm durchschlugen, und drausen in den Pfosten einer Bettstadt steken blieben. Ich rannte wie wüthend, aus der Stadt, riß mein Wams vom Leibe, trat auf eine Anhöhe und wollte mich ins Wasser stürzen; als mich die derbe Faust eines Bürgers pakte und nach Hauße führte, wo ich mich in der Angst meines Herzens vierundzwanzig Stunden im Heu verbarg. – Wie preiß ich dich Vater im Himmel, daß du mich in zwei fürchterlich an einander stossenden Augenbliken vor dem Bruder- und Selbstmorde bewahrtest! –

Mein Herz öfnete sich von Tag zu Tag mehr, je nachdem es Schönheit und Wahrheit anstrahlte, und aus seinen tausend Oefnungen sprang unter dem trüben Sumpfgemische auch [14] mancher reiner Wasserstral. Ich empfand die Schönheiten der Natur biß zur ausgelassensten Begeisterung. Vergangenheit und Zukunft schwand mir, wenn ich an einem Maientage in meinem Garten wandelte, und meine Seele mit dem summenden Kafer im Dufte der Aepfelblüte, so ganz Genuß war. Aalen liegt in einer schönen Gegend und bietet durch seine Flüsse, Weiher, Wälder, Gebürge, kunstlose Gärten dem Gefühlvollen reichen Stoff zum Genusse der Natur.

Ich liebte meine Gespielen zärtlich erfand manches drollichte Märchen zu ihrer Belustigung, theilte alles was ich hatte mit ihnen, war zum Mitleiden und Barmherzigkeit von Natur gestimmt, und hatte sehr oft, wie Hölty, schauerliche Anwandlungen. Daher besuchte ich oft heimlich die Gräber meiner toden Freunde und Bekannten, um dem schwülen dumpfen Gefühle meines Herzens unter schwarzen Kreuzen, Todenkränzen und morschen Gebeinen, Luft zu machen. So wechselten in meiner Seele die Farben der Nacht und des Tages, die Bilder der Schwermuth und der [15] Freude beständig, und daher läßt sichs psychologisch erklären, wie ich nachher bald Todengesänge, bald Trink und Freudenlieder machen konnte.

Sehr früh fand ich Geschmak an der Lektür, und verschlang sonderlich die altdeutsche Romanen und Rittergeschichten. Luthers derber Ton gefiel mir schon damals, weil er mit meinem und meiner Mitbürger Geist so innig simpathisirte. Einer der süßesten mir ewig unvergeßlichen Augenblike meines Lebens war dieser, als 1751 Herr von Maltiz, ein auf Werbung liegender Preußischer Offizier, 4 die fünf ersten Gesänge des Messias zu meinem Vater, dessen Freund er war, brachte, und mir die rührende Episode von Samma, Joel und Benoni vorlaß. – Eine Saite meines Herzens, von keinem Finger noch berührt, tönte da zuerst, und klang überlaut. Von diesem Augenblik wandelte mich die gröste Ehrfurcht [16] an, wenn man den Namen Klopstok nur nannte. Ich glaubte, ein Engel hätte sich auf unsre Welt verirt und nenne sich so. Den Messias lernt' ich fast auswendig, und weinte, zitterte, schauerte vor Freuden, wenn ich Stellen draus deklamirte. Lange wagte ichs nicht, dem großen Manne schriftlich zu gestehen, welchen Antheil er an meiner Bildung und an den süssesten Freuden meines Lebens hätte. Mit ihrem eisernen Arme winkte mir stets die strenge Bescheidenheit, und ich schwieg.


So schweigt der Jüngling lange,

Dem wenige Lenze verwelken

Und der dem Thatenumgebenen Manne,

Wie sehr er ihn liebe! das Flammenwort hinströmen will.


Ungestüm fährt er auf um Mitternacht,

Glühend ist seine Seele!

Die Flügel der Morgenröthe wehen, er eilt

Zu dem Mann, und sagt es nicht.


So schwieg auch ich. –

[17] Diese gutartige Achtung für große Männer behielt ich in meinem Leben bei, und nie war ich so vermessen, mich wie ein Roßkäfer auf den Schweif eines Hypogriphen zu sezen, und mich so in Olimpos tragen zu lassen.

Mein Vater schikte mich, seinem Plane gemäß, im Jahre 1753 nach Nördlingen in das dasige Lyzäum, unter die Aufsicht des damaligen Rektor Thilo. Unbevestigt im Guten, unwissend wie Lichtwehrs Reh, nur die Wuth des Tiegers und nicht seine täuschende bunte Fleken kennend, voll Durst nach Genuß, von tausend süssen Ahndungen durchzittert und voll edler Anlagen kam ich nach Nördlingen, beinahe gleich fähig, ein Engel oder ein Teufel zu werden.

Fußnoten

1 Man erlaube mir nur in einer Note beizufügen, daß ich manchen wichtigen Blecs und Namensverwandten (wiewohl die Schubarte sämtlich aus der Lausniz abstammen, von da aus sie sich in verschiedenen Zweigen durch ganz Deutschland verbreitet haben) zu zählen das Glük habe. Mein Urgrosvater war: Andreas Christoph Schubart, Doktor der heiligen Schrift, unter dem großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, Kirchenrath, Inspektor der Kirchen und Schulen im Herzogthum Magdeburg, zu seiner Zeit ein durch ganz Deutschland angesehener und gesuchter Mann. Er schlug zwölf der wichtigsten Vokazionen aus, und starb zu Halle im 60sten Jahre seines Alters, nachdem er den Tag und die Stunde seines Todes ganz genau zum Voraus bestimmt hatte. Er war für seine Zeit ein hochgepriesner Redner. In seinem Leichenprogramm sagt Prätorius von diesem Summo Halensium Theologo, wie er ihn nennt, sehr parenthyrsisch: »Quis audeat loqui, postquam Eloquentia obmutuit? Et illa quidem, quæ divino animata sensu et plena spiritu, cum inusitato verborum flumine et fulmine traheret homines ad cœlestium amorem, aut a malo repelleret, ipsum cœlum sæpissime summo commovit gaudio et simul infernum panico terrore concussit.«

Er schrieb vieles, das aber nicht mehr für unsre Zeiten ist. Noch einer von meinen ältern Vorfahren, Georg Schubart, hat sich zu seiner Zeit durch seine Gelehrsamkeit und trefliche Gaben, in und ausserhalb Deutschland berühmt gemacht. Stolle zeugt in seiner gelehrten Geschichte: »Schubart hatte viel Besonderes an sich. Er wußte sehr spitzig zu satyrisiren, und eine Sache ungemein lebhaft darzustellen. Den Franzosen war er gar nicht gut.« Er schrieb köstliches Latein, war seinem Vaterlande mit feurigem Ungestüm ergeben, wie sonderlich die sehr schöne Schrift erweißt:»De literaturæ apud Germanos primordiis et incrementis, nec non de veteribus nonnullis Germanis scriptoribus, qui sermone vernaculo ingenii monumenta reliquerunt.« Vid. Miscell. Lips. Tom. V. Observ. 4.

Seine Fragmente über die Geschichte der Gothen, sein Kaiser Heinrich IV, und seine Abhandlung über die Ritterspiele der Deutschen, zeugen von seinem richtigen historischen Geschmake. Er arbeitete auch an einer Ausgabe des Tazitus, der sein Liebling war, brachte aber nur das Leben des Agricola zu Stande. Er machte mit einem Herrn von Stetten eine Reise durch ganz Europa, mit dem seltensten Scharfblike. Man lese den Panegyr auf ihn, den selbst Fabricius für ein Meisterstuk hielt: In funere Viri clarissimi, Georgii Schubarti, Oratoris & Historici Jenensis, Oratio M. Georg. Nic. Kriegkii, recitata in Templo Paulino ac Academico. Jenæ PR. CL. Octobr. MDCCI. 4.

Auch hat sich eine Linie meines Geschlechtes ins Dänische gezogen, und sich durch Verdienste zum Adelstande aufgeschwungen, worunter ich nur den Generalmajor von Schubart zu neunen brauchte. Diß sag ich meinen ziemlich zahlreichen Anverwandten hiemit zur Nachricht; aber ohn' alle Eitelkeit, der Wahrheit wohl eingedenk, daß es wenig fromme, wenn man edle und gute Anverwandte hat; man muß selbst edel und gut seyn.

2 Ich gieng einmal mit dem edlen Manne den Brief hinunter, einem lachenden Spaziergange bei Aalen. Er wollte in Gesellschaft ein Glas Wein trinken. Da begegnete uns aber eine arme Wittfrall, die ihre und ihrer Kinder Nothdurft aufs rührendste darstellte. Freudig grief mein Vater zu, gab der Wittwe all sein Geld, wandte sich, sah gen Himmel, gieng nach Hause, und – trank Wasser. »Christian,« sagte er damals zu mir, »gieb den Armen, so wirst du einen Schaz im Himmel haben.« Mit freudigem Thränenschauer denk ich noch an diese Worte. Denn diese Ermahnung meines Vaters ist die Einzige, die ich nie wissentlich übertretten habe.

3 Wiewohl auch hier durch die Wanderungen der jungen Bürgerschaft und den täglich mehr überhandnehmenden Lesegeist, seitdem große Verändekungen vorgegangen sind. Die alten Aalemer, die wie Felsenquater aus den Steinbrüchen der Natur genommen zu seyn schienen, sinken allmälig ins Grab, und machen ihnen Söhnen und Enkeln Platz, die weit weniger rauhe Eken, aber auch weniger innere und äussere Stärke haben. Und nun noch zwei Worte von der mir so unaussprechlich theuren Stadt Aalen, von der die Erdbeschreiber nur weniges, und die Reisbeschreiber, biß auf Sanders paar Worte, gar nichts melden. Der Ursprung dieser Stadt verliert sich in den grausten Zeiten. Man hat häufige Spuren, daß die Römer lange Zeit daselbst siedelten. Man findet noch jezt zuweilen römische Munzen aus den Zeiten der ersten römischen Kaiser. Auch sind beim Kirchhofe sehr deutliche Spuren eines römischen Baades zu sehen. Die Stadt Ola, wie sie vor Zeiten hieß, war ehmals von ansehnlichem Umfange. Sie erstrekte sich eine starke Viertelstunde weit, biß nach Wasseralfingen. Kaiser Barbarossa errichtete dicht vor der Stadt eine Burg, noch jezt der Burgstel genannt, und hielt sich einige Zeit daselbst auf. In den Rauffereien der finstern Zeiten, wo sich die aufstrebende Städte und Städtchen, beständig mit Fürsten, Grafen und Herren herumbalgten, zeichneten sich auch die knochenvesten Aalemer aus, und die Stadt erhob sich bald durch ihren urdeutschen Freiheitssinn, zu einer freien Reichsstadt. Sie war eine der Ersten, die der Reformation beitrat, und seitdem vest und mannlich ob Luthers Glauben hielt. Der schrekliche dreißigjährige Krieg wirbelte die arme Stadt von ihrem Wohlstande ins Verderben herunter. Biß auf einen Thurn wurde sie ganz abgebrannt. Die Einwohner zerstreuten sich in andere Weltgegenden, oder wurden niedergewürgt, oder starben den Hungertod. Neun Familien blieben übrig, die sich auf einen benachbarten Berg retteten, und den Ostergottesdienst unter einer Buche hielten, an welchem Orte nun ein Hof steht, der der Osterbuch genannt wird. Von diesen wenigen Siedlern wurde hernach die Stadt wieder erbaut, und erhob sich allmählig wieder zu einem ziemlichen Wohlstande. Zwar mußte sie im Drange den Zehenten an Elwang, und ihre Eisenbergwerke an Wirtemberg verkaufen; doch erhielt sie sich bißher noch immer durch die weise Oekonomie des Magistrats aufrecht, und ihr Wohlstand vermehrt sich merklich. Die Stadt zählt etwas über 300 Einwohner. Es verdient angeführt zu werden, daß diß kaum bemerkte Städtchen, schon vor zehen Jahren, ohne allen Widerstand, ein neues Gesangbuch einführte, das unter die besten in Deutschland gehört. Die dasigen Einwohner haben vorzugliches Geschik und Lust zur Musik; auch diß hatte auf meine Bildung einen merklichen Einfluß gehabt.

4 Er blieb in der Schlacht bei Zorndorf, nachdem er vorher schon zwölf Wunden im Dienste seines großen Königs erhielt, und einige Jahre zu Stuttgart gefangen saß.

2. Period
Zweiter Period.

Und so war ich nun in Nördlingen, siedlend in der niedrigen Hütte eines Chirurgen, Namens Seidel, eines gar bidern, rechtlichen und redseligen Mannes; bei karger Kost zufrieden, jung, gesund, wie ein lustiges Reh, hüpfend im Haine der Musen. Thilo war ein Mann von ungemeinen Gaben, und weitkreisender Gelehrsamkeit. 1 Er war Philolog, Theolog, Weltweiser, Aesthetiker; und die Linien, die er zog, leitete er immer aus dem Punkte der Brauchbarkeit und Veredlung des Menschen her, den er niemals aus dem Gesichte verlohr. Einen Schulmann wie er, von dieser Methode, diesem pädagogischen Geiste, dieser Unterrichtslust [19] hab ich nie in meinem Leben angetroffen. Er empfand das Schöne selbst, zu dessen Gefühl er seine Zöglinge weken wollte, und leuchtete mit seinem Beispiele, das Fleiß, Ordnung, männlichen Ernst durch ungezwungnes Wohlwollen erheitert, und sonderlich tiefe Ehrfurcht vor Gott abstralte, all seinen Schülern, wie hernach seiner Gemeinde vor. Dieser deutsche Archytas war nun mein Lehrer; er liebte mich, weil er Gaben an mir bemerkte, und seinem ermunternden Unterrichte, sonderlich seiner feurigen Neigung für die Wissenschaften, die sich auch mir mittheilte, dank ich das meiste, was ich gelernt habe. Der Geist der Nacheiferung, der in seiner Schule, von seinem Odem angefacht, flammte, ergrief auch mich, und bald hatt' ich das Glük, einer seiner besten Schüler zu seyn. Damals war der enziklopädische Geist, der heutiges Tages so viel oberflächliche Vielwisser zeugt, noch nicht in die Schulen eingedrungen. Man trieb wenig, doch diß mit Ernst. Thilo war ein ekstatischer Verehrer von den Alten, sonderlich von den Römern; daher drang er sehr auf diß Studium. [20] In seiner Klasse sprach alles Latein, so gewaltig auch oft Priszian geohrfeigt wurde. Nebst den klassischen Schriftstellern machte mich Thilo auch mit den Dichtern meines Vaterlandes bekannt. Dieses erzeugte in mir eine Neigung zu der deutschen Dichtkunst, die, weil sie zu früh erwachte, mir mehr als in Einem Betrachte schädlich geworden. Ich laß und schrieb zwar schon mein Latein ziemlich fertig, und begann bereits aus dem Goldbache der Griechen zu schöpfen; aber war doch bei weitem noch nicht erstarkt genug, um ohne Gefahr bei den Ableitungen des griechischen Quells weilen zu dürfen.

Hätt' ich Israels Heerposaune; so würd ich bei dieser Stelle die Jünglinge meines Vaterlandes zusammenblasen, und sie, von irgend einem deutschen Hügel herab mahnen, ihre winzige, Geist und Herz verengende Leserei, ihre Romanen, Schauspiele, Romanzen, Gassenhauer, samt allen Kreuzertrompeten und Räthschen, die an Ostern und Michaelis, zu Frankfurt und Leipzig verkauft werden, weit von sich zu schleudern, und sich dafür mit dem [21] Geiste der Griechen und Römer vertraut zu machen. Unsre Originale lassen sich immer damit verbinden, dann deren sind ja nur wenige. 2

Thilos Geschmak war derb und nahrhaft. Homer und Plato, Horaz und Cicero waren seine Lieblinge unter den Alten; und Klopstok, Bodmer, Haller, und der damals aufstrebende Wieland unter den Neuern, die er mir und meinen Mitschülern täglich empfahl.[22] Er selbst aber war nichts weniger als ein Muster. Das Schöne empfand er; konnt' es aber selbst nicht schaffen. Seine Schreibart war dumpf; er stellte Gedanken und Bilder ins Dunkle, und webte labirynthische Perioden, die die Lunge des gesundesten Lautlesers ermüdet hätten. Tiefsinn, Wahrheit und reiche Kenntnisse ersezten aber die meisten dieser Fehler.

Meine lateinischen und deutschen, poetischen und prosaischen Ausarbeitungen wurden meist von ihm mit Beifall gekrönt, und ausser einem Jünglinge, Namens Donauer, dessen Genius alles niederblizte, was sich ihm näherte, (auch du bist nun längst in Asche zerfallen, guter Jüngling) fand ich niemand, den ich nicht zu übertreffen, Kraft und Trieb hatte. In der Tonkunst hatt' ich gar keinen Miteiferer; war also ohne Uebung in dieser göttlichen Kunst, ausser mit einigen liederlichen Fidlers, die nur meine Sitten verderbten. 3

[23] Religion – ich beklag' es, daß ich's sagen muß, wurde damals so kalt auf der Schule behandelt, daß mich und meine Mitschüler Ekel anwandelte, so oft wir eine todte Antwort auf eine lebendige Frage aus Hutters Kompendium geben mußten. War von klassischen Autoren, Philosophie, Geschichte, schönen Wissenschaften die Rede; so lebt' und webte alles in der Schule; giengs aber ans Christenthum; so fröstelte, gähnte, langweilte man. Und leider! fand ichs hernach in mehreren Schulen auch so. Die Seele des Christenthums, feine Herzbesserende Kraft blieb mir unbekannt. So lebt ich also, zaumlos als ein luftiger, sinnlicher, gedankenloser Jüngling mein Leben hin; dachte wenig an Gott, weniger an Jesus, selten ans Leben jenseits des Grabes, wenn nicht der Anblik meiner jungen [24] Freunde im Sarge zuweilen meine Empfindungen aufgeschrökt hatte. Da erwachten immer fromme Entschlüsse in mir; aber sie starben, wenn das Grab aufgeschaufelt und die Todtengloke verhallt war. Tief in meine Seele würkte das gottselige Beispiel des ehrwürdigen Superintendenten Maiers, 4 dessen Herzensgebete ich oft in seinem Hauße mit anhörte, und dabei das erstemal, zwar nur dunkel, den Unterschied empfand, der zwischen Salbung und Naturkraft, zwischen dem einfältigen Gebethe des Christen und den Figuren und Tropen des Redners und Dichters statt findet. Doch die Eitelkeit hatte mich einmal in ihrem bunten Zirkel, und ich sollte den Thoren so lange mitmachen, biß ich, von Gott ergriffen, im Kerker die höhere Weisheit lernen würde.

Die geflügelte Fertigkeit, womit ich das [25] Clavier spielte, das Gefühl, mit dem ich sang und deklamirte, meine schöne Handschrift, und die immer heitere, in die äusserste Offenherzigkeit getauchte Laune, erwarben mir in Nördlingen manchen Freund, unter denen mir drei Jahre, wie eben so viel Rosenmonde wegschwanden.

O, daß man haschen und vest halten könnte, die Jahre der Jugend, wo sich alles kleidet ins Gewand der Freude, und wo wir im Spiele auf duftenden Grashügeln nicht hören die Klage, die unten im Grabthale verhallt!

Ich sezte in Nördlingen einige Sonaten aufs Klavier, und etliche fugirte Choräle; dichtete auch eine prosaisch poetische Nänie auf das fürchterliche Erdbeben vom ersten November 1755, das Lisboa hinunterschlang. Man hat es nachher in Schwabach gedrukt, und unerachtet der gräulichen Stelzenpoesie, doch Funken eines ächten Dichtertalents drinn bemerken wollen. Besser gelangen mir Volkslieder, wovon ich schon damals einige verfertigte, die noch heutiges Tages das Glük haben, auf [26] mancher Schneiderherberge gesungen zu werden. 5

Z.B. In Schwaben war ein Baurenmädgen etc. – Als einst ein Schneider wandern sollt etc. – Gar früh erkannt ich des Dichters Pflicht – von oben herab, von unten herauf zu arbeiten.

Fußnoten

1 Was ich von ihm sage, bestättigen die ersten Litteratoren der Welt – die allgemeine deutsche Bibliothek, und die Göttinger Aristarchen. Er schrieb immer verdekt, und wurde doch nie im Schleier verkannt. Es ist also zu wunschen, daß seine Schriften von einem sachkundigen Manne gesammelt werden.

2 Doch kan ich es nie mit den Pädagogen halten, die behaupten, man musse sich erst in alten Sprachen vest sezen, eh man das Deutsche kultivire; denn diß, wähnen sie, gebe sich selbst. Das Studium der Griechen und Römer, wenn es nicht dem Studium der vaterländischen Sprache untergeordnet ist, expatriirt gleichsam die Junglinge und ertödet die Vaterlandsliebe in ihnen, die doch nächst der Religion der erste Hebel aller großen Handlungen ist. Ich empfehle also den Jünglingen, die diß lesen, das Studium altdeutscher Schriften, und unsrer neuen Kernschriftsteller, eines Klopstoks, Herders, Lavaters, Göthe, Schillers, und anderer weniger, die den Donnerkeil der Sprache Tuiskons zu schwingen wissen; nicht aber die vielen Zeitmordenden Schreiberlein, die uns wie Müken umsummen. Dieses macht schwach, jenes stark.

3 Sonst sind die Nördlinger große Verehrer von der Tonkunst, sonderlich von der Kirchenmusik. Simon war ehmals daselbst ein durch ganz Deutschland berühmter Orgelspieler und Tonsezer, und jezt haben sie an Nopitsch wieder einen der gründlichsten und nachdruksvollsten Organisten, der mit reichen theoretischen Kenntnissen viel ausübende Kraft vereinigt.

4 Er war im Waisenhause zu Halle erzogen und noch ein Schüler Speners, dessen apostolischer Geist in den heutigen unapostolischen Zeiten ganz und gar verkannt wird.

5 Eh ich Nördlingen verlasse, muß ich meinen Lesern noch sagen, daß mein Schwager, der verdienstvolle Archidiakonus Bökh daselbst, nächstens eine Geschichte, dieser in manchem Betracht merkwürdigen Stadt herausgeben wird. Der Karakter der Nördlinger ist, bei unvermeidlicher reichsstädtischer Steifheit, doch seelengut, geräuschlos, mit wenigem zufrieden, stille, arbeitsam und zur Ordnung und Tugend, beinahe durch eine Naturanlage gestimt. Weder ihre Sprache noch ihre Sitten, haben das Starke und Rauhe der Aalemer. Vielleicht hat die Nähe einiger fürstlicher Höfe etwas zur Milde dieses Karakters beigetragen.

3. Period
Dritter Period.

Im Jahr 1756 gefiel es meinem Vater mich nach Nürnberg zu schiken, welcher Stadt er mit ungestümmerer Liebe anhieng, als je ein Grieche, Römer oder Schweizer seinem grössern Vaterlande. Ich nahm von Thilo Abschied – mein Dank flamme noch zu deiner Sternenwohnung auf, vollendeter Lehrer!! – und kam in eben der Woche nach Nürnberg, als der schrökliche siebenjahrige deutsche Krieg aufzulodern began. Diese Stadt, weiland eine Fürstin unter den deutschen Städten, die Erfinderin mancher Kunst, die Unterstüzerin der Wissenschaften, wo Handlung, Kunstfleiß und Gewerbsamkeit, mehr als in irgend einer deutschen Stadt blühte, diese Menschenwimmlende, mit Pallästen und Thürmen geschmükte, prächtige, hochaufschallende Stadt, war zwar zu meiner Zeit schon tief herabgesunken. Der Reichthum hatte sich unter einzelne [28] Familien verstekt; die schon verdorbene Statsverwaltung hatte schon die Bürger mißmuthig gemacht; die Handlung stokte in ihrem Laufe; der hohe Erfindungsreiche Nürnberger Geist war zu kindischen Tändeleien herabgesunken; in seinen Pallästen, vormals mit Menschen vollgepfropft, spukten nun ein Paar traurige Bewohner, wie Gespenster. Sie, die ehmals mit Fürsten sich maßen, und Kaiser und Könige zu ihren Schuldnern hatten, wurden jetzt von ihren Nachbarn genekt, und nicht selten mißhandelt. Doch war da noch ein Rest ihrer ehmaligen Größe übrig, der mir bei meiner wenigen Welterfahrung, unbeschreiblich angenehm war. Ich sah Vieles, was ich in meinem Leben noch nicht sah; der Krieg verbreitete Leben, Wimmeln, Woogen in allen Straßen und Gaßen; und über das hatte der Karakter der Inwohner, bei all seiner Derbheit, so was Gutes, Heimliches; selbst so was eigenthümlich Launisches, daß ich mich gar bald, mit Wärme an sie anschmiegte, und es gleichsam an meinen Pulsschlägen fühlte, daß das Blut meiner Väter unter diesem [29] Himmel kochte und auf mich ausfloß. Hier lebt' ich also die seeligsten Tage meines Lebens, und achtete kaum im Gefühle meiner frohen Jugend die Gefahren des Krieges, die sich schwarz und drohend, biß an Nürnbergs Thore, wälzten. Ich suchte den kargen Rest meiner Blutsverwandten auf, und siehe da! sie waren – herabgesunken in die tiefste Armuth, Niedrigkeit und Verachtung. Es kostete mich Thränen, daß ich nur wenig für meine so tiefgesunkene Blutsverwandte thun konnte. Sie sind nun alle verschwunden und nur Einer davon hat sich als Fagotist in Frankreich wieder aus dem Staube gehoben. 1

Damals war die Sebalder Schule schon gedrängt voll; ich kam also in die Schule zum heiligen Geist unter die Aufsicht des [30] Rektor Gahns, der zwar Thilo's Geist und Kenntniß nicht hatte, aber doch auch ein geschikter, sonderlich in der lateinischen Sprache und in den Alterthümern wohl gegründeter Mann war, edlen Herzens, und unter seinen Schülern wie ein Vater unter seinen Kindern wandlend. In Nürnberg fand ich eine sehr musikalische Stadt – Kirchen, Häuser, Gottesäker, Gassen und Straßen tönten vierstimmige Möteten, Arien, Fugen und Choräle wieder.

Unter der Stadtmusik traf ich Beinahvirtuosen an, und in den Kirchen hört' ich Schüler von dem deutschen Arion, dem unsterblichen Sebastian Bach, die mich's das erstemal fühlen machten, welch ein seltener Mann ein guter Orgelspieler seyn. Die Namen Drezel, Bachhelbel, Löffelloch, Agrell, verdienen gewiß mehr Dank und Ruf als sie würklich in der musikalischen Geschichte haben. Meine Seele klang unter diesen harmonischen Menschen: ich war ihnen also gleich sehr willkommen. Bald wurd ich Frühmesser und Organist, hatte Antheil an [31] allen öffentlichen Stiftungen; nahm Unterricht; gab Unterricht; hatte mit dem Zuschusse von meinen Eltern ein reichliches Auskommen, genoß der vollkommensten Gesundheit, hatte die Liebe und Achtung meiner Vorgesezten und Mitschüler, bekam öffentliche Prämien an kostbaren Büchern, und so schien mir gleichsam das Schiksal zuzurufen, mein Leben dieser meiner eigentlichen Vaterstadt zu weihen.

In der Preißlerischen Akademie, und in der Gesellschaft einiger Künstler öffnete sich bei mir ein Auge für das Schone der Kunst, das ich nach diesem durchs Studium der Kunstwerke immer mehr zu schärfen suchte. Nürnberg hat noch einen reichen Vorrath von Seltenheiten der Kunst, die man in andern lautgerühmten Städten oft vergeblich sucht. 2 Hingegen war der öffentliche Schulunterricht [32] wenigstens in meiner Schule, damals sehr schlecht. Man laß den Horaz ohne Geschmak, die übrigen römischen Autoren in Chrestomathien, übersezte griechische Sentenzen, machte barbarische Exerzizien, begukte die Welt in einer Nuß, 3 und übersezte Baumeisters Logik – ohne Deutung und Interesse. Doch konnte man all diß durch Privatunterricht, edlen Umgang, Gebrauch der Bibliotheken und Buchläden, die den Lehrbegierigen offen standen, reichlich ersezen. Dieser Vortheile bediente ich mich, und ich brachte meine Zeit in Nürnberg meist nüzlich und immer angenehm zu. Sonderlich macht' ich mir durch die Dichtkunst – die hier ihre Leier an Hans Sachsens Grab aufgehängt zu haben schien – [33] Gönner und Freunde 4. Ich erklärte meinen Brüdern den zweiten Theil des Messias, der gerade damals herauskam, und die Gefühlvollen wurden eben so wonnetrunkne Anbeter dieses göttlichen Gedichts, wie ich. Klopstok würde lächeln, wenn er wüßte, mit welchem Rolandsungestümm ich feuriger Jüngling den Feinden seiner Muse entgegen gieng, die aus Geschmaklosigkeit und Unkenntniß, Gottscheds und seiner Spiesgesellen Urtheile nachlallten, oder die Messiade gar nach Schmolkens gereimter Passionshistorie messen wollten. Das allmählig erwachende Publikum hat indessen die Wahrheit meiner Empfindungen für die Messiade gerechtfertigt, und dem Dichter den gebührenden ersten Rang unter den vaterländischen [34] Genies angewiesen, ob er gleich immer noch weniger gelesen wird, als es Freunde des Vaterlandes und der höhern Poesie wünschen.

Der preußische General Majer, der 1757. mit einem fliegenden Chore Nürnberg nekte, enthusiasmirte meine Seele ganz und gar für die Preußen. Ich lag beständig an meinem Dachladen und sah dem Fluge der preußischen Husaren vor dem Thore zu. Die Lieder, die ich damals machte, wurden allgemein bekannt, und gesungen; 5 ich selbst aber dafür von einem salzburgischen Soldaten, dessen Landsleute hier in Besazung lagen, mit der Muskete niedergestoßen, und würde ohne Zweifel zerstampft worden seyn, wenn nicht einer von den berühmten Nürnberger Faustschlägern, unter dem Namen der Rusigen bekannt, mir schleunigst zu Hülfe gekommen wäre.

Um diese Zeit erwachten in mir – nur zu frühe für meine Ruhe, und zu störend für Wissenschaft und Tugend – die Empfindungen [35] der Liebe. Mädchenreiz war mir unter allen Reizen, womit der Schöpfer das Antlitz der Natur schmükte, der unwiderstehlichste. Es schien mir auch nichts unschuldigers zu seyn, als diß süße Minnespiel, und meine anhaltende wizige Leserei bestärkte mich in diesem Wahne.

Jede Dichterharfe hat die Liebe gestimmt, dacht' ich, selbst die Töne deines lieben Christussängers feiren die fromme Liebe des Semida und seiner Eidli; dein Horaz, Ovid, Bodmer, Gleim, Wieland und Uz, selbst die ernsten Britten, Milton und Young hallen den Triumpf der Liebe wieder; ja die geheime Geschichte sagt, daß nicht nachgeäfte Empfindung, sondern eigenes Liebesgefühl, wie Herzblut den Hexametern und Strofen deiner lieben Dichter entträufelte – und du, zur Freude geschaffen, wie sie, solltest nicht auch lieben? – Diese ziemlich epikurische und aristippische Dichtermoral schmeichelte meinem Herzen ungemein, und stillte es, wenn es oft selbst in der weichen Umarmung des Mädchens unruhig werden wollte. So unschuldig [36] meine Liebe noch war; so war sie doch der unseelige Funke, der hernach zur Flamme aufloderte, und meine Seele peinigte, als sie im Kerker von ihrer wollüstigen Trunkenheit erwachte. – Jüngling, der du diß ließst, schau gen Himmel und bitte Gott, daß er deine Unschuld bewahre! – Die Gränzlinie der Liebe ist so fein gezogen, daß du noch in ihrem Gebiete zu seyn glaubst, wenn du schon auf dem Pfade der geilen Lust taumelst. – Und dann gehts bergab, von Genuß zu Genuß, von Brunst zu Brunst, von Schande zu Schande, von zu Angst, diß der Boden weicht, und die gähnende Kluft über dir zusammenschlägt. Flieh' die wollustathmende Dichter, die dich mit Blumenketten zum Altare schleppen, und dich unterm Lustgetümmel phallagogischer Feste dem Verderben hinopfern. Groß ist der keusche Mann, ein köstlicher Anblik den Engeln; seine Knochen sind Erz, seine Lebensleuchte eine Flamme des Himmels, und in seinem reinen Herzen spiegelt sich Gottes Angesicht! – Mit reinerer Lust denk ich an die heiligen Stunden der Freundschaft, die mein [37] Leben in Nürnberg zum Paradise machten – indem mein Herz zur Bruderliebe immer mehr geöfnet wurde – zur Bruderliebe, mir oft sonderlicher als Mädchenliebe; denn sie ist das wahrste und süßeste Vorgefühl des Himmels. Ost saß ich mit einem meiner Busenbrüder in den Kirchhöfen St. Rochus oder St. Johannis auf dem Grabmale Albrecht Dürrers, oder sonsten eines berühmten Mannes, öfters noch auf dem Erbbegräbnisse meiner Vorfahren – ein grauer Stein mit einem Kelche drauf bezeichnet es, – beschwur den Bund der heiligen Freundschaft, und Tränen unsrer Liebe stürzten in Staub der Todten. – Ach, die meisten meiner Freunde liegen nun und schlafen; einige sind ausgesät in alle Welt, und ich starre durch's Eisengitter den Himmel an, wo wir uns im Lande wiederfinden, das kein Fluch lastet und keine fallende Zähre der Trennung mehr entweiht. –

Man sieht, daß mir die Vorsehung auf mehr als einer Seite zurief: Bleib' in Nürnberg! – Freundschaft, Liebe, Vorschläge zur künftigen Versorgung, Gesundheit, Beifall – [38] alles hätte mich bestimmen sollen, mich anzusiedeln in der Stadt meiner Väter und allen nahen und fernen Donquixoterien durch das ebene geräuschlose Privatleben eines Reichsbürgers vorzubeugen. Aber ich Sturmkopf sollte so lange von den Orkanen der Welt gewirbelt werden, bis ichs fühlte, welch eine Seeligkeit es sei, im Schoose stiller Thätigkeit Gott und dem Vaterlande dienen zu können. Ich schmachtete nun nach dem tosenden Universitätsleben, und meine Eltern gaben es zu, obgleich mein wilder Charakter und ihre eingeschränkten Umstände sie hätten abhalten sollen, meinen Vorsaz zu begünstigen. Die hohe Schule schaft weder den Weisen, noch den genialischen Mann. Beedes kann man seyn, ohne jemals eine Universität gesehen zu haben.

Mit tausend bangen Herzschlägen nahm ich von meinen Lehrern und Freunden Abschied, und kam mit mancher neuer Erkentniß bereichert, aber auch mit sinnlicherm und vom Gifthauche der Lust beflekterem Herzen nach Aalen.

Immer mußt' ich weinen, wenn ich nach [39] vieljähriger Entfernung meine Freunde wieder sah – aber welch ein Unterschied zwischen diesen Tränen und den Tränen der Trennung – Zoars Tränen und den Tränen des Semida und seiner Cidli auf Tabors Sonnenhöhe!

Mein Vater schikte mich bald drauf zu dem geschikten Pfarrer Schülen in Essingen, der damals in Lauterburg war. Ich traf in ihm einen Mann an von herrlichem Charakter. Er war damals mehr Weltweiser, als Theolog, aber seine Weltweisheit war keine leere zweklose Sammlung metaphysischer Träume, seinem Leibniz, Wolf, Bilfinger, und Kanz, nachgelallt; sie war Resultat eignen tiefen Nachforschens, das er in Grundsäze verwandelte, und durch sein Beispiel in Wort und That darstellte. Er war ein gefühlvoller Priester der Natur – das sollten die Menschen ihrer Bestimmung nach eigentlich alle seyn – und fand selbst auf dem Steinrüken des Berges, den er bewohnte, mehr Anlaß die Weisheit seines Schöpfers zu bewundern, und zu studiren, als seine unthatigen Mitbrüder in ihren fruchtreichsten Thälern.

[40] Die Sternkunde war sonderlich seine Lieblingswissenschaft: er schlif Gläßer, und machte Sehröhren, die mit den besten englischen wetteiferten. Sein Garten, oder ein Waldhügel war sein Observatorium, und hier hatt' ich das erstemal die Wollust den Himmel zu beschauen, und an der Hand eines so weisen Führers die Welten des Schöpfers zu bereisen. Der Enthusiasmus, womit er seine große Ideen herauswälzte, zündete auch mich an, und ließ heiliges Staunen über die Werke Gottes in meiner Seele zurük, das mich hernach immer und selbst im Kerker empor hob, wenn ich den Mond und den gestirnten Himmel durch mein Eisengitter betrachtete.

Schülen war auch nicht unwissend in den schönen Wissenschaften – Er laß Hallern und Youngen; denn diese waren seine Lieblinge – mit tiefem Gefühl, und durch seine vortreffliche Art vorzulesen, und mit Ton und Miene die Gedanken seines Autors auszudrükken, wußt' er den kältesten Menschen zu pakken, und selbst aus Kieseln Funken zu locken. Keiner meiner Lehrer hatte bißher tiefere [41] Blikke in mein Herz und meinen Geist gethan, als dieser philosofische Beobachter. Er untersuchte mich, fand welch' eine Herrschaft die Einbildungskraft in meiner Seele hatte, und weissagte mir aus dieser Bemerkung manches, das hernach in der Folge meines Lebens buchstäblich eintraf. Hätt' ich den Lehren und Warnungen meines Sokrates gefolgt; welches Elend hätt' ich vermeiden, und welch' ein guter nüzlicher Bürger hätt' ich für mein Vaterland werden können!! – Aber der Sturm der Leidenschaften übertäubte die sanfte Stimme der Weisheit, und ich konnte sie erst wieder hören, als sich jener zu legen begann. Leidenschaften, ihr seid zwar Flügel der Seele, aber nur Platone, und sicherer noch – Jesus Schüler können mit euch den Sonnenflug wagen; Thoren jagt ihr in Staub und Nacht herum, bis sie vom rasenden Fluge ermüdet, stürzen, und mit gebrochnem Flügel am Rande des Abgrunds liegen und zukken. – Ich verließ meinen sokratischen Lehrer mit einem Herzen voll Dank und Bewunderung, und rüstete mich auf irgend einem deutschen [42] Salamanka, als ein schwäbischer Donquixote oder Gonzales neue Abentheuer zu besten.


Noch Ein Blik auf das mir so theure Nürnberg! – Ich genoß daselbst den Privatunterricht des berühmten Schwebels im Griechischen; eines Mannes, der heimisch in Griechenland war. Er sprach und schrieb Griechisch; auch disputirte er einmal in dieser Sprache mit Nagel, dem Poliglotten, unter Bernhold, dem das Griechische fast so geläufig, wie das Deutsche war. – Und doch hatte Schwebel keinen Geschmak. Er sah die Schönheit der griechischen Muse, wie der Verschnittne die nakte Zirkasserin; er wirst den Schleier über sie und – betet kalt an. Die Ausgabe Moschus und Bions von Schwebel erweißt diß. – Der damalige Verfall der Schulen entstand daraus, daß man wegen der vielen Stiftungen und andern Anlokungen meist arme Schüler hinzog, die vor den Häusern herum singen mußten, denen die Frühmessen, Chöre, Vespern und Leichen keine Zeit zum Studieren liessen, und die sich daher – meist zu krüppelhaften Kantoren [43] und Schulmeistern verbildeten. Doch hat auch mancher trefliche Tonkünstler in Deutschland seine Bildung Nürnberg zu danken. – Auch sind seit dieser Zeit das Aegidier Gymnasium, die Sebalder, Lorenzer, und Spittaler Schulen mit sehr geschikten Männern besezt worden, die mit allen pädagogischen Kenntnissen ausgerüstet, die gerügten Fehler in Kurzem wegzutilgen, Muth und Fähigkeit haben.

Fußnoten

1 Auch der große Clavierspieler Schubart, dessen Namen die Franzosen in Schubert, Schobert und Schober zerhakt hatten, der in Paris an vergifteten Erdschwämmen, bemitleidet von allen Freunden der Kunst starb, gehört unter meine Verwandte. Er nahm, sein Glük schneller zu fördern, die katholische Religion an, war ein großes musikalisches Genie, nur, leider, dabei ein Wüstling.

2 Man lese nur des berühmten Litterators von Murrs Beschreibung der Stadt Nürnberg, nebst Waldau's Beiträgen zur Geschichte seiner Vaterstadt. Kaum mögen in einer deutschen Stadt zahlreichere, vollständigere und nach Kunstzweken geordnetere Kupfer und Holzschnittsammlungen anzutreffen seyn, als in Nürnberg. Man erinnere sich an die Zeiten der Dürer, Sandrart, Kupezki und Preißler, deren Ruhm mit Engelflügeln Welten durchflog. Von diesen großen Männern sind noch die schäzbarsten Kunstwerke in Nürnberg.

3 Die Welt in einer Nuß, ein weiland höchst berühmtes, zu Nürnberg herausgekommenes Handbuch, mit Küpferchen und Gedächtnißreimen geschmükt, das lange Zeit auf den meisten Schulen Deutschlands in hohem Ansehen stand, und durch eben diese sinnliche Darstellung, so barok sie oft war, das Studium der Geschichte unter uns förderte.

4 Auch diß hat sich seitdem auf eine vortheilhafte Weise verändert – und Nürnberg, diese Mutter so mancher Erfindungen, kann sich jezt eines Smits, Schunters, Sattlers, Königs, Herels, und einer Seidlin, dieser gefühlvollen Dichterin rühmen.

5 Einige wurden auch in Schwabach, ohne meinen Namen gedrukt, flogen da und dort in Deutschland herum, und verschwanden.

4. Period
Vierter Period.

Also 1758. im Herbste reiß' ich, von meinen Eltern begabt und geseegnet, von Aalen ab, um, wie man zu sagen pflegt, in Jena den Kurs der Wissenschaften zu absolviren, den noch nie ein Weiser, vom grösten Genius geführt, durch sein ganzes Leben hin, wenn er auch Fontenells hundert Jahr' erreichte, absolviren konnte. Ich besuchte in Nürnberg meine Freunde, und kam nach Erlang, wo mich bald eine lustige Studentengesellschaft, und sonderlich die damals schwere Gefahr zu reisen, daselbst zu bleiben bestimmte. Da fast alle deutsche Universitäten unter Kriegslast und Durchzügen seufzten; so war diese etwas ferner liegende hohe Schule mit einer reichen Anzahl Studirender, aus allen Provinzen Deutschlands besezt, obgleich die damalige innere Einrichtung der Universität ihrem iezigen vollkommnerem [45] Zustande bei weitem nicht gleich kam.

Ich war hier in meinem Elemente. Frei, ungebunden, durchstreift ich tobender Wildfang, Hörsäle, Wirthshäuser, Konzertsäle, Saufgelage – studierte, rumorte, ritt, tanzte, liebte und schlug mich herum.

Anfangs war' ich ungemein fleißig, lernte hebräisch bei Hofmann, hörte Logik, Metaphysik und Moral bei dem vortreflichen Sukkov, Naturrecht bei dem nachmaligen Reichshofrath Braun, Geschichte bei Reinhard, schöne Wissenschaften bei Wiedeburg, und hernach die Theologie nach allen ihren Theilen bei Chladenius, Pfeiffern, und Huth. Die Weltweisheit hatte unter allen diesen Wissenschaften damals die meisten Reize für mich, welches wohl mehr von dem ernsten und überzeugenden Vortrage Sukkov's, als vom innern Gehalt der Philosofie herrühren mochte. Denn ausser der Logik, Mathematik und Naturlehre – wer wollte diesen goldnen Zweig von der Weltweisheit trennen – ist sie dem Christen, dessen Metaphysik und Moral [46] die Bibel ist, mehr schädlich als nüzlich. Der trokne Ton, mit dem man Theologie lehrte, schrekte mich, und ich wähnte, es wäre die Natur der Wissenschaft, was doch ein Fehler des Vortrags war. Dieser Wahn schwächte schon damals in mir das Interesse der Religion, und artete nach und nach in todtkalte Gleichgültigkeit gegen sie, oder vielmehr gegen den schulmässigen Vortrag des Christenthums aus. Erst spät hab' ich erkennen lernen, daß die wahre Theologie oder Theosophie die einzige Wissenschaft ist, die in ihrem Lichtkreise alles beisammen hat, was Wahrheit ist, und deren reines Feuer alles verzehrt, was Nichtwahrheit oder Scheinwahrheit ist, womit Erdmenschen ihre Seelen lasten, und sie beinahe ganz und gar unfähig machen, die Stralen der himmlischen Weisheit einzusaugen. Man hat in den neusten Zeiten eingesehen, wie wahr es sei, was Klopstok sagt:

»Die Religion ist in der Offenbahrung ein gesunder männlicher Körper, unsre Lehrbücher aber haben ein Gerippe daraus gemacht.« Daher schütteln unsre Jerusaleme, [47] Herder, Nösseit, Leß, Miller, Danov, Dathe, Seiler, Storr und andre der neusten Gottesgelehrten den Staub der alten Method' ab, und bahnten sich dadurch, gleich den Lehrern der ersten Kirche, den geraden sichern Weeg in ihrer Schüler Herz.

Huths Ton, der die Kirchengeschichte und Predigerkunst lehrte, war voll Feuer; er donnerte sonderlich gewaltig gegen das Pabstthum loß, dessen geschworner Feind er war. Predigen konnte er gut, nur waren seine Predigten zu lang für seine Zuhörer, und für seine eigne Gesundheit; denn man trug ihn nach einer eifrigen Predigt halbtodt nach Haus, wo er bald darauf sein edles und gemeinnüziges Leben endigte. –

Ich war damals der beste Flügelspieler und Dichter in Erlang; ein Talent, das mir manchen Beifall und Geldverdienst zuzog. Krausenek kam zwar hernach – seine Muse aber sang meist im Verborgenen, nur wenig Auserwählten, und entweihte sich nie, oder doch selten mit Gelegenheitsgedichten. Wir [48] errichteten einen Freundschaftsbund, den weder lange daurende Trennung, noch wechselseitige traurige Schiksale in der Folge zerrissen. – Seine Gedichte, die er lange hernach gesammelt hat, sind schön, und voll warmen Menschengefühls, – so ganz das Nachgebild einer guten Seele. Ich hoff' ihn einst im grossen Tempel Gottes unter den Sängern zu finden, die sich Gott von der Erde ausgewählt hat. Unter meinen übrigen Freunden sind mir Großgebauer aus Schweinfurt und Graf von Augsburg unvergeßlich, wovon lezterer Brukkers Verlust ersezt haben würde, wenn ihn nicht der Tod mitten auf seiner rühmlichen Laufbahn abgefodert hätte. Die meisten meiner übrigen Universitätsfreunde seh' ich jezt an, wie der Duellant den blutigen Degen, womit er seinen Freund in der Trunkenheit verwundete. Die akademische Freundschaft ist zwar sehr heiß und innig; wenn sie aber nicht von Tugend und heitrer Weisheit gelenkt wird, und das wird sie selten, so ist sie nicht Freundschaft mehr – sie ist Verschwörung.

Erlang hatte damals bei weitem die trefliche [49] Verfassung nicht, wie jezt. – Der akademische Fond war äusserst geringe, folglich die Besoldungen der Lehrer weder ihren Arbeiten, noch ihren Verdiensten angemessen. Ueber manche höchstnothwendige Wissenschaft war nicht einmal ein Lehrer aufgestellt. So konnte man z.B. damals keinen Lehrer finden, der über Aesthetik – denn Windheim war wohl ein gelehrter, aber geschmakloser Mann – oder über die klassische Litteratur der Alten Vorlesungen gegeben hätte. Auch verursachte der damalige leidige sieben jährige Krieg, der sämtliche deutsche Akademien drükte, einen solchen Zusammenflus von Studenten, die die verderbtesten Sitten, und alle Purschengreuel dahin brachten, daß es höchstgefahrlich für einen feuerfangenden Jüngling war, daselbst zu studiren. Ich hab auch die traurigen Folgen davon mit Augen angesehen; habe gesehen, wie mancher Jüngling von den herrlichsten Anlagen, fortgerissen vom gelben Regenstrome, für seine ganze Lebenszeit zu Grunde gieng. Schulden, oder ein Duell jagten ihn aus Erlang; da er sich nicht unterstand, seinen [50] Eltern unter die Augen zu tretten, gieng er unter die Soldaten, oder wurde Komödiant – oder Vagabund. Beinahe hatt' ich gleiches Schiksal.

Da ich – mit Angst meines Herzens schreib' ichs nieder – Gott aus den Augen sezte, dem Rufe der himmlischen Weisheit nicht folgte, alles Feuer ins Aeussere jagte, und seine Zentralkraft schwächte, da ich tumultuarisch studirte, die Anstrengung scheute, und nur das ergrif, was ich ohne viele Mühe haschen konnte: so erreicht' ich den Zwek meines akademischen Studirens beinahe gar nicht. Ich war ein Bach, vom Sturme kraus, auf dessen Fläche sich Wahrheit, Wissenschaft und Tugend nicht spiegeln konnten. Von Leidenschaften gepeitscht, braußt' ich unter meinen Freunden sinnlos einher, ohne Ordnung, ohne Klugheit, ohne Fleiß, ohne Sparsamkeit, 1 [51] häufte Schulden auf Schulden, und ward von meinen Glaubigern ins Karzer geworfen, worinn ich vier Wochen lag, und bei den Besuchen meiner Freunde, einer zärtlichen, mich mit Thränen beklagenden Freundin, bei einem guten Klaviere, von Schüttmaier, und in der Gesellschaft meines luftigen Leichtsinnes die Schande des Gefängnisses beinahe vergaß, und das Gewimmer der Weheklagen nicht hörte, die ich Strudelkopf meinen fernen Freunden auspreßte. – Meine Glaubiger liessen mir kein Bett; – aber ein Burger aus Erlang, mit dem ich kaum mehr als zwei Worte wechselte, der als Herrnhuther im Rufe stand, im übrigen aber ein stilles, von der Welt abgesondertes Leben führte – schikte mir ein Bett, und versprach mir seinen Beistand. Ich war kaum los, als ich zu diesem meinem Wohlthäter flog, und ihm herzlich dankte. Er lächelte[52] und sagte: »Herr Schubart, sie sind krank, und dieser Mann könnte Sie kuriren!« – Er wiß auf Steinhofers Predigten, die offen vor ihm lagen. Ich merkte diß, drükte ihm dankbar die Hand, und gieng, von seinem Seufzer begleitet: »Gott wird sich ihrer erbarmen!« – Noch steht der Mann in der Würde vor mir, die ihm die Frömmigkeit gab; und erst jezt empfind' ich, wie wichtig des Christen Seegen sey, da ein Stral jenes heiligen Lichtes, das seiner Seele leuchtete, auch mich traf.

Ich verfertigte im Gefängnisse manches Gedicht, das der Aufbewahrung werth gewesen wäre. Es ist auch, lange nachher, in mancher Gedichtesammlung, unter fremdem – oder ohne Nahmen, ein solches Gedicht erschienen, ohne daß ich es vindizirte, oder dem Kindlein des Vaters Namen gab. Leider sind die meisten erotischen oder bacchantischen Innhalts[53] – zwar mit Wiz und Leichtigkeit gemacht, aber voll unbeschreiblichen Leichtsinns, daher ich mich ihrer jezt schäme. Schöne, leichte Poesie ist nicht der Dichtkunst Zwek, sondern moralische Güte.


Lüpfe den Schleier der Schönheit, sieh ihr olympisches Lächeln;

Aber, wisse Besizer der goldenen Harfe: Schönheit

Ist nur Aussenseite der Tugend, ist Hülle der Güte.


Eine tödtliche Krankheit, die ich bald darauf in Erlang ausstand, konnte mir nur flüchtige Entschlüsse zur Tugend entloken; sobald ich genaß, und eine Schaar tapfrer Preussen sah, für die ich, wie die ganze Universität, im wilden Enthusiasmus brannte; so war ich wieder mitten in der Welt, und Dank und Gelübde wurden in ihrem fliegenden Strome ersäuft. Meine Eltern, die die Last solcher Ausgaben nicht mehr bestreiten konnten, riefen mich nach Hause.

[54] Doch eh' ich Erlang verlasse, so muß ich noch den musikalischen Geist preisen, der damals daselbst wehte. Es gab trefliche Musiker unter den Studenten, worunter ich nur den gegenwärtigen Kammervirtuos Steinhardt in Weimar zu nennen brauche, unter dessen Anführung öftere Konzerte gegeben wurden. Ich aber übte mich zu Hause und in musikalischen Gesellschaften auf dem Flügel, der Violine, dem Gesange; reißte einmal nach Bayreuth zu einem Freunde meines Vaters, Thomas, und hörte da – in meinem Leben das erstemal – ein sehr gebildetes Orchester, und einige welsche Sänger und Sängerinnen, die mich gen Himmel rißen. Haße und Graun waren damals die Tongeber am Bayreuthischen Hofe, die, wie bekannt, deutsche Gründlichkeit mit welschem Gesange treflich zu verbinden wusten. Ich zog mitten durch einen Haufen preußischer Krieger, ohne von ihnen angefochten zu werden, weil ich sie durch meine preußische Begeisterung für mich einnahm, auch damals schon Gleims Kriegslieder in Musik sezte, und sie ihnen vorsang.

[55] – So kam ich in Aalen an – mit einem brausenden Studentenkopfe, einer Seele voll wissenschaftlicher Trümmer, und einem beinah ganz verwüsteten Herzen. Marder und Geier, Feldteufel und Kobold liefen nach des grossen Sehers Zeichnung, in mir, wie unter Babels Ruinen durcheinander. Ich empfand zwar einige Beängstigungen des wiederkehrenden verlohrnen Sohnes; der Anblik meines Vaters durchschnitt mir das Herz, der eben von einer schweren Krankheit auf gestanden war: aber das Mitleiden meiner Mutter über meine blasse hagre Gestalt – denn meine Gesundheit hatte durch Ausschweifungen sehr gelitten, und ich habe mich seitdeme niemals gänzlich erholen können – kam der Bestrafung meines Vaters und meinen Beängstigungen zuvor. Mein Vater war zufrieden, daß ich predigen konnte, ziemlich fertig Latein sprach, und kühn und verwegen über die Revoluzionen in der Weltweisheit zu räsonniren wußte. Etliche neue Sonaten, die ich mit Ausdruk und Fertigkeit auf dem Klaviere spielte, erwarben mir wieder seine volle Gunst. Meine Predigten[56] – Cramer war damals mein einziges Muster – gefielen allgemein. Ich hatte würklich Anlage zum geistlichen Redner; – Feuer, Ton, Stellung, und eine in meiner Gegend damals äusserst seltene Fertigkeit in der ausgebildetern deutschen Sprache, weil ich in dasigen Gegenden der erste war, der Aesthetik studirt hatte. Auch die Poesie half mir, meinen Beifall zu vermehren. Hätt' ich Fleiß und Salbung gehabt, so würd' ich es in der Kanzelberedsamkeit sehr weit gebracht haben. Aber ich zerstreute mich in zu viel Nebendinge, studirte die Bibel zu wenig, predigte auf die Lezt meist aus dem Stegreife, und wurde statt eines kraftvollen Kanzelredners, ein süsser Schwäzer, der zwar die Einbildungskraft seiner Zuhörer zu erschüttern wußte, aber niemals bleibende Ueberzeugung zurükließ. Und wie konnt' es wohl an ders seyn! Ich sprach von Dingen, die ich selbst nicht empfand, nicht in ihrem weiten Umfange einsah; und wenn ich auch etwas Gutes sagte, so war ich bloß Sprachrohr, durch welches der Wächter dem an der fernen Klippe schwindlenden Wandrer [57] ein Warnungswort zuruft – das Sprachrohr bleibt nach diesem kalt und tod, sobald es der Odem des Sprechers nicht mehr beseelt.

Ueber diß war ich zu sehr Poet, um guter Kanzelredner zu seyn – nicht, als wenn nicht auch Dichter trefliche Prediger seyn könnten, wie Cramer, Schlegel, Giseke erweisen – allein, meine feurige Einbildungskraft zeigte sich oft zur Unzeit. Ja, ich war gar einmal so unsinnig, und hielt eine ganze Predigt in Versen. Nachher erfuhr ich, daß ich in diesem Unsinn schon einen Vorgänger hatte, den Bruder der grossen Baumgarten – Nathanael, der Predigten in Schmolkischem Klingklang hielt, und einige drukken ließ.

Fußnoten

1 Leider hab' ich die köstliche Tugend der weisen Sparsamkeit nie ausüben lernen. Und ach! welchen Unruhen, Zerstreuungen, Sorgen, Vergehungen, welcher Schande und Schmach sezet man sich oft aus, wenn man diese Tugend nicht übt!

Ὡς τεϑνηζόμενος τῶν σῶν ἀγαϑῶν ἀπόλαυε.

Ως δὲ βιωσόμενος, Φέιδεο σῶν κτεάνων.

Εσι δ᾽ἀνήρ σοφὸς ὁυτος, ὅς, ἅμφω ταῦτα νοήσας,

Φειδεῖ καὶ δαπάνη μέτρον ἐφαρμόσατο.

Als Sterbender geniesse deine Güter,

Und spare sie als Immerlebender.

Der ist ein weiser Mann, der dies erkennend

Das Maas der Sparsamkeit so wie des Aufwands braucht.

5. Period
Fünfter Period.

Die Musik ist der durch Weisheit geordneten Seele Labung; sie wekt Empfindungen, die unter dem Ernst der Geschäfte entschlummern – und doch wurde sie für mich eine Sirene, die mich durch ihren Zaubergesang oft in verschlingende Strudel lokte. Ich floh den Ernst und den Schweiß wichtigerer Geschäfte, und gieng der Zauberin nach, die mich längst als ihren Günstling betrachtete. Theils aus Zeitvertreib, theils aus Neigung, sezt' ich Kirchenstükke, Sinfonien, Sonaten, Arien und andere Kleinigkeiten in Menge auf, die hernach unter meinem und fremden Namen in alle Welt ausflogen, ihr Schmetterlingsleben lebten, und starben. Ich bildete auch die jezige Stadtmusik in Aalen, die zwar aus lauter Handwerksleuten besteht; aber doch, durch guten Vortrag und Fertigkeit im Lesen [59] schon oft die Bewunderung der Fremden war. Meine Spielart war ganz und gar von mir geschaffen – ich spielte des grossen Hamburger Bachs, auch seines Vaters schwersten Stükke mit Fertigkeit, und machte dadurch die Faust stark und rund, bis ich sie durch den damals einreisenden Albertischen Geschmak mit gebrochnen Akkorden und durch das noch verderblichere Tokato, das vom Jomellischen Opernstil ins Klavier kam, wohin es ganz und gar nicht gehört, in etwas entkräftete. So werden auch die Künste durch die Gauklerin Mode tirannisirt, und Wenige haben, wie Bach, Seelenstärke genug – ihr nicht nachzugeben.

Ich spielte um diese Zeit – denn der Musiker hat seine Perioden, sein Akme, Perihelium, wie der Dichter und Maler – mit geflügelter Geschwindigkeit, las sehr schwere Stükke, fürs Klavier oder ein anders Instrument gesezt, mit und ohne Baß, vom Blate weg, spielte in allen Tönen mit gleicher Fertigkeit, fantasirte mit feuriger Erfindungskraft, und zeigte die volle Anlage zu einem [60] grossen Organisten. Ich konnte mich so ins Feuer spielen – der Hauptzug des musikalischen Genies – daß Alles um mich schwand, und ich nur noch in den Tönen lebte, die meine Einbildungskraft schuf. Bei aller Geschwindigkeit hatt' ich doch volle Deutlichkeit – eine Eigenschaft, die so vielen Spielern mangelt. Zufrieden, wenn ihnen ein Todensprung gelingt, kümmern sie sich nicht, ob der Hörer auch verstehe, was sie haben wollen. Jedes Stük muß ein Ganzes bilden; seinen eignen Charakter haben, nicht flekigt von Kaprizen seyn, und rund und deutlich vorgetragen werden. Daher bleiben der verewigte Schubart, (nicht Schubert, Schobert oder Schober, wie ihn die Franzosen verstümmeln,) Vogler, Ekardt, Beeke, sonderlich Mozardt, noch lange Originale, an welchen sich der aufkeimende Virtuos hinauf messen kann. – Geschwindigkeit thut zwar meistens der Anmuth Abbruch, und doch sucht' ich leztere durch treue Nachahmung unsrer herzerhebenden Nationallieder mir immer mehr zu eigen zu machen, bis der welsche Gesang in wollüstigen [61] Tönen mich umfloß, und meiner Spielart, zwar mehr von der Süßigkeit des Modegeschmaks gab, aber zugleich die Faust schwächte, und indem ich manierter spielte, manche Eigenthümlichkeit verwischte. Ein Klavierspieler thut sehr übel, wenn er sich andre, als deutsche Muster wählt – denn was sind die Ausländer, selbst die Marchands, Skarlatti und Jozzi, 1 gegen unsere Bach, Händels, Wagenseil, Schubart, Beeke, Ekardt, Vogler, Fleischer, Müthel, Kozeluch, Mozardt – kaum kann man unsre Menatseachs 2 alle zählen! – Um meine Komposizionen einigermassen aufführen zu können; so bildete ich mein kleines [62] Orchester in Aalen immer mehr aus, übte mich auch in dem benachbarten Ellwang, wo es herrliche Musiker – sonderlich Orgelspieler gab.

Man halte diese Schilderung meiner musikalischen Talente ja nicht für Eitelkeit: ich bin sie denjenigen schuldig, die sich aus einigen fremden Schildereien, von mir einen zu grossen – oft auch einen zu kleinen Begrif gemacht haben. Im übrigen beklag' ich es jezt, daß ich auch diß Talent nicht gehörig benuzt, sondern es vielmehr unter allen am meisten mißbraucht habe. Ich that hierinnen zu viel und zu wenig. Zu viel, weil ich die Wissenschaften vernachlässigte; zu wenig, weil ich die Tonkunst nicht genug – nicht in all ihren Tiefen studirte.

Fußnoten

1 Clementi macht doch eine gewaltige Ausnahme.

2 חצנמל der Sänger, Uebersänger. – Mit diesem Worte drukten die Hebräer den Charakter des musikalischen Virtuosen, oder Kraftmanns sehr eigentlich aus; denn es heißt einer, der den Gesang oder ein Instrument so lange treibt, bis er – überwunden hat, bis er triumfirt auf den Höhen der Kunst.

6. Period
Sechster Period.

Die Scene verändert sich, und ich erscheine als Hauslehrer in Königsbronn. Das geringe Einkommen meines Vaters machte mir diesen Ausflug nothwendig. Blezinger, ein Mann von dem unternehmendsten Geiste, der unter günstigen Umständen der Kolbert eines deutschen Fürsten hätte werden können, und dessen ganze Person, bis auf die Miene der Schlauheit, die den grossen Pachtern, wie allen Männern von weitgreifenden Unternehmungen beinahe eigen zu seyn scheint – den vollen Charakter des deutschen Mannes ausdrükt, 1 hatte kurz vorher seinen Brechter [64] verloren, den er wie aus dem Schlamme hob, und für sein Vaterland rettete. Brechter gerieth, ich weiß nicht durch welchem Zufall, unter die Truppe eines herumziehenden Wundarztes, und ward genöthiget, den Hanswurst bei ihm zu machen; aber eben daher leit' ich seine grosse Einsicht in die physische Erziehung der Kinder, die seine nachherige Schriften den Ballexerts, Zükerts, und andrer medizinischen Erziehern an die Seite stellten. Blezinger entriß unsern Brechter seiner schimpflichen Erniedrigung, nahm ihn in sein Haus auf, und förderte ihn auf die Universität.

Als hernach Brechter nach Biberach zum Diakonate empfohlen wurde, und eben seine Probpredigt that: so mußte es sich fügen, daß der obgedachte Marktschreier mit seinem Wirthe in die Kirche gieng – »warum weinen sie?« fragte der Wirth den unter der Predigt schluchzenden Wundarzt. »Ach,« erwiederte er, »der Herr da, war ehmals mein Hanswurst; o, so einen bekomm' ich mein Lebtag nicht wieder.« Dieser ärgerliche Zufall brachte den guten Brechter um den Dienst, bis er bald darauf [65] nach Schweiggern kam, wo man minder skrupulös war, und durch sein edles, mustermäßiges Leben zeigte, wie man Jugendfehler verbessern soll. Ich selbst lernte ihn hernach kennen, als er lange schon der Freund des grossen Stadians, Wielgnds, der ersten deutschen Schriftstellerin La Roche, und von ganz Deutschland geschäzt war. Er starb – eben, als er noch so manche goldne Garbe in die Scheuer sammeln wollte. – Der Weise ruht in Gottes Schoos! – Er war so gut!

Die Didaktik war mir ein ganz fremdes Feld, in das ich mich so gut schikte, als ich konnte. Erst jezt seh' ich mit der vollkommensten Klarheit ein, daß unter allen Erziehern: er mag so gelehrt seyn, als er will, derjenige der Schlimmste ist, der selbst keine Erziehung genoß. Blezinger behandelte mich als Freund, ich brachte bei ihm meine Zeit meist nüzlich und angenehm zu. Ich gab den benachbarten Provisoren Unterricht auf dem Klavier, genoß in Heidenheim des öftern Umgangs mit den dasigen Ehrenmännern – Pistorius, [66] Brodbek, und sonderlich dem verdienten auf richtigem Wahrheitssteige wallenden Christlieb, der nun auch zu seiner Vollendung eingegangen ist. Tonkunst, und helle frische Laune machte mir auch hier überall Eingang. – Damals lag das Bouwinghausische Husarerregiment im Heidenheimer Amte, wodurch ich Gelegenheit bekam, mit manchem braven Offizier Bekanntschaft zu machen. Sonderlich war mir der damalige Oberstleutnant von Pöllniz sehr geneigt; er dachte, mich durch seine Empfehlungen zu versorgen; aber er starb, und ich blieb – wo ich war.

Die blühende Muse Haugs lokte mich damals auch nach Stozingen, wo ich den Grund unsrer nachherigen Bekanntschaft legte. Ich predigte auch öfters auf dem angränzenden Dorfe Bartholomäi: wo ich an dem damaligen Pfarrer Baumann den heitern Freund der Schönheit und Wahrheit, zu jedem Guten gestimmt, schäzzen lernte. Bei diesen ländlichen Predigten lernte ich einsehen, daß Saurin, Cramer; und meine Lieblingshomileten nicht überall Muster seyn können. Ich sah [67] also, wie der kräftige Luther sagt, den Leuten auf die Mäuler, lernte Weisheit auf der Gasse! predigte volksinnig, ohne pöbelhaft und kindisch zu werden, wie diß einige Herren so verstehen wollen; und so gefiel ich.

Auch hat' ich hier so ernste Anwandlungen von Andacht und Frömmigkeit, daß nur ein führender Freund gefehlt hätte, mich zu den Füssen Christus zu werfen, und mich zu seinem Jünger zu machen. Die vielen Frommen – herzlich frommen Menschen, die ich da und dort auffand, würkten diß Wunder. –

Ich betete wieder, las gerne in der Bibel und in geistreichen Schriften, sonderlich in Skrivers Seelenschaz, 2 lag oft auf den Knieen und weinte zu Gott, oder blikte vom freien Feld gen Himmel und fühlte die Seligkeit, [68] ein Mensch zu seyn, durch meine ganze Seele schauern. – So bald mich aber die Welt wieder zum Tanz aufforderte: so stürzt ich leichtsinnig in ihre Reigen, und vergaß in der Trunkenheit die fieberhaften Erschüttrungen der Andacht. Meine damalige fromme Stimmung schrieb sich vorzüglich von einer hektischen Anwandlung her – denn ich rang lange schon mit einem durch Ausschweifungen zerstörten Körper. – Allein, wenig lichte Augenblikke söhnten mich wieder mit der Welt aus, und ein Weiler auf Erden war mir lieber, als die fernleuchtende Stadt des lebendigen Gottes. Daher wurde oder Stral des in mich fallenden Lichts gemeiniglich wieder von der alten Nacht verschlungen. Ein Umstand, der mich hernach von Stufe zu Stufe, bis an die Gränze der Verstokung brachte. Wer sich dem Lichte von Gott oft widersezt, verliert endlich aus einem gerechten Gerichte die Lichtesempfänglichkeit, und wächst als eine unselige Pflanze in die dikste Finsterniß hinein. Eine schauderhafte Wahrheit, die tausendmal gesagt, stark und fürchterlich gesagt werden sollte!![69] – Hier steht die fürchterliche Leiter der Verdammniß: Leichtsinn, Gleichgültigkeit, Vernunftstolz, Empörung gegen das Licht, Verstokung – ewiger Tod!! –

Fußnoten

1 Wenn dieser Mann ein Engländer oder Franzos wäre, so würde sein erfinderischer Geist, dessen Glut im Alter noch zündet und leuchtet; so würden seine Gewerke, seine originellen Erfindungen, seine Fabriken, seine Wassergebäude hoch und weit umher geposaunt werden; aber Blezinger – ist ein Deutscher!!

2 Die größte Erbauung hab ich immer – nie aus hochgepriesnen von der Welt angebeteten geistlichen Rednern geschöpft, sondern aus Schriften, die niedrig und schlecht und verachtet von der Welt waren. Das Selig wer sich nicht an mir ärgert, scheint bei allen Lehrern des Neuen Bundes einzutreffen.

7. Period
Siebenter Period.

Ich überließ einem meiner Brüder, der sich ganz dem Unterrichte der Jugend gewidmet hatte, meine bisherige Stelle, um in Aalen und in den angränzenden Dörfern den Geistlichen im Predigen beizustehen. Bei dieser Gelegenheit fand' ich, daß wir Deutsche so gut als die Britten, unsre Adams und Wakefieldsche Landprediger haben; es fehlt uns nur an Fieldings Smollets, Goldschmidts die sie kopiren. Da so viel Mangel, Elend, Verachtung, die Landprediger drukt; da sie in der Entfernung von städtischer Kultur, mit Halbmenschen umgeben, beinahe verwildern müssen: so verdient diese ehrwürdige Volksklasse nicht Hohnblik und Verachtung, sondern Mitleiden – und selbst Bewundrung und Ehrfurcht, wenn sie sich durch die ungünstigsten Umstände zur wahren Aufklärung emporschwingt. – Auch mir sind auf [71] meiner Wallfart trefliche Landprediger aufgestossen, die in Lehre und Leben manchen aufgedunsnen Stadtprediger beschämten.

Als ich nach einer feurigen Rede die Kanzel zu Neubronn verließ: so sagte der damalige Geistliche: »Seelig seid ihr, die ihr das wißt, wenn ihrs thut.« – Der Tod röchelte ihm auf der Brust, und gab seiner Bestrafung ein feierliches, herzdurchschneidendes Ansehen. Er starb bald darauf; und sein Bild schwebt mir noch für Augen, wie ein Geisterbild, das der irrende Wandrer in der Nacht sah. Meinen ehemaligen Sokrates Schülen traf ich sehr verwandelt an. Statt Haller und Young nannte er mir nun Bengel und Storr, und alle seine lieben Philosophen wurden von der Bibel, und ihren reinen Auslegern verdrungen. »Ich habe viel Erdstaub auszuschütteln,« sprach er mit seiner gewöhnlichen pathetischen Stimme. »Erdenweisheit ist nicht viel mehr, als Erdstaub. In ihrem Labirynthe verlor die Einfalt, nun bin ich im Begrife sie wieder aufzufinden.« Meine Predigt, die ich zu Lauterburg vor dem prüfenden Weisen [72] hielt, nannt' er ein Gemälde voll hoher Lakfarben, aber ohne Geist und Kraft: und er hatte Recht; meine Predigten warens alle. Die Sternkunde war noch immer die Gefärtin seiner müßigen Stunden. Auch damals beschauten wir wieder, von einem Waldhügel aus, die Welten Gottes – um – unsre Seelen groß zu wiegen. Ausser der Natur und Menschengeschichte aber opfert' er nun alles der Religion auf, und ich habe sichre Nachricht, daß er sich seitdeme noch mehr entladen hat, um einzudringen durch die enge Pforte, wohin das beständige Bestreben seines Geistes geht. Wir sprachen viel vom einreissenden Unglauben in unserm Vaterlande und den überhandnehmenden Zweiflern, Rottenmachern, Spöttern in und ausser Deutschland – »sie sind nur Schmeisfliegen« sagt' er, »die grossen Raubvögel kommen erst nach. 1 Aber Jesus und seine Gemeinde wird über Alle triumfiren.« – So bleiben mir die Worte dieses Weisen unvergeßlich, [73] nur Schade, daß ich diese kostbare Perlen unter die Eicheln der Scheinweisheit und Thorheit warf, und im Unsinn diese oft höher, als jene schäzte. Doch muß ich zum Preise des Schöpfers sagen, daß ich das Wahrheitsgefühl, sein kostbarstes Geschenk, nie ganz verlor, sondern es nur mit dikkem Staub bedekte; so bald sich dieser verzog, so bald leuchtete es wieder empor. Ich kann auch nicht glauben, daß man den von Gott in unsern Geist eingesenkten Wahrheitsfunken ganz und gar verlieren könne. Das Licht verbirgt sich nur, löscht aber nie ganz aus – denn wie kan das verlöschen, was Gottes Hauch einblies? Wenn diß möglich wäre, so könnten die vernünftigen Geschöpfe in ein Verderbnis versenken, aus dem keine Rettung mehr möglich wäre; und so was Gräßliches zu glauben, verhindern mich meine Begriffe von Gottes Weisheit und Liebe – und die in Christo getroffene grosse Anstalt.

Fußnoten

1 Sie schlugen seit diesem hier und da ihre rauschenden Flügel – diese Raubvögel, diß Nachtgefieder!

8. Period
Achter Period.

Der berühmte Schulmann, jeziger Archidiakonus Bökh in Nördlingen, dessen Schriften so viel Religion und Menschenliebe athmen, wurde durch die Bande des Blutes mit mir verbunden. Ich besuchte ihn in Eßlingen, wo er Rektor war, und als Prediger und Lehrer der Jugend sich gleichgrossen Beifall erwarb. Seine Dienstfertigkeit, Liebe zu den Wissenschaften, gerade einfältige Herzensstellung, Stimmung zur Bruderliebe und heitre frohe Laune kündigten mir in ihm einen der redlichsten Menschen an.

Er nahm mich auch brüderlich auf, gab mir viel gute Räthe, brachte mich in die besten Gesellschaften, öfnete mir seine schöne Bibliothek zur Benuzung, und schenkte mir seine ganze Zuneigung. Auch dann, wenn ichs in der Folge nicht verdiente, liebte er mich, und die Klage seiner Freundschaft scholl bis in meinen Kerker.

[75] O Tag des lauten Jubels! und des ewigen Wiedersehens! auch ihn meinen Bökhen und sein tieffühlendes Weib, meine Schwester Juliana will ich in deinen Stralen wiederfinden!! Indessen stürzt die stumme Träne der Sehnsucht aufs Blatt, und dankt euch ihr Lieben, für eure Treue, eure Unterstüzung, Fürbitte, Entschuldigung und – ach für eure Schrekken und Tränen, um meinetwillen gezittert und geweint!

Der noch lebende gesalbte Lehrer, Senior Köstlen ließ mich seine Kanzel besteigen, und als ich ihn nach diesem selbst predigen hörte, so fühlt' ichs mit Beschämung, welch ein geistloser Plauderer ich gegen diesen kraftvollen Prediger der Wahrheit war. Ich fand an ihm weder den grossen Redner, noch den gelehrten Sprecher, aber den Mann fand' ich, der im Sinne Christus und seiner Apostel zu predigen wußte, und dem es also nie an siegendem Nachdrukke fehlen konnte. Sein Leben entsprach seinen Predigten; denn es stralte die volle Würde eines erleuchteten Gottesgesandten herunter. Ob er gleich kein Schriftsteller ist[76] – denn dies Talent ist ihm, wie er selbst sagte, zu seiner Demüthigung versagt; – so predigt er doch durch Lehr und Leben mit dem lautesten Autor in die Wette.

An dem Kanzleidirektor Ramsler traf ich den ersten gefühlvollen Samler von Kupferstichen an, dessen Geschmak den meinigen in vielen Stükken berichtigte; und eine Stunde von Eßlingen hört' ich auf einem Würtembergischen Dorfe einen Magister, Namens Engelhard, auf dem Flügel spielen, und bewunderte seine ausnehmende Fertigkeit und starke Nerven, die durch Tagelanges Spielen nicht ermüdet werden konnten. Ich habe wenig grössere Flügelspieler in meinem Leben gehört, so geizig ich sie auch belauschte. – Nur Schade, daß ihn der Opernstil zu oft aus der Sfäre des Klavierstils herausriß. 1 Auf einer kleinen Reise nach Altdorf lernt' ich an einem Beispiele die Gewalt der Eitelkeit kennen, die auch durch Büchersammlungen [77] auf der Menschen Herz würkt. So ein Enthusiast ich für Manches war, so schien mir doch die Begeisterung etwas fremde, mit der der dasige Pfarrer uns in seinen Büchersal führte, und seine Bücher, alle blau mit weissen Schilden, wie ein Fürst seine Garde vor uns paradiren ließ. »Was ich auf der Welt am schwersten verlasse, sagt' er, das sind meine Bücher.« Er starb bald darauf in seinen besten Jahren. O Menschenherz, wie anhängig bist du! Leichter entwischt der Vogel der Leimruthe, als du dem Koth und den Lumpen der Eitelkeit.

Fußnoten

1 Er ist nun gestorben, als Tonverehrer bis ins Grab; doch blieb sein grosses Talent unausgebildet. So sah ich manchen köstlichen Funken verlöschen, der eine Sonne werden konnte.

9. Period
Neunter Period.

Ich war kaum von Eßlingen nach Aalen wieder zurükgekommen, als mich das Verlangen meiner mütterlichen Blutsverwandtschaft und meine eigne Neigung bestimmte, das Limpurgische zu durchstreifen. Das Land lag wegen der beständigen Zänkereien seiner verschiedenen Besizzer seit der Preußischen Invasion 1713 – wie eine Polnische Provinz unter dem Nachtschatten der Anarchie in seiner Wildniß begraben. Jeder Beamte war beinah ein Woiwod, der ferne vom Regenten in seinem Amt und Forst hauste, wie's ihm behagte. Und doch gabs mitten in dieser Verwirrung biderbe redliche Männer, die so gewissenhaft handelten, als würden sie von politischen Argusaugen bewacht. Unter diese Redliche sezt das ganze Land meinen seeligen Großvater Hörner, der seinem weitläufigen Amte und Forst – als Oberamtmann und Jägermeister bis in sein [79] achtzigstes Jahr mit dem rühmlichsten Eifer vorstand. Mein Eintritt in dieses Land war mit dem traurigsten Anblike begleitet, denn ich fand zu Obergröningen den Rath Wolff, der meine Tante hatte, an der Seite des Hofrath Michaelis tödtlich verwundet, neun Baurenleichen auf dem Schragen liegen und Wundärzte und Doktoren in ihren Eingeweiden wühlen. Eine Gränzstreitigkeit mit Hochstatt hatte diesen blutigen Scharmüzel veranlaßt. Mein Vetter, ein Mann von vieler Einsicht und Rechtschaffenheit blieb zwar am Leben, trägt aber die schmerzhaften Spuren seiner Wunden bis jezt an seinem Leibe. Sulzbach, der Aufenthalt meines Großvaters, liegt von Bergen umgürtet in einem Steinthale, wie in einem Kessel, von Reisenden nur in der Ferne, oder wie durch ein Wunder besucht. Seine Bewohner kündigen in ihrer armseligen Gestalt eine Kolonie von Kamtschadalen an, die ihre Töne aus grosen Kröpfen heraus, mehr gurgeln als sprechen. Und doch sind sie die zufriedensten und genügsamsten Leute, unter denen mein Großvater ein wirklich patriarchalisches [80] Leben lebte. Ich wurde von ihm sehr zärtlich bewillkommt; Thränen entflossen dem rechtschaffenen Greißen, als er mich predigen hörte, und er vergaß aus Gefälligkeit die grossen Kosten, die ihm mein Studieren verursachte. Ich durchritt und durchkletterte seine Wälder, und reißte nach Oberroth, Michelbach, Schwäbisch Hall, Gaildorf, und sonderlich Obersontheim, wo ich in der Kirche predigte, in der ich getauft wurde, nicht ohne Rührung und Gefühl der dadurch erlangten Gnade. Auf dieser Reise lernt' ich unter vielen edlen Menschen auch manchen Priester kennen, den ich in diesen Felsenklüften nicht gesucht hätte. Glaser, Pfarrerin in Michelfeld ist ein Mann voll filologischer und theologischer Kenntnisse, die jeden Stadtprediger schmüken würden. Sein Umgang, wie hernach sein Briefwechsel war mir ungemein lehrreich, und kurz ich hab' auf meinen fast beständigen Wanderschaften erfahren, daß es allenthalben edle, fromme, auch geschikte Menschen giebt, wenn man nur ein Aug hat sie aufsuchen, und ein Herz, sie fühlen zu können.

[81]
10. Period
Zehnter Period.

Und nun war' ich in allem Ernst auf meine Beförderung bedacht. Einige Versuche waren mir bereits fehlgeschlagen; ich grif also nach der Leier, um mir bei dem Fürsten von Ellwang, der nicht nur die Pfarreien in Aalen, sondern noch verschiedener ungemein einträgliche lutherische Predigerdienste zu vergeben hatte, den Weg zu meiner Versorgung zu eröfnen. Ich macht' ein Gedicht auf ihn, ließ es druken, und überreicht' es ihm mit sehr schmeichelhaftem Erfolge. Ein deutsches Gedicht von gutem Tone, war damals, wie vielleicht noch jezt, in Ellwang eine große Seltenheit. Die Gelehrten versprizten ihren Wiz in schaalen lateinischen Kronodistichen, und wenn zuweilen deutsch geschrieben wurde; so war es barbarisches Deutsch. Der damalige Fürst, aus dem Hause Fugger, der wohlthätigste Herr und eifrigste Freund und [82] Beschüzer von jeder Art der Gelehrsamkeit. – Er ist nun heimgegangen der gottselige Fürst, den großen Lohn zu empfahen – beschenkte mich nicht nur großmüthig, sondern versprach mir auch Beförderung bei der nächsten Gelegenheit. Aber Gott, der mein Leben auch im Sturme lenkte, hatte es anders beschlossen. Ich war kaum zu Hauße angelangt, als ich den Ruf zum Präzeptorate und Organisten in Geißlingen erhielt. So wenig mir Ort und Stelle anfangs gefallen wollten, und so klein und nothdürftig der mir ausgemachte Gehalt war: so nahm ich doch die Stelle an, um meinen Eltern vom Brode zu kommen. Ich nahm also meinen Abschied in Aalen, wurd' allgemein beklagt, und reißte mit dem schwersten Herzen nach Geißlingen – denn ich hinterließ nebst so vielen theuren Freunden, auch ein Mädchen, das mich aufs zärtlichste liebte, und welche ihre Eltern, die sehr wohlhabend waren, nicht aus den Augen lassen wollten. Sie ist hernach durch eine sonderbare Schikung die Gattin meines Bruders geworden, und kürzlich [83] in ihrem Blüthenalter gestorben. Ein Roßmarinstengel auf dein Grab, Katharine, von deinem dir so lieben Schubart – und dann gute Nacht bis aufs Wiedersehen! Nach ausgestandener Prüfung in Ulm trat' ich also mein Amt an, voll Widerwillen, und mehr als einmal entschlossen, mich in die weite Welt hineinzuwerfen, und von ihr die Entscheidung meines Glüks zu erwarten. So wenig wußt' ich damals, daß unter allen Geschäften des Lebens kaum eines edler und verdienstvoller ist, als das Geschäft eines würdigen Schulmannes; – die Welt mag ihm einen noch so niedrigen Rang und schlechten Gehalt anweisen. – Fühlt er nur die Würde seines Amtes vor Gott; so ist er geehrt und belohnt genug. Oft hab' ich schon gedacht: ihr guten Schulleute habt schlechten Weltsold, damit euch Gott im Himmel an seinem großen Lohne nichts abrechnen darf. Aber ich wilder Mensch war damals nicht fähig, eine so ruhige Betrachtung anzustellen.

[84]
11. Period
Elfter Period.

Geißlingen liegt in einem fruchtbaren Thale, von felsichten Bergen gegürtet, hat Gesundbäder, herrliche Gegenden, Wiesen, Gärten, wohlfeile Lebensmittel, und beinah alles, womit der genügsame Weltbürger seine Pilgerhütte schmüken kann. Das erste Ansehen dieser Stadt fällt dem fühlenden Wanderer sonderbar auf. Die Berge und Felsen, die auf die Häuser zu stürzen drohen; die Trümmer der alten gräflich Geisselsteinischen Burg; der Heidenthurm, ernst und feierlich an der Bergspize stehend; – alles diß ist so romantisch, daß der Sänger eines Ariost-Wielandischen Gedicht, eine der mahlerischesten und poetischesten Szenen hieher verlegen könnte. Die Bewohner dieses Städtchens haben für den, der eben aus der weiten Welt dahin kommt, ein verdrüßlich steifes Ansehen. Sie gleichen beinahe den verzeichneten [85] elfenbeinernen Figuren, die ihre Drechsler auf Kästen und Toiletten machen. So wie man auch dem großen Albrecht Dürer nachsagt, daß er seine Figuren von den alten, ehrwürdigen steifen Nürnberger Bürgern geborgt habe. Doch bei genauer Untersuchung, entdekt man bald eine Gruppe biederer, redseliger Menschen, von altschwäbischem Zuschnitte, die aus den heroischen Zeiten der Grafen von Helfenstein und Geisselstein, die beede hier weiland ihr Felsennest hatten, noch manche Miene erhalten haben. Auch findet man hier Fleiß und erfindrischen Geist, wovon der Leztere nur zu sehr mit Kleinigkeiten spielt. Indessen werden sie gewiß aufhören, Kirschenkerne zu bevölkern und Flohkutschen zu machen, so bald sie der kindische Fremde nicht mehr kauft. Der Ulmische Obervogt, damals ein Herr von Baldinger, war ein Mann von Lebensart, reicher Erfahrung, schönen Kenntnissen, und dem edelsten Herzen, der hier nicht als Bassa haußte, sondern wie ein zärtlicher Vater unter seinen Kindern lebte. Meine Schule, [86] der ich vorgesezt wurde, sah einem Stalle ähnlicher, als einem Erziehungshause für Christenkinder. 1 Ueber hundert Schüler, roh und wild, wie unbändige Stiere, wurden mir auf die Seele gebunden. Ich erschrak mehr über das Unangenehme meines Amts als über die Schwere meiner Pflicht. Bökh, mein treuer Schwager gab mir manche Lehre des weisen Unterrichts, die ich auch anfangs mit augenscheinlichen Nuzen, troz aller Hindernisse des grauen Vorurtheils, befolgte. Baldinger unterstüzte jeden guten Entwurf, den ich machte, mit seinem Ansehen, und ich erzog in kurzer Zeit einige sehr fähige Schüler, die theils auf die oberste Klasse des Ulmischen Gymnasiums kamen, theils aber auch zu andern bürgerlichen Geschäften bestimmt wurden, noch leben, und mich durch ihren Dank für meinen Eifer belohnen. Ich trieb die Erdbeschreibung, Geschichte, Naturlehre, – versteht sich alles in [87] seinen ersten Anfängen – nebst der griechischen und lateinischen Sprache, sonderlich Kalligrafie, Rechtschreibkunst und Wissenschaft des Briefstellens mit meinen Schulern unter dem schönsten Erfolge. Ich hielt kleine Rednerübungen, Gespräche in dramatischer Form, gieng mit einigen meiner ältesten Schüler öfters ins Feld hinaus, sah ihren gymnastischen Uebungen zu, und gewann gar bald ihr und ihrer Eltern Zutrauen. Nur beklag' ich es erst jezo, daß mir mehr daran gelegen war, geschikte Bürger für diese Welt, als Genossen der künftigen zu erziehen. Daher war mein Unterricht in der Religion kalt und unvollständig. – O wann wird sich einmal nach dem Wunsche eines frommen Lehrers, statt so vieler Athene, Akademien, Filantropine, ein christliches Zion erheben! Wann werden es die Regenten, die Pädagogarchen bedenken, daß sie nicht Heiden, sondern Christen zu erziehen haben! – Mein Musikchor, dem ich vorgesezt wurde, bestand aus einigen zwar nicht unbrauchbaren alten Bürgern, aber zu meinem Stil waren sie nicht mehr [88] zu gewöhnen. 2 Ich behalf mich daher mit einigen von mir gebildeten Schülern, so gut als ich konnte, die daselbst die Musik fortpflanzten; wiewohl der kümmerliche Lohn die Musik daselbst nie recht gedeihen lassen wird. Neben meinem beschwerlichen Amte – denn ich hatte täglich neun Stunden Unterricht zu geben – übt' ich mich auch im Predigen, so wol in Geißlingen, als auf den benachbarten. Dörfern. Sonderlich mußt' ich in Kuchen, eine Stunde von Geißlingen, zwei Jahre beinahe beständig des dasigen kranken Pfarrers Stelle vertretten, welches ich, wie ich hoffe, nicht ohne Segen gethan habe. In Eibach, wo ich auch einigemal predigte, lernt' ich an dem Grafen von Degenfeld einen wahrhaftig edlen Mann, und an seiner Gemahlin, einer Baronessin von Riedesel eine Dame von vielem Geschmak, ausgezeitigtem [89] Urtheile, und einer Geisteshoheit kennen, wovon ich noch kein lebendes Beispiel sah. – Meine Pflicht erfordert' es auf den Gottesäkern, bei Leichen der Kinder und Erwachsenen öfters zu parentiren, welches mir meist so gut gelang, daß ich mir den allgemeinsten und lautesten Beifall zuzog. Und gewiß, keine Kanzel, kein Rednerstuhl, kein Altar ist so geschikt den Zuhörern die höchstwichtigsten Wahrheiten mit Nachdruk ins Herz zu sprechen, als ein Grab. Nie stund ich auf einem Todtenhügel, ohne im Innersten das traurige Loos der Sterblichkeit zu fühlen; und mit solchen Empfindungen gelang es mir meistens, meine Zuhörer zu rühren. Nur Schade, daß man dis wichtige Geschäft im Ulmischen nicht selten unwissenden und gabenlosen Schulmeistern überläßt, die aus einem abgeschmakten Buche ihre Grabreden stehlen, oder die von ihren Vorfahren geerbten elenden Sermonen mit einem Zusaze eignen Unsinns auftischen, und sie ohne Gefuhl, zum Ekel ihrer Zuhörer monotonisch vom Pappier lesen. – Alle diese Geschäfte entfremdeter [90] mich doch so wenig von den Wissenschaften, daß ich in meinem Leben nie fleißiger studierte, als in Geißlingen. Wo ich gieng, und stand und saß, und wandelte; da begleitete mich ein gutes Buch. Ich fieng nun an die Wissenschaften sistemmässig zu studieren, und las deswegen das Gute der alten und jüngern Welt. Der Lesegeist bemeisterte sich meiner Seele so, daß ich alles ohne Wahl und Ordnung verschlang, wie mirs unter die Hände fiel. – Nur Leibnize sind fähig, so tumultuarisch zu lesen, ohne sich zu verwirren; aber Leuten von gemeinem Schlage ist nichts schädlicher als diese stürmische Methode. Die Seele wird mit allen ihren Fähigkeiten so lange im Kreiße herumgejagt, bis sie betäubt und schwindlend niederstürzt und entsschlummert. Dann nichts zeugt grössern Schlummer, als Uebertreibung und Unordnung. Meine Lieblinge, die ich fast niemals weglegte, waren Klopstok, Bodmer, Ossian, Shakespear, Geßner, Young, Gerstenberg, Gleim als Grenadier, Uz und Karschin; die übrigen Dichter las ich wohl alle, aber sie würkten nicht[91] so allgewaltig auf mich, wie die genannten. Unter den Alten las ich Homer, Virgil, Lukan und Horaz am fleissigsten – aber je vertrauter ich mit den Griechen wurde, je mehr schien es mir, daß die Anhänger an Laziums Muse, nach Klopstoks Ausdruk, das Ey wählten, und die Henne fliegen liessen. Winkelmann, Mendelssohn, Lessing, Kloz, Herder, Hume, Flögel, Abbt, waren meine Prosenmuster und die Kunstrichter, die ich allen andern weit vorzog. Doch vergaß ich nicht den Aristoteles, Cicero, Quintilian damit zu verbinden, und immer freute es mich, wenn ich auf die Quelle kam, aus der gedachte Kunstrichter schöpften. Ich las die besten Schriften der Kunstrichter mit Vergnügen und Nuzen, hatte aber nicht Stärke genug, sie zu wannen, und den häufigen Spreu von der reinen Frucht zu sondern. Als ich anfieng, den Plato und Aristoteles zu studieren; so nahm meine Ekstase für die Neuern in merklichen Graden ab. Das Sublime der Platonischen Filosofie, die sich zuweilen, wie Kleuker bemerkt, zu den Höhen [92] der Christenreligion aufschwingt, der reine Fluß seines Stils, wo man jedes Goldkorn im Grunde sieht, und der richtige scharftreffende kritische Blik des Aristoteles scheint mir noch von wenigen Neuern erreicht worden zu seyn. 3 Wenig alte und neue Kanzelreden blieben von mir ungelesen – ich fand aber, wie unsicher, ja, wie lächerlich es oft sei, sie in kleinen Städten, und auf dem Lande nachzuahmen, wie ich doch zuweilen mit manchem Thoren that 4, daher zog ich meine homiletische Regeln von den Bedürfnissen meiner Zuhörer ab.

Die damals, wie vom Sturme getriebene Schneefloken, die Luft durchkreuzenden pädagogischen [93] Schriften, durchlas ich meistens, von meinem prüfenden Freunde Bökh geleitet, und fand, wie er, daß sich nur weniges auf unsre Schulen in Schwaben anwenden ließ. – Doch brachte diß Wenige schon sehr gute Früchte. 5 – Die ernste Weltweißheit, die damals den kindischen Belletristen zu lieb sich aufzupuzen anfieng, liebt' auch ich im Gewande, das ihr Feder Kant, Mendelssohn, Meiners, Flögel, Riedel und Garve umwarfen, mehr, als in ihrem alten staubichten Mantel.

Tacitus, Thucidides, Xenofon, Hume und Robertson lehrten mich die Geschichte schäzen, und mein Vaterland beklagen, [94] das damals an guten Geschichtschreibern noch so arm war. 6

In der Naturlehre, in fisischer Menschenkenntniß hatt' ich an dem seel. D. Rau 7 zu Geißlingen, einen mündlichen Führer, der mir manchen großen Blik gab. Die schöne Bibliothek und Kupfersammlung des Geißlingischen [95] Obervogts, Herrn von Baldingers, gaben mir Gelegenheit, meine heiße Liebe zu den schönen Künsten einigermassen zu befriedigen. Er selbst hatte viel Geschmak, den er auf seinen Reisen nach Italien und Frankreich ausbildete. Auch hielt sich ein junger Mahler, Namens Schneider, in Geißlingen auf, ein Zögling der Jesuiten, der meinem Urtheile über die Werke der Kunst nach half, und mir einige praktische Anweisung gab. Er hätte, vermöge seines treflichen Genie's, ein großer Künstler werden können, wenn er sich nicht durch die ausgelassenste Liederlichkeit selbst gemordet hätte. Er war Tonkünstler, las die Dichter mit Empfindung, schrieb und sprach gut in mehr als Einer Sprache, erhaschte in seinen Gemälden die Natur oft auf der That, war sonderlich zum Hogarthischen Stile geneigt, versäumte aber die Zeichnung; sein Kolorit war anfangs glühend, stand aber in weniger Zeit ab. – Sonst hatte er große Entwürfe in seiner Seele. Er mahlte einmal in eine Dorfkirche die zwölf Apostel nach dem dritten Gesange des Messias mit ungemein vielem Geiste. Er gieng von Geißlingen nach [96] Ulm, von da unter die kaiserlichen Soldaten, ward losgekauft, in Augsburg sehr unterstüzt – und starb, oder verweßte vielmehr an den Folgen seiner Ausschweifungen noch bei lebendem Leibe, mit Gellerts Moral in der Hand, nachdem er mit schwachem Odem seufzte: – »so sollt' ich gelebt haben!« – Er ernährte seine arme Mutter, und all die Seinen bis in Tod, war barmherzig gegen die Nothleidenden, und wenn er nicht besoffen war, der angenehmste, wizigste und lehrreichste Gesellschafter. – Auch über solche Seelen wird sich Gott erbarmen! Richte nicht, Leser, sei fromm, und lerne warten!! 8

Die ehmalige Freundschaft zu diesem Jünglinge wird diesen Auswuchs in meiner Lebensbeschreibung entschuldigen. Man mißdeutete mir die Freundschaft mit ihm; allein wenn ich Kopf [97] fand; so sah ich über die Sitten weg. – Um diese Zeit schrieb ich einige pindarische Oden, und ließ sie druken, nicht ohne Beifall des Publikums. Die Zaubereien, eine unglükliche Nachahmung Ovids, sind ein schwarzes Denkmal eines verdorbenen, mit seinem Zustande unzufriedenen Herzens. Daher sind sie voller Ausfälle auf Leute, die besser waren, als ich, und voll Murren über meine Situazion, die doch Vorbereitung auf eine bessere war. Wieland, dem ich sie dedizirte, merkte es wohl, und bestrafte mich deswegen im Tone der menschlichen Schonung, der ihm so eigen ist. Mit diesem treflichen Manne, an dem ich die erste Hälfte seines Lebens, wo er so ganz für die Religion Christus glühte, höher schäze, als die zweite, wo dis Feuer für die christliche Religion so merklich erkaltet ist, 9 stund ich einige Zeit [98] in Briefwechsel, und sein Umgang würde sehr vieles zur Auszeitigung meines Geistes beigetragen haben, wenn es mir, nach seinen menschenfreundlichen Gesinnungen gelungen wäre, näher um ihn zu seyn, und mich in seinem Lichte zu wärmen. Im Jahre 1766 besuchte ich meine Eltern, und eine schwere Krankheit führte mich abermals dicht an den Rand des Grabes. Ich ließ mich, so krank ich war, nach Geißlingen bringen, und Gott gefiel es, mir durch den schon gepriesenen Arzt Rau meine Gesundheit wieder zu geben. Diese Genesung, und meine öftere Dienste auf dem Gottesakker, wo ich sehr viele Parentazionen halten mußte, ermunterten mich, Todesgesänge zu schreiben. Ich that es mit meiner gewöhnlichen leidigen Eilfertigkeit, und gab sie 1767 heraus Sie wurden größtentheils gut aufgenommen, zum Theil in Liedersammlungen eingerükt, auch von gemeinen Leuten gelesen, und mehrmalen aufgelegt. Da ich seit diesem einsehen gelernt habe, daß es nicht so leicht sei, ein geistliches Lied zu machen – selbst die wenigen Muster bezeugen es, die wir haben; Luther [99] und Klopstok 10 haben kaum ein paar gute Nachfolger gefunden – so sah ich gar wohl daß meinen Todesgesängen zwei Haupteigenschaften fehlten – Einfalt und Salbung. Auch die sorgfältigste Ausbesserung würde ihnen dieses Verdienst kaum mehr geben können, ohnerachtet ich mir im Kerker oft gewünscht habe, dieses Geschäft unternehmen zu dürfen. 11 Indessen stiftete ich doch mit dieser Arbeit das meiste Gute, und ich hab' also [100] Urfach auch am meisten mit ihr zufrieden zu seyn. Meine kleinen Versuche in der Dichtkunst, und einige prosaische Aufsäze, die ohne Namen in Wochenschriften erschienen, verschafften mir zugleich manche Bekanntschaft mit würdigen Männern. Ich schweige von dem poetischen Lorbeerkranze, womit man mich beehrte, denn diese Art von Ehre ist unter allen die verwelklichste; aber theurer sind mir die edlen Menschen, in deren Gesellschaft mich meine Muse einführte. Es sind theils Ulmische, theils auswärtige Freunde, mit denen ich von dieser Zeit an, beinah einen ununterbrochenen Briefwechsel unterhielt, der interessanter als mein ganzes Leben wäre, wenn ich ihn noch der Welt mittheilen könnte, und nicht durch nachherige fast beständige Wanderungen die meisten Briefe verloren hätte. Auch erhielt' ich um diese Zeit einen Antrag zum Rektorat in Oehringen, der, ich weiß nicht durch welchen Zufall, wieder zerstäubte. So lang ich in diesem Zirkel von Geschäften herumgejagt wurde; so hatt' ich wenig Zeit zu Exkursionen mit der lustigen Brüderschaft. Besuche [101] meiner Eltern, Geschwister, meines trauten Bökh, einiger hofnungsvollen Ulmischen Jünglinge, und sonderlich kleine Spaziergänge nach Altenstadt zu dem damaligen Amtmann Kiderlen, einem Manne von Lißkov's Laune, das Umherklettern auf meinen Bergen, wo ich die Riesentrümmer der altdeutschen Ritter der Geisselsteine, Wöllwarthe, Hochberge, aufsuchte, machten mir die leeren Stunden in Geißlingen zu elisischen Augenblikken. – Wie oft sah' ich vom öden Thurme, den noch Heiden hinthürmten, mit dem Sehrohr hinab ins blühende Thal, von Menschen und Heerden bewimmelt, und theilte meiner Gattin, die sich auf meine Schultern lehnte, die süssen Gefühle mit, so jung und leichtgeschwingt sie aus meiner Brust stiegen. Wie oft wiegt' ich meine Kinder auf dem Knie und sah Unschuld und Freude in ihren Augen schimmern! – Ach, ich verschob' es zu sagen – denn dieser Artikel ist der zärtlichste in meinem ganzen Leben, den ich nicht berühren darf, ohne daß meine ganze Seele drohnt – daß ich schon 1764, kaum als ich [102] in Geißlingen warm wurde, mich mit Helene, einer Tochter des dasigen Oberzoller Bühlers, verheurathete. Sie ist ein Weib geraden und einfältigen Herzens, zur Demuth und Niedrigkeit gewöhnt, häußlich, geschikt zu allen Verrichtungen der Haußmutter; sie liebt nach Grundsäzen, und nicht nach vorüberrauschenden sinnlichen Eindrükken; daher hat ihre Liebe Dauer, und immer gleiche Wärme, sie hatte nie die leichten und blizschnellen Reize der Buhlerin, aber die tiefer liegende Anmuth des treuen Weibes, und der zärtlichen Mutter; sie empfand gleichsam mit dem Verstande, der bei ihr ungemein richtig, scharfblickend, und die beständige Leuchte ihres Lebens war; ihre Leidenschaften lagen tief verstekt, wie angefesselt vom Verstande, wenn sie sich aber zeigten, und an den Fesseln zerrten; so waren sie heftiger, als bei mir selbsten, und sie konnte sich durch nichts, als durchs Gebeth helfen. Ihr Herz war immer zum allgemeinen Wohlwollen gestimmt, dem Mitleiden geöffnet, Bruder und Schwester-Liebe ausgiessend, stark, den Anblik des Elendes auszuhalten, [103] der ihre Lieben traf, und zu einer Mütterlichkeit gebildet, die alle Minuten bereit war, ihr Leben dem Glük ihrer Kinder aufzuopfern. Sie war ihrer vaterländischen Religion einfältig zugethan, liebte die gemeinen redlichen Leute mehr, als die in Weltglanz gekleideten, nach Rang und Ansehen schnappenden Menschen – dabei war sie doch eine Feindin aller Niederträchtigkeit. Eine schwarze Wassersuppe, selbstverdient, und im Kreise ihres Mannes und ihrer Kinder gegessen, war ihr lieber als die Ehre, an der fetten Tafel eines reichen Wollüstlings zu schmarozzen, und Gift mit seinen süssen Weinen einzuschlürfen. Stille, häußliche Seligkeit, ruhiger Besiz eines kleinen, rechtmäßig erworbenen Eigenthums, zuweilen ein goldner Zirkel von ihren Verwandten und Freundinnen um sie her; ihre Kinder versorgt und glüklich zu wissen, und einst mit Gott versöhnt, und des ewigen Wiedersehens gewiß, in den Armen ihres Mannes sterben, das war alles, was sie sich wünschte; alles Uebrige war ihrer genügsamen Seele Ueberfluß und Greuel. Man sieht aus dieser [104] treuen Schilderung, daß sich mein Weib durch ihre Verheurathung nicht glüklich machen konnte. Es war die Verbindung des Sturms mit der Stille, der feurigen Thorheit mit der abgekühlten Vernunft, der Anarchie mit der Ordnung. Ich war viel zu wild, um die Seligkeit des häußlichen Lebens ganz empfinden zu können, und doch kostete ich es in einigen ruhigen Augenblikken so gut, als Giseke, und glaube, daß nach den höhern Geistesfreuden, die aus dem Bewußtseyn unserer Erwählung in Christo und unserer künftigen Seligkeit entspringen, keine Freude dem Vergnügen gleicht, Mann und Vater zu seyn. Mein Weib erfreute mich mit Söhnen und Töchtern, wovon ich einen Sohn und eine Tochter der Welt hinterlassen muß, zwei Söhne und eine Tochter aber hoff' ich bald bei Gott zu finden. Wie bebt mir mein Herz, wenn ich dran denke, wie oft ich mit meinen Kindern im Frühlingsgrase saß, und das süsse Wort Vater gleichsam von ihren Lippen sog! – Ja, eine der höchsten Freuden Gottes muß es seyn, von allen Geschöpfen in Sonnen [105] und auf dem Staube mit jedem Morgen als Vater gepriesen zu werden; daher geht auch der Hauptzwek der christlichen Religion dahin, uns armen Menschen Gott wieder als Vater bekannt zu machen, den wir in diesem Gesichtspunkte fast ganz aus den Augen verloren. – So viele Freuden, die mich umleuchteten, so viele Gelegenheiten, Gutes zu thun, und zum Wohl des Ganzen mitzuwürken, so viel Nachsicht Gottes und seiner edlen Menschen mit meinen Fehlern hätten mich zum dankbarsten Anbeter Gottes und seines Christus machen sollen; aber – o unbegreifliche Blindheit! ich ward's nicht. Ich fieng vielmehr gar zeitig an, an den vornehmsten Religionswarheiten zu zweifeln, die verwegensten Säze der Spötter und Warheitsfeinde mir bekannt zu machen, Gift, das ich einsog, wieder auszusprizzen, und zu glauben, daß man kein wiziger Kopf seyn könne, ohne ein Freigeist zu seyn. Ein Sistem des Unglaubens hatt' ich nie – denn ich hatte in Nichts ein Sistem – aber die Trümmer kannt' ich doch alle, aus denen der Unglaube seinen Pallast [106] erthürmt. Da ich jeden Stoß des Beispiels empfand; so lernt' ich bald von meinen wizigen Favoriten kalt von Gott und göttlichen Dingen sprechen, auf alle Sachen des Geistes verächtlich niederblikken, die Wunder der Schrift als Mährlein verwerfen und die Religion Jesu, nach dem Waidspruche des Freigeistes, für einen Kappzaum des Pöbels zu halten. Ich stieß mich zuerst an der Person Jesu, den ich schon als Kandidat für keinen Gott, sondern für einen Mittler, wie Moses, und für einen frommen Lehrer hielt; doch sezt' ich ihn weit über Sokrates, Konfuzius, Zerduscht, und alle Gesezgeber und Weise hinaus; – und da mir über diese Sache kein näheres Licht aufgieng – denn wie sollte sich der Geist Gottes in einer so trüben Seele spiegeln; – so glaubt' ich vollkommen Recht zu haben, zweifelte weiter, sah nach und nach alle Artikel des Glaubens für verdächtig an, verlor alle Stüzen, und glaubte beinah, das ganze Glük des Menschen besteh' darinnen – frei rasen zu dürfen. Ich betete wenig, oft gar nicht, wurde [107] unruhig, mißvergnügt mit meinem Schiksale, stolz auf mein Talent, ausschweifend in meinen Ergözlichkeiten, öfters nachlässig in meinem Amte, ein Spötter der Geistlichkeit, ein geheimer Hasser des obrigkeitlichen Ansehens, ein Lüstling, der die Mädchen für Blumen ansah, die jeder Schmetterling beflattern darf, ein kühner Beurtheiler der wichtigsten Dinge und Personen – mit einem Wort ein Lasterhafter, der nicht einmal die Kunst verstand, das Leben recht zu gebrauchen; denn da ich der offenherzigste Kerl von der Welt war, so handelt' ich immer viel zu frei, als daß ich nicht allenthalben hätte anrennen sollen. Mein Schwiegervater, ein weiser abgekühlter Albert, Gott und der Welt weit nüzlicher, als zehen wilde Werther, die gleich dem Waldstrom die Beete der Ordnung und Weißheit verschwemmen, warnte mich oft, von den Thränen meiner Gattin unterstüzt. Aber mein Schaden lag schon zu tief, als daß ihn kühler Rath, und Weiberthränen hätten heilen können. – Zu meinem Unglük fiel ich, wie durch ein gerechtes [108] Gericht, auf den Gedanken, Geißlingen zu verlassen, und einen Ort aufzusuchen, wo mehr Welt, mehr Freiheit, mehr Weite und Breite zum Austoben war. Ich besuchte nebst meiner Frau meinen Schwager in Eßlingen, und reißte in seiner Gesellschaft nach Ludwigsburg, um die neue Oper Fetonte, am Geburtstage des Herzogs, aufführen zu sehen. Man stelle sich einen so feuerfangenden Menschen vor, als ich war, dessen Haupthang die schönen Künste, sonderlich die Tonkunst gewesen, und der noch nie ein trefliches Orchester gehört, noch nie eine Oper gesehen hatte, diesen Menschen stelle man sich vor – wie er schwimmt in tausendfachen Wonnen, indem er hier den Triumf der Dichtkunst, 12 Mahlerei, Tonkunst und Mimik vor sich sah.

Jomelli stund noch an der Spizze des gebildetsten Orchesters in der Welt, Aprili sang, und Bonani und Cesari. Der Geist der Musik war groß und himmelhebend, und [109] wurde so ausgedrükt, als wäre jeder Tonkünstler eine Nerve von Jomelli. Tanz, Dekorazion, Flugwerk, alles war im kühnsten, neusten, besten Stile – und nun gute Nacht Geißlingen mit deiner Einfalt, deinen Bergen, deiner Armut, deiner Geschmaklosigkeit, deinem Kirchhof und deinem Schulkerker!! – Mit diesem festen Entschlusse reißt' ich nach Geißlingen zurük, das ich nun viel düstrer, als jemals kolorirt fand. Wahr ists, daß der Schulstaub anfieng meiner Gesundheit zu schaden. Ich sah immer blaß, bekam oft heftige Schwindel, und warf Blut aus. Da ich aber von Ellwang aus erst kürzlich wieder neue Versicherungen wegen meiner Versorgung erhielt; so wär' es mir, und den Meinigen zuträglicher gewesen, wenn ich mein weiteres Glük in Geißlingen abgewartet hätte, als daß ich mich auf einen Eißboden hinwagen wollte, aus dem ein Mensch, wie ich, nothwendig Hals und Bein brechen muste. – Das zähe Leben des alten Schulmeisters, dem ich seinen Unterhalt verdienen muste, war also nicht die Ursache meines [110] Widerwillens in Geißlingen – Liebe zur Veränderlichkeit und zum freien Genuß des Lebens war es allein. Bei allen meinen Fehlern hatt' ich doch in Geißlingen ungemein viel Freunde Man schäzte meine Gaben, man belohnte sie nach den Kräften der Innwohner, man entschuldigte mich im Tone des altdeutschen Gutmeinens: »'s ist eben 'n junger Mann! Last 'n gehen! 's wird ihm schon kommen!« – O ihr Lieben, lohn's euch der Herr, was ihr mir und den Meinigen Gutes thatet! Mein Herz klopft euch die wärmsten Wünsche zu! Bleibt auf dem Wege der Einfalt im Glauben und Leben, so seyd ihr glüklich, schon hier durch die selige Verborgenheit, die euch vor der Welt unbeflekt erhält, – und dort im Reiche des Mittlers, wo ihr dem Throne des Herrschers der Liebe gegen über stehen werdet! – Die Gelegenheit für meinen Schwindelgeist ereignete sich bald. Man suchte in Ludwigsburg einen Organisten und Musikdirektor, und durch Professor Haugs Bemühungen erhielt' ich diese Stelle, nicht ohne heissen Kampf, aus welchem [111] ich hätte sehen können, daß solche Veränderung gegen den Plan Gottes mit mir war. Das leztemal predigte ich auf dem Baron von Holzischen Dorfe Bartholomäi, mit solcher Rührung und Wehmut, als wenn ich es gewußt hätte, daß ich von nun an die Kanzel nicht weiter betretten sollte. Thörichter Tausch von mir! Was ist der Ruhm des ersten Tonkünstlers gegen den Segen, den ein guter Prediger, ein Volkslehrer zu stiften vermag!! Professor Haug hatte die menschenfreundlichste Absichten mit mir; er wollte mich auf einen Posten stellen, von dem ich meine Gaben könnte leuchten lassen, und dadurch den Grund einer ehrenvollen und dauerhaften Versorgung legen. Aber er kannte mich nicht, und glaubte, es würd' ihm leicht seyn, mich durch sein Beispiel die Kunst Thialfs zu lehren, das heißt auf Schlittschuhen zu fahren, wo Glatteiß ist. Meine Blutsfreunde hingegen, die mich besser kannten, schüttelten alle die Köpfe, und mein Bruder Jakob, der bald darauf starb – – ach die einfältigste, redlichste Menschenseele, [112] die je einen Körper belebte – besuchte mich, nahm weinend von mir Abschied, und sagte: »Bruder, dich hab' ich verloren! – o daß ich nicht Abadonna's Klage weinen müsse:


Abdiel, mein Bruder, ist mir aus ewig gestorben.«


Sein keuchender Ton und sein blasses Angesicht war der Ausdruk und die ganze tiefe Deutung dieser Wehklage. Auch durch einen höchstbedeutenden Traum, 13 dessen Wahrheit sich bis in meinen Kerker erstrekte, wollte mich Gott von meinem Vorhaben zurükschreken. In der Neujahrsnacht 1769. sah' ich im Traum Feuer im Sakristei zu Geißlingen auflodern, ich wollt' es löschen, und die Flamme sengte mich – Erschrokken floh' ich ins Feld, eine Wüste öfnete sich mir; [113] ich verwilderte darinnen, von Scheusalen umtanzt, umheult, umzischt; Nacht und Finsterniß floß immer diker und schreklicher auf meinen Pfad herunter; – ein Bliz, der plözlich die ganze scheußliche Gegend erleuchtete, wieß mir nun die gähnende greuliche Kluft, an der ich schwindelte. Ich schrie, eine starke Hand grief nach mir, und stellte mich auf einen Berg, der ganz mit Asche bedekt war. Ich watete durch die Asche in einen Thurm, wo ein ganzes Heer von Männern in schwarzen Kutten mich hohnnekkend bewillkommte. Ein kleiner freundlicher Mann, war mir hier noch allein zum Troste – er vertrieb die Kutten, nachdem sie mich lange mit den grossen Nägeln ihrer Hände bis auf den Tod gezwikt hatten, und führte mich auf eine grosse Wiese, wo ich nach langen Qualen Ruhe fand. – Die Deutung dieses Traums begann alsobald, enträthselte sich immer mehr, und erst jezt seh' ich seine volle Entwiklung mit Erstaunen. – O Seele, welche Tiefen liegen in dir, und wie wenig kennt man dich, wenn man statt der Schrift, die auch hier die sicherste Leiterin [114] ist, einen kalten, kurzsichtigen, nachlallenden, unglaubigen Psichologen zum Lehrer wählt. Jede Menschenseele scheint einen Genius, oder eine ihr angeschaffene Kraft zu haben, die ihr die grösten und wichtigsten Begebenheiten ihres Lebens zuweilen in Träumen vorzeichnet, oder die Zeitigung und Annäherung dieser Begebenheiten durch Ahndungen fühlbar macht. Ich und meine Gattin haben das eine, wie das andere mehrmalen erfahren, ob ich mich gleich als ein wizziger Dümmling über alle diese Misterien in dithirambischen Sprüngen wegsezte. – Auch lernt' ich einen Jesuiten aus Rom kennen, der im Begriff war, zur protestantischen Religion überzutretten; dieser machte mir einige Lekzionen vor, aus denen ich mit Schrekken sah, daß die Magie kein bloses Fantom sey, wie ich bisher mit meinen Modezweiflern wähnte. 14 Mit Einem Wort, ich [115] habe mehr als einmal erfahren müssen, um welche grosse Einsichten in die Seele des Menschen, wie in die ganze Natur wir uns dadurch bringen, wenn wir uns dem übertrieben Skeptizismus unsrer Zeitgenossen Preiß geben. – Mein trauriger Abschied von Geißlingen näherte sich nun, Weib und Kinder hatten mich verlassen, und sich zu meinem Schwiegervater begeben; ich hielt mich also bei einem mir sehr ergebenen Geißlinger Burger auf, und dachte ohne Abschied mich wegzustehlen. Die Nacht aber vor meiner Abreise kam meine Gattin über mein Bette, fiel mit [116] lautem Schluchzen auf mich hin, und konnte vor Schmerz nicht reden, weil sie glaubte, mir den ewigen Abschiedskuß geben zu müssen. Den andern Tag kam sie in meine Wohnung, fiel vor mir auf die Knie nieder, und bat mich mit aufgehobenen Händen: »o Mann, ich bitte dich, werd' ein Christ!« Nie, selbst im diksten Gedränge der Welt konnt' ich dis knieende Bild und den Ton der flehenden Zärtlichkeit vergessen, und o wie freut es mich, meine Liebe! daß dein Flehen vor Gott erhört ist – denn Gott hat mich dem stechenden Zweifel entrissen, ich weiß, an wen ich glaube! ich bin ein Christ! –

Unter tausend Thränen, durch den langen Reihen meiner lieben Schüler hindurch, von vielen beschenkt, und allen gesegnet, und mit schwerem Herzen fuhr' ich von Geißlingen ab – so in Gedanken versenkt, daß ich mit meinen Reisegefährten kaum ein paar trokne Worte wechselte, ohnerachtet ich sonst ein sehr heitrer, wizziger und redseliger Gesellschafter war – und kam 1768. im Herbst zu Ludwigsburg an. Meine Frau, von ihrer Liebe zu mir gelenkt, schrieb mir bald, [117] und bat mich, sie und ihre Kinder abzuholen. Ich that es, söhnte mich mit meinem redlichen Schwiegervater aus, und nachdem ich aufs neue ein ansehnliches Geschenk von dem Fürst Bischof zu Ellwangen erhielt; so zog ich mit Weib und Kindern nach Ludwigsburg – auch auf dieser Reise in düstre Ahndungen versenkt, ob ich gleich den bekannten Romanenschreiber Korn, und einen ungemeinen lichten und wizzigen Fremdling zu Gefährten hatte.

Nachklang.

Geißlingen, ein durch seine Künstler im Beindrechseln, sonst weitberühmter Ort, versinkt allmählig in traurige, dumpfe Armuth. Ein Nahrungszweig verdorrt nach dem andern, und die Drechslerkunst, die daselbst groß anfieng, beschäftiget sich jezt blos mit Spielwerk für den Hof des Kaisers in Liliput, womit sich die Drehermädchen den durchreisenden Fremden aufdringen. Viele Inwohner verlassen den Ort ganz und gar, und siedeln sich in Polen, [118] oder Ungarn an. Traurige Folgen von der mangelhaften Regierungsverfassung der meisten deutschen Reichsstädte, die das heilige Wort frei mit Unrecht an ihrer Stirne tragen.

Fußnoten

1 Man hat nach diesem hierinnen manche gute Veränderung getroffen.

2 Die Geißlinger haben schöne Anlagen zur Musik; man findet da viel ungemein helle weibliche Stimmen und Instrumentenspieler unter den Bürgern. Der berühmte Waldhornist Nisle und der gute Orgelspieler Sirt in Straßburg sind Geißlinger.

3 Jacobi, der Weltweise, ist mehr der Plato der Deutschen, als Mendelssohn; denn sein Sistem ist erhabener; und Kant übertrift den Aristoteles – wohl nicht an Weite der Kenntnisse, doch gewiß an Tiefsinn.

4 So hört' ich einmal einen Dorfprediger bei der Leiche seines Edelmanns, der als Hauptmann beim Kreiß ein paar Feldzüge mitmachte, Fleschier's Lobrede auf den grosen Turenne, auf diesen unbedeutenden Kreißhauptmann in der Parentazion anwenden.

5 Die Schulen in Schwaben nehmen, unter den Protestanten, wie unter den Katholiken, eine immer günstigere Gestalt an. Würtemberg könnte hierinnen das Muster für die meisten deutschen Provinzen geben. Auch im Durlachischen hat der weise Marggraf, so wie der Kaiser in seinen schwäbischen Landen, trefli che Schulanstalten gemacht. Nur die Reichsstädte, sonderlich die kleinern, bleiben hierinnen, wie in jeder guten Anstalt, aus leicht begreiflichen Ursachen, merklich zurüke.

6 Es hat wohl seitdem einen Schmid, Risbek, Mitbiller, Posselt, Spittler – und sonderlich einen Müller bekommen; doch fehlt es noch viel, uns mit den großen Alten und den besten Ausländern vergleichen zu können. Wo ist unser Xenofon, unser Livius, unser Gibbon, unser Barthelemy? Wie weit sind wir noch in der Biografie zurüke? – Die Brodschreiberei der Deutschen, die kalte Gleichgültigkeit, womit wir – sonderlich das heimische Große betrachten, das vernachläsigte Studium der Alten und die immer stärker werdende Neigung des Publikums zu täudlenden, frivolen, Geist und Herz entkräftenden Schriften – verscheucht die ernste, keusche Geschichtsmuse.

7 Dieser Rau war Stadtarzt in Geißlingen, ein Mann von hellem Auge, freiem Umblik' im Gebiete der Warheit und einer der treflichsten Aerzte. Er hat nichts, als einen kleinen Traktat über die medizinische Polizeiordnung geschrieben; ob ihn gleich Kopf und Kenntniß zu einem treflichen Schriftsteller qualifizirt hätten.

8 Schneider ließ anonymische Bemerkungen über die Mahlerei druken, die wohl den guten Kopf verriethen, aber voll unreifer, eigensinniger Säze sind. So hatte er z.B. immer etwas gegen Winkelmann, blos weil er glaubte, nur ein Künstler von Profession dürfe über Kunstsachen schreiben.

9 Bodmer nannte Wielanden einen gefallenen Engel. Der große Prälat Oettinger – auf der Welt nennen ihn Wenige so; aber ich weiß gewiß, die Geister des Himmels stimmen mir bei – sagte bei Lesung des Agathon und goldnen Spiegels mehrmalen: »o wenn dieser Mann so für's Christenthum schriebe!«

10 Die Gellert'schen Lieder, deren Segen gewiß dauernd bleiben wird, sind doch zu moralisch; die übrigen Liederdichter, den einzigen Cramer ausgenommen, machen zwar oft schöne Verse, sind aber ohne Salbung, ohne tiefen christlichen Sinn. Wer ein Gesangbuch herausgeben will, muß nicht nur Dichter, nicht nur Theolog – er muß Theosof, ein Gottesweiser seyn; muß die Kraft Jesu selbst in seiner Seele erfahren haben. Wie viel gefrorne Dogmatiker und Neotheologen sammlen jezt Lieder, verstümmeln die alten und mischen die besten neuen, z.B. die Klopstokkischen, mit dem Wasser ihrer sogenannten Verbesserungen! – Doch über diese ernsthafte Sache werd' ich mich an einem andern Orte weitläufig erklären, weil es leider! bisher kein Andrer gethan hat.

11 Ich habe daher nur wenige in meine neueste Gedichtsammlung aufgenommen.

12 Triumf der Dichterkunst eben nicht; denn Fetonte ist unter den Werken des Metastasio ein's der seichtesten, geistlosesten.

13 Καὶ γάρ τ ᾽ὄναρ ἐκ διὸς ἐσιν, auch Träume kommen zuweilen von Gott, sagt Vater Homer. Es liegt eine Prophetie, vis divinandi, nennt sie Cicero, in unserer Seele, die sich zuweilen wachend in Ahndungen, schlafend in Träumen zeigt. Wo ist der Mensch, der diß nicht erfahren hat?

14 Obgleich der Vertrug und die Täuschung in unsern Tagen abscheulich ist; so bin ich doch fest überzeugt, man nenne mich Schwärmer oder nicht, das es gewisse geheime Künste gebe, die, den Mißbrauch zu verhuten, Gott nur einer kleinen Menschenzahl aufgedekt hat. Welche simpathetische Wunder hab' ich schon mit Augen angesehen! – Wer alles verläugnet, was gegen sein Sistem ist, erhält endlich eine gar kärgliche Summe von Realitäten. Wer hätte, je geglaubt, daß man in der Luft segeln könne, und doch haben es Montgolfier und Blanchard gethan. Es werden noch Dinge endekt werden, die bis jezt noch in keines Menschen Sinn kamen. O der Zweifelgeist, oder vielmehr der kalte Geist des Unglaubens läßt gar vieles nicht aufkommen, was da ist, was die Summe unserer Kenntisse um ein Groses bereichern, und der Schlüssel zu manchem Naturgeheimnisse seyn würde.

12. Period
Zwölfter Period.

Ist es nicht Unverschämtheit, daß ich ein Leben wiederhole, und dem Leser vorzeichne, das man lieber, wo möglich in dikke Schatten hüllen sollte? Das dacht' ich anfangs auch, aber der Gedanke hieß mich fortfahren: Wenn mein Beispiel einen einzigen Jüngling der Unordnung und Irre entreißt, und einen andern ermuntert, meine gemachten Fehler zu vermeiden; so hab' ich ein gutes Wirk gethan, und ich achte nicht die Herzstösse, und selbst die Schmach, die mir die Wiederholung meiner Lebensauftritte schon gegenwärtig zuzieht, und noch nach meinem Tode zuziehen könnte. Wirkliche Beispiele müssen doch mehr würken, als die Zeichnungen in Romanen, von welchen alle Welt weiß, daß sie Fiktion sind. Es ist in der That ein Urtheil, das uns wenig Ehre macht, wenn wir gewisse Anekdoten in Lebensbeschreibungen klein, und unwichtig nennen, die wir doch in Romanen so gerne lesen. Man [120] Man macht daher die Biografen, sonderlich die Autobiografen so furchtsam, daß sie oft diejenige Umstände unterdrükken, die den Helden just am meisten heben, und ihm so zu sagen seine Selbstheit geben würden. 1 Da ich mich in meinem Leben über so vieles hinweggesezt habe; so will ich auch diesesmal den Stab ansezzen, und über Bedenklichkeiten dieser Art wegspringen.

Ich wurd' in Ludwigsburg sehr wohl aufgenommen, weil ich demjenigen Begriffe entsprach, den man sich von meiner musikalischen Geschiklichkeit machte. Haug, der damals in Ludwigsburg lebte, und ein paar vornehme Kavaliers erzog, gab sich viele Mühe, mich in die besten Gesellschaften einzuführen, und mein Talent allenthalben geltend zu machen. Ich legte bald Kragen, schwarzen Rok und Mantel ab, – meine Gattin weinte, als ich es that, – und zog mit dem bordirten Rokke, Dressenhut und Degen den Weltgeist auch äusserlich [121] an, so wie er mich innerlich schon lange besaß. Da die Musik nun meine Hauptbeschäftigung war; so trieb ich sie als ἐργον, als erstes Geschäft, dem ich alle meine litterarischen Kenntnisse unterordnete. Ich suchte mich bald mit den Virtuosen des Hofs, welschen und deutschen bekannt zu machen, ihren Konzerten und Privatübimgen beizuwohnen, ihrem Geiste da und dort ein goldnes Federchen zu entwenden, und in meinen Geist zu verpflanzen; ich studierte den welschen Geschmak, der schon damals statt des ehmaligen altwelschen Herz und Geist stärkenden Geschmaks meist in wollüstigen Honigtropfen zerrann, zwar küzzelte, aber nicht stärkte. Jomelli allein behielt in seinem Sazze noch immer das Grosse, das die ganze Seele füllt, Leidenschaften wekt und sänftigt. Sein Feuer, war für den kalten Theoretiker, ein verzehrendes Feuer, daher waren die damaligen Urtheile einiger gefrornen Kunstrichter über ihn, gleich der Kritik der kalten, rozzigen Schnekke über den Sonnenflug des Adlers. Man mußte eignes, unverdorbnes Gefühl des Schönen [122] und Grossen haben, und Jomelli's Feuergeburten, in Ludwigsburg, Mannheim oder Neapel aufführen hören, um ein treffendes Urtheil darüber zu fällen. Nichts war lächerlicher, als einen Jomelli auf der Wage des Beispiels abwägen wollen, seine Partituren zu durchsuchen, und mit der kritischen Nadel einige Fehler, wie Hirschkörner herauszustechen. Fürs Theater ist gewiß noch kaum ein grösserer Mann aufgetretten. Hasse war so groß, als er, einfacher, aber sangbarer, länger würkend – und unstrittig übertraf ihn Gluk, der Sonnenflieger ganz. 2 Er studierte seinen Dichter, verbesserte ihn oft, wie diß bei Verazi oft sonderliches Bedürfniß war; kannte die Sänger, das Orchester, die Hörer mit ihren [123] Launen, selbst den Ort, wo er seine Opern aufführte, nach den Würkungen des Schalls, und schmolz sie durch die genausten Verabredungen mit Maschinist, Dekorator und Balletmeister in ein grosses Ganzes zusammen, das des kältesten Hörers Herz und Geist erschütterte und himmelan lüpfte. Im Kirchenstile war dieser grosse Mann minder glüklich. Seine Messen sind nebst dem Mangel am kirchlichen Pathos, mit offenbaren Verstössen gegen die Harmonie beflekt. Doch gehört sein berühmtes Requiem 3 unter die ersten Meisterstükke dieser Art. Wer es aufführen hörte, beehrte den Meister mit dem Beifalle der süssesten Thränen. Auch hat er in seinem 51. Psalm gezeigt, was er in dieser Schreibart hätte liefern können, wenn er sich ihr hätte ganz weihen dürfen. Seine Sinfonien, die nach ihrer Absicht Eröfnungen [124] eines grossen, feierlichen Schauplazzes, und nicht selten Embrionen waren, in welche die ganze Oper eingewikkelt war, haben manches schiefe Urtheil über Jomelli veranlaßt. Man wollte Ouvertüre zu Privatsinfonien machen, oder einen Strohm in kleine Konzertsäle leiten, und eine Katarakte zwingen, wie Lustwasser zu plätschern. Noch diese Stunde kreuzigen sich unsre Schulmeister und Zinkenisten bei feierlichen Anlässen mit Jomellischen Sinfonien; sie rasseln und poltern mit Tischen und Stühlen und Bänken, um nur das Sturmgetöse seines Crescendo herauszuwürgen. – – –

Unter den Sängern und Sängerinnen zeichneten sich Aprili, Crassi, Rubinelli, Bonafini, Bonani und Cesari hoch aus. Aprili war vielleicht der gröste Sänger seiner Zeit; Genie und Kunst stand bei ihm in gleichen bewundrungswürdigen Verhältnissen. Sein Vortrag war immer neu, und er wußte eine Kavatine oder Bravourarie mehrmalen mit unbeschreiblichem Genie abzuändern. Er war gar oft Jomelli's Kunstrichter, und [125] Jomelli horchte ihm gerne. 4 Doch hab' ich nie einen Menschen mit dem Gefühl eines d'Ettore singen hören – er starb zu Ludwigsburg, von allen Kunstverständigen und schönen Seelen beklagt.

Und doch klagte Jomelli schon damals über den Verfall des Gesangs. »Meine stürmende Instrumentalbegleitung,« sagte er einstens zu mir, »würde ein grosser Fehler seyn, wenn es nicht meistens Wohlthat für den Zuhörer wäre, das widrige Stimmengekreisch zu übertäuben.« Auch war es ihm unbegreiflich, daß Deutschland, wo er so viel schöne Menschenstimmen fand, doch keine Singschulen habe. 5 So seufzt diese Stunde noch Vogler, Reichart, Hiller, Schwenke, aber [126] man läßt sie seufzen und unsre Kantoren und Vorsänger brüllen.

So stark und geübt das Orchester war: so schien es doch durch seine viele Virtuosen zu leiden. Ein Virtuos ist sehr schwer in die Ufer des Ripienisten zu zwingen, er will immer austretten, und selbst woogen. – Auch hier trift die Wahrheit ein, daß der mittelmäsige Kopf ein viel besserer Theil irgend eines politischen, wissenschaftlichen oder künstlichen Ganzen sey, als ein Genie – denn dis will gebieten, und seinen Naken nicht unter fremde Form beugen. Ein Staat von lauter Genie's hätte lauter Könige und – kein Volk.

Der gröste Virtuos – unter allen mir jemals bekannt gewordenen, der gröste – war Lolli, der starke unerreichbare Geiger.

Ein Deutscher, Namens Spat, den ich nach diesem kennen lernte, und der den Kaltsinn nicht verdient, mit dem das musikalische Publikum von ihm spricht, 6 war der [127] erste, der das Genie Lolli's durch sein Beispiel zu jener Höhe trieb, wo es sich bisher durch eignen Drang und Trieb in Schwung und Glanz erhielt. Kein Känstler hatte jemals meine Seele so ergriffen, wie dieser; ohnerachtet ich ihn immer horte, so war es mir doch immer neu: denn wahre Genie's sind unerschöpflich. – Sein Umgang, Miene, Wort und Handlung waren lauter sprechende Linien seiner Feuerseele. – O ihr sogenannten Kraftmänner, die ihr die Welt durchzieht, und eure nakende Erfindung mit den ausgefallenen Federn irgend eines Paradiesvogels schmükt, lernt einmal, daß es rühmlicher sei, treflicher Ripienist, als Halbvirtuos zu seyn – denn Lolli's sind so selten als Shakespeares!! – Man tadelte an diesem Meister, daß er zu sehr in's komische ausartete; allem sein tiefeinschneidendes Adagio beweißt, daß er ein eben so grosser Meister im ernsten Vortrag war, und daß ihm als Dichter ein Othello, wie die lustigen Weiber zu Windsor gelungen ware.

Unter den grossen Gliedern des Orchesters [128] war mir Deller durch seinen Umgang und Freundschaft am nüzlichsten. Er war gleichsam der Sprecher des grossen Noverre, und gab seinen Balleten, den einzigen in ihrer Art, Ton und Leben. Er sezte auch nachher komische Opern, Kirchenstüke, und eine Menge Instrumentsachen, die bald in allen Gesellschaften nachgeleirt, nachgespielt, nachgepfiffen, und nachgesungen wurden. 7 Sein Saz war leicht, natürlich, gemeinsinnig, und schmeichelte dem Ohre des Kenners und des Liebhabers ungemein. Er war ein Gerstenberg unter den Musikern. Auch die gemeinsten Leute konnten seine Melodien behalten, so glüklich waren sie der Natur abgehorcht. Die deutsche komische Oper hätte bis jezt keinen für sie geschafnern Mann aufzuweisen, als diesen, wenn er sich ihr ganz hatte widmen wollen. Sein Studium waren die Partituren grosser Manner, die er immer in ganzen Stössen vor seinem Bette aufgethürmet [129] hatte, und sie allen gedrukten Anweisungen vorzog. Er komponirte langsam, aber mit tiefer Ueberlegung. Bei mehrerer Tugend hätt' er einer der grösten Männer unseres Vaterlandes werden können. Seinem Umgang und scharfen Urtheile hab' ich das meiste zu danken, was ich von der Musik zu reden und zu schreiben vermag.

Man erlaube mir aus Liebe zu meinem vollendeten Freunde ein Paar Verse beizufügen, womit ich damals mit meinen Busenfreunden Martial und Steinhardt des herrlichen Mannes Freundschaft feirte:


Sage selbst, o Göttin Harmonie,

Was die Wahrheit fordert,

Daß die Flamme des Genie

Ihm im Busen lodert.


Daß er dir und der Natur getreu,

Zaubereien töne,

Daß er in der Mitte sey

Deiner grossen Söhne.


Wenn Jomelli, wie ein Göttersohn,

Dem Gefühl gebietet;

[130]

Wenn Galuppi-Arion

Melodieen wütet.


Und wenn Hasse, wie der Trazier,

In die Goldharf' rauschet,

Daß den grossen Zauberer

Mensch und Thier belauschet;


O so sing's im hohen Sfärenton

Feuriger und schneller,

Nenne deinen vierten Sohn,

Deinen Liebling Deller!


Den dein Arm im mütterlichen Spiel,

Oft melodisch wiegte,

Der sich immer voll Gefühl

Horchend an dich schmiegte.


Der von deinem ewigen Konzert

Mächtiger durchdrungen,

Was er still von dir gehört,

Lauter nachgesungen.


Unter solchen Männern bildete ich meinen Klavierstil und Orgelvortrag aus, indem ich ihnen theils meine eigne Fantasien vorspielte, theils die ihrigen auf mein Instrument trug, und [131] mich in ihren Privatkonzerten und sonderlich in den Opern in der Begleitung festsezte, in welcher mein Freund Seemann Meister war, den hernach sein betrübtes häusliches Schiksal – er war der Ehmann der gepriesenen Sängerin Cesari 8, ins frühe Grab warf. Mein eigentliches Amt war, in der Hauptkirche die Orgel zu spielen, und der Kirchenmusik vorzustehen. Jenes that ich mit allgemeinem Beifall, da ich mir sonderlich Mühe gab, einige Süssigkeiten der Hofmusik auf meine Orgel zu verpflanzen, um dadurch dem verwöhnten Ohre meiner Zuhörer zu schmeicheln. Indessen wußt' ich gar wohl, daß die Natur der Orgel einen ganz andern Vortrag gebietet; Kontrapunkt, Fugenstil, Psalm und Triumfton, Registerkenntnis, und weiser Gebrauch des Pedals, sind dem Organisten, der noch eine stärkere Feuerprobe als Matthesons seine aushalten muß, wichtigere Erfordernisse, als Rondo und Arienmotife mit Flötenzügen, oder mit der entweihten Menschenstimme [132] vorgetragen. Sonderlich soll der Choral immer das Hauptwerk des Organisten bleiben er muß ihn nicht nur kunstmässig, sondern auch nach dem darinnen herrschenden Hauptaffekte, mit Empfindung und Stärke vorzutragen wissen. Andachterwekendes Arioso unter dem heiligen Abendmahle, mit sorgfältiger Auswahl der schiklichsten Register, hohes geflügeltes Allabreve bei'm Ausgang aus der Kirche, klagende durch alle Herznerven wühlende Fantasie an Bußtägen, und lautes Aufjauchzen mit allen Registern an hohen Festtägen – all dies kann man von jedem Organisten fordern, der in einer angesehenen Stadt mit einer guten Orgel den Volksgesang zu begleiten hat. »Willst du der Gemeinde im Gesange vorstehen,« sagt Ambrosius, »so must du erst selbst fühlen, was du singst;« ist auch bei'm Orgelspiel wahr.

Hierinnen sind die Katholiken bei weitem, wenigstens der Zahl nach, unsre Meister, nachdem wir unser grosses Muster, den unsterblichen Sebastian Bach, so weit aus den Augen verlieren, daß es kaum noch einen Menschen [133] giebt, der seine Stüke spielen kann. 9 Die Kirchenmusik war zu meiner Zeit in Ludwigsburg äusserst verdorben; man nahm Jomellische Opernarien, preßte erbärmlich deutsche Texte drunter, und führte sie meist elend auf. Ich gieng daher mit einer gänzlichen Ausrottung dieses Verderbens um, und wollte mir eigne Texte zu Kirchenstükken machen – allein das eingewurzelte Vorurtheil, meine viele Zerstreuungen und zu früher Abzug von Ludwigsburg, hinderten mich an dieser so heilsamen Reform.

Indessen behalf ich mich mit Graun, Telemann, Benda, Bach und andern Kirchenstilisten; und meine Freunde von der Hofmusik halfen mir dazu, daß ich oft eine Kirchenmusik aufführen konnte, wie man sie wohl damals in Deutschland – sonderlich unter den Protestanten selten gehört haben mochte. – Meine immer zunehmende Stärke auf der Orgel, [134] dem Klavier, Flügel, Fortepiano – ich habe sie bei Zeiten sehr sorgfältig von einander unterscheiden lernen – zogen mir die glänzendesten Bekanntschaften zu.

Ich gab den ersten Damen des Hof's, auch einigen Italienern, Unterricht im freien und begleitenden Vortrage, und zog Schüler und Schülerinnen, die es bis zur Meisterschaft brachten.

Auch einige junge Leute haben mir ihre musikalische Bildung und ihr nunmehriges Auskommen und Glük in der Welt gröstentheils zu danken. Alle fremde Virtuosen besuchten mich; sonderlich war mir der Besuch des damals einzigen Doktors der Musik in Europa, Burney, sehr angenehm und lehrreich. Ich bedaurte, daß just dazumal das Orchester mit dem Herzog entfernt war, und suchte ihm die Verrükung seines Hauptzwekes so gut zu ersezzen, als es mir möglich war. Burney wollte deutsche Musik aufsuchen, und die konnt' er in Ludwigsburg ganz und gar nicht finden, denn die dasige Musik war einer der schönsten Aeste vom grossen welschen [135] Stamme abgehauen, und auf schwabischen Grund und Boden verpflanzt. 10 Ich half ihm zu einigem Begriffe von ursprünglich deutschem Tanze, ließ ihm schwäbische Schleifer und Dräher vorgeigen, Nationalgesänge vorsingen, spielte ihm selbst Choräle und Alles vor, wovon ich wußte, daß es mit welschem oder französischem Geschmake nicht kandirt, sondern ächt deutsch war. Aber Burney reißte überhaupt zu geschwind, und urtheilte zu rasch und kühn, auch hatte er zu untiefe Kenntnisse, als daß man von seinen Bemerkungen das Karakteristische der deutschen, welschen und französischen Musik hätte abziehen können.

Ich wunderte mich einst gegen einen Engelländer, daß sein grosses Volk keine eigne musikalische oder auch Malerschule 11 hervorgebracht [136] hätte. – »Dazu sind wir nicht liederlich genug,« antwortete er kalt und kühn. Er hätte recht gehabt, wenn nicht in den neuen Zeiten von den Britten grössere Beispiele der Ausgelassenheit und Liederlichkeit aufgestellt worden waren, als von irgend einem Volk in der Welt. Das Genie ist just am meisten zur Liederlichkeit geneigt. Kurz ich töne Klopstoken nach:


»Wen haben sie, der kühnen Flugs

Wie Händel Zaubereien tönt? –

Das hebt uns über sie!«


Ob ich nun gleich mehr als zuviel aus der Nektarquelle der Tonkunst schöpfte: so ersäuft' ich doch nicht gänzlich meine Liebe zu den Wissenschaften und schönen Künsten. Der Umgang mit Haug, auch mehrerer wissenschaftlichen Männer, erinnerten mich fleißig, daß es noch höhere Reize, als die Tonkunst gebe. Haug war reich an Planen zur Verbreitung des deutschen Geschmaks, an einem Orte, wo Französismuß und Italizismuß jedes vaterländische Gefühl zu verschwemmen drohte. Er [137] hielt Versammlungen in seinem: Hause, wo die vornehmsten Personen, sonderlich vom Soldatenstande, mit den neusten und nüzlichsten deutschen Schriften bekannt werden sollten; machte den Entwurf zu einer Lesegesellschaft; wollte die jungen Kavaliers zu eignen Ausarbeitungen anfeuren, und nahm mich bei der Ausführung dieses so schönen Entwurfs zu seinem Mitgehülfen an. Viel schadete das damals noch tiefgewurzelte Vorurtheil gegen deutsche Art und Kunst, und kindische Vorliebe für das Ausland Inzwischen wurd' es mir doch erlaubt, einigen vornehmen Offiziers Unterricht in den Wissenschaften zu geben, und hernach einer gewissen Anzal Staabs- und Subalternoffiziers öffentliche Vorlesungen über Geschichte und Aesthetik zu halten.

Dieses angenehme Geschäfte brachte mich in die Bekanntschaft vieler würdigen Offiziers, die mir manche süsse Lebensstunde verschafften. Die meisten grossen und würdigen Männer – – ein Bouwinghausen, Nikolai, Wimpfen und mehrere, blühen noch im Schimmer der Gesundheit und der Ehre, die ich damals [138] kennen und schazen lerne. 12 Auch am Hofe hatt' ich Gönner und Freunde; die mich ihrer Gnade und ihres Schuzes würdigt, worunter mir Graf Puttbus, und Baron von Rechberg ewig unvergeßlich sind. Ersterm gab' ich Unterricht im Singen und der Flügelbegleitung. Er war ein Mann von vielem Wiz, Geschmak und Empfindung, hatte nicht nur das Beste in deutscher und französischer Sprache gelesen, sondern schrieb auch in beeden Sprachen ungemein gut; hatte auch keine gemeine poetische Anlage. Seine Geneigtheit zur Satire, die er mündlich und schriftlich bliken ließ, zog ihm manchen bedeutenden Feind zu. Er schien mir viel zu offen und gerade für einen Hofmann zu seyn. Ich brachte bei ihm manche lehrreiche und heitere Stunden zu, er unterstüzte mich thätig;[139] und da mein feuriges Naturel mit dem seinigen in vielen Stüken zu simpathisiren schien: so gab er mir manche aus eigner Erfahrung abgezogene Lehre – »Lieben Sie Gott, und fürchten Sie die Menschen,« pflegte er mir oft zuzurufen, weil er wußte, daß ich Gottes zu sehr vergaß, und die Menschen zu wenig scheute. Ich liebte diesen vortreflichen Mann recht herzlich, und vergoß Thränen über seinen nachherigen Fall; besuchte ihn auch in Eßlingen, und nahm den zärtlichsten Abschied von ihm. Sein Tod hat mich noch im Kerker gerührt. – Laß es seiner Seele wohl gehen, Gott, auch um meinetwillen!! – Mein zweiter Macen oder Pollio war Rechberg, ein Mann von dem richtigsten, durch schöne Erfahrungen aufgeklärten Verstande. Eine aufgefundne Maxime der Wahrheit, die [140] er meist ins Leben verwandelte, schäzte er höher als Gold, und das ganze anstralende Lächeln des Hofes. Schon damals war seine Krankheit die Sättigung; er hatte genug Dunst verschlukt, und schnapte nach Wesen. Daher entfernte er sich mehrmal von Hof, um auf seinem Landgute Bellenberg die freie Gottesluft einzuathmen. Da er mich mit dahin nahm, wo ich einige sehr schöne und fröliche Wochen meines Lebens verlebte; so hatt' ich das Vergnügen – nicht mehr den geschnürten Hofmann, sondern den freien entfesselten edlen Weltbürger in ihm zu finden. Er las gerne, unterhielt sich noch lieber mit Leuten von Einsicht, urtheilte selbst scharf und gesund über alle vorkommende Fälle, war ein Freund der Tonkunst, und suchte mehr sanfte als rauschende Ergözungen. Gegen mich war er sonderlich gnädig; ich habe seine reiche Freigebigkeit bis auf meinen Abschied von Ludwigsburg und noch nach diesem, meist zur gelegenen Zeit empfunden. Der gute Mann privatisirt jezt zu Günzburg; mög' er nun die Ruhe gefunden haben, nach der seine Seele sich sehnte.

[141] Wer zur damaligen Zeit die ganze Herrlichkeit Ludwigsburgs, wie in einem Gukkasten beisammen sehen wollte: der mußte im General Wimpfischen Hause bekannt seyn. Der General war ein Mann von Welt, und einer natürlichen fast grenzenlosen Gefälligkeit. Seine Gemahlin, der ich im Flügel Unterricht ertheilte, war schön, belesen, wizig, und ein Stern in bunten weiblichen Zirkeln; die Frau von Königsek, seiner Schwester, erhielt, wie durch ein Wunder, Einfalt und Herzensgüte mitten unterm blendenden Schimmer der unächten Schönheit und Grösse. Diese beeden Damen, nebst der Frau von Türkheim, einer Meisterin auf dem Flügel, waren meine Schülerinnen, die mir und den Meinigen immer – auch bis jezo noch, hold blieben. Unter den vielen Karakteren, die mir im Wimpfischen Hause aufstiessen, war der Karakter des damaligen französischen Gesandten, Marquis von Clausonet, mir einer der interessantesten. Man sah' in ihm Frankreich im Extrakt. Alles, was seine Nazion liebenswürdig macht, trug er an sich – Artigkeit, Gefälligkeit, [142] zwangloses Wesen, leichten lachenden Wiz, reiche Kenntnisse, gereinigten Geschmak, allgemeines Wohlwollen, vereinigte er mit der Klugheit und Vorsicht des feinsten Staatsmannes. 13

Er begleitete mein Flügelspiel öfters mit der Bratsche, zeigte viel musikalischen Geschmak, und hatte Wohlgefallen an meiner Spielart. – So viel grosse Bekanntschaften, ein solcher lauter Beifall, und diese Gelegenheit des reichsten Verdienstes, konnten mich doch nicht vor weit wichtigern Feinden, und selbst vor dem Mangel, zuweilen sicher stellen. Ich lebte wie ein Italiener, dem man hier fast alles zu gut hielt, verlor mich in den Gesellschaften der Höflinge, Offiziers und Artisten, und sezte dadurch diejenigen aus den Augen, die mein wahres Glük hätten fördern können. Regierungsrath Kerner, die beste, gütigste Seele, und die beeden dasigen Burgermeister, [143] liebten und schäzten mich bei allen meinen Fehlern, in der menschenfreundlichen Erwartung, der Sturm würde sich legen. Da ich mich aber mit dem Spezial Zilling, einem gelehrten, nur für mich zu troknen, allzugrävitätischen Manne, mit dem sich damals meine Grundsäze gewaltig durchkreuzten, durchaus nicht stellen wollte; so wankte bald der Boden, auf dem ich stand.

Es war überhaupt von mir die sträflichste Unklugheit, daß ich mich, aus einem gewiesen innern Widerwillen, nie mit der Geistlichkeit vertragen wollte. Ich bedachte nicht, daß sie fast überall, zum Theil auch in protestantischen Landen, eine furchtbare Kette bilden; man darf nur ein Glied zum Zorne entzünden; so glühen gemeiniglich die übrigen Glieder der grossen Kette alle. Der Haß gegen die Geistlichkeit, der jezt so sichtbar unter den Deutschen einreißt, hat gewiß – Feindschaft gegen die Religion selbst zum Grunde. Laß es seyn, daß faule und dikke Wänste, Lüstlinge, Wucherer, stolze Wichte, Pharisäer, Verfälscher der reinen Lehre, unter den [144] Tausenden dieses Standes sind; laß es aber den Stand selbst nicht entgelten, denn dieser ist von Gott geordnet und der ehrwürdigste unter allen Ständen. Die größten Aufschlüsse in der heiligen Wahrheit, selbst in den Wissenschaften, Sprachen und Künsten, haben wir doch größtentheils den so verachteten Theologen zu danken. Und wie viele sind noch unter ihnen, nach Lehr und Leben apostolisch gesinnt! – Ich selbst kenne Männer voll Salbung und Licht, die die Apostel und Jünger des Herrn mit brüderlicher Freude in ihre Mitte aufgenommen hätten. Ich verdiente also die üblen Folgen, die ich mir durch meine damalige Ungebehrde gegen diesen Stand zuzog. Gegen die Schlechten unter ihnen empört sich mein Herz noch; aber eben so sehr gegen Schurken und Wichte in Galaröken, Rechtsverkehrer, Quaksalber, gefrorne Razionalisten auf Kathedern und am Pulte, und die Menschenverderber aller Art.

Man wird aus der Folge sehen, daß Spezial Zilling, dessen Religionssistem ich jezt selbst bekenne, der unschuldige, und ich meist der schuldige Theil war. Nur hatte er, wie gesagt, [145] eine gewiese beleidigende Gravität, 14 die jeder freien, zum ofnen Umgange gewöhnten Seele auffallen mußte. Auch ließ er nicht selten seinen Hang zur Unverträglichkeit mit allen denen bemerken, die nicht seines Glaubens waren. Dadurch zog er sich freilich manche verschuldete Kritik zu. – Meine Besoldung belief sich damals – denn ich mußte abermals einen alten Mann erhalten helfen – auf etwann 700. fl. und ob ich gleich durch Geschenke des Fürsten für meine Dienste in der Oper, und durch Lektionen in der Tonkunst und den Wissenschaften, auch durch obengenannte Unterstüzungen der Grosen ein reichliches Einkommen hatte, so war es doch für ein Danaidenfaß, wie ich war, weit nicht zureichend. Wenn ich Fülle hatte; so hatte alles um mich her genug; denn Sparsamkeit und weise Haußhaltung waren Tugenden, die ich kaum dem Schalle nach kannte – oft [146] gar verlachte. Mich dünkt, Gott lenke die Wege der Menschen so, daß das mit Künsten der Sinnlichkeit leicht erworbene Gut wieder eben so schnell im Sand zerrinnt, und eigentlich keinen bleibenden Seegen hat; so wie hingegen ein mit Schweiß beträufter Groschen, einem Wechselgroschen gleicht, der so oft man ihn ausgiebt, immer wieder zurükzukommen scheint. Dadurch wird die Gleichheit, die der Menschen falsches Urtheil über das Verdienst so oft zerrüttet, nicht selten wieder hergestellt. –

Wissenschaftliche Ausarbeitungen machte ich unter diesen Zerstreuungen nur wenige. Die für die Lesegesellschaft verfertigte Stüke wurden hernach ins schwabische Magazin eingerukt; Meine Beiträge zur Gellertischen Todenfeier – oder vielmehr Todenfeu er, – denn manches verbrennbare Stük, auf seinem Grab angezündet, ist vor ihm in Asche zerfallen – stehen in seinen Epizedien. Einige im Flug geschriebene Neujahrskomplimente hat Mezler herausgegeben. Die mit Vorreden von mir begleitete Sammlung der kleinen Schriften Klopstoks haben, so sehr sie gegeisselt wurden, [147] doch manches Gute gestiftet, und vielleicht den Dichter selbst veranlaßt, seine herrliche Oden früher herauszugeben. Klopstok wurde durch mich in Ludwigsburg, so wie ehmals im Ulmischen, viel bekannter, als er zuvor war.

Wieland war daselbst beinahe der einzige Deutsche, den Hofleute, Soldaten, Gelehrte und bürgerliche Leser in ihrem Lararium aufstellten. Ich hab' es aber dahin gebracht, daß man auch Klopstok, Bodmer, Denis, Shakespear, Ossian und andere Dichter las, die mir mehr Deutschheit, Kraft und Nerve zu haben schienen, als Wieland. Ich fand aber bald, daß man unsern wollüstigen und ausgearteten Zeitgenossen, vergeblich Geschmak am Grosen und Starken anpreißt. – Laß den Weichling, mit Armen aus Taig geknetet, einen ehernen Bogen spannen, er wird's traun nicht vermögen. Wer gerne mit den Spazen der Venus spielt, erschrikt vor dem bliztragenden Vogel des Donnerers. – Geschmak predigen, ist also eine meist vergebliche Arbeit. Meine vielfache Erfahrung in diesem Stüke hat mich gelehrt, daß gemeine im Dunkel vergrabene Leute, [148] mit geradem, schlichtem Verstande, das wahre Schöne und Erhabene viel leichter und stärker fühlen, als Leute, denen Mode, Wahn und Vorurtheil die Nerven abgespannt hat. Als die Griechen den Homer nicht mehr schmeckten da waren sie siech und bald drauf gar todt. –

Nur um einer Anmerkung willen, muß ich es sagen, daß ich sowohl im Würtembergischen als ausserhalb Landes ein allgemein beliebter Gelegenheitsdichter war, und mir damit manchen wichtigen Verdienst machte. Ich halte nehmlich die Gelegenheitsgedichte, so wie sie noch immer unter uns, sonderlich in protestantischen Ländern im Fluge sind, für eine der eitelsten und unnüzesten menschlichen Beschäftigungen, ja meist für sündliche Entweihungen der Muse. Sind sie gut – und das sind sie selten – so werden sie gar bald mit den schlechten vergessen: sind sie schlecht; was hat der Besungene für Ehre davon, wenn er sich von einem Schneemann besingen läßt? Bei Hochzeiten scheint ein Leiersmann noch am ertraglichsten zu seyn; aber bei Leichen ist er mir meist ganz unausstehlich – ist mir weiter nichts, als ein gereimter [149] oder ungereimter Heiligensprecher nach dem Markttaxe für 5. fl. Warum hebt man nicht einige Anekdoten aus dem Leben des Verstorbenen heraus, erzählt sie in populärer Prose, gibt den Lebenden Ermahnung und Trost, und wünscht dem Todten eine sanfte Ruhe? – O welche lehrreiche, dem ganzen Staate nüzliche Betrachtungen könnte ein weiser, der Sache gewachsener Mann, bei Hochzeiten, Geburtstägen und Leichen anstellen? – Da hingegen die jezigen Gedichte auf solche Fälle, selten mehr als zweideutige Zoten, unverschämte Lügen, und affektirte Todtenklage enthalten.

Ich habe den ganzen Unfug mitgemacht, welches mir Gott verzeihe. 15

Wenn ich all diesen vielseitigen Geschäften, wozu noch der Umgang mit Künstlern von aller Art – Mahlern, Bildhauern, Maschinisten, Gärtnern, Baumeistern, Tänzern – kam, die meinen Enthusiasmus für die schönen Künste [150] mit Oel nährten; ja wenn ich all diesen Geschäften in gehöriger Ordnung obgelegen wäre; so hätte Ludwigsburg ein sehr geseegneter Aufenthalt für mich werden können. – Aber so rannt' ich in diesem Strahlenkreise, gleich einem Wüthenden herum, und verlor nicht selten im trunkenen Gefühl des Schönen – die Ueberlegung.

Kein Mensch verstand die Kunst zu leben, weniger als ich. Klugheit war eine Tugend, nach der ich nicht einmal strebte, weil ich sie meist mit der schurkischen Schlauheit verwechselte. Ohne Falsch, wie die Tauben war ich wohl – vielleicht auch aus Bequemlichkeit, denn Verstellung kostet Mühe – von der Schlangenklugheit aber wußt' ich ganz und gar nichts. So leicht wie ich, hat es daher noch Niemand seinen Feinden gemacht. Ich gieng am hohen lichten Mittag in ihre Falle; denn weil ich ohne Tüke und Verstellung war; so ahndete ich sie auch nicht bei andern. Nicht als wenn ich mich damit entschuldigen wollte; denn nach meinen jezigen Grundsäzen, ist der, der an der lichten Sonne die Fakel schwingt und Häuser anstekt, eben so wohl Mordbrenner, als der es im Finstern thut; [151] nur kan man sich vor jenem, als einem Rasenden, leichter hüten, als vor diesem. Lasterhafte mit und ohne Maske, sind beede gleich verabscheuungswürdig. Leichtsinn und Gedankenlosigkeit waren die gauklenden Dämonen die mich in's Verderben stürzten. Auf meiner Waage wog Berg und Staub gleich viel. Gedanken gliedweis anzureihen und sie so lange zu verfolgen, bis die Seele am lezten Ringe stuzt, war mir zu lästig, zu mühsam. Was ich nicht wie der Bliz ergreifen und durchdringen konnte, das ließ ich liegen. Ich wollte nur empfinden, nur in Rosen und Zimmetdüften, wie Tiber in seinem Baade zu Capräa, schwimmen, Nektar saugen und in wollüstigen epileptischen Entzükungen hinschmachten. Laidions Seele war damals die Meinige. Die Menschen wog' ich nicht nach ihrem Stande, sondern nach ihrem Geschmak ab. Da ich häufig bei einem Handwerksmann richtigeres Gefühl antraf, als beim Manne vornehmer Erziehung; so verwechselte ich öfters die Tafel des Grafen mit der Weinschenke. Heute fuhr' ich in der Kutsche eines Hofmannes, und morgen gieng' ich mit einem [152] Schumacher aufs Land hinaus. Ich war keinem Menschen feind, ob ich gleich manchen mit meinem Wiz nekte. Ich vergaß Wohlthaten, die ich empfieng, und die ich austheilte; damit zog ich mir den bittern Vorwurf der Undankbarkeit zu; ob ich ihn gleich nicht verdiente. Ich schäzte kein Geschenk so hoch, daß es wichtig genug wäre, mich ewig zum Sklaven der Pflicht zu machen. Ich selbst gab willig, schnell, wandte mich und erwartete keinen schallenden Wortdank. Liebe für Liebe; das wollt' ich. Gegen Beleidigungen war ich wohl empfindlich, aber nur augenbliklich, daher war mir nichts leichter, als Feinden zu verzeihen. Meine Urtheile waren äuserst kühn, stark, meist wahr, aber verwegen; schadeten mir daher mehr, als meine sonstige Ausschweifungen. Wein und Weiber waren die Skylla und Charybdis, die mich wechselsweise in ihren Strudeln wirbelten.

Der Umgang mit Musikern, die meist eben so dachten, tauchte mein Herz immer tiefer in den Schlamm des Beispiels. Lavater hat angemerkt, daß die grosen Tonkünstler in ihrer Phisiognomie meist einen Zug der Liederlichkeit [153] haben. Eine sehr alte Bemerkung. Schon Athenäus schreibt:


Dii musicis nunquam mentem inseruere

Sed simul ac flarint, avolat illico mens.


Gott gab den Musikern Klugheit mit karger Hand,

Mit jedem Hauch und Strich verfliegt auch ihr Verstand.


Und nichts ist erniedrigender, als der Artikel im sächsischen Landrechte: »Spielleute 16 sind rechtlos.« – »Spielleuten« sagt der alte deutsche Gesezgeber, »gibt man zur Buße den Schatten eines Mannes, so gering achtet man sie, daß sie kaum als Menschen angesehen werden,« »das macht, sie sind liederlich, und machen liederlich,« sezt der Glossator hinzu. Nicht die Tonkunst, sondern der Tonkünstler [154] hat diese leidige Bemerkung veranlaßt; – denn noch immer sind sittige, fromme und gottesfürchtige Tonkünstler eine ausserordentliche Seltenheit. Schwelgerei, Wollust, Künstlerstolz, eitler Prunk, sind die Huren, denen sie meist ihr Leben hinopfern und ein wieherndes bravo, bravissimo! mit lautem Händeklatschen begleitet, soll das Wimmern ihres erwachenden Gewissens betäuben. Daher haben die meisten Virtuosen – es gibt Gottlob! auch Gluke, Bache und Raffe 17 unter ihnen – nicht einen Schatten von Religion. Friß, sauf, lieble, sing', geig' und pfeif' – nach dem Tod ist alles aus, scheint die Moral zu seyn, nach der die meisten taumeln. Sind nicht die Kapellen meistens eine Gesellschaft, wo Partheigeist, Virtuosenneid, Mangel beim Ueberfluß, Schlemmen, Huren, und frühes Siechthum, die Mitglieder mit Feuergeisseln [155] zerfleischt? – O ihr Söhne des Wohllauts, – verzeiht's einem alten Freunde von euch, wenn er euch frägt: wann wollt ihr einsehen, daß ein gestimmtes Herz mehr werth sei, als die süßesten Töne, die ihr euren Instrumenten entlokt! – Du aber, deutscher Leiersmann, nimm vom welschen Geiste was gut ist, und laß dem Welschen seine Makroni und – seine Laster! 18

Mein steter Umgang mit deutschen und welschen Virtuosen war beständig Oelguß in mein ohnehin schon wild loderndes Feuer. Ich wurde immer kalter gegen Tugend und Religion, las Freigeister, Religionsspötter, Sittenverächter, und Bordelscribenten – – und theilte – o meine gröste, heiseste, schwerste Sünde, – die mir Höllenqual im Kerker machte – theilte das Gift wieder mit, das ich einsog. [156] Spöttereien und Zoten wurden mir daher so geläufig, daß ich sie oft, wie die Kröte ihren Schaum ausgurgelte, ohne es zu wissen. Ich stürzte von Schande in Schande, ward unverschämt, geil, träge zum Guten, froh daß ich die papierne Schanze des Unglaubens zur Bedekung meiner Ausschweifungen aufwerfen konnte, erstikte sogar das Menschengefühl, ward ein Rebell, der sich γυμνῆ κεφαλῆ, mit hohem Haupte, gegen alles Heilige empörte und endlich, mit allen meinen schönen Gaben, mir und meinen Freunden zur Last wurde. Zilling ermahnte mich oft mit triftigen Gründen, umzukehren, und da es nichts half: so exkommunizirte er mich, wie billig. Ich spottete über ihn, und lebte wie zuvor. Meine Eltern und Freunde schrieben mir; aber ich warf ihre Briefe ungelesen weg. Schändliche Krankheiten, die ich mir – und – falle Deke der Nacht und verbirg meine Greuel und meine Schande!! – Mein Weib versank in düstre Schwermuth, weinte, seufzte stumm gen Himmel; ihr redlicher Vater hohlte sie und meine Kinder ab und vergoß bittre Thränen – »Warum soll [157] Ein Mensch mehre unglüklich machen?« seufzte mein Weib. – O Gott hat euch gerochen ihr Lieben! Eure Seufzer und Thränen stiegen gen Himmel und kamen wie Schwefeltropfen auf mein Haupt zurük. –

Wer sollte glauben, daß unter allen diesen Stürmen mein Gewissen doch niemals entschlummerte! Es war nur betäubt, und bei mehr als Einem Anlaß stand es auf in mir und gab mir einen Richterblik, der schneller als der Bliz – und brennender und flammender – gleich einem Pfeile von Gottes Sehne abgeschossen – durch meine Seele flog. Ich erinnere mich noch, daß ich einmal mitten in der Nacht, mit diesem Flammenpfeile im Herzen, im diksten Dunkel einer Allee gieng, und heulend gen Himmel schrie: »Richter donnere mich nieder, oder erbarme dich meiner!« In einer solchen qualvollen Stunde schrieb ich einmal das Bekenntniß nieder, welches hernach Haug in einem mei ner Bücher fand, es zu sich stekte, und als ich gefangen wurde, allenthalben bekannt machte. Wenn es einem einigen Menschen die Lehre geprediget hat, wie tief Sittenlosigkeit und [158] Gottesvergessenheit die Seele stürzt; so acht' ich nicht der damit verknüpften Schmach, und Haug hat ein gutes Werk gethan. Dieser bidre Mann, der aus der damals so angestekten Luft ohne Pestbeule davonkam, hat mir manche weise Lehre zugeflüstert und zugeschrieben, und meinetwegen so viele Vorwürfe erdulden müßen, daß ich es noch beklage und Gott bitte, er wolle es ihm vergüten. – O wie wahr ist es, was Leß so nachdrüklich predigt, daß das Laster die größte Beleidigung des Menschen sei – wir sind es unserm Nebenmenschen schuldig, tugendhaft zu seyn – und in dieses Geklüft von Beleidigungen stürzte mich größtentheils Megäre Wollust, nachdem sie Zug vor Zug den Menschen aus mir bildete, den, wo mir recht ist, Gregorius von Nyssa so scheußlich zeichnet.

Hominibus piis, (sagt er, denn ich mag's nicht übersezen,) fornicator est in ædibus fugiendus, in congressibus abominandus, contumelia appropinquantibus, inimicis opprobrium, cognatis probrum ac dedecus, iis qui simul habitant execrandus, dolor peccantibus, [159] familiæ publicum ludibrium, vicinis ridicula narratio, si velit uxorem ducere rejiciendus.

Merkt diß ihr Jünglinge, und lernt, wie der alte Soldat Nicetas, wenn ihr euch nicht anders wehren könnt, eure Zunge abbeißen, und sie der Hure ins Angesicht speien! 19

Meine Vorgesezten waren meiner müde, und ergriefen die nächste Gelegenheit, mich wegzuschaffen. Ein verdächtiger Umgang mit einem Mädchen, gab ihnen bald Anlaß, mich vor Gericht zu fordern, und ins Gefangniß zu werfen. Mein einziger lieber Sohn war eben damals tödtlich krank. Mein Weib – denn sie war wieder von Geißlingen zurükgekommen [160] und betete stillseufzend zu Gott um meine Bekehrung – schmachtete an seinem Bette, als ich wie der gemeinste Missethäter in Thurm, und zwar in eben das Gefängniß geworfen wurde, in dem vorher ein Mörder lag, den ich erst vor wenig Tagen hinrichten und seinen Kopf auf den Pfahl steken sah.

Wasser, Brod, Kälte und faules Stroh, Stank und Ungeziefer fand' ich hier zur Pflege – ein kleines Bild von dem Zustande in welchen der unbekehrte Lüstling nach dem Tode stürzt! – Rechts tobte eine Rasende; links rasselte ein Dieb mit seinen Ketten, und unter mir sangen, heulten, fluchten und weinten die eingefangenen [161] Huren, die damals Ludwigsburg zu einem wahren deutschen Lampsak machten.

Meine Freunde von der musikalischen Klasse, nebst einem sehr dankbaren Schüler von mir, wagten ihr Leben, stiegen auf eine alte, halbverfallene, ganz schmale Gartenmauer und reichten mir an einer Stange Wein und Speise, die ich durchs Eisengitter an mich zog. Die Weinflasche ließ mir keine Zeit zu langen melancholischen Untersuchungen über meinen Zustand, ich trank, bis ich aufs faule Stroh sank und entschlief. Als ich meine Freiheit erhielt; so kroch mir mein Herzenssohn – der nach ausgestandner schwerer Krankheit seine ersten Schritte versuchte, entgegen, hielt sich am Tische und bewillkommte mich mit einem herzschneidenden »Papa, Papa!« – Mein Weib zeigte ihr liebedurchdrungenes Herz auf die rührendeste Art; sie verzieh mir, schloß mich mit Thränen in ihre Arme und flehte, durch vorsichtige Tugend mich und sie vor dergleichen bittern Ahndungen zu bewahren. Ich versprach' es ihr, und nahm mirs auch wirklich in allem Ernst vor, Wort zu halten. In Ludwigsburg gränzte damals die Hölle [162] sehr nah' ans Paradies. Es war also eben so leicht, ein gottseliges Leben daselbst zu führen, als ein ruchloses. Man fand hier nicht blos Sistem- oder Modetheologen, sondern wahrhaftige Jünger Christus. Man fand da strenge Orthodoxen, mehr Posaunen aus Horebs Wetternacht, als sanfte Verkünder der guten Bothschaft, deren frommen Ernst ich oft für beleidigendes Hochherunterschauen und Liebe scheuchenden Stolz hielt. Denn da ich das Hellauf des Studenten im höchsten Grade besaß und jede Fessel des Zwangs wegzuschleudern gewohnt war; so haßt' ich alle Amtsgravität, alle sinnige Bedächtlichkeit, alles Zurükhalten, jede kalte Miene, jeden Hochblik. Damals gab es auch zu Ludwigsburg eine schöne Anzahl eifriger Christen, die man als Bengelianer, Kopfhanger, Muker – oder Pietisten verschrie. So himmelweit ich von diesen Leuten entfernt war, so konnt' ich sie doch ihres Wiederstandes gegen den Weltstrom und der Einfalt ihrer Sitten wegen, ungemein wohl leiden. Keiner unter ihnen allen schien durch Lehre und Leben den Sinn der Religion Jesus besser auszudrüken, als der damalige[163] Waisenpfarrer Bekh. Auch er ist nun eingegangen in seine Ruhe. – Welche Seeligkeit wird dein seyn, Jesusjünger!! Er war gelehrt und fromm, voll Einfalt und Liebe und nicht nur ein Freund der Brüder, sondern aller Menschen.

Ich habe hernach nur noch Einen Mann angetroffen, der mein Herz so mächtig ergrief, wie dieser. Sein Lächeln war das Lächeln eines Engels, aus seinem Auge leuchtete Friede mit Gott und Gewißheit seiner nahen Herrlichkeit. Viele hat er gerettet und zu Christus geführt. Der Mörder und Räuber, den wir unter dem Namen Sonnenwirthle von Ebersbach kennen, erinnerte sich noch im Kerker und auf der Blutbühne an dieses heiligen Mannes Lehren.


O Gott, wie kann das Glük erfreu'n,

Der Retter einer Seele seyn!! –


Er starb fast halb verklärt. Wenn ein Seraf sterben müßte; so läg' er so auf einer Sommerabendwolke – und entschlief'.

Mich dünkt, die Frommen gewöhnen sich einen so düstern Ernst an, der mit der Heiterkeit [164] der Lehre Jesu nicht übereinzustimmen scheint. Christenthum, oder welches eins ist, Licht von Gott, sollte nicht wölken, sondern aufhellen. Der Fromme sollt' also gegen die Unwiedergebornen nicht eine saure, verachtungäusernde, das zweiflende Weltkind verscheuchende – sondern wie Bekh, eine helle, lichte zutrauenerwekende Miene annehmen. So würde er weit mehr gewinnen, als er unter so trübseliger Gestalt gewinnen kan. Man soll, wie Jesus, auch dem ruchlosesten Menschen – zum Beispiel dem Judas, keine Verachtung merken, sondern ihn vielmehr sehen lassen, wie tief der Christ die Würde des Menschen – auch des gefallenen Menschen fühle. »Laßt uns zur Freundlichkeit gehen,« sprachen die Zeitgenossen Jesu, nach dem Zeugnisse des Papias, wenn sie zu Christo gehen und ihn hören wollten. Durch dieses Bezeugen gewann der Herr Zöllner und Huren, Starrköpfe und Windspiele, Farisäer und Saduzäer. – Und Dank sei es ihm! noch manche seiner Jünger athmen diesen Geist der Lieb' und Verträglichkeit. Erstgedachter Bekh ist ein solcher, noch mehr aber war es Prälat Oetinger [165] den ich einmal in einem Garten fand und mich in die Länge, stuzend über des Mannes Kenntniß und Geistesgröße, mit ihm unterhielt. Dieser so verschrieene, von wenigen gelesene, und den wenigsten verstandene große Mann, den man unter dem Kleide, das seine Herrlichkeit verdekt beinahe gänzlich verkennt, – ihn kennen nur, mit Klopstok zu reden:


– – – – »die wenigen Edlen,

Theuren, herzlichen Freunde des liebenswürdigen Mittlers,

Die mit dem kommenden Weltgerichte vertrauliche Seelen.«


Er wird erst von der bessern Nachwelt gehörig geschäzt und benuzt werden. Unter uns ist er jezo ein Vogel aus der fernsten Himmelszone, der sich nach Norden verschossen hat, und weder Luft, Nahrung noch Gesellschaft vor sich findet. Wir sind viel zu verdorben, solche Kraftmenschen ganz verstehen zu können. So tief ich im Schutt der Weltmeinungen stak, so verstekt mein angebohrnes Wahrheitsgefühl war: so empfand' ich doch die unwiderstehliche Einfalt und Hoheit [166] dieses Mannes, die sich durch Herablassung, Duldung und Bruderfreundlichkeit, im lieblichsten Lichte vor mir entfaltete, und meine Seele hatte gleichsam ein dunkles Vorgefühl von den Freuden, die dieser Mann künftig in ihr weken sollte. 20 Ich zweifle, ob ein Land in der Welt ist, in dem es der Wahrheit suchenden Seele leichter wird, einen Führer zu finden, als das Würtembergische.

[167] Auch ich würde einen solchen Leiter gefunden haben, wenn ich ihn ernstlich hätte suchen wollen, und wenn es nicht Gott gefallen hätte, mich erst nach erlittenem Sturme wieder in diß Land zu werfen, um daselbst mir die Gelegenheit zu meiner Geistesüberzeugung anzubieten. Ein satirisches Lied, das ich um diese Zeit auf Veranlassung eines andern auf einen wichtigen Hofmann machte, noch mehr, eine Parodie der Littanei, 21 [168] die noch schlimmer gedeutet wurde, als sie gemacht war, bestimmte meine Vorgesezten, mir meinen Abschied zu geben und mir sogar das Land zu verbieten. Ich folgte diesem Befehl auf der Stelle, stürmte im Unsinn der Betäubung aus Ludwigsburg hinaus und hinterließ Weib und Kinder, von denen ich nicht einmal Abschied nahm, in den elendesten Umständen – der schwachen Barmherzigkeit weniger Edlen, noch mehr aber den beschimpfenden Vorwürfen meiner Feinde Preis gegeben. Mein eignes Vermogen womit ich in die Welt gieng, Bestand – aus einem Thaler.

Was mein Weib um diese Zeit ausstand, ist zu rührend, zu fürchterlich tragisch, als daß ich die Umstände davon ohne Peinigung meines Herzens wiederholen könnte. – Sie gieng nach Geißlingen in ihres Vaters Haus, und fand daselbst ein Lazareth, indem ihre Mutter und Brüder tödtlich krank lagen, pflegte sie, wurde selbst von gleicher Krankheit ergriffen, und wußte nicht, wohin mich mein Schiksal verschlagen hatte. Doch sie mag diß im Anhang zu meiner Lebensgeschichte selbst erzählen.

Fußnoten

1 Doch man ist hierinnen nicht mehr so ekkel, wie so manche Lebensbeschreibung erweißt, die seit diesem herauskam.

2 Gluks Genius überflügelt den Jomellischen. Tiefe und Höhe, reine Harmonie, kühne Uebergänge, Neuheit in der Töne Gang und Verhalt, Gefühl für's Grose, Ausserordentliche, Shakespearische, karakterisiren unsern Gluk – und doch wird auch dieser kaum mehr genannt. O musikalische Eitelkeit! du bist unter allen die gröste!!

3 Ich hab' einen deutschen Text unterlegt, nach den Grundsäzen unsrer Kirche, um diß herrliche Stük auch für die Protestanten brauchbar zu machen.

4 Jomelli war überhaupt sehr billig. Ein Schmeichler tadelte einst in meiner Gegenwart die deutschen Tonmeister. »Schweigen sie,« sagte Jomelli mit zürnendem Blike, »ich habe sehr viel von Hasse und Graun gelernt.«

5 Noch immer macht nur Sachsen hierinnen eine Ausnahme: inzwischen lassen wir übrige phlegmatische Deutsche die schönsten Stimmen verderben.

6 Er besuchte mich nachher in Ulm – beinah in Bettlergestalt. Er hat den Kopf, die Launen und Kaprizen eines Künstlers in vollem Grade.

7 Sie sind auch noch in Wien, München – sonderlich hier allgemein beliebt.

8 Die Dirne hungert jezt in Warschau.

9 Selbst Vogler gestand mir, daß er vor Seb. Bach's Orgelfantasieen mit starrer Bewundrung verweile, und den Mann verehre, der so was Allgewaltiges spielen konnte.

10 Noch jezt ist der Stuttgarter musikalische Geschmak mehr welsch als deutsch.

11 Sie haben jezt grosse Musiker, Maler, Kupferstecher und Künstler aller Art, sind auch dazu weich genug geworden.

12 Man erlaube mir hier einen mit Thränen beträuften Roßmarinstengel auf das Grab des Obrist von Dedel zu pflanzen. Er war mehr als mein Gönner: er war mein innigster Freund, und erprobte seine Freundschaft gegen mich – in der Freiheit und im Kerker – auch gegen meine Familie durch die reichsten Ergüsse seines wohlwollenden Herzens. Zwei Tage vor seinem blutigen Tode besucht' ich ihn: er umarmte mich brünstig, sah gen Himmel, seufzte »o zum leztenmale!« – und bald darauf drükte er sich ein Terzerol an die Stirne, und erschoß sich – aus Lebenssattheit.

13 Mich wundert sehr, daß ich diesen treflichen Mann auf der Liste der grossen Männer nicht seht, die jezt an der neuen Verfassung ihres Vaterlandes arbeiten.

14 Diese beleidigende Gravität findet man nicht so in Deutschen Reichsstädten: denn da ist alles offen, A1 gerade, gleich, deutsch, gutherzig. Am gravitätischen Wuste glitscht alle Vertraulichkeit ab.

15 Der Herzog von Würtemberg hat diesen Unfug abgethan; und man ließt nun keine Leichengedichte mehr, die ohne frischen Zwiebel an der Nase, keinem Menschen Wasser in die Augen bringen.

16 Zun selben Zeiten war der Name Virtuos, Konzertmeister etc. noch unbekannt. Was fidelte, blies und leierte, hies Spielmann. Mancher von den heutigen Kraftmännern verdiente keinen andern Namen, als diesen.

17 Gluk und Emanuel Bach – zwei Sonnen am Himmel der Harmonie – waren gottselige, für Religion begeisterte Männer; so wie der noch lebende grose Sänger Raff sich auch durch religioses Leben auszeichnet. –

18 Das meist unmoralische Leben der Kunstler hat doch auch einen philosophischen Grund. Wer von Jugend auf nur solche Künste treibt, die der Sinnlichkeit, dem Wize, der Fantasie das Uebergewicht über vernünftige Ueberlegung geben, wird zulezt ganz versinnlicht, eitel, wollüstig.

19 Die Deutschen zeichneten sich sonst, wie man schon im Tacitus bemerkt, vor allen Völkern durch strenge Keuschheit aus. Diß machte sie so stark, so ehern; lehrte sie Winfelds Schlacht schlagen und die sieben Hügel erschüttern. Aber jezt – o wie wenig wird mehr die goldne Keuschheit unter uns geschäzt! – Unsre wiedernatürliche französische Nachäfferei hat alle Leichtfertigkeiten unter uns eingeführt, unsre Lebensleuchte geschwächt, und uns so tief erniedrigt, daß wir über Hurerei und Ehebruch – nur lächeln. Ja, wir legen es recht darauf an, unsre Kinder schon frühe zu verderben; lehren sie schon früh Liederchen von Liebeln und Kußen beim Klavier singen, thun uns in ihrer Gesellschaft keinen Zwang an, und führen sie in die heillosesten Schauspiele, wo die sittenlosesten Ausschweifungen der Wollust, wo Meineid und Ehbruch, Entführung und Verderbung der Unschuld, blos Galanterie, Lebensart – ja sogar Aufklärung genennt wird. – Schrekliche Aussicht in die Zukunft! – »Auf den weichen Polstern der Wollust,« sagt Young, »sind schon manche Königreiche eingeschlafen;« wird es dir bas gehen, mein Vaterland??

20 Kein Mensch beweißt mehr, wie wenig es auf Weltschäzung ankomme, als dieser Oetinger. Die Kunstrichter behandelten ihn fast wie einen Verrükten, dem man, wie einer dieser kalten Männer sehr menschenfreundlich rieth, Schreiben und Predigen verbieten sollte. Und o wie werden es diese Leutlein bald mit Schreken erfahren, welch eine Gottesleuchte Oetinger war; und wie klein sie gegen ihn gewesen nach Geist, Wissen, Liebe und Glauben. In neuern Zeiten wird es schwerlich einen Mann geben, dessen Geist so vieles überblikte, der ein so ungeheures Ganzes in seiner Seele hatte, wie Oetinger. Er war in keiner Wissenschaft ein Fremdling und in vielen, wie zum Beispiel in der tiefen Theologie, oder Gottesweisheit, in der Naturlehre und Scheidungskunst, ein Meister. Mit dem grosen Engländer Flud, dessen Schriften wie ein Bergwerk voll Goldstufen unbenuzt da liegen, hatte er gar viel ähnliches. Er war ein Geistessonderling, der Mystik, Magie, und allem Ausserordentlichen ergeben. In den orientalischen Sprachen hatte er eine ganz ungewöhnliche Kenntniß; einige schrieb und sprach er. Kurz, er stand auf einer Sonnenhöhe, und Buben auf Erdschollen, standen auf den Zehen, strekten sich lächerlich und riefen ihm zu: »Du bist ein kleiner Mann! Ein verrükter Schwärmer bist du!« Ich wollte schon lange sein Leben schreiben; aber wenn ich an des Mannes Grösse hinaufsah; so entsank mir die Feder. Tief und scharf müßte sein Biograph bliken ins Ganze, über das sich nur Eine – aber ungeheure Riesenidee hinstrekt. – Der grose Oetinger starb den 12ten Februar 1782, zwei Jahre lang in Todesschweigen versunken.

21 Mir ist es noch jezt ein unbegreifliches Räthsel, wie man wegen dieser Littanei so gegen mich rumoren konnte. Man sprach vom Zungenausschneiden – Verbrennen – und doch war es nur – ein leichtes Wizspiel, ganz nicht so böse gemeint, wie man es dollmetschte.

A1 Auch die Patrizier? – Glosse des Sezzers.

13. Period
Dreizehenter Period.

Ich war indessen in Heilbronn angelangt und fand gleich einen Klubb von neuen Bekanntschaften, von der guten und schlimmen Art von mir. In Heilbronn ist schon weit mehr Deutschheit, als in Ludwigsburg, obgleich die vornehmen und halbvornehmen Innwohner daselbst eifersüchtig darauf zu seyn scheinen, sich mit den Maschen, Franzen und Berloken fremder Sitten zu behängen und die Verarbeitung ihres eigenen Charakters zu vernachläsigen. – Ach, leider, eine schwere Unart der meisten deutschen Städter; sie glauben besser, vornehmer, gebildeter zu seyn, wenn sie fremd werden, Hausmannskost verachten und ausländische Brühen schlürfen. Doch eben dieser Nachahmungsgeist bringt mit dem eignen Karakter der Heilbronner ein so angenehm buntes Gemisch von sittlichen Farben hervor, daß sich die Fremden mit Herzenslust in Heilbronn weiden und lezen. Die hier üblichen grosen Speisegesellschaften, häufigen [170] Privatkonzerte, Spazierfarthen und Spaziergänge aufs Land, Hausbesuche, Unterredungen über tausend Gegenstände im freiesten Tone, erhöhen die Reize noch mehr, womit diese Stadt schon von Natur durch ihre herrliche Lage geschmükt ist. Hang zur gesellschaftlichen Freude, scheint beinah das Hervorspringende im Karakter dieser Städter zu seyn. Da ich die Livree der Wizlinge trug, und ein traulicher, aller Welt offener, sorgloser Wüstling war; da ich die volle Anlage hatte, ein Günther und Dreier bei bacchantischen und trimalzionischen Festen zu seyn und überdiß den geflügelten Ruf zum Herold hatte: so fand' ich gar bald Zutritt in den ersten Häusern. Unter diesen figurirte damals das von Wachsische Haus am meisten. Es war gleichsam ein Pandamonium, darinnen sich die grosen und kleinen, ausländischen und einheimischen Geister auf den Zauberschlag seines Gebieters, des Burgermeisters von Wachs versammelten.

Gastfreiheit und Menschenfreundschaft zeichnet diesen reichsstättischen Konsul auf eine rühmliche Art aus. Seine Gemalin, ein feine Kennerinn [171] der Welt, von schöner Geistesbildung, sang, und spielte das Klavier mit Geschmak.

Die Welt richtet verblühte Schönheiten weit strenger, als Blumen die noch in ihrem vollen Wuchse stehen.

Man lobt oft den Sang und die Spielart eines Mädchens, oder einer jungen Dame bis zur Ausschweifung; meint aber mehr ihre jugendliche Reize, als ihr Genie. Sind jene verschwunden; so singt und spielt die entschleierte Göttin – nur schlecht. Diese Anmerkung hab' ich in meinem Leben mehr als einmal machen können.

Ich gab der Frau von Wachs, auch einem Herrn von Gemmingen, der sich hernach als Schriftsteller und Staatsmann so rühmlich hob, Lektion auf dem Flügel und brachte die übrige Zeit meist in der Gesellschaft des nun verstorbenen von Pankuch und der Preußischen Werboffiziers zu, worunter Kenner der Musik und sehr gut gestimmte ächtbrandenburgische Herzen waren. Sie liessen mich Antheil an allen ihren Ergözungen nehmen und unterstüzten mich so großmüthig, als wenn sie dazu Befehle von ihrem [172] König gehabt hätten. Eine meiner tiefeingewurzeltesten Neigungen war die Liebe zu König Friederich dem Einzigen. Die ersten Eindrüke davon bekam ich in dem grosen siebenjährigen Kriege, wo diese Feuerseele in ihrer höchsten Kraft, wie die Sonne auf ihrem mittäglichen Thurme, brannte. Von dieser Zeit an behielt' ich diese Eindrüke, wie tiefe Furchen vom schneidenden Pfluge gezogen, unaustilgbar in der Seele. Alles was Preußisch hieß und war, blieb mir daher bis in meine Gefangenschaft lieb und theuer. Preußen, die diese Neigung an mir bemerkten, gewannen mich daher bald lieb, nahmen mich in ihren Schuz und liessen tausend Gutthaten auf mich ausströmen. Man streute dahero bald anfangs aus, ich wäre Soldat geworden. Da ich aber unter so vielen Neigungen, vom Soldatengeiste nicht einmal eine Tinktur hatte; so lag diese Vermuthung beinahe ausser dem Kreise der Möglichkeit – denn auch Zwang konnt' ich in meiner damaligen Situazion nicht befürchten.

Ich, der ich dem Soldatenstande oft so scharf ins Gesicht sah, sein schimmrendes Elend, seine [173] Leiden und Wehen, sonderlich seinen geistabwürdigenden Zwang, bei dem ihm nichts frei bleibt als – ungestraftlasterhaft seyn zu können, ganz genau kannte, sah diesen Stand immer für das lezte Verzweiflungsmittel – eines vom Schiksal gejagten Menschen an; ob ich gleich von Jugend auf bis jezt, immer der gröste Soldatenfreund war, weil ich viel grosmüthige, edle, weitherzige, gerade, ächtdeutsche Seelen unter ihnen antraf.

Herr von Pankuch, ein Edler der Stadt, kam alle Tage in die Rose, wo ich herbergte, theils zum Tische, theils zum Weine. Ich wurde also gar bald mit ihm bekannt und entdekte in ihm die ehrwürdigen Trümmer eines weiland treflichen Kopfes. Lachender Wiz, brittische Laune, reiches Gedächtniß, weite Belesenheit, gaben ihm noch im Schutte ein ehrwürdiges Ansehen – gleich einer Porfirsaule unter den Ruinen von Palmira. Luzian, Rabelais, Liskov, Piron, Rost und Heinse waren, wie er sie zu nennen beliebte, seine Herzskribenten, mit denen er in Denkungsart und Laune sehr zu simpsichiren und zu simpathisiren schien. Da [174] er sehr reich war und keine Kinder hatte, so that er oft weite Reisen, blos seinen Hang nach Weltgenuß zu befriedigen.

Einsmal reißt' er nach Dresden und gab sich viele Mühe, Liskovs ungedrukte Schriften zu sammeln; ein Landgeistlicher aber, vom unverständigen Eifergeiste besessen, hatte längst zuvor alle köstlichen Ueberbleibsel des Liskovischen Geistes vernichtet. Liskovs arme Wittwe brachte dem Geistlichen ein Manuskript, voll der allerkühnsten Zeichnungen von der Hand dieses unsres Swifts und bat ihn, es an einen Verleger zu verhandeln. Der Geistliche hatte kaum ein paar Seiten gelesen, als ihm eine markichte Pfaffenzeichnung auffiel und – das Manuskript lag im Feuer. Wenn er der Wittwe die Handschrift bezahlt hätte; so würd' ich die That dieses Pinehas nicht schelten! – Der Zorn des erwähnten Kavaliers über diese Begebenheit daurte bis in sein Grab und er war ungerecht genug, deßwegen den ganzen Priesterstand sein lebenlang als – schädliches Geschmeis, wie er sagte, zu verabscheuen. Wo er nur einen Priesterrok und Kragen sah, den besprüzte er mit seinem Geifer.

[175] Zu bedauren war es, daß dieser Mann von so herrlichen Anlagen, durch Ausschweifungen, die er sich gränzenlos erlaubte, beinah zu einem Faunus ausartete. Soff und Brunst und Spott, den er über die ehrwürdigsten Dinge hinsprüzte, haben ihn weit unter seinen Werth herabgewürdigt. Er gieng wenig in die Kirche, kommunizirte selten und starb jäh am Schlage. – Ich zweifle nicht an der Veränderung seines Sinnes, da ich zuweilen mitten im bacchantischen Taumel, Spuren vom stillen Sehnen seiner Seele nach Freiheit entdekt habe und da er so zur Gastfreiheit und zum Mitleiden mit jeder Noth des Menschen gestimmt war. Die Gnade Christus ist reich und gros über die Sünder: sie kan Voltäre erschüttern, Rousseaus ergreifen, Spiras aus der Flamme reissen und trunkne Wüstlinge nüchtern und weise machen. Eine der unbegreiflichsten Erfahrungen ist mir diese, daß, so wie es unter den Menschen Leute gibt, die das Böse unter einer heuchlerischen Maske bergen, es auch Heuchler von der entgegengesezten Art gebe, die das gute bergen und das Schlimme herauskehren. Ich habe einen Menschen gekannt, [176] der als der ruchloseste Freigeist verschrieen war; und seinen Reden und Ausschweifungen nach, that man ihm auch nicht Unrecht. Und doch fand ich eben diesen Menschen oft heimlich bei der Bibel sizen, mit thränenhellen Bliken gen Himmel schauend und den Seufzer athmend: »O die Bibel ist ein schön Buch!« – Oder sah ihn einem Armen etwas in die Hand drüken, so behutsam umherschauend, als wär' er im Begriffe, den Armen zu vergiften – hört' es oft, wenn er dem dankenden Elenden zuflisterte: »Bete für mich!« – Sah' ihn oft aufbliken, tiefseufzend: »O Gott, du bist lieb, bist Alles, bist mehr, als die Bibel von dir sagt.« 1 – So bald seine wizzige Brüderschaft zu ihm kam, unter denen er das führende Gestirn war; so braußte, schwadronirte, wizzelte, spöttelte er wieder ärger als sie alle. Ein Fönomen, das ich mir nie zu erklären im Stande war. – So viel ist gewiß, daß solche Leute leichter zu bekehren sind,[177] als die Heuchler von der ersten Gattung, ob sie gleich eben so grosse und fast sollt' ich sagen, schwerere Sünder sind, als diese. Daher gibts auch mehr liederliche – offenbar frevlende Sünder, als verstekte Böswichter – denn heucheln kostet Mühe.

Die Heilbronnische Privatkonzerte fand' ich über mein Erwarten gut eingerichtet, mit einem reichen Vorrathe von guten Musikalien versehen und größtentheils gut besezt, theils mit Stadtmusikanten, theils mit Liebhabern. Pirkner und seine Frau, die ehmals so berühmte Marianne, hatten größtentheils die Ehre dieser guten Einrichtung. Die grose Erfahrungen und der richtige Verstand Pirkners, machten ihn zu einem der treffendesten und lehrreichsten musikalischen Kunstrichter. Man konnte nicht gründlicher über das Steigen und Fallen, die Ebb' und Fluth des musikalischen Geschmaks in ganz Europa urtheilen, als es dieser Mann – versteht sich aus den Zeiten seiner Thätigkeit – that, da er die vornehmsten Plaze in Europa bereißte. Seine Frau war zwar schon lebendig tod für den schönen Sang: – aber doch noch etwas [178] mehr, als eine ausgestopfte Nachtigall. Da sie eine gründliche Sangerin war: so leistete sie noch wichtige Dienste beim Unterrichte. 2

Nichts predigt einem die Eitelkeit der irrdischen Tonkunst mehr, als die Abnahme der Virtuosen mit dem Alter und das gänzliche Verstummen der Faustinen und Mariannen, wenn sie über das fünfzigste fatale Jahr hinaus sind. – Keine Unsterblichkeit ist unsicherer, als des Tonkünstlers; mit seinem Tode verhallen die süßen Töne alle, die er sang, aus Saiten lokte, oder durch den Hauch schuf; fest des Kontrapunktisten Herrlichkeit währt eine kurze Zeit und fällt unter dem Fächerschlage der leichtfertigen Mode. Caldara, Fuchs, Brescianello, Buxtehude, – selbst Sebastian Bach, Telemann – wie wenig werdet ihr heutiges Tages noch gelesen. – Mit Staub bedekt sind eure köstliche Partituren, und Schellenklang und honigtriefende Rondo's haben euch weggeklümpert! 3 [179] – Hingegen kann fast der andre Künstler dauerhaftere Denkmale seines Genies zurüklassen. Von der leztern Art traf' ich an Füger, dem jezigen Direktor der Mahlerakademie zu Wien, den ich schon damals aus seine schönen Zeichnungen zu Yoriks empfindsamen Reisen schäzen lernte, einen Mann an, der schon damals das versprach, was er hernach so rühmlich hielt.

Sein Geschmak war um diese Zeit etwas süße – Szenen aus Geßners Idyllen hielt er der Bearbeitung würdiger, als die grosen Parthien aus Klopstoks Messias und Herrmannsschlacht, aus Ossian, Homer, Bodmern und andern pitoresken Dichtern. Durch Kaiser Josefs Unterstüzzung, der ihn lange in Rom unterhielt, ist er an der Leiter des Geschmaks sehr hoch aufgestiegen. Sein Bruder hatte alle Anlagen zu einem starken, kühnen Flügelspieler, wie seine hernach gestochenen Stükke, sonderlich [180] seine charakteristischen Sonaten bezeugen; nur ist seine Faust zu schwerfallig und legt nie den Flug über die Tasten ohne Anstoß zurükke. Mahker Kloz, jezt in Mannheim, einer meiner warmsten Freunde, war damals in Heilbronn und zeigte den guten Porträtmahler, der sich hernach entfaltete, als ihn der Kurfürst von der Pfalz aus dem Staube hob. –

Bei all diesen Blumen die ich pflükte, fiel es mir doch immer ein, daß ich ohne Brod war, und eine Familie, die fern von mir wimmerte, versorgen sollte. Ich entschloß mich daher über Anspach nach Berlin zu gehen und an diesem lezten Orte, dessen Genius damals der Meinige war, mein Heil zu versuchen und da mein Leben zu beschliessen. Ich wußte, daß es mir dort nicht an Brod fehlen konnte. Aber eben, als ich abreisen wollte; erhielt' ich von einem alten Bekannten, der sich in Mannheim aufhielt, den Antrag zu einem Professor der Ritterakademie in Saarbrüken. Der Entwerfer dieser Akademie war ein sehr unakademischer Mann, Namens von Gritsch, ein Luftbaumeister vom ersten Range. Er bestand in Deutschland und in [181] Pohlen viele Ebentheuer und Gott weiß, an welcher Klippe jezt sein Lebenskahn schwankt. Ohne die Umstände zu untersuchen, entschloß ich mich sogleich dahin zu gehen. Ich bestieg noch einmal mit meinen lieben Freunden den Warthurm, 4 drükte mir den ganzen Zauber der Gegend tief in die Seele, und nahm Abschied, von Gönnern und Freunden reichlich unterstüzt und von meinem Kloze eine Streke begleitet. Noch seh' ich ihn auf dem Kahne von mir wegfahren und mir den bangen Abschied zuwinken – so schwam ich auf dem Wasser und fuhr nach Mannheim.

Tiefgewurzelt blieben seit diesem in meiner Seele die Eindrüke von Heilbronn – von diesem schönen Himmel, der über seine Warte, Thürme und Häuser hinströmt und von den guten, freien, heitern, offenen, zu den reinsten Akkorden der Freude und des Wohlwollens gestimmten Menschen [182] daselbst – von den preußischen Werboffizieren, voll von ihrem alten Frizen – und meinem braven Wirthe Uhl. Wer Gold hat und zwanglos und gut und schön in Deutschland leben möchte, dem wollt' ich Heilbronn anrathen. – Fürsten und Grafen haben schon Versuche gemacht und sich sehr wohl dabei befunden.

Fußnoten

1 So ein seltsamer Mensch, der sich des Guten schämte, war ich selbst. Ich verbarg oft vor meinen Freunden mein Gutes und ließ sie nur meine schlimme Seite sehen.

2 Ihr Mann und sie saßen auch viele Jahre als Gefangene auf dem Asperge, wo sie ganz ihren Verstand verlohr – ihn aber hernach in der Freiheit vollkommen wieder bekam. Doch lag die Rükerinnerung an den Berg ihres Elendes lebenslängig, wie eine düstre Wolke, auf ihrer Seele.

3 Händel bleibt doch Sieger der Zeit, wie seine alle Jahre in Europa wiederholten Oratorien erweisen.

4 Die Aussicht vom Wartthurm herab, wo der Blik über Städte, Dörfer, Wälder, freie Gebürge gleich himmelblauem Gürtel – Gärten, Traubenberge, Wiesen, Aeker, Ströme, Weiher, alles von Menschen, Thieren, Vögeln und Fischen wimlend, hingleitet, ist nächst dem Donauthale gewiß der herrlichste Anblik in ganz Deutschland.

14. Period
Vierzehenter Period.

Für einen Menschen von beruhigtem Gewissen, dessen Gedanken und Empfindungen auf der Seele so sanft hingleiten, als ein Kahn auf dem besänftigten Strome, ist nichts angenehmers, als eine Wasserfahrt. Dörfer und grasende Heerden an beeden Ufern, ehrwürdige Trümmer auf den Bergen, gegen den Strom arbeitende Schiffe, das bunte Gemisch der Reisegesellschaft, die beständige Veränderungen beim Aussteigen in Dörfern und Städten, geben dem Reisenden tausend Anlaß zu ergözenden Betrachtungen.

Ich war aber damals schon zu sehr aus dem Schoose der Ruhe hinausgeschleudert, um diese stille Freuden kosten zu können. Um froh zu seyn, mußt ich rasen. – Mein Sprechen war schon wülstige Deklamation, meine Empfindungen Sprizfeuer und meine Grundsäze nicht Wahrheit sondern ein Galimathias von Leserei oder erhaschten Flimmergedanken, meine Fantasie [184] eine Gruppe von tanzenden, schwelgenden, wiehernden Faunen; Mein Wiz liebte die massive Eulenspiegelszote mehr, als den feinen Scherz und meine Einbildungskraft war schon so verdüstert, daß all' ihre Schöpfungen meist gähnende, hipochondrische Figuren und Teufelslarven waren. Daher gränzte jeder Anfall von Schwermuth dicht an die Verzweiflung und die sanften Ausflüsse der Naturschönheiten rührten mich nicht mehr so allgewaltig, wie ehmals. Je mehr Licht in meine Seele fiel, je mehr erschrak ich über ihre Schwärze, wie jener Emir in Wielands goldnem Spiegel, als er unter die seelige Kolonie der Kinder der Natur sich vevirrte.

Ich kam nach Mannheim, nicht ohne süsses Staunen über die simetrische Anlage und Schönheit dieser deutschen Stadt.

Mein Freund Gritsch nahm mich in sein Zimmer auf und sprach mit mir von dem Plane seiner zu errichtenden Ritterakademie in Saarbrük. Ich fand gar bald, daß sein an und vor sich rühmlicher Vorsaz wieder ein Luftschloß war, das mit seinen andern erbauten Luftschlössern wie eine Wolke sich dehnen und in Duft und Wassertropfen [185] zerfliessen würde. Inzwischen hatt' ich ihm doch meine ersten Bekanntschaften Mannheim zu danken, worunter mir gleich anfangs Kazners Freundschaft, den ich schon lange kannte und der Geschafte halber hier war, die erquikendeste war. Dieser Mann verbindet mit einem aufgeklärten Kopfe, das edelste Herz, das man finden kan. Seine Empfindungen und warme Brudergefühle fliessen wie Balsam in seine Gespräche, Gedichte und prosaische Aufsäzze; und lassen uns gleichsam riechen, von welcher schönen Seele sie ausflossen. Er ist empfindsam, ohne Affektation und Schwäche, ein warmer Vaterlandsfreund, Schäzzer und Kenner des Genius, voll schöner und weitläufiger Kenntnisse, für Freundschaft und Liebe empfindlich, wie einer es seyn kann – und kurz, er war mir jederzeit und ist mir's noch, einer der liebsten Menschen, unter den vielen, die mein Herz im Sturme auserkohr. Er führte mich zu Schwan, bei dem er sich meist aufhielt' und lernte mich an seinem Freunde einen Mann kennen, der in manchem Stükke ihm gleich war. – Etwas französischer, weicher als Kazner, aber doch eben so [186] zum ruhigen Gefühl der Schönheit und Wahrheit gestimmt. Schwan hat sich nachhero an seinem Französismus auf die schönste Art gerochen und ihn in die glänzendste Vaterlandsliebe verwandelt. Die Ausbreitung des deutschen Geschmaks in der Pfalz – durch gute Bücher, Leseanstalten, eigne Aufsäze, Errichtung von gelehrten Gesellschaften, Beförderung des deutschen Sing- und Schauspiels, hat ihm gar viel zu danken. Die Aldermänner der deutschen Republik hätten ihn schon längst mit dem Eichenzweige krönen sollen. Sein Verdienst ist um so viel auffallender, da noch zu meiner Zeit der deutsche Sinn von französischen Brühen so verschwemmt war, daß man die Pfälzer eben so leicht für eine Kolonie von Franzosen, als von deutschen Provinzialen halten konnte. Ueberal wo ich hinkam, sprach man die Nasensprache und drükte das Deutsche nur halb und kraftlos aus. Die Toiletten der Herren und Damen glänzten von französischen Bänden; und deutsche Bücher wurden meist als gothischer Hausrath weggeschäzt. Der Kurfürst war beinahe der erste, der den andern vorglaubte, daß auch ein [187] Deutscher Wiz haben könne; so wie er noch nie an ihrem Verstande zweifelte.

Es kam eben damals der lezte Band des Messias heraus, der mir, Kaznern und Schwanen bei einer Flasche alten Rheinwein, manche frohe ekstatische Stunde gewährte.

Ich muß doch hier eines kleinen Ebentheuers erwähnen, das mir damals tief in's Herz schnitt und mir noch unvergeßlich ist. Fast mit meinem lezten Geldvorrathe kaufte ich mir die hallische Ausgabe des Messias, fuhr auf dem grauen Rhenus, legte ein Brett über den Kahn, Klopstoks Messias vor mir. Ich las eben den sechzehenten Gesang und lag mit der vollen Seele auf der Stelle, wie die gerichteten Seelen auf Tabor riefen:


– »Jupiter, Gott des Donners! Erbarme dich unser!

Brama! Tien! Allvater! Wir fehlten, sündigten, irrten!

Zevs Kronion! Götterbeherrscher, erbarme dich unser!«


Rasch auf stand ich in der Begeisterung und – Brett und Messias flogen in Rheinstrom. Wie [188] angedonnert stand ich da und sah bleich und starraugig meiner lieben Messiade nach, die wie eine geschossne Ente auf dem Wasser fluderte und untersank.

Meine neue Freunde riethen mir gar bald, von dem Plane des Herrn von Gritsch, den sie besser kannten als ich, abzustehen und auf eine andere Art mein Glük zu suchen. Die Folge hat gewiesen, wie richtig sie geurtheilt haben. Gritsch reißte nach Saarbrükken, fieng an zu bauen und der Bau stürzte über ihn zusammen. Er errichtete hernach einen vom König von Pohlen privilegirten Orden der göttlichen Vorsehung; gieng unter dieser Aegide auf Abentheuer aus, bestand eins in Montfort und besuchte mich hernach in Ulm. –

Ich entschloß mich, weil ich weiter keinen Plan vor mir sah, nach Mainz, zu der Gräfin von Wartensleben zu gehen, oder mich in Koblenz der Frau von Larosch zu empfehlen, die ich von Ludwigsburg oder vielmehr von Bennigheim aus kannte, wo ich ihren unwiderstehlichen Geist fühlen lernte. Aber plözlich fiel mir's ein, nach Heidelberg zu gehen, [189] und dort unter den Studenten mit Wiederholung ihrer Vorlesungen und Unterricht in der Musik, meinen Unterhalt zu suchen. Ich machte mich mit einer Baarschaft von fünf Kreuzer auf den Weeg, ohne den mindesten Kummer deßwegen in meinem Herzen zu haben; denn so oft ich auch die Delikatessen lukullischer Tafeln kostete: so fiel es mir doch gar nicht schwer, Mangel zu leiden. Und so gieng ich meine Strafe, ein saubres Kleid auf dem Leibe und ein Paar Hembder in der Tasche. – Das war all mein Reichthum; da dacht' ich mit dem gescheiterten Simonides lächlend:


»All meine Haabe

Trag' ich bei mir.«


Ein preußischer Soldat mit einem Stelzfuß stand am Weege und sprach mich an. »Da, braver Preuße, hast du Alles, was ich habe« – ich gab ihm meine fünf Kreuzer und war nun so geldlos, wie ein Kapuziner; doch hellauf und frohen Muths. Als ich nach Kastell kam, einem artigen, dicht am Nekkar liegenden Landhause: so überfiel mich ein Regen. Ich stand [190] unter; ein freundlicher junger Mann kam eben zu mir, als ich den Flügel belauschte, der im untern Zimmer gespielt wurde. – O sie sind vom Regen durchnäßt, wollen sie sich nicht hereinbegeben? sagte der Mann mit einer Miene, die Vertrauen wekte. – Ich trat ohne weiteres ins Zimmer und fand eine junge Baroneß am Flügel und ihren Lehrmeister, den ersten Klavizembalisten des Kurfürsten, hinter ihr. Mein Führer war der Hofmeister des Herrn von Kastells und als er hörte, daß ich ein Gelehrter war; so stimmte er seinen freundlichen Ton noch höher, bewirthete mich mit Wein und Brod und sprach mit mir über die Wissenschaften.

Als die Baroneß vom Flügel aufstand; so sezt' ich mich und fieng an zu fantasieren. Alles lauschte, flisterte Beifall und als ich schloß: so stand der Herr des Hauses hinter mir und lächelte mir ein sehr heiteres Bravo zu. Auch der kurfürstliche Kammervirtuos gab mir seinen vollen Beifall, den ich auch verdiente, denn ich hatte damals meine höchste Zeitigung erreicht, spielte ausserst schwer und doch mit Geschmak. Ich spielte also mehr, sprach dann von meiner [191] Absicht und erhielt sogleich vom Baron, einem ungemein menschenfreundlichen Edlen – Die Versicherung seiner Gnade und Unterstüzzung. Ich sezte der Baroneß ein Rondo mit Variazionen auf, wurde reichlich belohnt und fuhr nun, wie im Triumpfe, auf einem stattlichen Wagen von vier Schweisfuchsen gezogen, nach Heidelberg, wo ich bei dem – nun seeligen Ehegerichtsrath von Bozenhardt, an den ich empfohlen war, abstieg. Wieder ein Mann, wie ich ihn wünschte, dienstfertig, offen, ein Freund der Dichtkunst und mit etwas Schwärmerei tingirt. Menschen von diesen Eigenschaften, ob sie gleich von gemeinen Seelen nicht selten mit mancherlei Unnamen belegt werden, sucht' ich und konnte sie vorzüglich leiden. Er nahm mich ungemein liebreich auf, führte mich in die besten Gesellschaften ein und bekletterte mit mir die Heidelbergischen Berge. Man muß todt seyn, wenn man nicht in Heidelberg auflebt. Die Frische der Luft, das gesunde Quellwasser, das sich oben vom Wolfsbronnen, aus einem natürlichen Beken in's an dere ergießt, der Nekarstrom, der hier am breitesten und tiefsten, an der Mauer [192] vorbeizieht, die fürchterlich ehrwürdigen Trümmer der alten pfälzischen Residenz, die schönen von der Kunst nicht verdorbenen Gärten, und das antike Ansehen der Stadt selbst, bieten jedem, der diese Vorzüge zu schäzzen weiß, das reinste Vergnügen an. Ich betrachtete sonderlich mit meinem Freunde die Burg, noch in seiner Zerstörung ein Denkmal vom grosen Geschmakke der alten Deutschen in der Baukunst. Die aus Stein gehauenen, in Nischen zwischen den Pilasters stehenden alten Pfalzgrafen sehen schweigend und hoch, oft von wildem Gras umwallt, auf den Wandrer nieder und scheinen ihre kleine Nachkommen zu bemitleiden. 1 – Wer von hier aus nicht einen Fluch nach Frankreich hineinschleudert, – denn Franzosen haben das Schloß verwüstet, – der kann ohnmöglich ein bidrer Deutscher seyn.

Wenn die Lage einen Musensiz gros machte; so würde Heidelberg die erste Universität in Deutschland seyn, und doch ist sie es bei weitem [193] nicht – ist vielmehr eine der geringfügigsten. Ich mußte mich wundern, als ich in Pfählers Buchladen gieng und daselbst meist schaale Disputationen und barbarische Bücher antraf. Der Buchhändler gestand mir – denn das sind meist die sichersten Ausleger vom Geschmak ihres Orts – daß es ihm verboten sei, die besten protestantischen Schriften – selbst Gellerts unschuldige Schriften – zu verkaufen. Nichts gieng damals, als was die jesuitische Quarantaine passirt hatte. Die Professoren der drei geduldeten Religionen lebten in beständigem Mißtrauen gegen einander und hemmten dadurch die Verbreitung der Wahrheit, die wie ihr Urheber, Gott! – die Eintracht liebt. 2 An geschikten Leuten hat es der Universität Heidelberg niemals gefehlt; aber heimlicher Religionshaß hat ihre Bemühungen meist fruchtlos gemacht. Ich lernte hier an Professor Wund einen für's Schöne sehr geöfneten Mann kennen. Wir lasen ein paar Oden aus Klopstok miteinander und ich [194] sah' ihm mit Vergnügen wahres Herzgefühl im Auge schimmern.

Ehegerichtsrath Harder, ein ernster tiefblikkender Mann führte mir seinen acht bis neunjährigen Sohn, von ausnehmenden Gaben, vor. Er wußte über einen gegebenen Saz so lange sprechen, als man wollte, – und sprach nicht Unsinn, sondern Gedanken, die oft sehr schön waren.

Die Studierende sind ungemein höflich, und würden mich mit Freuden aufgenommen haben wenn man mir nicht meinen ersten Plan ausgeredet hätte. Es mußte sich fügen, daß ein junger Herr von Stengel seinen Doktorschmaus gab, wozu ich eingeladen wurde. Ich traf hier den Minister von Bekkers, Herrn von Stengel und mehrere von den Gestirnen der ersten Größe am pfälzischen Himmel an. Ich spielte vor ihnen, sie gaben mir Beifall und versprachen mir, mit dem Kurfürsten wegen meiner zu sprechen. Mein erster Plan war also verworfen, ich gieng nach Mannheim zurük, mit einer nachdrüklichen Empfehlung an den Grafen von Nesselrodt und wurde von diesem leutseligen [195] Grafen über meine Erwartung gnädig aufgenommen. Er bot mir seine Tafel an, und da er einen Sohn hatte, der Musik und schöne Wissenschaften liebte; so wurd' ich gar bald bekannt, vertraut, geschäzt und wie für einen Theil der Familie gehalten.

Von dieser Zeit an hatt' ich meist sehr vergnügte Stunden in der Pfalz. Mein Beschüzzer war ein Mann von ganz besonderm Geschmakke. Man traf eben so oft Gelehrte, Mahler, Bildhauer, Sänger und Sängerinnen, Virtuosen, sowol einheimische als fremde, Artisten von aller Art, Schauspieler und Schauspielerinnen, Tänzer und Tänzerinnen an seiner Tafel an, als Leute von Stand. Der Graf hatte selbst viel Geschmak, er sammelte Gemälde und Kupferstiche mit Einsicht und Wahl: und da ich ein natürliches Kunstgefühl hatte und die Schulen der Maler sowol als die verschiedenen Perioden der Kupferstecherkunst kannte, so schenkte er mir seine Gnade in einem vorzüglichen Grade. Ich habe bei ihm zwei Ecce Homo, eines von Correggio und eines von Dürer angetroffen, bei denen ich mich oft in tiefer Betrachtung verweilte.[196] Corregio's Bild ist ein leidender Italiener, dessen Schmerzgefühle meist in's Aeussere getrieben sind. – Der Geist der Miene ist sehr leicht zu finden; Dürers Schilderei ist ein leidender Nürnberger Burger, edlen Herzens und im Vertrauen auf den lieben Gott alles still erduldend. – Der Geist der Miene liegt tief und ist schwer zu finden. Wieder ein Beweis, wie viel Antheil der Nazionalkarakter am Stil der Künstler habe – und nichts ist natürlicher, als diß. Womit man seine Imagination von Jugend auf tränkt, das gießt sich über all unser Gebild und Gemächt aus. Ich habe des Grafen Kupferstiche in Ordnung gebracht, worunter sehr viel schäzbare und schwer zu findende Stükke von Dürer, Golz, van Leiden, Sadeler, Lucas, Kranach, Spranger und andern alten Meistern sind; auch eine Sammlung von äusserst seltnen Holzschnitten, die unserm Unger sehr viel Licht in der Geschichte der Holzschnitte geben würden. Die Gespräche des Grafen über der Tafel betrafen meistens Gegenstände der Kunst; und da nicht selten Meister zugegen waren, so konnte der forschende Hörer sehr vieles dabei [197] lernen. Solche Tischgesellschaften schienen mir ein wahres Göttermal zu seyn. Nach der Tafel ward meistens musizirt; der junge Graf spielte die Violin sehr gut und hatte beinah schon einen ausgebildeten sehr feinen musikalischen Geschmak. Er las zugleich die besten ausländischen und einheimischen Schriften, und fühlte was er las. Ich war gewöhnlich sein Vorleser und manche goldgeschwingte Stunde flog unter so süssen Beschäftigungen über unser Haupt weg. Wir besuchten miteinander die Kunstsäle und Seltenheiten des Kurfürsten, wo ich manches schöne Stük zu sehen das Glük hatte. Unter den Gemälden, die ich im Schlosse des Kurfürsten sah, rührte mich der sterbende Seneka am meisten, da hingegen der sterbende Kato bei allem Aufwande von Zeichnung und Kolorit für mich sehr wenig rührendes hatte. Kato ist zu fett für einen strengen Römer, seine Miene hat zuviel nur unrömisches und strahlt nicht das sokratische Licht aus, von dem Kato in seinen lezten Stunden umleuchtet war. Seine herbeieilende Freunde sind kalt und ohne Karakter. Ein Kristus der ins Grab gelegt wird, schien mir auch sehr viel [198] Wahres zu haben. Das Homerische δακρυοεν γελασασα, oder Klopstoks meinendes Lacheln fand' ich hier in der Miene des Johannes meisterhaft ausgedrükt. Zwei Portrats von Denner, die hier wie Reliquien mit der äussersten Sorgfalt verwahrt werden, verrathen zwar den höchsten Künstlerfleiß, aber desto weniger Genie. Ausgedrükte Pokengruben mit grauen Härchen drinnen, Sprünge und Schweißlöcher der Haut bemerkt und ausgemahlt, machen einen fast glaubend, der Künstler habe durchs Mikroskop gemahlt. Der gefühlvolle Schauer hat dabei eben das Vergnügen, das Gulliver haben konnte, wenn er die eklen Gruben im Angesicht seiner Brobdingrags sah und auf Brustwarzen voltigirte. Von la Brüns Schlachten des Alexanders sind hier die Platten aufgestellt. Das Naturalienkabinet wurde noch nicht lange angelegt, enthielt aber schon einen Vorrath aus allen Naturreichen. Unter dem Schaz zeigt man einem die Krone des unglüklichen pfälzischen Kurfürsten Friedrichs.

Mein Cicerone lächelte dabei und sagte: »das ist die Krone des Winterkönigs.« Ich zitterte [199] heimlich über diese verächtliche Benennung eines Fürsten, der weiter keinen Fehler hatte, als daß er unglüklich war. Die Bibliothek hat ein sehr schönes äusserliches Ansehen. Gleich beim Eintritt figurirt das marmorne Brustbild Voltärs, als wär' er der Gott, der über alle Weisheit zu präsidiren verdiente. Die Büchersammlung besteht mehrentheils aus gedrukten, meist neuen Schriften, wenig Seltenheiten, noch weniger Manuskripten.

Im historischen Fache ist sie, wie ich aus dem geschriebenen Verzeichnisse sah, ziemlich vollständig. Die kostbarsten Denkmale der Gelehrsamkeit sind mit der heidelbergischen Bibliothek nach Rom gewandert, wo sie noch immer den Deutschen wie Trofäen mit triumfirendem Lächeln gezeigt werden. Mein größtes Vergnügen fand' ich im Antikensaale, wo die unschäzbaren Denkmale des griechischen hohen Genius in sehr schönen Gipsformen aufgestellt sind. Hier sah' ich alles dargestellt, was ich in Winkelmann, Lessing und Heyne so oft mit Entzükken aufschlug. 3 Man wird sehr [200] klein und verliert allen Stolz auf den Geist seiner Zeit, wenn man unter diesen Antiken, wie in einer Götterversammlung wandelt. So schön und meisterhaft Winkelmanns Beschreibung vom Laokoon, der Niobe, dem Antinous, dem borghesischen Fechter, dem Apollo im Belvedere, dem Torso des Herkules, der medizeischen Venus und andern alten Kunstwerken sind; so sieht man doch, wenn man an diesen Göttergeburten selbst weilt, daß es schwer, daß es unmöglich sei, in successiven Ideen oder in kalter Wortfolge dasjenige auszudrükken, was hier in einer einzigen, aus tausendfachen Gedanken und Empfindungen zusammengeronnenen Idee Eines grosen Menschengeistes dasteht und auf Einmal gebohren und mit dem Odem des Genius beseelt zu seyn scheint. Ein junger Künstler hat ebensoviel Fug und Grund, am Fußgestell einer Antike zu sizzen und ihre Grosheiten zu haschen, als die Natur selbst zu belauschen. – Und doch sind es noch immer Steintrümmer, die meinen Fragen nicht antworten. [201] Ich suchte daher auf allen meinen Auswanderungen lebende Menschen und ergözte mich an der Mannigfaltigkeit ihrer Karaktere. Gelüste von dieser Art lassen sich in Mannheim 4 reichlich stillen. Die verschiedenen Religionen, Stände, Künste und Handthierungen, haben auch sehr verschiedene groteske, originalschattirte Karaktere hervorgebracht. Katholiken, Lutheraner, Reformirte, Menonisten, Juden, Freigeister, Höflinge, Soldaten, Gelehrte, Kaufleute, Handthierer und Künstler von aller Art, kalte ruhige Seelen, die das Feuer des alten hochheimer oder nierensteiner Nektars nicht aufthaut und Strudelköpfe, die beim ersten Kelchglase schon sieden, trift man hier in possierlichem Gemische durcheinander an. Die Katholiken ragen über alle andre Religionsgenossen an Ansehen und Gewalt weit hinaus; daher findet man bei den Protestanten gemeiniglich ein zurükhaltendes ängstliches Wesen. Der Katholik[202] ist ein herrlicher Mensch, wo er allein herrscht – gutthätig, gastfrei, warm für Freundschaft und Liebe, billig gegen die Protestanten, wenn sie nur nicht mit ihm kollidiren; – geschieht aber das, so ist niemand geneigter zum Verfolgungsgeiste, als er. Darf er den Dolch nicht öffentlich schwingen, so nimmt er seine Zuflucht zu Minen – die er so listig anzulegen weiß, daß er den Lunten schwingt und sich zum Anzünden rüstet, eh' es der harmlose Protestant vermuthet. Mit einem Wort – der Karakter des Katholiken ist der Karakter der Römer – auf ein Haar. Die Menonisten tragen von der Einfalt und Ehrlichkeit der ersten apostolischen Kirche noch manchen Zug. Ich war einigemal in ihrer Gesellschaft und mir war's so wohl in ihrem reinen Lichte. Die Reformirte haben eine schöne Kirche und eine trefliche Orgel, auf der ich etlichemal vor angesehenen Zuhorern spielte. Nirgend fand ich die Menschenstimme täuschender und reiner als hier auf dieser Orgel. Flöten und Zinnregister standen im schönsten Verhältnisse gegeneinander und das Pedal hatte Stärke und Dikke, auch war die Orgel [203] so gut gestimmt, daß man in chromatischen Tönen wühlen durfte, ohne das den Orgeln sonst so eigene Wolfsgeheul zu befürchten. Die Orgel hat den Deutschen ihre Vollkommenheit zu danken und doch traf ich, so lang' ich lebe, kaum ein Paar gute Orgeln an. Die alten Orgeln fand' ich meist besser, als die neuen, die zwar mehr Register, aber destoweniger innere Stärke haben. Die grosen Orgelmacher sind jezt unter allen Künstlern die seltensten. Man macht Klaviere, Fortepiano, Flügel, Melodika, Harmonika – alles für die Hausmusik; aber der Menschen stolzeste Erfindung – eine Orgel in ihrer höchsten Vollkommenheit hinzuthürmen, dazu fehlt's an Geld und Ermunterung mehr, als an Künstlern, die sich bald wieder finden würden, wenn man sie suchte. – Noch ist die höchstmöglich vollkommene Orgel bei weitem nicht ausgebohren und wenn sie einmal dasteht und von einer Sebastian Bachischen oder Voglerischen Seele beherrscht wird: so hat man ausser dem Gesange keines weitern Aufwands von Instrumentalisten mehr nöthig. – Die Orgel ist Alles. 5

[204] Die reformirte Gemeine in Mannheim ist ungemein devot und brüderlich gegen jeden gesinnt, der sich bei ihr erbauen will. Ich kann es nicht unangemerkt lassen, daß bei so vielen sentimentalen, pitoresken, musikalischen, ökonomischen, politischen, litterarischen, dramaturgischen, architektonischen, phisiognomischen und andern Reisen, die seit zwanzig Jahren durch Europa gethan worden, eine religiöse, christliche, andächtige Reise, auf der man sonderlich alles bemerkte, was den neusten Zustand der christlichen Religion beträfe, ein sehr wünschenswürdiges Buch wäre. Der Verfasser müßte aber ein sehr von Vorurtheilen gereinigter Mann seyn und das Gute preisen, wo er's fände. Pontoppidan hat in seinem Menoza für seine Zeiten was ziemlich hinreichendes geliefert, aber seit dem ist in der Religion eine gewaltige Revoluzion vorgegangen, so, daß seine Beschreibungen wenig mehr passen. Ich zweifle auch, ob der Verfasser der neusten Beschreibung vom Religionszustande[205] in den preussischen Landen seiner grosen Absicht entsprochen. Er berührt meist nur die Aussenseite der Religion und dringt zu wenig und nie tief genug in ihr inneres Wesen ein. Ein Fehler, den fast alle mir bekannte Kirchen- und Religionsgeschichten haben.

Meine neuen Freunde schlenderten mit mir überall herum, führten mich bald zu Bachanalien, bald in Messen. Die damalige Jesuiter – jezt Hofkirche – ist im neuesten Stile gebaut: schön wie ein Tanzsaal, aber nicht ehrwürdig war ein Tempel. Die Allgemeintafeln, die zu Mannheim in den vornehmsten Gasthöfen gehalten werden, sind meistens sehr ergözzende Gruppen von wunderbar abstechenden Karakteren. Ich wurde da mit manchen, oft sonderbaren, auch nicht selten, edlen Menschen bekannt. Die pfalzischen Offiziers, sind meistens in Ton der Geselligkeit, der heitern Freude und akademischen Fidelität gestimmt. Man trift auch Leute unter ihnen an von vestem, deutschen Sinne, die es nicht selten wagen, die französischen Milchgesichter von sich wegzublizzen. Unter diesen hatte damals der Obrist von Pfister [206] einen sehr grosen Rang. Ich hab' ihn bei Tisch und in seinem Hause gesprochen und immer den Mann von vielen, sonderlich taktischen Kenntnissen und einer wahrhaftig edlen Gesinnung an ihm bewundert.

Mannheim war damals voll von mancherlei Schauspielen. Die deutschen Komödianten, ein Zeig von Marschant, unterhielten das Publikum mit Uebersezzungen und Nachahmungen der französischen Operetten – dem kühlsten Gezeug, das jemals Menschenhirn erfand, einer Pest der Sitten und des Geschmaks. Seitdem aber in Mannheim eine Nazionalbühne ist, hat sich der Geschmak ausserordentlich schnell verbessert. Nach Hamburg wird schwerlich eine Stadt seyn, die so richtig fühlt und urtheilt, die die grosen Stükke eines Shakespear's, Göthe, Lessing, Leisewiz, Schiller, mit dieser Theilnehmung vorstellen sieht, wie Mannheim. Wie schnell kann sich der Deutsche heben, wenn ihm die Umstände nur in etwas günstig sind! Eine Bande welscher Gaukler vergnügt den Zuschauer mit halsbrechenden Sprüngen, eine Art von Ergözlichkeit, [207] die dem menschlichen Herzen zur Schande gereicht. Möchten wir alle denken, wie Karl Theodor, der, als diese Luftspringer sich vor ihm zeigen wollten, es ihnen nicht erlaubte, sondern mit Ertheilung eines grosmüthigen Geschenkes sagte: »sie möchten sich vor mir zu sehr angreifen und etwan Schaden leiden!« –

Mitten unter diesen Ergözzungen erhielt' ich schleunigen Befehl mich nach Schwezzingen zu begeben und vor dem Kurfürsten zu spielen. Ein Befehl, der mir um so angenehmer war, je schwerer es sonst fiel, bei diesem Fürsten Gehör zu finden. Ich fuhr mit dem jungen Grafen von Nesselrodt dahin und wurde sogleich vor den Kurfürsten gerufen. Er befand sich seiner Gewohnheit nach, im Badhause, einem im schwezzingischen Garten liegenden zwar kleinen, aber ungemein geschmakvollen Gebäude, die Prinzen Gallian und Ysenburg, die Frau von Sturmfeder und noch ein Paar Kavaliers waren bei ihm. Er hatte beinah allen Glanz, jede Miene der zweiflenden Hoheit – nach Klopstoks Ausdruk – abgelegt und schien nur guter Mensch und liebenswürdiger Gesellschafter zu[208] seyn. Sein Aeuseres kündigte Gesundheit und männliche Stärke an. Sein freundlicher Blik, den er auf Fremde und Einheimische ausstrahlt, mildert das Zurükschrökende seiner Macht und seines Ansehens. Man vergißt im Anblik seiner lichten Miene den Stern bald, der an seiner Brust flammt und seine Fürstengröße ankündigt. Er empfieng mich so gnädig, daß sich meine Blödigkeit, bald in Freimuth verwandelte. Nachdem er sich sehr liebreich nach meinen Umständen erkundigt hatte; so spielte er selbst, beinah etwas furchtsam, ein Flötenkonzert von zween Toeschi und dem Violonzellisten Danzy begleitet. Nach diesem spielte ich verschiedene Stükke auf dem Fortepiano, sang ein russisches Kriegslied, da ich so eben gemacht hatte, stand auf, sprach über Litteratur und Kunst und gewann des Kurfürsten vollkommenen Beifall. »Ich will Ihn öfters hören und sprechen,« sagt' er mit der heitersten Miene, als ich Abschied nahm. Dieser erste Erfolg goß Freude und Hofnung in mein Herz aus. Ich machte gleich darauf dem ersten Minister, dem jezigen Reichsgrafen Oberndorf meine Aufwartung – einem [209] ernsten und scharfblikenden Staatsmanne, dessen gnädiges Bezeigen wie Wiederstrahl von der Gnade seines Fürsten gegen mich war. Und nun stürzt' ich mich ganz in den Strohm der Tonkunst hinein, der hier voll, tief und reich in seinem Beete daherzog. Burnei thut den pfälzischen Virtuosen sehr unrecht, wenn er sie der Unhöflichkeit gegen Fremde beschuldigt. Ich hab' in meinem Leben keine höflichere Leute angetroffen, als diese. Ihr Haus, Tisch und Herz stunden mir ganz zu Diensten, so lang ich in Schwezzingen war. Sie liessen mich Antheil an ihren Kunstübungen und Ergözungen nehmen. Nichts konnte auffallender, überraschender seyn, als wenn ein Freund der Harmonie nach Schwezzingen kam, zur Zeit da sich der Kurfürst daselbst aufhielt. Man glaubte durch Zauberei in eine Insel versezt zu seyn, wo alles Ton ist, wo Nixen, Silfen, Gnomen und Salamander, Wasser, Luft, Erd- und Feuermelodien durcheinanderjagen, und dadurch die wundervollste Sinfonie bilden. Mein erster Freund aus diesem Stralenkreise war Cannabich, der mit der schönsten Kunsteinsicht, [210] das beste deutsche Herz verbindet. Man muß ihn sprechen und seine Kompositionen selbst vortragen hören, um darüber richtig urtheilen zu können. Ein einziger falscher Strich, schiefe Bogenlenkung kann seinen Stükken, die ganz original sind, einen falschen Karakter geben, und daher auch falsche Urtheile drüber veranlassen. Ich habe sie in der höchsten Vollkommenheit vortragen hören, und mir schienen sie doch immer mehr Studium der Geige und der äussern Verzierungen der Tonkunst, als tiefes Schöpfen aus dem kristallnen Meere der Harmonie selbst zu verrathen. Seine Sinfonien vom ganzen pfälzischen Orchester vorgetragen, schienen mir damals das Nonplusultra der Sinfonie zu seyn. Es ist nicht blos Stimmengetöß, wie der Pöbel im Aufruhr durcheinander kreischt, es ist ein musikalisches Ganzes, dessen Theile wie Geisterausflüsse wieder ein Ganzes Bilden. Der Hörer wird nicht blos betäubt, sondern von niederstürzenden, bleibenden Wirkungen erschüttert und durchdrungen. Das mit Recht so hochberühmte pfälzische Orchester hat diesem Manne das Meiste von seiner Vollkommenheit zu danken.

[211] Nirgends wird Licht und Schatten besser markirt, die halben, mittel und ganzen Tinten fühlbarer ausgedrukt, der Töne Gang und Verhalt dem Hörer so einschneidend gemacht; und die Katarakte des Harmoniestroms in seiner höchsten Höhe allwirkender vorgetragen, als hier. Die meisten jungen Mitglieder dieses treflichen Musikchors sind Cannabichs Zöglinge. Selbst Cramer, Lolli's würdiger Nebenbuhler, dessen Grazie ich schon in Ludwigsburg bewunderte, ist es. Tonscis Manier ist nicht so ganz eigenthümlich, aber faßlicher und mehr in den Honiggeschmak der Mode getaucht. Beginnende ernste Majestät, dann Lenkung des Strohms vom Plätschern des Pianissimo, bis zum Wogensturze des Fortissimo, schmeichelndes Andante und komisches Presto, sind der Karakter aller seiner Sinfonien. Hat man zwei bis drei gehört; so hat man sie alle gehört. Frenzel ist ein Geiger der Liebe; man kan nichts süssers, einschleichenders hören, als seinen Vortrag und seine Erfindungen.

Eines der größten musikalischen Genies das mir jemals aufstieß, war le Brün, damals [212] ein Jüngling an Jahren, aber ein Mann in seiner Kunst. Er hat – selbst nach dem Zeugnisse seines grossen Nebenbuhlers Besozi, – mit dem ich hernach in Augspurg sprach – das Maximum auf der Hoboe erreicht. Seine Manieren, Erfindungen, Kadenzen, sind meist unnachahmlich. Er übersteigt alle Schwierigkeiten seines Instruments, spielt leicht und schwer, erregt Staunen und süsses Gefühl, drükt fremde Arbeiten so gut als die seinigen aus – und ist mit einem Wort Originalkopf. Kapellmeister Holzbauer schuf mir manches Lehrreiche Vergnügen durch seinen Umgang und innhaltschwere Gespräche über die Tonkunst. Wir besprachen uns ofters über die Möglichkeit, Klopstoks Herrmannsschlacht in Musik zu sezzen; und er sprach mit vieler Einsicht über die Schwierigkeiten eines so grossen Unternehmens. Der grosse Gluk hat nach diesem in treflichen Beispielen gezeigt, daß nur ein Genie der wahre Dollmetscher eines andern Genies seyn kan. Zwei junge Sängerinnen, Danzi und Strasser, waren damals erst im Aufblühen, versprachen aber schon in der [213] Blüte sehr viel. 6 Danzi erregt durch die reine ungewöhnliche Höhe ihrer Stimme Erstaunen, aber nicht immer lautschlagendes zitterndes Mitgefühl. Raff ist der reifste Sänger, den ich in meinem Leben gehört habe. Er beurtheilt in Pensum mit dem Verstande, und trägt's dann mit dem Herzen vor. 7

Bei all dieser Vollkommenheit der Tonkunst am pfälzischen Hofe fiel mir öfters der schlechte Zustand der Kirchenmusik daselbst schwer auf's Herz. Man würdigte den Kirchenstil nur weniger Aufmerksamkeit; verschmähte die alten Messen, und führte neue, im weichsten und winzigsten Opernstile hingetändelte Kirchenmusik auf. Nichts ist profaner, als ein Lamm Gottes im girrenden neuwelschen Geschmake, ohne Himmelsgefühl hergelallt, und ein Kyrie, [214] das in schnellen leichtfertigen Takten und Tönen, wie eine Theaternimfe daherfaselt. Ich trage den Verfall der Kirchenmusik so schwer auf dem Herzen, daß ich im Verfolge meiner Pilgerreise durch eine kleine Strekke Welt, noch manches davon reden werde. – O wie trifts auch hier ein, was Kristus spricht: »Niemand kan zwei Herren dienen.« Wer dem Baal Peor räuchert und in diesem Dienst seine Kraft verschleudert, hat keine Stärke mehr für den Jehova! – Desto besser wurden die Opern bedient. Man fand hier weit mehr Mannigfaltigkeit, als in Ludwigsburg, wo Jomelli, wie ein Hecht, die kleinen Fische alle verschlang, oder stolz wie Cäsar, keinen Pompejus neben sich dulden konnte. Galuppi, Agrikola, Graun, Hasse, Sacchini, Traetta, Sales, Bach, Piccini, Schweizer, Benda, Gluk, Holzbauer und andere, wurden hier wechselsweise auf's Theater gebracht, zum Nuzzen des studierten und zum Vergnügen des unstudierten Hörers. Da manche Ausländer hieher reißten, um ihren Geschmak zu berichtigen; so war diese Wahl ungemein weise. – [215] Doch ich sehe wohl, ich müßte ein dikkes Buch schreiben, wenn ich alle meine so häufig gemachten musikalischen Bemerkungen sammeln wollte. Vielleicht, wenn diß mein Leben bekannt gemacht wird, schlummern schon viele von den genannten grossen würdigen Männern im Grabe, oder gar in unverdienter Vergessenheit. Wo sind die grossen Virtuosen zu Kaiser Karl V. und August I. in Pohlen Zeiten? – Ihre Töne sind verhallt, ihre Leiber zerfallen, und ihre Namen hat Martini, Burnei, Heinnichen, Mattheson, Marpurg, Hiller, Walter, Forkel, oder Gerber, in irgend einem Winkel ihrer Schriften, wie verbleichte Gemälde aufgestellt. O Eitelkeit! – O zehnfache Eitelkeit, weil es eine musikalische ist!! –

Die Freuden der Tonkunst waren indessen bei weitem nicht fähig, meine ganze Seele auszufüllen. Es wandelte mich vielmehr oft ein Ekel an, daß ich mich in die Einsamkeit barg, und durch Lesen geistreicher Schriften, oder durch Unterredungen mit Leuten, die denken konnten, meinen Hunger nach vieler Speise zu sättigen suchte. Ein gewisser Graf Schall, der ein[216] Enkel des berühmten sinesischen Missionars, des Pater Schalls, aus Heidelberg war, half mir durch seinen wahrheitforschenden Geist manche Stunde sehr nüzlich ausfüllen. Auch sucht' ich, wo ich nur Gelegenheit hatte, den Geschmak an deutscher Leserei immer weiter zu verbreiten. Ich las Männern und Weibern unsre besten Schriftsteller vor, und fand' ungemein vielen Eingang. Klopstoks Gelehrtenrepublik, die damals angekündigt wurde, hatte haufige Subscribenten, auch solche darunter, die es blos auf mein Wort glaubten, daß Klopstok unser größtes Dichtergenie sei. Klopstok kam bald selbst darauf nach Mannheim, und genoß alle einem so grossen Manne gebührende Ehre. Inzwischen war doch Klopstok der Autor nicht für eine halb französische, halb welsche, und damals kaum mit etwas Deutschheit tingirte Nazion. Hingegen hatte Wielands Genius allenthalben Eintritt. Seine ausländische Miene, wollüstige Gemälde, freie Moral, Kenntniß des verderbten Herzens, dem er auf eine so süsse Art zu schmeicheln wußte, machten ihn leicht zum Lieblinge eines Volks, [217] das eben so gesinnt war. Nur wenige – aber die Edelsten – schmekten Milton, Shakespear, Young, Ossian, und unsere ächte deutsche Barden. Der Kurfürst las sehr gerne deutsch, und sprach, als ich das Zweitemal vor ihm spielte, mit vieler Achtung vom Geiste der Deutschen. Schwan hatte Befehl, ihm die neusten deutschen Schriften aus allen Theilen der Litteratur zuzusenden. Ich wagt' es, dem Kurfürsten zu sagen: »Unsere Schriftsteller sind groß geworden, ohne Auguste und Ludwige zu Protektoren zu haben. Sie liesen sich von den Grossen gedultig Roßköpfe und Barbaren 8 nennen, und arbeiteten indessen Werke aus, die von den Ausländern nachgeahmt, übersezt, bewundert und beneidet wurden. D'Alembert hat Recht, der den Beifall der Fürsten nicht immer für das einzige Beet hält, aus dem die Blume des Genies hervorkeimt.« – »Er und D'Alembert hat Recht,« [218] sagte der Kurfürst lächelnd, »aber Kunst und Wissenschaft sollte doch niemals betteln gehen.« »Sie geht auch selten betteln,« erwiederte ich demüthigst, »das Publikum hat bishero noch immer einen guten Schriftsteller, der gemeiniglich sehr genügsam ist, satt gemacht.« – Der Kurfürst gab mir darauf selbst ein Thema zur Fantasie auf dem Flügel, das ich zu seinem vollkommensten Beifall ausführte. Er wies mir das schöne Dekkenstük von Guibal, der Morgen, glühend kolorirt, überladen mit Geisterchen ohne hohen Sinn, besoffene Gesichter ohne nüchterne Erhabenheit, und einige ungemein schöne und ausgesuchte Landschaften von Kobelt. Diesen Künstler lernte ich nach diesem persönlich kennen, und fand' an ihm den gefühlvollen, mit weiser Wahl die Natur studierenden Landschaftmahler. Er sprach als Meister von seiner Kunst. Ihm hab' ich auch die erste Bekanntschaft mit Maler Müller zu danken, die hernach in warme Bruderfreundschaft aufflammte. Meine größten süssesten Freuden – in so fern ich noch der Freude fähig war – empfand' ich im schwezzingischen [219] Garten, wenn ich drinnen an der Seite eines geschmakvollen Freundes lustwandelte, oder wenn ich mich ganz allein in seinen dädalischen Irren verlor. Die riesenmäsige Anlage dieses Gartens verkündigte gleich beim ersten Anblik die Schwierigkeit und unabsehliche Zeit und Kosten der Ausführung. Indessen hatte er doch schon Partien von aller Art – Chinesische Wildnisse, englische Einsiedeleien, französische Rosenlauben, welsche Orangerien – Wälder, dikke Gebüsche, hohe Lauben, Springbrunnen, Seen von fremdem Geflügel wimmlend, Grotten, Tempel und manche schöne Bildsäule aus Marmor, Stein oder Bronze. Verschaffel hat hieher seine beste Stükke gemacht. Ein Apollo aus Marmor hat zwar antikes Gesicht, aber weder antike Stellung, noch den antiken Geist, der sich wie ein Lichtschleier übers Ganze verbreitet. Ueberdiß spielt er seine Leier links, ein Fehler, den ihm die dasigen Virtuosen niemals verzeihen werden.

Auch seine Minerva hat wenig Grosses, wenig Göttliches. Das Riesenstük der Danubius, ist kaum was mehr als ein geistloser [220] Steinhügel. Ein Nereus, der eine Nimf hascht, im Schoose des dunkelsten Gebüsches aufgestellt, hat mir unter allen Statuen am besten gefallen. Die Nimfe hat viel Anmuth und Unschuld, sie windet ihr Haar aus, das vom Wasser zu strozzen scheint. Nereus schwellende Muskeln, sein wollustathmendes Gesicht dollmetschen sein ganzes Verlangen – die Brustbilder des Titus, Trajans, Antonius, Mark Aurels, des Seneka, Cicero und anderer Weisen, die mehr als alle fantastische Gottheiten ihre Stelle verdienten, sind so schlecht gemacht, daß man sich kaum dabei verweilen mag. Hirschfelds schöne Gartenideale verdienten wohl von einem deutschen Fürsten realisirt zu werden. Einigen in Schwezzingen gefundnen kostbaren Denkmalen hat der Kurfürst ein Monument errichten und den Fund durch eine schöne lateinische Innschrift verewigen lassen. Der Pallast des Kurfürsten ist klein, und will nicht viel sagen. Man hat seitdem noch mehr Pracht in diesem Garten ausgesat; aber auch diese scheint durch, die grosse, von den Pfälzern lang geahndete [221] lang gefürchtete Staatsveränderung der allgemeinen Hinfälligkeit menschlicher Pracht und Kunst, Preis gegeben zu seyn. Sowol in Schwezzingen als in Mannheim ist ein Observatorium, dessen Auge schon damals Pater Maier war, der sich sehr beeiferte, Hells Rival zu werden. –

Wer sollte glauben, daß ich unter so tausendfachen Vergnügungen des Geistes und Herzens, oft die gewaltigsten Anwandlungen von dikker, schwarzer Schwermuth hatte! –

Ein Mensch, der aus dem Zauberkelche der sinnlichen Ergözzungen, des süssen Gifts zu viel schlürft, wird bald satt und überladen. Ich gieng oft im Hesperidengarten, sah die wasserspringenden Nimfen und Seethiere; sah meine lieben Statuen, und empfand nichts; wandelte unter hohen schattichten Gängen, und blieb kalt: sah die sekularische Aloe blühen, schwamm in den Gerüchen des ganzen Blumenreichs – und schau'rte vor Ekel. Im diksten Gebüsche verloren, wallten schwarze Gedanken empor, und am Fusse des Felsen, der aus dem Rheine hiehergebracht wurde, und Wasser herabgoß, weint' [222] ich oft die bittersten Thränen. Meine Seele suchte, und fand nicht. Ich stürzte mich in Opern und Konzerte; und alle himmlische Töne prallten ohne Kraft und Eindruk von mir ab. Meine Seele suchte, und fand nicht. Tänzer und Tänzerinnen, Spiele, Trinkgelage, wo Rheinwein perlte und Scherz und laute Lache scholl, Spaziergänge im Thiergarten, wo uns der stolze Tannhirsch anglozte, selbst die Miene des Freundes, konnte meine versunkne Seele nicht aufrichten. Ach Gott, du weißt's, ich suchte, und ich fand nicht. Noch denk' ich daran, wie ich mich einstmals aus Schwezzingen riß, den hohen Rheinstrom suchte, an seinen Ufern, unweit Speier staunend stand, und nach langer Pause gen Himmel schrie: »Du, droben in deiner Höhe! Weltschöpfer! erbarme dich meiner! ich darbe im Ueberfluß! ich trinke diesen Strom aus und dürste! O nichts, nichts ist für mich geschaffen! die Schönheiten deiner Natur nicht, die Freuden deiner lieben Menschen nicht, denn mich Armen hat wütende Leidenschaft zum Sklaven gemacht! – Erbarme dich meiner.« – Doch der wird sich deiner erbarmen, [223] dessen du spottest! Mit diesem niederschmetternden Gedanken rannt' ich wieder nach Hause, und suchte Lerm und Kelchglas, um mein wimmerndes Gewissen zu betäuben und zu ersäufen.

Und doch hat Gott nie von mir abgelassen – auch wenn ich taumelte nicht, auch wenn ich ohne Seufzer mich ins Bett warf, nicht! auch wenn ich seiner vergaß, nicht! – O unaussprechlich guter Gott! nimm diese stürzende Thräne – ach sie fließt erst im Kerker! – statt des Danks für deine treue Obsicht über einen Rasenden! einen Empörer! einen Feind deines Sohnes!! – O wie fühl' ichs zittern in allen Nerven, schaudern in allen Gliedern, schlagen im Herzen, tropfen vom Auge – du bist Gott und nicht ein Mensch! du bist die Liebe!! –

Wer Erbauung suchte, konnte damals keinen ungeschiktern Plaz wählen, als Schwezzingen. Die Katholiken bleiben auch hier im Aeussern, und befriedigen sich damit über ihren innern Zustand. Doch hab' ich Leute unter ihnen gefunden, die tiefer gruben und Gründe [224] aufsuchten, dem auch hier herrschenden Unglauben begegnen zu können. Die Lutheraner haben eine Kirche und einen eignen Geistlichen, den ich zuweilen am hellen Tage vor seinem Hause Holz spalten sah. Er führt ein dumpfes kümmerliches Leben. Seine Gemeinde bleibt im engen Kreise weniger Wahrheiten, und pflegt der Andacht beinah ganz im Verborgenen. Die Sitten sind hier und Mannheim ziemlich frei, sonderlich sezt man sich über den Punkt der Keuschheit, wie leider an allen Höfen, auch grossen Städten in Deutschland, mit unbeschreiblichem Leichtsinn weg. Hurerei und Ehebruch sind Modesünden, die man zwar beichtet, aber sogleich wieder begeht. Eine Maitresse halten, ist hier wie in Paris, Londen, Berlin, guter Ton. Die gewöhnlichen Unterredungen mit Frauenzimmern sind eingekleidete, oder meist nakte Zoten. Die Wollust, ich meine eine viel weiter getriebene Wollust als Epikurs ηδονη, hat hier sowohl wie anderwärts ihre Tempel, Priester und Priesterinnen. Unter keiner Gestalt hat der Fürst der Finsterniß größre Eroberungen gemacht, als wenn er im leichtfertigen [225] Gewande der Bulerin erschien, und oft mit einem Tappon, verschobenen Halstuch, wehender Schürze und frechem Blikke die schönsten Entschlüsse der erwachenden Tugend niedertrümmerte. O alte deutsche Keuschheit, wo bist du? – Die Wollust scheint beinahe die Quelle der so hochgerühmten Empfindsamkeit zu seyn, dieser weichen Tugend, die nahes Elend auf Augenblikke fühlt und fernes vergißt, die sterbende Fliege beklagt, und den im Lazaret winslenden Siechen mit Ekkel betrachtet; über nachgeäffte Empfindungen im Schauspielhause weint, und an wirklichen Scenen des Jammers mit versteinerten Augen und Herzen vorübergeht. – Daher sind die Empfindsamen meist da zu Hause, wo es Höflinge, Schauspieler, Tonkünstler, Romanenleser- und Leserinnen gibt. – O Sterne, – guter Yorik! wie übel hat man dich verstanden! –

Inzwischen traf ich doch kaum an einem Orte so wohlthätige, gutherzige Leute an, als am Hofe des Kurfürsten, der selbst ein dem Mitleiden beständig geöfnetes Herz hat. Unter dem Orchester gab es viel gute Seelen, die das, was [226] sie frölich verdienten, wieder frölich mittheilten. Cannabich verdient auch in Absicht auf seine Menschenliebe, die sich oft in Wohlwollen und Freigebigkeit ergießt, ein Denkmal. 9

Bei so vielen, grossen Bekanntschaften, die ich in der Pfalz machte, fehlte es mir doch noch immer an einer dauerhaften Versorgung. Ich und meine Freunde glaubten anfangs, der Kurfürst würde mich sogleich in seine Dienste nehmen, weil dieser Fürst selbst davon sprach. Aber der Genius, der unsichtbar mein Leben und meine Schiksale auch im Sturme lenkte, ließ es nicht zu. Ich mußte mich durch ein kühnes Urtheil über die Akademie in Mannheim, die das Herzblatt des Fürsten war, vergehen; geflügelte Boten stellten sogleich mein Urtheil in Riesengestalt vor den Thron, und mein mit wankender Hand erbautes Häuschen stürzte in den Sand. 10 Nun war ich wieder gänzlich [227] verlassen. Meine Gönner und Freunde zeigten mir Stirnen, von denen die Ungnade des Fürsten frostig auf mich schauerte; ich floh, denn Frost und Kaltsinn war mir immer ärger, als der Tod. – Wohin nun? – Ich trug alle meine Haabe auf dem Leibe, und hatte nicht einen Kreuzer Geld. – Aber mitten im Angstgedränge meldete sich der Bediente des Grafen von Schmettau bei mir, und ersuchte mich, sogleich zu seinem Herrn zu kommen. Ich flog dahin, und traf einen jungen Mann an, dessen ganze Miene – Freimuth, Durst nach Wahrheit, Grosmuth und Menschenliebe sprach; »Die Hofluft weht nicht gut für Sie,« sagte er mehr trokken als freundlich, »Sie verstehen die Kunst zu leben nicht. Inzwischen bis Sie andere Aussichten haben, sieht Ihnen mein Tisch und meine Börse zu Diensten. Ich habe selbst nicht viel, doch noch immer so viel, als für Ihre einstweilige Bedürfnisse hinreichen möchte.« – Der Graf hielt Wort, nahm mich zu sich, [228] ließ mich von Fus auf kleiden, gab mir Geld und freie Kost. Eine so ungezwungene, großmüthige Seele hab' ich in meinem Leben nicht angetroffen. Sein Vater war dänischer General, der in Altona privatisirte, und äusserst kühne Schriften gegen die Religion herausgab. Er lernte noch im Alter hebräisch, um gegen das alte Testament kriegen zu können. Seine so betittelten Blätter, aus Liebe zur Wahrheit geschrieben, die aber bald von den Censoren unterdrükt wurden, lagen eben auf dem Tische des jungen Grafen, seines Sohnes.

Sie enthielten das Kühnste, was man gegen die Bibel sagen kann. Indessen hatte doch der junge Graf noch nicht ganz Parthie genommen. »Das Ding kann doch wahr seyn,« sagt' er; »aber was haben wir für Trost, wenn es wahr ist?« – So jung dieser edle Mann war, so gros und reich waren doch die Erfahrungen, die er bereits in der Welt angestellt hatte. Er war einige Jahre kursächsischer Gesandter in Madrid, und wußte den Geist der Spanier und den Karakter des Königs und seines Hofs weit treffender zu schildern, als Clark und Baretti. [229] Was ich hernach im Bourgoin las, schien mir größtentheils eine Wiederholung desjenigen zu seyn, was ich lange schon von meinem Grafen gehört hatte. Nachdem er diese Stelle niederlegte; so besuchte er die größten deutschen Höfe, und nahm darauf die Stelle eines kurpfälzischen geheimden Raths an. Er hatte nebst den Eigenschaften eines redlichen Staatsmannes eine schöne Belesenheit in den Schriften der Deutschen, Franzosen und Spanier, schrieb französisch und deutsch mit vieler Richtigkeit, hatte sich auf seinen Reisen wichtige Beiträge zur Menschenkenntniß gesammelt, und war sonderlich ein wahrer Kenner und Beurtheiler der Kunstwerke. 11 Ich habe bei ihm die schönste Sammlung von geschnittenen Steinen angetroffen – und sonderlich eine antike Calirrhoe in Carniol von ausnehmender Schönheit und Werth. Lipperts Daktiliothek [230] wurde von ihm mit manchen seltnen Abdrükken bereichert. Dieser Graf konnte durchs Gefühl die Antiken von den Modernen unterscheiden, so geübt war er in diesem Theile der Kunst. Ich las ihm Herrmannsschlacht und Göz von Berlichingen vor, und fand hier das erstemal einen Mensch, für den solche Werke geschrieben zu seyn schienen. In meinem Leben will ich die Aufwallungen von Entzükken nicht vergessen, die unterm Lesen an diesem starkfühlenden Grafen ausbrachen. Herrmann! Göz! Klopstok! Göthe! war alles, was seinen glühenden Lippen entströmte, wenn ich Pausen machte. Da trafen die Dichter einen Mann an, der die grossen Züge fühlte, weil er selbst grosse Anlagen hatte. Feuriger Haß gegen entmannende Grundsäzze und Modeempfindungen entstürzten ihm oft wie Lava. Er suchte tapfere, gerade, redliche, biderbe, grosherzige, einfältige, von der Scheere Kultur unverschnizzelte Menschen – und weil er sie nicht fand, so war er oft gesonnen, sich in die dikste Einsamkeit einzuhüllen, und Stern, Wappen und Ordensband in irgend einen Winkel zu werfen, [231] um der Wahrheit leben und sterben zu können. Dieser originelle, an Höfen ungewöhnliche Karakter gab ihm das Ansehen eines Schwärmers, eines Sonderlings, und hinderte ihn an der Wurzlung und am Emporstreben und Wachsthum seines Glükes. Er war, kurz zu sagen, ein Mann, der unterm neu'sten Moderok die ältesten Gesinnungen verbarg. Da er mit diesem Kopfe überall anstieß; so breiteten sich fast bestandig düstre Wolken über seine Seele aus, hüllten sein Antliz in Schleier einer mürrischen Laune ein, und gaben beim ersten Anblik zu erkennen, daß der Wurm Mißvergnügen am edlen Herzen dieses Mannes nage. Er sprach nicht selten mit Begeistrung vom Selbstmord. – »Wollen uns einklammern und in's Wasser stürzen,« sagte er einstmals zu mir, als wir am Rheinstrome wandelten. – »Wenn Gott nicht unsre Narrheit in einer andern Welt bestrafen könnte,« erwiederte ich. – »Eben diß hält mich noch immer zurük,« sagte der Graf, »denn sollte Gott Seelen schaffen, um sie einige Augenblikke in bunten Farben vor sich schweben, und dann am Grabe zerplazzen zu lassen?« – [232] »Noch mehr, sollt's möglich seyn,« sezt' ich hinzu, »daß Seelen wie die Ihrige ewig suchen und niemals finden sollten? Instinkte ihre Sättigung finden, und Geister mit all ihrem Streben nach Vollkommenheit verschmachten, und am Grabe mit der vegetirenden Pflanze auf ewig hinwelken sollten?« »Sie haben recht,« rief er aus, »o Wahrheit, Wahrheit, wo thronest du?« – So sucht' ich ihn oft zu trösten, ob ich gleich selbsten an der Unsterblichkeit der Seele in mancher düstern Stunde zweifelte. Gott sollte erst dort das Laster bestrafen? dacht' ich oft falsch! Wer hat die Geißeln geflochten, die mich schon jezt zerfleischen? mich oft im Genusse zerfleischen? wer gibt schon hier dem Weisen und Frommen seine heitere Miene, die den Frieden seines Herzens ausstrahlt? – Possen! nach dem Tod ist alles aus. Hier schon, hier schon, ist Himmel und Hölle. Himmel ist Ordnung, und Hölle ist Verwirrung, wie die deinige ist – so dacht' ich, aber sagt' es nicht. Mitten unter solchen Beschäftigungen wurde ich mit dem Sekretar des kurbairischen Gesandten Baron von Leiden bekannt. Bald darauf macht' ich seinem [233] Herrn selbst meine Aufwartung, der mich ungemein gnädig empfieng, und mich beim Nachtessen behielt. Er sprach über der Tafel von der grossen Revoluzion, die der Sturz des Jesuiterordens im Erziehungswesen seines Vaterlandes veranlassen würde. »Vielleicht können Sie jezt im Bairischen ihr Glük machen,« sezte er hinzu, »wenn Sie sich entschliessen könnten, Ihre Religion zu verändern.« Was hast du zu verlieren, dacht' ich, und versprach es ihm, ohne weitere Ueberlegung, wenn er die Gnade haben, und mich mitnehmen wollte. »Das will ich gar gerne,« sprach er, wie ein Mann dem's Ernst ist. Ich gieng sogleich nach Hause, und erzählte meinem Grafen den gefaßten Entschluß. Er billigte ihn, wenigstens als Desperationsmittel. Ich nahm dann überall Abschied, und wurde von dem Kurfürsten beschenkt. Als ich mein Geschenk einpakken und meiner Frau zuschikken wollte; so fragte mich mein Graf: »wem schikken Sie diß Geld?« – »Meiner armen Frau und Kinder.« – »Gut! Legen Sie auch diese hundert Gulden bei. – Doch ich sehe schon, Sie können nicht pakken.« [234] Und hiemit sezte er sich, pakte mein Geld und seine beigelegten hundert Gulden zusammen, legte den Pak auf den Tisch und sagte: »Schreiben Sie Ihrer Familie, sie soll für mich beten!« – Ein Zug seines Herzens, der durch den mindesten Zusaz von Beschreibung verstellt würde. – O Gott in deinem Himmel, sende die schönste Belohnung, die du hast – deinen Frieden in diese edle Seele herab, unter welcher Himmelszone sie jezt weilen mag!! 12 – Am lezten Tage meines Aufenthalts in Schwezzingen wurd' ich plözlich von einem Boten des Todes überfallen. Eine Anwandlung vom Schlage erschütterte mir die ganze rechte Seite. Man ließ mir Ader, mein lieber Graf rieb mir mit eig'nen Händen die Fußsolen, und kam nicht von meinem Bette, bis ich mich wieder erholt hatte. Krank fuhr ich den andern Tag mit ihm nach [235] Mannheim, und fieng erst nach und nach an, wieder aufzuleben. Die feurigen Weine, die ich zu unmäßig trank, hatten mir diesen betäubenden Schlag zugezogen. O Gott! wie preiß' ich dich, daß du mich nicht damals tödtetest, daß du mich herausrießest aus dem Strudel, und mich traufelnd auf meinen Berg stelltest! –

Und nun nahm ich auch von allen meinen Bekannten in Mannheim Abschied – und endlich auch den bangen, thränenwekkenden Abschied von meinem lieben Grafen, auf dessen Wiedersehen in der Ewigkeit ich mich innig freue! – Sollte Gott so schöne Seelen nicht herumholen, da er nach weit schwächeren Seelen die Vaterhände ausstrekt? – O Er wirds! – Ich hoff' es zu Gott, er wird's!!

Glosse

Unter den Pfälzern bemerkt' ich damals so was Furchtsames, so was ängstlich Umherblikkendes, sonderlich unter den Protestanten, als wenn sie Spionen zu befürchten hätten. Man merkte es deutlich, daß die Katholischen [236] herrschten; daher sahen sie freier und furchtloser umher, wenn gleich die Protestanten sie in der Geistesbildung weit übertrafen. Die Protestanten erzählten mir manche auffallende Beispiele von Bedrükkungen, die nicht vom Fürsten, seinen Ministern, Räthen und Amtleuten, sondern von sogenannten Geistlichen Priestern des Herrn – eigentlich aber zelotischen Pfaffen – herkamen. Dieses Geschmeis schwebte, wie Harpyen, über den Protestanten, und entweihte mit seinem Unrathe den Bissen ihres Mundes und den Labetrank ihres Bechers. Ich machte gewaltige poetische Ausfälle auf diese schwarze Gesellen, die aber solcher papiernen Blizze nicht achteten, und mich dagegen mit bitterem Grimme verfolgten. – Jezt ist es anders, und der milde Stral der Aufklärung hat auch in der Pfalz tolerantere Gesinnungen verbreitet. Auch ist der Ton der Nazion durch das trefliche Mannheimer Theater seitdeme ungemein verbessert – deutscher, vester, konsistenter gemacht worden. Ein grosses Beispiel vom Nuzzen der Nazionaltheater.

Fußnoten

1 Meisterhaft hat mein Freund, Maler Müller in Rom, diese Trummer geschildert. Die starke Zeichnung steht in der Schwanischen Schreibtafel.

2 Wohlgemerkt damals!! – Ist es wol izt besser? –

3 Selbst Lessiing sagte, als er hernach diesen Antikensaal sah, daß man hier Alles viel bequemer beobachten könne, als selbst in Rom.

4 Sonderlich damals. Die Entfernung des Hofes hat hierinnen gar vieles abgeändert. – Doch erhält die trefliche Schaubühne – Deutschlands erste – noch immer Leben in dieser schönen Fürstenstadt.

5 Davon gibt in unsern Tagen Vogler gar stattliche Beweise. Er hat nicht nur der Orgel manche höhere Vollkommenheit gegeben; sondern spielt sie auch als erster Meister.

6 Leztere ist bereits verblüht und die erstere ist jezt des eben gerühmten le Brün Gemahlin, und gehört mit Gabrieli, Mara, Lang, Baletti, unter die ersten Sängerinnen unsrer Zeit.

7 Ist noch als Veteran angenehm zu hören. Raff ist auch in anderm Betrachte ehrwürdig, denn er ist, was wenig Virtuosen sind – fromm.

8 Vom Kaiser Karl V. bis auf Friedrich den Einzigen, und noch giebt es Fürsten, die voll vom Auslandswahne ihr eignes köstliches Landguth verkennen.

9 Unverschämt ist also der Vorwurf, den Burnei in seinen musikalischen Reisen den pfälzischen Tonkünstlern macht – als wären sie ungesellig, grob, ungastfrei. Gerade das Gegentheil fand ich.

10 Eine rothhaarige Furie, das Weib des K.M.H., der nun auch heimgegangen ist, beschleunigte mit ihrer Zungengeissel meinen Fall.

11 Seine seitdem herausgekommene Schriften bestätigen die Richtigkeit meines Urtheils. Er denkt kühn, schreibt kühn, und erhebt sich gerne gegen die gemeinen Meinungen, wie seine Schrift gegen die Empfindler und Kraftgenies darthut.

12 Ich habe von diesem treflichen Manne seitdem wieder Nachricht erhalten. Er war indessen ein Paar Jahre in Paris, privatisirte dann zu Worms, gab durch einige herrliche Aufsäzze Laut von sich, und lebt noch jezt – seinen Grundsäzzen gemäß – ohne Bedienung.

15. Period
Fünfzehenter Period.

Und nun saß 'ich im Reisewagen, an der Seite eines vornehmen Gesandten, unter dem Karakter eines Konvertiten. Die ganze Person des Baron von Leiden sprach zwar männlichen, aber nicht zurükschrekkenden Ernst. Sein Geist, an die Strenge der verschwiegenen Staatskunst gewöhnt, trat langsam oder gar nicht aus dem Gewölke – nachdem er seinen Gefährten trauen oder nicht trauen konnte. Was er blikken lies, war schön, im Lichte der Vaterlandsliebe und der reinsten Gewissenhaftigkeit leuchtend. Er sprach mit Begeisterung von seinem Vaterlande, und trug schon damals das Geheimniß auf dem Herzen, das hernach bei dem Tode seines Fürsten ausbrach. Ob er gleich seiner Religion eifrigst zugethan war; so schäzte er doch die Gelehrsamkeit und Aufklärung der Protestanten, und empfahl sie seinen Landsleuten unaufhörlich zur Nachahmung. Er reißte blos [238] deßwegen nach Göttingen, um sein Ideal von einer guten Universität darnach zu messen, und es bei Gelegenheit auf Ingolstadt anzuwenden. Die Geschichte und das Staatsinteresse seines Vaterlandes kannte er vollkommen. Man kann nicht arbeitsamer, auch mitten auf der Reise, treuer, verschwiegner, ökonomischer seyn, als er es war. Er schrieb die deutsche Sprache rein und nachdrüklich; auch sprach er sie ohne alle Affektation, besser, als sonst ein Baier aus. Er ärgerte sich über die Stümmlungen der Hannoveraner, Hessen und Pfälzer, und vertheidigte den vollen Ton seiner Landessprache. Sein Herz ist voll Liebe, Nachsicht und Verträglichkeit. Ich hab' ihn, so lang' ich ihn kannte, nie zanken, nie fluchen hören. Ein ruhiger Verweiß, in einen Volksspruch gekleidet, ist alles womit er straft. Er lebt mäßig, und ist selbst sein strengster Richter. Die Religion ist ihm über alles theuer; er hört die Einwürfe der Freigeister an, und seine Seele bleibt ruhig auf ihrem Grunde liegen. Ein feiner Scherz gefällt ihm zwar wohl, er selbst aber kleidet sich am liebsten in Ernst. Mit Einem [239] Wort: er scheint das Maas eines Weisen und tugendhaften Staatsmannes bis auf wenige Striche zu haben. Wir kamen unter den angenehmsten Unterredungen nach Aschaffenburg, wo er mit dem Minister von Grosschlag wichtige Geschäfte abzuthun hatte. Ich hatte das Glük, einen ganzen Tag in der Gesellschaft dieses treflichen Ministers zu seyn. Ja wohl ist es eine Wollust einen grossen Mann zu sehen! – Grosschlag gehört unstreitig unter die verdientesten und größten Männer unsers Vaterlandes. Die Rastlosigkeit und das Feuer seines hohen Genius kündigt sich schon in seiner Miene, seiner Stellung, seinen Gebärden, an. Er funkelt in der Glorie des Genies. Staatskunst, Weltweisheit, Geschichte, schöne Wissenschaften und Künste, Pädagogik, Sprachen, Menschenkenntniß, Religion – alles liegt im Kreiße, den der Zauberstab seines Genius um ihn herzog. Was er spricht, befiehlt, thut – hat das Gepräge eines zum Gesezgeber gebornen Geistes. Wenn man sich erinnert, welche Schwierigkeiten er überwand, bis er das Erziehungswesen im Mainzischen ordnete, mit welchen Minotauren [240] und Drachen er zu kämpfen hatte, bis er Erfurt wieder emporhob – und was seine Seele leiden mußte, als der plözliche Tod seines weisen Fürsten alle seine grossen mühsamen Anstalten wie im Donnersturme niedertrümmerte; der wird es fühlen, welch ein Geistermaler dazu gehöre, das Eigenthümliche, nüanzirte Grose dieses Mannes darzustellen. Wir sprachen von tausend Dingen – ich als Neuling, er als Meister. – »Wie sind Sie der Mann geworden, Ihr Exzellenz?« fragt' ich; »durch einen romantischen Zufall,« erwiederte er. »Ich war ein wollüstiger, leichtsinniger, absichtloser Wildfang in meiner Jugend, bis ich einst, wie durch ein Wunder, auf der Jagd einen Mann antraf, der sich mit mir unter einen Baum sezte, alle meine Anlagen vom Gesicht herunterlas, meine Sitten bestrafte, und mir in kurzen, weitgreifenden Grundsäzen zeigte, wie ich künftig mein Leben einzurichten hätte. – Ich befolgte diese Grundsäze, und bin nun, was ich bin. Mein Mentor, ein alter erfahrner Edelmann, freute sich über meine Folgsamkeit, und ist vor Kurzem im Frieden gestorben.« – [241] Ich sah mit diesem treflichen Kopfe den Main hinunter den dicht am Schlosse vorbeizog, hörte eine sehr schöne Musik, womit man dem anwesenden Kurfürsten den Morgengruß gab, durchblikte mit geizigem Auge die ganze Schönheit der weiten Gegend, durch manche schöne deutsche Heldenthat so groß, so ehrwürdig! – und horchte der tiefsinnigen Weisheit meines Perikles. – O Gott! ich hatte der Freuden viel; verzeih's, daß ich zu wild war, um sie weislich geniessen zu können! – Ich rieß mich aus dem Zauberkreise dieses Mannes, und reißte mit meinem Beschüzer über Dieburg – (auch hier fanden wir in der Anlage eines Hesperidengarten die Geniushand des Herrn von Grosschlag,) nach Darmstadt, wo ich in meinem Leben die schönste und regelmäßigste Kriegsmusik hörte. Meine Seele stieg, und witterte Krieg, als ich diß vortrefliche Musikkor vor einem Haufen der schönsten und geübtesten Soldaten von der Welt, herschreiten sah. – Aber besanftigt und zu Empfindungen der Schwermuth heruntergestimmt wurde diese Seele, als ich im Garten des Landgrafen, im [242] schauervollsten Dikicht das Grab, mit der melankolischen Urne drauf, sah, in dem die weise und kristliche Landgräfinn schlummern wollte. Sie war eben damals in Rußland, um dem Grosfürsten ihre Tochter zuzuführen. – Aber die Freude, eine Kristinn zu seyn, zog sie der vergänglichen Ehre weit vor, Kaisern und Königen ihre Töchter gegeben zu haben. Das daselbst befindliche Exerzierhaus ist ein Meisterstük der Baukunst, und ergözte mich um so mehr, weil es ein Deutscher gebaut hatte. Im ganzen Gebäude ist weder Säule noch Pilaster; die auf dem Dachstuhle wie Riesenarme ineinandergeschlungene Hang- und Tragbalken, tragen das ganze Gebäude, in welchem zweitausend Mann bequem manövriren können, gleichsam in der Luft. Wenn ich ein Engländer wäre, so würd' ich nicht unangemerkt lassen dürfen, daß der verstorbene Landgraf – sonst ein Mann von wahrem Heldengeiste; wie seine Kriegsthaten erweisen, – die Schwachheit hatte, nach der kleinen Ehre zu geizen, der erste Tambour in Europa zu seyn. Doch, man erlaube den Fürsten ihre Schwachheiten zu haben; denn sie sind [243] Menschen wie wir; und wir begehen ja der Schwachheiten zu tausenden. –

Wir kamen nach Würzburg, wo der Gesandte dem ersten bairischen Minister, Grafen von Sinzheim, – der seinen Bruder, den damaligen Fürstbischof besuchte, – den Erfolg seiner Reise zu hinterbringen hatte. Hier spielt' ich vor dem Fürsten, und sprach mit ihm über verschiedene wichtige Gegenstände, sonderlich über die weise Anordnung der dasigen Universität, die zum zweiten Rang nach Göttingen, emporstrebte; – oder vielmehr nach dem ersten Range unter den deutschen katholischen Universitäten. – Der Fürst zeigte viel Einsicht, und einen sehr aufgeraumten, hellen Geist. Man mußte mir auf seinen Befehl alle Schönheiten seines Schlosses zeigen, die hier reicher ausgestreut sind, als ich sie irgendwo gesehen hatte. Bauart und Anlage des Schlosses ist vortreflich; sonderlich sind die Treppen so schön, breit, licht, bequem, daß sie dem besten griechischen Baumeister Ehre machen würden. Das Dekkenstük von Tiepoli, die Karaktere der vier Welttheile ausdrükkend, ist ein[244] Meisterwerk. Ich stand so lange darunter, bis mein Nakken vom Emporschauen, und mein Herz vom Nachgefühl, – denn jedes nüzliche Beschauen der Kunstwerke muß Nachgefühl, oder ein stilles Nachzittern vom Vorgefühl des schaffenden Künstlers seyn, – ermüdete. Dem Fürsten gefiel meine Aufmerksamkeit auf die Schönheiten seiner Residenz ungemein wohl, ich mußte alle Säle und Zimmer durchstreifen, und meine Anmerkungen darüber machen. Vieles in diesem Palaste ist geringfügig, mehr durch abwechslende Farben, als durch hohen Sinn täuschend. Der dicht dabei liegende Garten ist weder ganz ausgearbeitet, noch schön angelegt, und über das noch mit den erbärmlichsten Statüen verunstaltet. Man führte mich nach Veitzechen, einem reizenden Sommerhause des Fürsten; man überschwemmte mich da mit Höflichkeitsbezeugungen, zeigte mir alle Anlagen, Grotten, nachgeäffte Ruinen, gemalte Bildsäulen, im komischen, ganz und gar ungriechischen Geschmake, Säulen am Salon, auf musivische Art mit gefärbten Kieselsteinen verziert, und tausend Dinge, die den, der von [245] Schwezzingen herkam, nur mit einem matten Schlage rührten. Ein bronzirtes Pferd, mitten im See, auf einer Säule stehend, schien viel Kunst zu verrathen. Der Bildhauer, der dies alles verfertigte, war ein Selbstgelehrter von lüftigen Sitten, der ausser wenigen Formen, keine Meisterstükke der Skulptur gesehen hatte, und also blos die Ideale seiner eignen Fantasie kopieren mußte. Indessen fiel es dem Reisenden sehr schwer auf, Büffons, Harlekins, Skapins, Hannswurste, Anselmo's, Kolombinen, bunt und lieblich gemalt, wie auf den Münchner Tarokkarten, aus Stein gehauen, und im bunten Zirkel einander angrinsend, im Garten eines geistlichen Fürsten zu sehen. Doch die Heiligen, kan man denken, gehören in die Kirche. Ich genoß inzwischen die Welt in Würzburg, die hier recht schekigt und kraus durcheinanderwimmelt, so gut ich konnte. Unter andern besucht' ich auch den berühmten Konvertiten Herwig, und mußte mich ungemein wundern, ihn kaum ausfragen zu können; so wenig war er bekannt. Auch die wenigen, die ihn kannten, sprachen kalt [246] und mit verächtlichen Seitenblikken von ihm. Ich habe nach diesem noch mehr Anlaß zur Anmerkung gefunden: »daß Renegaten bei Türken und Kristen zwar willig aufgenommen, aber meistens bald verachtet werden.« Ich traf endlich Herwig in einem Winkel der Stadt, parterre wohnend, an, sprach manches über die Litteratur, sonderlich über seinen Aristofanes, und über seine Plane, den Geschmak in den hiesigen Gegenden zu verbreiten, mit ihm, und glaubte das tiefliegende Mißvergnügen seines Herzens aus einigen trüben Zügen seines Antlizes herunterlesen zu können. Ich rühmte hernach, selbst gegen den Fürsten, die mannigfaltige Geschiklichkeit dieses Mannes: die Folge aber hat gewiesen, daß Würzburg der Plaz nicht für einen Mann wie Herwig war. Ich mußte mich sehr betrügen, oder er hat seinen Abfall von der evangelischen Kirche gewiß schon hundertmal bereut; so sehr er auch in seinen neusten Schriften durch hizige Ausfälle auf die Protestanten, das Gegentheil zu äussern scheint. 1

[247] Ich sezte mich nun wieder zu meinem Beschüzer in Wagen, und ließ mich in gedankenlosem Unsinn fortrollen, wohin er wollte. So unbeschreiblich leichtsinnig ich war; so durchblizte doch zuweilen der Schauergedanke mein Innerstes, welch ein plan- und zwekloses, Gott- und der Welt unnüzes Leben ich führte; wie ich durch Ausschweifungen meine Gesundheit zerstörte; meine schöne Naturanlagen in rasender Unordnung verderbte, und jezt im Begriff wäre, einen Schritt zu thun, der mich meiner ganzen Familie zum Greuel machen müßte, weil damals unter vielen Lutheranern – katholisch- und verdammt werden – eins war. Diese Gedanken wölkten sich immer dichter und schwärzer in meiner Seele, je näher ich dem Aufenthalte meiner Blutsverwandten kam. Wir weilten einen Tag in Ellwangen, drei Stunden von Aalen, wo meine Eltern waren, die mich schon lange für einen ungerathenen Sohn hielten, [248] und in bangsamer Ungewißheit waren, wo mich der Sturm in der Welt herumtrieb. Ich glaubte die vaterländische Luft zu fühlen, und schauderte darinnen, wie ein Missethäter. »Aber dacht' ich, die Wooge Unordnung hat dich schon zu weit verschlagen, und nun geh's, wohin es wolle.« In den wenigen Stunden, die ich mich in Ellwangen aufhielt, und die mein grosmuthiger Beschüzer alle lehrreich und ergözend auszufüllen suchte, lernte ich an dem Grafen von Oetingen einen der seltsamsten Karaktere kennen. Sein phisischer und moralischer Geschmak war gleich originell. Er nährte sich meist mit Zukker, was den Leib betraf, und seine Seele speißte sich mit türkischen, persischen, arabischen, kabalistischen alchimistischen und hieroglifischen Delikatessen. Seine in vielen Quartanten zusammengeschriebene Gedanken, Reflexionen, Urtheile über tausenderlei, meist ungewöhnliche Gegenstände, würden für den Forscher des menschlichen Herzens der lehrreichste Zeitvertreib seyn, und dabei großen Nuzen gewähren. 2

[249] Auch die Phisiognomie dieses Mannes hatte was ganz Eigenes, und verdiente einen ansehnlichen Plaz in Lavaters grossem Werke. –

Wir kamen nach Nördlingen; speißten daselbst. Wie mein Herz da laut emporschlug, als mich jeder Stein an meinen ehmaligen hiesigen Aufenthalt erinnerte – und wie diese Schläge so furchtbar wurden, als ich an meinen lieben Bökh dachte, der hier Archidiakonus war, und an meine zärtliche Schwester Juliane, die ich beede aus Furcht ihrer verdienten Bestrafung nicht zu besuchen wagte; das wird mir der glauben, der wie ich die Qual eines halbgetödteten Gewissens mit sich herumtrug. Ich fühlte die Seeligkeit dieser meiner Freunde, die schon dreizehen Jahr im Schoose der Tugend und Ordnung, den Frieden des Gewissens und jede Freude des häußlichen und geselligen Lebens kosteten, [250] und von nichts, als von den traurigen Nachrichten von mir, geängstet wurden; – diß fühlt' ich in schnellem, wie Schwefeltropfen auffallendem Angstgefühl, und konnte kaum den Augenblik erwarten, bis mich der Wagen wieder aus Nördlingen riß. Kaum war ich aus diesem beklemmenden Dunstkreiße heraus; so verschlang die alte Nacht in mir den fallenden Lichtstrahl wieder, und seine Stätte wurde noch finsterer.

Wir kamen endlich über Donauwerth 3 und Augspurg in Affingen an, einem nur zwo Stunden von lezterer Stadt entliegenden Landguthe des Gesandten. Der arbeitsame, von Reisen ermüdete Staatsmann, war hier einige Wochen Ehgemahl, Vater, Richter und Landwirth; der Zärtlichkeit, Liebe, Gerechtigkeit [251] und Ordnung ergoß. Ich durchstreifte inzwischen, wie von Furien gejagt, das Landguth meines Beschüzers, glozte aus weiten Augen Alleen, Plantagen, Zimmer, Gemälde, Bücher, Gärten, Wälder und Haine an, besuchte die benachbarten Geistlichen, stürmte Unsinn aufs Papier, fuhr einigemal nach Augspurg, um die dasigen deutschen Schauspiele auszuzischen; kam zurük, aß, trank, lernte verschiedene Menschengesichter, krumme und gerade, Denkermienen und Pausbakken der Dummheit und des aberglaubischen Wahns kennen, lachte, und brütete Schwermuth, alles so durcheinander, wie man es von einer solchen, von der Leidenschaft geschüttelten Seele erwarten konnte. Die Gemalinn des Gesandten, eine Schwester des damaligen Bischofs von Freysingen, war ein schönes, ihren Gemahl zärtlich liebendes, ihre Kinder sorglich erziehendes, und von der Hofluft noch gar nicht angestektes Weib. Der Hofmeister des ältesten Sohns war ein gutmeinender, aber in wissenschaftlichen Dingen sehr kleiner Mann. Der Gesandte fand hernach einen jungen Geistlichen [252] in Mannheim, dem er seine Kinder mit sehr schönem Erfolg anvertraute. Es war Westenrieder, der sich jezt durch so schöne Geistesprodukte auszeichnet.

Mitten unter Beschäftigungen dieser Art erhielt' ich auf einmal zween Briefe von meinem lieben Weibe. Sie waren beede in zärtliche Schwermuth, weibliche Sorgsamkeit, girrende Liebe, und innige Dankbarkeit getaucht. Meine Gattinn hatte, seitdem ich in der Welt herumjagte, Schmetterlinge fieng, und Blumen beroch, das bitterste Leiden auszustehen. Sie war einige Zeit in Ludwigsburg, ohne Hülfe von Seiten der Menschen, den bittersten Vorwürfen meiner Feinde ausgesezt, in allen Gesellschaften als Bettlerinn angesehen, kalt bemitleidet und heiß verachtet, und zog mit ihren Kindern, sich auf Gott verlassend, ihrer Heimath zu. Da fand sie ihre Mutter am hizigen Fieber schwer darnieder liegend. Sie drükte die rauchende mütterliche Hand, pflegte ihrer Mutter, ihrem Bruder, bot rechts und links Hülfe, bis ihre Knie brachen, und das Gift der Krankheit sie selbst aufs Bette warf. Sie [253] brütete einige schrekliche Tage sinnlos in ihren Qualen hin, und als sie das Erstemal wieder die Augen zum neuen Leben aufschlug; so stammelte sie die Frage: »wo ist mein Mann?« – Und eben da, bot ihr, ihr treuer Vater, der sie nie verließ, einen Brief von mir in's Bette, der sie mehr erquikte, als alle Arzneien. Sie genaß, und hofte wieder aufs neue wegen meiner; denn mein Weib hat niemalen, selbst in den größten Verfinsterungen meiner Seele, alle Hofnung wegen meiner Wiederkehr zu Gott, fahren lassen. Sie betete vielmehr im Stillen desto ernstlicher für mich, und schien die Gewißheit ihrer Erhörung immer mit sich herumzutragen. Meine Kinder giengen in die Geißlinger Schule, standen manche Stunde zu Haus vor meinem Porträt, und wollten es mit ihren Thränen und liebevollen Ausdrükken in's Leben rufen. Ich Unwürdiger hatte eine Gattinn und Kinder, die mich nie beleidigten, nie betrübten, sondern mir durch Gehorsam und Liebe die Stunden des Lebens zu einfältigen, frohen Schaferstunden zu machen strebten. – Die Gedanken marterten mich, daß ich bald [254] meine Briefe verbarg, und Gelegenheit suchte, ihre trüben Eindrükke wegzustürmen. Diese ereignete sich gar bald, indem ich mit dem Gesandten, im Oktober 1773. zu München anlangte. – Es wandelte mich um diese Zeit der bangsame Seelenzustand an, daß ich immer fliehen wollte, ohne zu wissen vor wem, und wohin? – Daher fand ich im beständigen Herumschwärmen, die noch einzige übrige Art von Erholung für mich. – Fliehen, fliehen wollt' ich – aber vor wem? – Vor Gott? – Vor mir? – Ach vor beeden! Gott dacht' ich mir, als meinen Feind, und ich war mir selbst zur Last geworden. Der künftige Zustand der Verdammten bricht schon hier an den Lasterhaften aus. Dann welch ein Zustand war der meinige!! –


Der Mensch ist göttlichen Geschlechts, Voll Vorgefühl der Wahrheit und des Rechts; Verlezt er diß Gefühl, so sträubt sich sein Gewissen. Von welchen Furien wird dann sein Herz zerrissen!

Fußnoten

1 Es geht ihm jezt sehr wohl, und er bereut seinen Abfall von der evangelischen Religion nicht, weil er Zeiten erlebt hat, wo sich vieles Religionslicht über die Katholiken verbreitet – indem die Protestanten zum Theile, beim Talglichte ihrer Vernunft frohloken.

2 Bei dieser Gelegenheit muß ich die Anmerkung beifügen, daß die Klage unserer Schriftsteller, über den Mangel origineller Karaktere unter den Deutschen gerecht sei. Wir haben ihrer nicht so viel, wie die Engländer; aber doch keinen Mangel daran. Man habe nur Augen zu sehen, Verstand zu prüfen, Scharfsinn einzudringen, Geist zu schreiben, und Genie, wie Fielding, Smollet – darzustellen.

3 Donauwerth ist eine in vielem Betrachte sehr wichtige Stadt – weiland voll der enthusiasmirtesten Lutheraner, nun, durch ehmalige Gewaltthat seiner Freiheit beraubt, voll des diksten Katholizismus. Furcht und Pfafferei hat den ganzen Karakter seiner Innwohner verpfuscht. Ich blieb einige Tage hier, und sezte mich alle Tage auf den Höhen des dasigen Schellenbergs, der ein Gebeinhügel voll Todten, durch den Sturm vom 2. Junius, 1704. wurde.

16. Period
Sechszehenter Period.

Und nun war' ich in München, dieser alten, feierlich prächtigen, von Menschen wimmlenden Stadt, der schon der große Gustav Adolf Räder wünschte, um sie nach Schweden rollen zu können. Mein edler Beschüzer wies mir eine Wohnung bei seinem ehmaligen Sekretar Käser an, der ein aufstrebender, weltkluger, geschikter und biderherziger Mann war. Sein Gefühl fürs Schöne und Wahre entfaltete sich immer mehr, und gab ihm den sanften Karakter, den jeder an ihm schäzte, der sich auf den Werth einer schönen Menschenseele verstand. Er entwarf mir eine sehr treu gezeichnete Skizze vom Geiste der Baiern, der in der Residenz maskirt, aber nicht verändert war. Eine Derbheit, die dicht an die Gränze der Grobheit streift, fällt dem Ausländer am ersten ins Gesicht. Ihr voller Dialekt beleidigt nur eine zeitlang, am [256] Ende gefällt er. Kein deutsches Volk scheint zum Niedrigkomischen aufgelegter zu seyn, als die Baiern und Salzburger. Ihr Scherz ist massiv, und erregt nicht Lächeln, sondern hochaufschallende herzliche Lache. Ihr Ernst hat vieles von spanischer lächerlichsteifer Grandezza. Der Pöbel war damals noch im tiefsten Aberglauben versunken, und die Grossen schienen über die Religion wenig nachzudenken. Bei dem allen wird man selten in einem Lande eine allgemeinere, heißhungrigere Lehrbegierde antreffen, als in Baiern. Auf den sogenannten Dulden oder Messen werden die protestantischen Buchhändler meist ausgekauft. Der gewöhnliche Gesprächstof auf Kaffeehäusern, bei Tafeln, und in grossen Gesellschaften, ist litterarischen Innhalts. Da ich bald in die besten Häuser eingeführt wurde; so stuzt' ich nicht wenig, die ersten Damen des Hofes bei welschen, französischen, auch englischen Schriftstellern anzutreffen, und meist ein treffendes Urtheil über ihre Leserei von ihnen fällen zu hören. Deutsch lasen sie damals noch wenig; ja ich kannte eine der ersten Damen, [257] die erst aus Geßners mit lateinischen Lettern gedrukten Idyllen deutsch lesen lernte. Doch gab es einige, die nicht nur deutsch lasen, sondern auch die Sprache rein und besser als ihre Gemahls aussprachen, und gut schrieben. Die Gräfinn von Sessel hat einen Aufsaz über die Gallerie zu Schleißheim verfertigt, der einem Kenner Ehre machen würde. Die Gräfinnen Sinzheim, Preusing, Morawizky, – und wer kann die Sterne des bairischen Adels alle aufzählen?? – verrathen so viel Zartheit des Geschmaks, daß der Schriftsteller, der Weltton zu studiren sucht, kaum weiter zu reisen braucht. Ueber diß alles sind sie so für die edelsten Menschengefühle gestimmt, daß sie von jeder Berührung fremden Elends überlaut zu klingen scheinen. Ohne Damengunst war damals in München gar nicht fortzukommen. In ihren Handen waren die Preise, die dem Verdienste ausgetheilt wurden. Die Kavaliers waren damals Freunde der Jagd, der Landökonomie, der Pracht – nicht selten auch der schönen Wissenschaften und Künste. 1 [258] Die vornehmste Standespersonen, selbst die Kurfürstinn arbeiteten für's deutsche Theater, das eben damals anfieng die Kinderschuhe abzulegen. Die elendesten Schauspiele, meist mittelmässig aufgeführt, gefielen, und verdrangen die welschen komischen Opern. In Sitten, Tracht, Schauspielen, parodirte man beständig die Oestreicher, ohnerachtet der Haß der Nazion gegen seine alten Feinde das Gegentheil hätte hervorbringen sollen – fast so, wie der Japaneser ein Gegenfüßler der Chineser ist. Meine Empfelungen, und eigner Drang machten mich bald im Orchester bekannt, das ich zwar zahlreich, aber in ziemlicher Unordnung antraf. – Konzertmeister Kröner – nun tod! – war ein angenehmer Solospieler, nur zu tändlend; sein Bogen zog die Noten nicht mit der Wurzel heraus, sondern berührte blos ihre Spizen. Das [259] zu häufig angebrachte Tempo rubato machte seinen Vortrag muthwillig, und nicht schön. Als Konzertmeister übertraf ihn der selige Holzbogen weit. Der Kurfürst – Er schlumm're sanft im Schauergewölbe des Theatinertempels! – hatte viel richtiges musikalisches Gefühl, spielte die Gambe meisterhaft, sezte Messen für die Kirche, und strich mehrentheils bei den Sinfonieen, an der Seite Kröners, die erste Violine mit. Ich hatte die Gnade, mehrmal vor ihm zu spielen. Die edelste, vom Stolz unaufgeblähteste Fürstenseele, die man sich denken konnte. Tiefe Ehrfurcht vor Gott, die ihn nie verließ, lehrte ihn bei Zeiten den vorübergehenden Schimmer weltlicher Hoheit verachten, und nach einer Würde streben, die ewig bleibt. Es war mir oft, wenn ich in meiner Gottesvergessenheit durch die Strassen faselte, ein neuer, herzerhebender Anblik, wenn ich mitten unter einem andächtigen Haufen diesen Fürsten mit einem Wachslichte in der Hand, zu Fus vor die Thüre eines armen Sterbenden eilen, und knieend warten sah', bis ihm der Geistliche [260] das hochwürdige Sakrament gereicht hatte. Die ihm oft vorschwebende, ganz nahe Auswurzlung seines grossen Stammes betrübte ihn zuweilen bis zu Thränen. Dieser wehmüthigen Herzensstimmung ihres Fürsten hatten es auch seine grosse und kleinen Bedienten zu danken, daß nicht viel nach ihrer Haushaltung gefragt wurde. Auch bis auf die Oper und das Orchester erstrekte sich diese Lizenz. Der trierische Kapellmeister Sales sezte eben damals eine neue Oper, die ich weitläufig genug in der deutschen Kronik angezeigt, und dabei die damaligen bairischen Sänger karakterisirt habe. Ich errichtete mit diesem braven, ungemein liebreichen und äusserst dienstfertigen Manne die vertrauteste Freundschaft, und erweiterte meine Einsichten durch seinen Umgang. Seine jezige Gattin, die Prima Donna der genannten Oper, ist die bescheidenste, tugendhafteste Sängerin, die ich jemals angetroffen habe. Eine tugendhafte Theaterprinzeß verdient auf allen Rosenfesten, in und ausser Deutschland, die schönste und erste Krone.

[261] Secchi war der zweite grosse Hautboist, den ich gehört habe. Er seufzte die Töne heraus, und erregte daher mehr süsse Schwermut, als le Brün, dessen Blutmischung jovialischer ist. 2 Das Temperament hat sehr viel Antheil an der Bildung des Virtuosen; ist dieser so glüklich, ein Instrument zu wählen, das gleichsam seine eigene Herzenstöne nachhallt; so schwimmt er mit dem Strome und wird allenthalben den Hörer mit sich fortreissen. Wählt er aber ein temperamentwidriges Instrument – z.E. ein Lolli wählte die Harmonika und Franklin hätte die Trompete gewählt; – so hätten beede nicht groß werden können, denn sie hätten gegen den Strom gearbeitet. Reuner war einer der grösten Fagotisten in Europa, wohl mehr brausend als delikat. – Aber du trauter Freund der Tonkunst sage mir: haben nicht die Solo's auf Baßinstrumenten, wenn sie stundenlang dauern, alle etwas widriges? den innern musikalischen Sinn beleidigendes? Ist's nicht, als [262] wenn das Fusgestell sich über die Bildsäule mokirte? Ein Konzert auf einem Violon klang mir nie anderst, als die zitternde Stimme eines besoffenen Alten im Kor der frölichen Jugend. Kapellmeister Tozzi spielte damals seinen bekannten Roman mit einer Hofdame, und ließ daher das Orchester sich selbst über, das, wie gesagt, nicht recht zusammenstimmte, zusammenbraußte, wie die donnernde Katarakte der pfälzischen Hofmusik. 3 Da der herrschende Geist in der Tonkunst auch hier welscher Geist war, so erregte es meine Aufmerksamkeit weit mehr, wenn ich bei vielen Gelegenheiten den eignen musikalischen Nazionalgeist der Baiern kennen lernte. Man kann nichts lieblichers, nichts herzerfreuenders hören, als ihre Liedels, wie sie's nennen, die gemeiniglich von Schnurranten allenthalben herumgeleiert werden. Ihre Weibsleute haben meist sehr angenehme Stimmen, und eine eigene, ungemein reizende Manier. Ich habe mir einige von ihren [263] Liedels – der Text ist mehrentheils erbärmlich, sonderlich wenn er nicht komisch ist – gemerkt, und mußte sie hernach hundert und tausendmal in allen Gesellschaften singen und spiellen. – Solche Bemerkungen haben mich überzeugt, daß, so wie wir noch keinen Dichter haben, der die ganze deutsche Nazion so allgewaltig gepakt hätte, wie Homer die Griechen, es uns auch an einem Tonkünstler fehle, der alle Menschen, Thiere, Bäume und Steine unsers Vaterlandes, wie Orfeus tanzen mache. Unsere welsch-franzosisch-deutsche Musik wird diß Wunder eben so wenig würken, als unsre poetischen Ananasgewächse, die zwar für jeden Gaumen etwas haben, das ihn küzelt, aber zu kostbar und zu fremd sind, als daß sie deutsche Hausmannskost werden könnten. 4 Hin, Tonkünstler und Dichter, nach Böhmen, Oestreich, Baiern, Sachsen, Schwaben! – hin an alle deutsche Ströme, und belausche die Urlaute unsers Volks, wie sie mit Lied und Sang aus dem Herzen [264] quellen – ahme sie nach, veredle sie, und du wirst alle deutsche Nerven dröhnen, alle Herzen hüpfen, alle Augen glühen, und alle Glieder beben machen! – Meine mir liebste Beschäftigung in München war, die Kirchen zu besuchen, und die Messen zu hören; denn ich trug immer – und trag' es noch – ein Ideal von Kirchenmusik im Herzen herum, das ich hier gewis realisirt zu finden glaubte. – Aber ich betrog mich hier fast eben so sehr als überall. Zwar hört' ich von Priestern und Korknaben einige Antifonen nach alter Manier – und treflich vorgetragen, aber alle mit Instrumenten begleitete Kirchenmusik war meistens profan. Der Sänger seufzte unter dem Sturme der Begleitung, wie ein verirrtes Kind im Walde, drinn der Sturmwind raßt. Die Motifen waren meist der Oper entpflükt, die Köre dünne und leer, die Fugen schnelles, rasches, gauklendes Gejag von Buben, und nicht Wetteiferung und Nachahmung des himmlischen Freudengesangs. Die Melismen, Läufer, Verzerrungen der wandelbaren Wörter, wollüstig süsse Vorschläge, [265] die den Hauptton kaum fühlbar machten, leichtfertige Sprünge – und Mangel alles Pathos, aller Himmelsgluth, machten jedem die Kirchenmusik mehr ärgerlich als erbaulich. Ich hörte einige Kyrien, aber geistlos – Credo – aber ohne Wärme – Agnus Dei, die nicht bluteten, sondern spielten – Psalmen, die in einem unmächtigen Amen und Halleluja erstarben. Da dieses beinahe die allgemeine Gestalt der heutigen Kirchenmusik ist, so haben unsre grossen Komponisten sonderlich aufzusehen, wie sie diesem Verderben steuern, und Hoheit und Andacht wieder in Tempel führen wollen. 5 Ich habe mit manchem grossen Meister über dieses wichtige Thema gesprochen, und sie versicherten mich, daß ich nirgends in der Welt mein Ideal leiblicher und dargestellter antreffen würde, als in Wien, wo dermal nicht nur der Siz deutscher Musik, sondern beinah' aller Musik zu [266] seyn scheint. – Ich fand damals in ganz München keine grosse Flügelspieler – denn auch hier hat das Klavier durch die Oper gelitten: bis ich im glänzenden Gefolge des reichen Grafen von Palm den jungen Kiefer aus Regenspurg bemerkte, der alle Anlagen zu einem wahren Klavieristen hatte, und sonderlich das Fortepiano meisterhaft behandelte. Wenn Michel seitdem sein schönes Talent ausgebildet hat, so gehört er unter die angenehmsten deutschen Komponisten; die immer weniger werden, je mehr man sie zwingt, sich zu expatriiren. – Da ich mit Tönen mein Ohr nicht selten zu voll füllte, so suchte ich mich öfters in den Gesellschaften der Desmaret's und Schega's auszuleeren, und Empfindungen von anderer Art Plaz zu machen. Desmarets war ein grosser Porträtmaler, voll Feuer, ein Verschönrer wie Rigaud, ohne die Aehnlichkeit zu zerstören, Meister in Zeichnung und Kolorit – aber weniger Seelenmaler als Vandeyk, Hollbein, Kupezky – und selbst als unser Graf. Schega war der zweite Hedlinger – seine Suite [267] von bairischen Fürsten gehört unter die wichtigsten und besten Medaillen der alten und neuen Zeit. Lippert, ein einsichtsvoller Kenner, in dessen Gesellschaft ich manches Leiden vergaß, lehrte mich einen jungen Historienmaler kennen, der nicht arm an eigner Erfindung war, aber so stark ins Licht malte, daß alle Deutlichkeit verschwand. Licht in Licht ist wenigstens für unsere Welt sehr unmalerisch und beleidigt unser stumpfes Aug. Die übrigen in Baiern, sonderlich in München, Nimfenburg, Schleißheim und Dachau so reichlich ausgesaten Kunstwerke sind von andern bereits hinreichend beurtheilt worden. Ich kann also schweigen, wenn ich nur noch hinzuseze, daß es in München mehr als anderstwo sehr feine Kunstaugen giebt, denen nicht leicht eine Tinte, Tirade, Nüanz, in den Werken der bildenden Künste entwischt. –

Meine volle Aufmerksamkeit wurde damals auf die Revoluzion gelenkt, die der Fall des Jesuiterordens veranlaßte. Der Boden bebte noch vom Hinsturz dieses Kolossenbildes. [268] Der Pöbel glaubte, nun sei der jüngste Tag vorhanden, und die Gelehrten zimmerten Erziehungsplane. Das Pädagogium der Jesuiten, hieß es, ist nun hingetrümmert, der Boden rasirt, und nun soll ein neues besseres, dauerhafteres Gebäude errichtet werden, darinn keine Monopolisten, sondern Männer lehren sollen, die Weisheit und guten Geschmak als allgemeine Waare für jedermanns Kauf ausbieten. Der Baron von Leuden führte mich zum Geheimenrath von Lori, der unter einer Schanze von gedrukten und geschriebenen Erziehungs- und Unterweisungssistemen, aus allen Provinzen Deutschlands protestantischen und katholischen saß, und sich mit patriotischem Feuer diesem rühmlichen Geschäfte unterzog. Er sprach gleich von seiner Tonne die er wälzte, mit vieler Einsicht, und nahm mich in sein Haus. Ich hatte nun ein eigenes Zimmer, einen Flügel, die schöne Bibliothek, und noch mehr als diese, den Umgang Lori's. Unsere Morgenstunden waren meistens gelehrten Unterredungen gewidmet, an denen oft andre Gelehrte, sonderlich Lippert, [269] und der brave Kanonikus Kollmann 6 Antheil nahmen. Ich theilte mit, was ich vom Erziehungswesen der Protestanten wußte, fand aber bald, da es eine sehr häklichte Sache war, sich in ein Geschäft zu mischen, das Partheien veranlaßte. Das Haupt einer wichtigen Parthei war der bekannte Kanonikus Braun, ein gelehrter Mann, dessen Sistem aus dem Guten der Protestanten und Katholiken zusammengesezt war, und nur zu wenig Eigenes für die Bedürfnisse seiner Nazion hatte. – Lori blikte tiefer und nahm das Lokale in seinen Plan, verwarf Manches, das nicht auf sein Vaterland zu passen schien, und drang – sonderlich auf eine gewisse Einfachheit des Erziehungswesens, die Bürger für diese und jene Welt bilden sollte. – Braun drang durch, und hat nach diesem seinen Plan in manchen Schriften der Welt vorgelegt, die [270] gewiß viel reiche Kenntnisse verrathen. Man wird aber bald sehen, daß die Vielwisserei, die aus Frankreich nach Deutschland kam, hier eben so wohl als dort, aufgeblasene, viel und nichts wissende, seichte, schönlallende Schwäzer, die überall und nirgends zu Hause sind, hervorbringen werde. In einem Briefe des grossen Herders an den Baron von Leuden, den er eben damals an ihn schrieb, heißt es: »Man will jezt Weisheit aus Fingerhüten schlürfen, nicht mehr mit geizigen Zügen aus dem Helme der Minerva Wasser, dem kastalischen Quell entschöpft, trinken. Diß jungferliche züchtige Schlürfen schikt sich nicht für Ihre Baiern! Lassen Sie sie ex pleno trinken!« Der nun gestorbene Bibliothekar Oefelen, einer der hellsten Köpfe in Baiern, urtheilte auf eben diesen Schlag, als ich mit ihm über das größte politische und moralische Thema, die Erziehung, sprach. Alle Plane die ich gesehen habe, sind Kapuzinersuppen; dünne, damit sie ausgeben, brühreich ohne Kraftbrokken. Man wird unsre Jünglinge eben so sattigen, als die Bettler [271] in Kapuzinerklöstern. In der freien Luft fühlen sie es, wie wenig sie Kraft geholt haben. – Die Zeit ist da, wo lebendige Beispiele die Wahrheit dieser Aussprüche der Weisen bestättigen werden. Mein Herr von Lori, dessen Hausgenosse ich nun war, gab mir inzwischen mehr als eine Gelegenheit, seinen edlen Karakter zu bewundern. So gelehrt und reichhaltig seine Schriften sind, so verriethen doch seine Privaturtheile noch weit tiefere, aus dem richtigsten Wahrheitsgefühl hervorkeimende Kenntnisse. Die Wissenschaften assen, tranken, reißten, übernachteten mit ihm, wie mit dem römischen Konsul. Da er gleichsam der Gesezgeber der Universität Ingolstadt war, so schreiben sich die dasigen schönen Anstalten auch meistens von ihm her. Er kannte nicht Einen Zeig nur am Baum des Erkenntnisses, er kannte Wurzel, Stamm und Wipfel; daher geisselte er die Fehler der Theologen eben so streng als der Rechtsgelehrten, Aerzte und Weltweisen ihre Vergehungen. Sein moralischer Karakter war groß und einzig. Patriotismus und uneigennüzige Tugend war die [272] Grundlage davon. Als zur Berichtigung des Erziehungswesens eine eigene Kommission niedergesezt wurde, und die Mitglieder derselben von der Festsezung ihres Gehalts wegen dieses neuen Geschäffts sprachen; so stand er auf und sagte mit edlem Unwillen: »wer solche Geschäffte aus Begierde des Lohns unternimmt, wird ein sehr schlechter Rathgeber sehn. Ich verlange nichts!« – Der erleuchtet'ste Geist kan nicht gleichgültiger gegen die Eitelkeit der Grossen, gegen Reichthum und Weltglanz sehn, als es dieser Mann war. Ob er gleich bei seinem Fürsten im höchsten Ansehen stand, und in den wichtigsten Geschäfften gebraucht wurde, so blieb er doch der rechte und schlechte Mann, der er zuvor war. Er lebte äusserst mässig, hatte ein Kleid für den Sommer, eins für den Winter; das war seine Garderobbe; achtete des Gelds so wenig, daß er keines zählen, keines bei sich tragen mochte, und schenkte, was ihm an seiner Besoldung übrig blieb, den Armen und seinen Freunden. Zeremoniöse Wakelköpfe und Pantins nach der Mode, floh er, wie den Teufel. [273] Geradheit, Deutschheit, Offenheit des Herzens, Genie, Gelehrsamkeit, vaterländisches Feuer, männlichen Ernst im Lichtschein der Freundlichkeit – solche Eigenschaften mußte man an sich haben, um bei ihm Eingang zu finden. Schurk war ihm Schurk, und Dummkopf Dummkopf, er mochte im Golde strozen, und Pomadedüfte um sich verhauchen, oder schlecht gekleidet und unfrisirt seyn. Er lieb unverheurathet. »Man ist mehr Patriot, sagt' er, wenn man kein Weib hat.« Sein Kopf war ungemein helle, wenn ihn nicht hipochondrische Nebel verdüsterten, die nicht selten in ihm aufstiegen. Wahrheit forschen, sie in allen Staubwinkeln suchen, die Gesundne anbeten, und sich ihr ewig vertrauen, war das Eigenthümliche dieser edlen und schönen Menschenseele. Mit Einem Worte: er gehörte unter die zwar etwas sonderbaren – Abweichung vom Ueblichen ist nicht immer bizarre Laune – aber herrlichsten Menschen unsers Vaterlandes, die Gott am meisten schäzt, weil er sie allein am besten kennt. Grosse Männer, unter andern Haller, wechselten Briefe [274] mit ihm, und sandten ihm ihr Schriften zu. Sie schäzten sonderlich an Lori sein weises Harren auf höhere Aufschlüsse, seine Erkenntnis der menschlichen Schwäche, und draus folgende Beugung unter den Starken im Himmel. Man muß warten, tönt er oft dem grossen Leibniz nach, bis alles reif wird. 7 – O wie demüthigend war es für mich, wenn ich in mancher nüchternen Stunde mich an einem solchen Manne hinaufmaß! – Das Schiksal dieser Brutusseele unter der nachfolgenden Regierung ist bekannt. Er starb als ein Verbannter in Neuburg, hochgeschäzt und in seiner Armuth unterstüzt von so manchem bidern Baiern. Ich machte ihm die Grabschrift:


Hier liegt Lori

Ein ächter Baier

fester Seele,

starken Sinnes

ohne Falsch

[275] Freund der Wahrheit

Feind aller Schlangenkünste

Patriot, Weiser, Krist,

Erst jezt ists ihm wohl.


Mein thörichter Hang zur Abwechslung warf mich, wie auf Meereswogen umher. Ich war bald da bald dort, und ob ich gleich nicht mit der gehörigen Ruhe Beobachtungen anstellte: so entgieng mir doch das Grosse, Auffallende, Originelle, fast niemal. So entdekte ich bald in dem Grafen Lambert, dessen Schriften den Deutschen und Franzosen gleichviel Vergnügen machten, die schlaue, sarkastische Miene, die das Lächerliche und Ausserordentliche blizschnell entdekt, und es in der Jake oder im Talare darzustellen weiß. Ich hab' ihn im Hause des welschen Grafen Savioli kennen lernen, der vielleicht der erste vornehme Ausländer ist, der deutsche Schauspiele und Erzälungen schrieb, die viel Wiz und Studium unserer Sprache verrathen. Die bairische Akademie, der Klopstok in seiner gelehrten Republik den verdienten Ehrenzweig reichte, schien damals aus ökonomischen[276] Gründen, etwas von ihrem ersten Feuer verloren zu haben. Die würdigen Männer, aus denen sie bestand, waren damals dem Markgrafen von Anspach zu Ehren, der den Kurfürsten besuchte, sämtlich versammelt. Ihre Schriften enthalten manche tiefe filosofische, sonderlich historische Untersuchung. Oefele, der zugleich Bibliothekar war, spricht in seinen lateinischen Schriften mit dem vollen runden Römermunde, und wetteifert mit unserm Schwaz, Geßner, Ernesti, und Heyne – bald werden unsre Lateiner hingestorben seyn! – Ich traf ihn bei'm Seneka an, als ich ihn besuchte; er sprach vieles mit mir, alles in römisches und griechisches Salz getaucht. Sein Kopf glich beinahe Horazen's Kopf auf antiken Münzen und Gemmen. Die Münchner Bibliothek hat viel ungemein seltene Manuskripte, worunter die Partituren des alten grossen Kapellmeisters – Lasso meine Aufmerksamkeit vorzüglich reizten. Ich wünschte nichts mehr, als diese ehrwürdigen Denkmale der alten Musik bekannt gemacht zu sehen, noch mehr [277] sie aufführen zu hören. Aber wie würden sich unsere Musiker, die an fünf, sechs und mehr geschwänzte Noten gewöhnt sind, entsezen, wenn sie diese, wie Quadersteine ± daliegende Noten, die nicht wie Mükenfüsse Krabeln, sondern wie Elefantenhufe Drängen ausdrüken sollten! – Und unsre Porzelänmännchen und Marzipanpuppen, was würden die sagen? – O Lasso, Lasso, bleib' liegen, bis dich die bessere Nachwelt entmodert! –

Man sieht es, wie schnell ich wieder in ganz München, in hohen und niedern Gesellschaften, in Gesandtschaftshäusern und Bierschenken, in Büchersälen und gedankenlosen Zusammenkünften, der Jupiter's und Silen's, den Juno's und ihren Stubenmädchen, Virtuosen und Schnurranten, gesezten Weisen und lüftigen Landstreichern bekannt wurde. Ein grosser Fehler von mir, der mich wie im Trillahause solange herumtrieb, bis ich schwindelte und sank. O wie oft schien mir mein Geneus, er verließ mich nie gar, der gute, langmüthige Genius, auch [278] wenn mir Kakodämone Gift einspieen – aus dem Thyest des Seneka zuzurufen, auch bei'm Anblike des glanzreichsten deutschen Adels, sich im Vorsaale des Fürsten, wie Gestirne drängend – zuzurufen: – auch wenn die donnernde Sinfonie an Marmorgeländern hinunterscholl – mir zuzurufen: nicht wie sterbender Hauch, sondern wie Posaunenschall:


»Stet quicunque volet, potens

Aulæ culmine lubrico;

Me dulcis saturet quies!

Obscuro positus loco

Leni perfruar otio!

Nullis nata Quiritibus

Aetas per tacitum fluat!

Sic, cum transierint mei

Nullo cum strepitu dies,

Plebejus moriar senex!

O illi mors gravis incubat,

Qui notus nimis omnibus

Ignotus moritur sibi!«


[279]

»Steh', wer da wolle, hoch und kühn

Auf des Hofes schlüpfriger Höhe!

Mir behage süsse Ruhe!

Gelagert im bergenden Schatten,

Möcht' ich geniessen erquikende Rast!

Keinem Höfling bekannt

Solte mein Leben im Stillen verfliessen!

Denn, wenn sie vorüberzögen

Getäuschlos, meine Tage;

So stürb' ich als gemeiner Greis!

O! schwer legt sich der Tod auf den,

Der Jedermann zu sehr bekannt

Sich selber unbekannt, stirbt!«


Solche Sprüche der Weisen, und so vernünftige Wünsche durchblizten meine Seele, und machten oft – doch nur auf Augenblike – die ganze scheußliche Nachtgruppe meines Herzens helle. Man drang nun in mich, meine Religion, in der ich geboren und erzogen war, der Katholischen aufzuopfern. Aber ein unwiderstehlicher Widerwillen, der sich wie eine Felsenwurzel in meinem Herzen gegründet hatte, hielt mich davon zurüke. [280] Ich sah zwar manche tugendhafte, edle, grosse, gottselige Menschen um mich, die vor dem Dornenpfade der Verläugnung und Nachfolge Jesu weniger zu scheuen schienen, als viele unsrer Protestanten. Der Gottesdienst war sinnlich, prächtig, und nicht selten rührend. So viele Orden und Brüderschaften, die sich durch die Beobachtung der strengsten Ordensregeln zur Ausübung der Kristenpflichten tüchtig machten, Priester, die den Fusboden des Tempels küßten, tausend zur Barmherzigkeit geöfnete Hände, knieende Sünder vor den Füssen des Priesters, die mich wieder an die Kirchenzucht der apostolischen Zeiten erinnerten; Büssende mit der blutigen Geissel in der Hand – die hallenden, zum Gebete für Sterbende aufforderende Gloken, feierliche Leichenzüge, Gebete um die Ruhe und Vollendung der Todten – herzerhebende Gemälde in Tempeln, Kapellen und Klöstern, die interessantesten Szenen aus dem Leben Jesu und seiner Nachfolger darstellend – rührten, durchdrangen, durchsägten mein Innerstes. – Noch steht der Franziskaner vor [281] meiner Seele, der eben vor einem in ihrem Klostergarten herrlich in Fresko gemalten Kristusbilde, das noch blutig von der zerfleischenden Geissel der Kriegsknechte zu sehn schien, betend knieete, und plözlich aufstand, als ich in Garten trat. Sein helles Auge schimmerte Andacht herunter. »Ein herrliches Gemäld' Ihr Hochwürden!« – »Das Original ist noch herrlicher,« sagt' er lächelnd. – »Und warum wenden Sie sich nicht zum Original?« »Es scheint Sie sind ein Protestant; – aber der Künstler hilft nur meiner Fantasie nach, mein Geist schwebt bei'm rechten Kristus. Können Sie denn beten ohne Bild vor Ihrer Seele? Ist es nicht besser, ein Meister malt uns die Heiligen, als unsere kränklende Fantasie?« – Ich konnt' ihm nichts antworten. Er führte mich im Garten und Kloster herum, und sagte zu mir: »via crucis est via salutis, das sagte Kristus und die heiligen Väter alle. Sie mögen Protestant bleiben, oder Sich zu uns wenden: so müssen Sie auf dem Kreuzesweg zur Seeligkeit eingehen.« – Er verlies [282] mich segnend. – Kreuzesweg! dacht' ich, der meinige ist der Allerbetrübteste. Ich trage Fesseln des Lasters, und habe überdies noch Fluch zu erwarten. Der kristliche Kreuzträger hat Ruh' und süssen Frieden mitten unter der Last; denn er folgt seinem Herrn nach. – Aber du!! – du wälzst dich in den Pfüzen der Welt, stinkst dich und andere an, trägst den brennenden Pfeil des Mißvergnügens mit dir herum, darfst nicht gen Himmel bliken, bist ein zweifach erstorbner fauler Baum – bist – ein Ungeheuer bist du! – ein niedriges Ungeheuer, das der Teufel selbst verachtet, weil du zu dumm bist, die Güter des Leben recht zu geniessen. – Denn in der That litt' ich mitten im Ueberfluß oft Mangel. Heute speißte ich an der strömenden Tafel eines Grossen, und morgen in der Bierschenke mit Lakaien – oft gar nicht. Zu diesem traurigen Zustande kam noch der Drache Hipochondrie, der mich nirgends mehr peinigte, als in München. Die Gemälde schienen mir zu gähnen, die Bildsäulen zu wakeln, die Tonkünstler zu heulen – ich [283] riß mich aus der Stadt, sah das tröpflende Schwerdt auf dem Rabenstein liegen, und den zukenden Missethäter neben ihm; suchte Grotten, Höhlen, Gräber; – die Raben schienen auf mich herabzukrächzen, die Weihen sich über mir zu kreissen; Sturm war mir lieber als Stille, und die Mitternacht angenehmer, als der schönste glanzreichste Wintertag. – Teuflische Gedanken schwärzten meine Seele: morde, daß man dich wieder mordet! – Ersäuf' dich in diesem Strome! – Aber was wird aus deinem Weibe und deinen Kindern werden? – dieser einzige Gedanke hielt mich von Gewaltthat zurük.

Ich schrieb' um diese Zeit einen sehr wehmütigen Brief an meine Frau, der sie, statt des Trostes, noch grausamer niederdrükte. Ich selber suchte Trost, und konnte keinen finden, weil ich mich niemand entdekte. Es war mir bekannt, daß mein Freund Deller hier gestorben war. Er kam von Wien, wo er bestohlen und mishandelt wurde, hieher; sollte der verwittweten Kurfürstin von Sachsen, einer grossen Künstlerin, eine [284] Messe komponiren, und bekam ein hiziges Faulfieber mitten unter der Arbeit. Man schafte ihn in's Kloster der barmherzigen Brüder hinaus, wo er, nachdem er mit tausend Thränen seine Ausschweifungen beweinte, im vollen Sommer seines Lebens starb. Ich suchte sein Grab, und ein barmherziger Bruder wieß es mir an der Mauer seines Klosters. Der Bruder hatte Geschäffte; Ich stand also allein hier – am Grab' eines Genie's, eines meiner liebsten Freunde! Mit dem Schwerdte der Kümmernis in der Seele. – »Da schläfst du also Deller, Sohn der Harmonie! Mann von menschlicher Seele! gegeisselt wie ich, von Wein, Mädchenliebe, Unordnung, Leichtsinn und Zweifelsucht! – Du suchtest Ruhe, wie ich; hast du sie hier gefunden? unter Bettlern, Krüppeln, Siechen und Elenden gefunden? – Erbärmlicher Ruhm, ein Genie ohne Tugend gewesen zu seyn!! – Mangel trieb dich herum, deine Freunde erlaubten dir's nicht, in ihrem Hause zu sterben; hier unter der Pflege eines barmherzigen Ordens solltest du dein Leben [285] verächzen, und die Sünde verfluchen, die dir so viel Trost des Lebens raubte; – – der schwäbische Schulmeister, der deine Komposizionen mit gaffender Ehrfurcht und mit gefaltner Hand anhörte, lebt noch, glüklich durch die Ordnung; von seiner Gattinn gepflegt, seinen Kindern geliebt, und wird spät, vom Alter gekrümmt, und lebenssatt, im Glauben an Jesum entschlummern!! – O Ordnung! o Tugend, wie viel mehr bist du, als Geniusflamnie, die, wie der Komet regellos daherzeucht, und Unglük weissagt! – Und nun schlaf' wohl, armer Deller! ich hoff' es, dir habe dein Gott verziehen! – Auch mir!« – – Wütende Thränen stürzten nieder, und ich mußte mich aus dem Kirchhofe reissen, weil ein Bruder mit der Schaufel kam, und dicht neben Deller ein neues Grab für einen Reisenden machte, der eben gestorben war. –

Solcher trüben Stunden hatt' ich viele – und wer sollte es glauben, daß ich so unverschämt war, und zuweilen betete: »Hab' noch eine Weile Gedult mit mir, lieber [286] Gott! Ich bin jezt verirrt! bin trunken! bin ein Narr! wenn ich erwache, so soll's besser geh'n.« Das war so ungefehr der geheime Sinn meines Gebets. Ich erfuhr auch einmal in einer höchstwichtigen Angelegenheit augenscheinliche Erhörung meines Gebets. Wer Gott nach Menschen mißt, wird diß für eine Lüge halten. – Aber wahr ist's! Gott hört auch zuweilen Sünder, und sucht sie durch eine so erstaunliche Herablassung und Güte zu gewinnen. Diese Ueberzeugung und Erfahrung hat nachher manches Gute in meiner Seele gewürkt. Und noch dank' ich dir mein Gott, mit lauten, betenden Thränen, daß du mir Verirrten nachgiengst, und mir oft hörbar zuflistertest: »Was willt du laufen, mein Sohn!? Kehre wieder! Kehre wieder!« – Wenn die Tugend schon hier ihren Sonnenpunkt hat, etwan im tiefsten Leiden, oder am Rande des Grabes; so hat auch gewies das Laster seinen Entfernungspunkt; 8 dann muß es entweder in ewige Nacht versinken, oder [287] die ermüdete Seele muß wieder die Sonne suchen, sich wärmen und erleuchten. Meine Sonnenferne war München. Nirgends war ich so unfähig zum Guten, wie hier. Nicht eine Komödie, die ich zehnmal anfieng, und bereits einen Plan dazu entworfen hatte, der Jedermann gefiel, nicht die Berichtigung von Burnei's Reisen, die ich versprach, nicht eine Ode, ein Lied – ein Menuet, nicht einmal ein Brief wollte mir gelingen. Ich war eine Wolke, die kein Wasser gab. Ausser einigen Lekzionen auf dem Flügel, einigen Anleitungen zur Litterargeschichte, Korrekzionen von Aufsäzen, die daselbst gemacht wurden, hab' ich nichts Nüzliches in München gethan. Kanonikus Braun, ein aufgeräumter, vielwissender Mann, bot mir sein Privilegium an, das ihm der Kurfürst gab, eine gelehrte Zeitung zu schreiben. Die Religion sollte aber vorher geändert werden, und da hatt' ich gewaltige Anstösse. Für's erste sah' ich gar bald aus vielen Beispielen, daß eine Religion wie die Katholische, die sich bei all ihrem Guten, so weit vom Quelle abgeirrt [288] hat, entweder zum Aberglauben oder Unglauben leite, und das Herz nie ganz befestige. Wenn ich auf's Land gieng, so sah' ich in jedem hohlen Baume, in jeder Blende eines Hauses, ein flittergoldnes Bild irgend eines Heiligen, und die betrog'ne Einfalt davor knieen – in Wäldern Nischen, mit eingenagelten fünf Wunden – unter dem Volke einen überhaupt so erniedrigenden Aberglauben, daß ich oft in den Zeiten des diksten Heidenthums zu leben glaubte. Die Linien des Aeussersten von zwei einander entgegengesezten Dingen scheinen nicht anzugränzen, sondern sich ineinander zu verlieren; daher ist der Schritt vom Aberglauben zum Unglauben so bald gethan. Es giebt in München mehr als Ein Haus, wo in einem Stokwerk Pater Koche'ms Legenden, im andern Edelmann's oder Voltär's Schriften klassisch verehrt werden. Die Verachtung oder Gleichgültigkeit gegen die Bibel ist so groß, daß selbst Doktoren der Theologie, wenigstens damals, dieselbe nicht in der Grundsprache lesen konnten, und die Laien durften und konnten sie nicht lesen. 9 [289] Der Ton im Predigen ist meist komisch, kaum besser als die spöttische Schwanzpredigt, die ein schlauer Kenner der bairischen Homiletik herausgab. Braun wird Mühe haben, diesen Stall durch sein Beispiel allein zu misten. Die Erbauungsbücher sind in einem so elenden kraftlosen Stile, und mit so wenigem Kristussinne geschrieben, daß es einem belesenen Lutheraner grauen muß, solches Zeug zu lesen. Dogmatik, Hermeneutik, Exegetik, unparteiische Kirchengeschichte, lag damals in der Verwüstung, und vielleicht ist es Karln Theodorn aufbewahrt gewesen, der Reformator seines neuen Volks zu werden. – Noch ein Umstand, der den entschlossensten Konvertiten abschreken mußte, war der, daß man anfieng, nicht mehr mit dem alten Eifer Bekehrte zu machen, und die sogenannten Neubekehrten selbst sehr kalt, oft verächtlich, als Ausschüslinge ihrer ehmaligen Glaubensgenossen zu behandeln. Herr Osterwald, [290] ein gelehrter, verdienstvoller und rechtschafner Mann, hat diß auf eine so empfindliche Art erfahren, daß er sich meist in den Verborgenheiten seines Studierzimmers aufhielt, und ein sehr dumpfes, trübseliges Leben führte. – Eben als ich diese Schwierigkeiten in meinem Herzen wog, so erhielt ein angesehener Mann in München, auf seine Anfrage wegen meiner, aus Stuttgart eine Rükantwort, die allen meinen Bedenklichkeiten und Entwürfen auf einmal ein Ende machte. Dieser Stuttgartische Korrespondent, der freilich viel Schlimmes von mir sagen konnte, malte mich noch schlimmer ab, als ich seyn mochte; ließ mir nicht einmal das wenige Gute, das selbst Feinde an mir bemerkt haben wollten. 10 Er sezte sonderlich hinzu, daß ich keinen heiligen Geist glaubte, und vorzüglich deswegen das Würtembergische hätte räumen müssen. – Fort mit ihm! hieß es nun allenthalben in München. Ich hatte kaum Zeit Abschied zu nehmen; aus Schaam beobachtete ich nicht [291] einmal diese Pflicht gegen den so theuren Lori. Der Kurfürst und einige meiner Gönner und Freunde ertheilten mir doch ein ansehnliches Geschenk – und sogleich wurde der Ballon geschwungen, und ich flog wieder in der freien Luft. – Man wird bald merken, daß die Vorsehung selbst meine Feinde brauchte, um mich nach und nach dahin zu bringen, wo ich einmal umkehren, meine Thorheit beklagen, und Gott suchen sollte.

Wohin Kerl? dacht' ich, als ich zum Thor hinausfuhr. Der Postwagen wurde mir bald zu enge. Ich stieg aus, und schnappte nach Luft. Wohin Kerl? Stokholm, Petersburg, Wien, schwebten mir immer heller vor der Seele, bis ich mich entschlos nach Stokholm zu reisen, ob ich gleich sehr schöne Aussichten nach Petersburg und Wien hatte. Der Karakter des Königs von Schweden, und der englische Gesandtedes Vesmes, der eben von München aus dahin abgereißt war, hatten den grösten Antheil an diesem meinem Entschlusse. Ich war ganz gesund, sezte mich in den Kahn, seegelte in's hohe Weltmeer, und ließ seine Wogen mit mir spielen.


Ende des ersten Theils.

Fußnoten

1 Der Graf von Sinzheim, einer meiner ersten Beschüzer, ist ein geschmakvoller Kenner der Tonkunst, in dessen Hause ich manche frohe und lehrreiche Stunde verlebte. Er ist jezt wie ich höre, Präsident des geistlichen Gerichts – ein Posten, der seinem Geist und Herzen vollkommen anpaßt.

2 Leider, heißt es jezt – war; denn er starb jüngst zu Berlin.

3 Jezt aber sind beede Kapellen in ein grosses Eins zerflossen.

4 Bürger und Hiller haben indessen schon viel geleistet.

5 Mich freut's, daß Kapellmeister Reichard – dieser lange nicht nach Verdienst geschäzte Mann, hierinne mit mir so genau zusammenstößt – noch mehr Vogler, der Unsterbliche.

6 Dieser trefliche für Wissenschaft und Kunst höchstbegeisterte Mann hatte vor einigen Jahren das blutige Schiksal, von einer Tochter des Baron von Leuden auf seinem Landgute Affingen – unvorsichtiger Weise – erschossen zu werden.

7tempus expectandum, donec omnia maturescant.

8 Aphelium und Periphelium sind hier die Anspielung – Sonnenferne, Sonnennähe.

9 Ist jezt – Dank sei' es dem weisen Josef, einem Karl Theodor, und dem unsterblichen Braschi – so vortheilhaft abgeändert, daß wir dem seligen Augenblik der Religionsvereinigung immer heller entgegen sehen.

10 Der Mann lebt noch in grossen Ehren; ich hoffe, er soll sich jezt schämen, jemals so schlecht und bösartig von mir geurtheilt zu haben.

2. Theil

[Widmung]

»Nor sunk his vigour, when a fatal blow

The patriot fettered, – – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Then, active still and unrestrain't, his mind

Explor'd the vast extent of ages past,

And with his prison-hours enrich'd the world.«

»Thomson's Summer v. 1502. etc.«


»Sein Muth sank nicht, als ein widriges Geschik den Patrioten fesselte. Rastlos thätig und unaufhaltsam durchflog sein Geist dann die ungeheuren Räume verronnener Alter, und bereicherte die Welt mit seinen Gefängnißstun den.«

[3]
Vorrede
Vorrede.

Als mein Vater vor einem Jahre dem Publikum den ersten Theil seines Lebens übergab; da dacht' ich nicht daran, daß ich die traurige Pflicht, seinen Nachlaß zu sammeln, so früh schon würde erfüllen müssen. Er hatte [4] nur eben recht angefangen, die Wohnen der Freiheit und einer unabhängigen Muße nach einerzehnjährigen Prüfung zu kosten; er blikte so dankbar zum Himmel für Freuden, worauf er in den Tagen seiner Einsamkeit so oft Verzicht gethan; er hatte so manchen neuen Freund, so manchen theilnehmenden Leser gewonnen; trug noch so manchen schönen vaterländischen Entwurf in der Seele: als ihn im vorigen Herbst ein vorgeahndeter Tod im 52sten Jahre seines Lebens von allen seinen Aussichten und Hofnungen hinwegriß.

Ich lege hier seinen zahlreichen Freunden und Bekannten den zweiten Theil seines Lebens vor, der seinen [4] Aufenthalt in Augsburg und Ulm; seine Abentheuer mit Gaßner und den Jesuiten; seine Arretirung, und die beiden ersten Jahre seiner Gefangenschaft enthält. In dem manchfaltigen Verkehr mit Menschen aller Art, mit denen mich mein Schiksal schon in frühen Jahren zusammenbrachte, fand ich immer, daß man in Ansehung meines Vaters auf die Beantwortung der beiden Fragen am begierigsten war: »was eigentlich die wahre Ursache seiner langwierigen Gefangenschaft sei? und ob ihm seine religiosen Aeuserungen durchaus von Herzen gegangen?«

Ueber den ersten Punkt wird der Leser hier manchen wichtigen Fingerzeig, [5] über den zweiten – wenigstens nach meinem Gefühl, volle Befriedigung finden.

Daß der durch eine Virtuosen: Kaprise beleidigte kaiserliche Gesandte v. Ried die Hauptveranlassung zu seiner Arretirung gegeben; daß sich ein nahmhaftes Korpus von Pfaffen, und andern geheimen Feinden, die sich mündlich oder schriftlich von ihm beleidigt glaubten, hinter den Gesandten verstekt; daß dieser von seinem Hofe vornehmlich dadurch die Vollmacht zu seiner Festsezung ausgewirkt, daß er ihn beiTheresia als einen Religionsverächter, als einen leidenschaftlichen Novellisten angab, der Preussen auf Kosten Oestreichs zu erheben und [6] zu lobpreisen suche; daß endlich der Herzog von Wirtemberg aus mancherlei Gründen die Vollstrekung jener Vollmacht auf sich genommen – das alles sind Data, die der Leser mehr oder minder ausgeführt hier finden wird, und die wir unsern s. Freund öfters neugierigen Fremden erzählen hörten. Es ist hier weder der Ort noch die Zeit, mich über diese mißliche Sache näher zu erklären. So viel bleibt gewiß, daß mein Vater sein ganzes hartes Schiksal, gleich in der ersten Periode seiner Sinnesänderung, als eine gerechte und wohlverdiente Strafe – wenn nicht für politische oder gesezliche, – doch für seine moralischen Vergehungen ansah, und alle seine Leiden als Schikungen Gottes [7] zu seiner Bekehrung willig ertrug. Nie ist ihm bei, während, und nach seiner Gefangenschaft ein Verhör verstattet, oder der geringste offizielle Grund gegen ihn angeführt worden.

Ueber seine Bekehrung selbst verbreitet er sich in dieser Fortsezung so ausführlich, bezeichnet den allmählichen Uebergang vom Unglauben zum orthodoxen Kirchenglauben so deutlich; läßt uns so tiefe Blike in das innerste Getriebe seiner Seele thun, daß nun seine oft schwärmerischen Aeußerungen in den geistlichen Gedichten, und in der Chronik, wohl niemand mehr befremden werden. Ueberhaupt hat es mich immer gewundert, daß man den Uebergang vomNaturalismus zum [8] Mistizimus bei einem Manne so inkonsequent finden konnte, der schon in seinen frühesten Schriften z.B. seinen Todesgesängen, und sogar in den ältern Jahrgängen seiner Chronik einen so entschiedenen Hang zum Mistischen, zum Exaltirten und Uebernatürlichen verrieth. Man denke sich nun diesen Mann mitten aus den Strudeln eines dithirambischen Lebens in eine todte geschöpflose Einsamkeit versezt, wo er nichts als Trümmer der Vergangenheit vor sich hat; – man reiche ihm im quälendsten Durste nach Thätigkeit die heiligen Bücher, die Schriften eines Jakob Böhms, eines Hahns, Oetingers, Hollaz; man denke sich diese geistlichen Uebungen bei kärglicher Kost und hartem [9] Lager mehrere Jahre fortgesezt: was ist natürlicher, als daß ein solcher Mann seine Bahn verlieren, alle vorhergehende Ueberzeugungen verwerfen, und sich ganz einer Lehre hingeben wird, bei der die hervorstechendsten Kräfte seiner Seele so viel Beschäftigung finden, die seinem dichterischen Hange eine so weite Bahn öffnet, in der er endlich allein Beruhigung und Trost im Tode zu finden hoft?!

Nichts war bei Durchlesung und Zubereitung dieses zweiten Theils trauriger und niederschlagender für mich, als die sichtbare, unaufhaltsame, dem gefangnen Unglüklichen selbst so schwer auffallende Abnahme seiner physischen [10] und geistigen Kräfte. »Mein Gedächtnis« (schrieb er i.J. 1780, da er mehrere Freiheit erhalten hatte, an mich) »hatte damals so nachgelassen, meine Fantasie war so spröde und düster; mein Herz so gepreßt und erschöpft; mein Verstand so furchtsam, mein Gesichtskreis so schwül und enge, daß ich mich selbst nicht mehr kannte, und bittere fürchterliche Thränen über den Nachlaß meiner Seelenkräfte weinte ... Der Dampf meines Kerkers – denn keine Luft konnte durchstreichen – fraß meine Brust an, senkte tödtliche Mattigkeit in meine Glieder, und spannte alle Triebfedern meines Körpers ab. Mit ihm schrumpfte auch meine Seele immer trauriger zusammen ... O wie wahr, wie unglaublich [11] wahr, und drükend ist die Abhängigkeit der Seele vom Körper! ... Seit dem hab ich mich zwar durch die freie himmlische Luft, und bessere Kost wieder etwas erholt; werde aber nie – nie den ehmaligen Schwung und Zusammenklang meiner geistigen Kräfte wieder erhalten: und das ist die beweinenswürdigste Seite meines Schikfals!« Auch für mich war sie es.

Durch meine theure Mutter und andere Freunde, hoffe ich in den Stand gesezt zu werden, diese Geschichte bis zum Tode ihres Verfassers in dem dritten und lezten Bande gegenwärtiger Biographie vollenden zu können. Da er nie ein Diarium hielt, und das Wenige, was er über [12] die acht folgenden Jahre seiner Gefangenschaft im Kalender aufgezeichnet hatte, meist verloren ging; da ich selbst von meiner ganzen Familie gerade am wenigsten um ihn war: so müßte mein feurigster Wunsch, das Publikum zu befriedigen, diesen ungünstigen Umständen unterliegen, wenn ich nicht sicher auf eine solche Beihülfe rechnen dürfte. In dieser mir eignen Fortsezung, die so bald es mir möglich werden wird, erscheinen solle gedenke ich sodann manches widersprechende Urtheil über diesen Karakter zu vereinigen, oder niederzuschlagen, und meine eigene Meinung mit all der Freimüthigkeit herauszusagen, die mich in keiner Lage meines Lebens, und bei keinem Gegenstande [13] meines Nachdenkens verlassen wird.


Ostermesse 1792.

Ludwig Schubart. [14]

17. Period
[1] XVII.

»Wohin Kerl?« – ia, so dacht' ich, und die Welt lag weit offen vor mir, wie weiland vor Thomas Jones, als er seines Vaters Haus und Junker Westerns Burg verließ. Ich fuhr auf dem Postwagen, auf dem ein rundköpfiger und wanstiger Franziskaner saß. Der fieng gleich an in seiner Salzburger Hanswurstsprache die baierischen Schulreformen erbärmlich zu epanorthosiren. Er nannte Lori, Collmann, Braun, und alle, die sich mit [1] dem Schulwesen abgaben, geradenwegs – Lutheraner, welches Wort bei ihm den Innbegriff aller Kezereien zu bedeuten schien. Da er es zu grob machte; so erwachte ich aus meiner dumpfen, zweifelvollen Schwermuth, begann lateinisch mit dem Franziskaner zu sprechen, und bewies ihm nach allen rhetorischen Figuren, welch ein hohlköpfiger und bigotter Pfaff er sey. – »Etiam hæreticus! Etiam hæreticus!« polterte der Pfaff wie ein kalekut'scher Hahn, und rükte mit seinem breiten Gesäße im Postwagen so grimmig hin und her, daß ich fürchten mußte, umgeworfen zu werden. Ich stieg also aus, und sagte mit Ernst: »Zu ihrer Religion gehöre ich nicht, Herr Pater; aber zu einer von welcher Sie und Ihre Brüder noch vieles zu lernen haben. – Gott bekehre Sie!« – So sprang ich aus dem Postwagen, und der Pfaffe machte mir eine große Faust nach, und sprach über mich ein greuliches Anathema, das mich aber, Gottlob! in Ewigkeit nicht treffen kann.

[2] Da stand ich nun wieder, schlug mich mit der Faust an die Stirne, seufzte mein verzweifeltes Wohin? und gieng so vorwärts. Der Himmel wölbte sich freundlich umher, aber ich achtete nicht sein blaues Woogenspiel. Die Lüfte Gottes wehten; aber mich kühlten sie nicht. Denn ich war damals sehr betrübt, und fühlte das Schrekliche, so aufs Ungewisse in der Welt herum zu irren. Endlich strekte sich das weite Lechfeld vor mir aus, und ich sah die Thürme Augusta's aus blauen Düften sich enthüllen, und im Abendgolde schimmern. Ich kam nach Augsburg, und trat bei einem Bierwirthe am Mühlenberglein ab, der ein weitläufiger Anverwandter von mir war. Ich schrieb sogleich an meine Gattinn nach Geißlingen, und that ihr meinen Entschluß kund – nachStokholm zu gehen, und dort unter Gustavs Szepter mein Leben hinzubringen.

[3] Indessen wollt' ich mich etwas mit Kleidung versehen; denn ich war in diesem Stüke ein wahrer Cyniker. Meine Freunde mußten mich immer erinnern, wenn Kleid und Wäsche zu altern anfieng. Zudem hatt' ich das Unglük, daß mir mein einziges Kleid, das ich besaß, bald, nachdem ich in Augsburg anlangte, gestohlen wurde – »der Kerl hat's vielleicht noch nöthiger als du« dacht' ich, und vergaß meinen Verlust gar bald. Mein Leichtsinn dachte wie der Starkglaubige: »Seht die Lilien an! sie arbeiten und spinnen nicht, und Gott kleidet sie doch!« – Ich hatte auch nie lange Mangel an Bedürfnissen. Die Menschen, o die guten Menschen, – sie sind viel, viel besser, als der poltrende Sittenrichter wähnt, – bemerkten meine Sorglosigkeit und unterstüzten mich, sobald sie sahen, daß mir was gebrach, – »gebt ihm, was er will, er behalt doch sein Uebriges nicht!« so sagten die guten Menschen, und ich hatte wenig Mangel und oft Fülle. Ueber das war ich [4] schon so zur Genügsamkeit gestimmt, daß ich eben so gern im Bierhause mit einigen Kreuzern zu Tische saß, als im schallenden Gasthofe an der reichsten Tafel. Doch dieß Alles war nicht Tugend, sondern – Liederlichkeit, die mich bald in die Pfüzen des Pöbels iagte, bald ins heitere Licht gebildeter Gesellschaften stellte. –

Mein Wirthshaus war die Herberge der Weber, die seit Fuggers Zeiten in Augsburg die zahlreichsten und gewerbsamsten Handwerker sind. Dieß waren nun fürs erste nebst andern Bürgern, die Abends zum Bier kamen, meine Gesellschafter. Ich theilte mich ihnen mit und machte bald gros Aufsehen unter ihnen. Wenn die Meisterschaft der Weber zusammen kam und mit feierlichem Ernste, in großen schwarzen Röcken und langen weissen Krägen vor der Bundeslade saß; da luden sie mich zum traulichen Gastmahle und weideten sich an meinem Hellauf, wie ich mich an ihrer urdeutschen [5] Biderherzlichkeit. Ich habe als Dichter unter den niedern Ständen weit mehr gelernt, als unter den höhern; denn iene stehen näher am Quell der Natur. Man könnte die schönste Idylle verhunzen, wenn man einen schimmernden Modemann und ein flittergoldnes Modeweib drinn aufführen wollte. Geßner wäre in einer fürstlichen Residenz das nicht geworden, was er zu Zürich geworden ist.

Ich gieng also gern mit gemeinen Leuten um, und thu es noch; eingedenk des grosen Tages, wo der Richter nicht fragen wird: »warst du vornehm?« sondern: »warst du gut?«

Bald nach meiner Ankunft in Augsburg kam mir auch ein Mensch nach, den ich in München zu meiner Bedienung brauchte, ein Kerl, der vor Liederlichkeit hätte auseinander fallen sollen. Er war Schneider, Soldat, Laufer, falscher Spieler, [6] Tagdieb, Schmarozer und Windbeutel im höchsten Grade. Der zog mich zu München fast aus; nahm mir Stiefel, Wäsche und Alles vor den Augen weg. Solch ein Auswürfling bot mir wieder seine Dienste an, und ich hatte keine anzunehmen, war selbst bereit, für Dach und Lebensunterhalt zu dienen. Da schoß er weg von mir, wie ein Raubvogel. Und siehe da der elende Kerl machte hernach im Spiel sein Glück, daß er Tausende erwarb, sich ein Gut kaufte und sich's nun vom Raube herrlich wohl seyn läßt. Vor solchen Karakteren hatt' ich iederzeit den grösten Abscheu.

In Augsburg gefiel es mir immer sehr wohl. Ein sehr gefälliger Freund, den ich noch von Geißlingen her kannte, suchte mich zu bereden, daselbst zu bleiben: aber ich hatte der schlechten Aussichten wegen wenig Lust dazu. Buchhändler Stage bat mich, ihm was Gangbares zu schreiben; aber ich schlug es ihm ab. Mein Weib [7] schrieb mir, und bat mich wehmüthig, sie nicht zu verlassen, nicht so in die Weite hinaus zu irren, sondern in der Nähe zu bleiben. Dieß wirkte mehr, als alle Beredungen meiner neuen Freunde; und ich entschloß mich zu bleiben, und einen Roman zu schreiben, den ich schon lange, beinahe ganz ausgebohren, im Kopf herumtrug. Blizschnell schrieb ich einige Bogen nieder, dachte aber gar bald, wie langweilig dies Geschäft für mich und den Verleger werden müßte: Es war also nur wie eine Episode, daß ich ihm vorschlug, statt seines gescheiterten Schwäbischen Journals, ihm eine deutsche Chronik zu schreiben, und den Zirkelbogen etwas weiter zu ziehen, als in gedachter Zeitschrift. Ich fieng an, mit aller schuldigen Ehrfurcht vor dem Publikum – denn ich glaube nicht, daß iemals ein Schriftsteller ehrfurchtsvollere Begriffe von seinem Publikum gehabt hat, als ich von dem meinigen – die ersten Blätter zu schreiben. Meine Absicht war erst auf [8] Augsburg und Baiern, dann auf alle die von mir bereiften Gegenden, und endlich auf ganz Deutschland gerichtet. Der Beifall war weit größer, als ich ihn unter den Umständen, in denen ich schrieb, erwarten konnte. Der Verlag stieg von Hundert zu Hunderten, ungeachtet ich selbst mit meiner Chronik am wenigsten zufrieden war. Ich schrieb sie – oder vielmehr diktirte sie im Wirthshause, beim Bierkrug und einer Pfeife Tabak, mit keinen Subsidien, als meiner Erfahrung und dem Bischen Wiz versehen, womit mich Mutter Natur beschenkt hatte. Wenn ich mehr Muße gehabt hätte, oder mich nicht so gerne in Zerstreuungen verloren hätte, so wär' ich traun! kein übler Zeitungsschreiber worden. Ich hatte Feuer, wußte wie die Menschen zu greiffen waren, wußte meine Muttersprache zu schreiben, besser, als man es in dasigen Gegenden gewohnt war, und hatte nicht selten Anwandlungen von brittischer oder liskov'scher Laune. Aber der Mangel an Klugheit, der [9] sich in meinem ganzen Leben, so wie in meinen Schriften äusserte, die ungewöhnliche Freiheit, die ich mir in einem Lande voll ängstlichen Zwangs anmaßen wollte, und die kühne oft wilde Schreibart, konnten meiner Chronik keine lange Dauer versprechen. Auch brachte meine Situazion und Herzensstellung so auffallende Ungleichheiten in dies Blatt, daß die Ausländer glaubten, ich hätte zuweilen einen sehr dürftigen Handlanger. Heute schien mein Blat ein Glutstrom, das nächstemal ein Schneehügel zu seyn. Aber, ich selbst war so. Die Schrift ist des Autors Bild im Kleinen – sein treues Porträt im polirten Stahlknopfe. Wenn Ausschweifungen, oder heimlicher Gram meine Nerven abspannte; so sanken die Gedanken mattherzig und kraftlos, wie Pfeile vom ungespannten Bogen zu meinen Füßen nieder.

O wie wahr ists, daß ein Schriftsteller ohne Tugend und Ordnung, wenn er auch die schönsten Anlagen hat, kaum etwas mehr [10] gewinnen kann, als den erniedrigenden Seufzer des mitleidigen Publikums: »Schade für den Mann!« –

Kein Gewerb konnte für einen Menschen, wie ich war, zu einer Zeit wo die Priester- und Fürstengewalt gegen iedes Freiheitsgefühl anbraußte, und in einer Stadt, die unter allen deutschen Städten, einen so feurigen Kopf, wie der meinige war, am wenigsten dulden konnte, gefährlicher seyn, als das Gewerb eines Zeitungsschreibers. Vor Fürsten, auch wenn sie Bösewichter sind, den Fuchsschwanz streichen, kühle Galatäge, Jagden, Musterungen, iedes gnädige Kopfnikken und matte Zeichen des Menschengefühls mit einer Doppelzunge austrompeten, iedem Hofhunde einen Bükling machen, den Parteigeist desienigen Orts, wo man schreibt, nie beleidigen, den Kaffeehäusern was zum lachen, und dem Pöbel was zu räsonniren geben; – auf der andern Seite die Partheien des Parnassus genau kennen, und da [11] entweder im trägen Gleichgewichte bleiben oder muthig mitkämpfen: – das waren Geseze, die für mich zu hoch und rund waren und für die ich weder Geduld noch Klugheit hatte. Ich stieß daher tausendmal gegen sie an. Daher hat auch die Chronik mir und dem Verleger unermeßbaren Verdruß und endlich mir selber das harte Gefängniß zugezogen, in dem ich so manches Jahr reiche Gelegenheit hatte, meine Thorheiten zu beweinen.

Die ersten Blätter wurden in Augsburg gedrukt; da ich aber am Schluße meiner Anzeige sagte: »Und nun werf' ich mit ienem Deutschen, als erLondon verließ, meinen Huth in die Höhe, und spreche: O England, von deiner Laune und Freiheit nur diesen Huth voll!« so stand der damalige, nun selige Burgermeister von Kuhn im Senat auf und perorirte: »Es hat sich ein Vagabund hereingeschlichen, der begehrt für sein heilloses Blatt einen Huth voll Englischer [12] Freiheit: – Nicht eine Nußschaale voll soll er haben.« – Und hiemit wurde der Druk inAugsburg untersagt, und das Blatt bei Wagnern in Ulm gedrukt.

Inzwischen eröffnete mir meine Chronik den Eintritt allenthalben, und ich wurde bald so bekannt, daß Kinder auf der Straße mich zu nennen wußten. Aber eben diese weite Bekanntschaft war ein hundertaugiges Lauren auf alle meine Gänge, Tritte, Worte, Geberden, Werke. Und da ich sehr unvorsichtig war; so gab ich meinen Laurern unzähliche Blößen, mich zu stoßen oder zu fangen.

Aber auch dieß kümmerte mich wenig: »Lebt wie ihr wollt, laßt mich nur auch leben wie ich will!« – So dacht' ich, und so lebt' ich auch. Diese schlüpfrige Lage abgerechnet, hab' ich doch in Augsburg eins der schönsten Jahre meines Lebens verlebt. Obgleich die dasige Lebensart, dem, der in geräuschvollen Residenzen erzogen ist, [13] abgeschmakt, kleinstädtisch und tod vorkommt, so war es doch schon reichsstädtische Luft, die mich anwehte, und die mir an Leib und Seele immer die zuträglichste schien. So weit der alte Karakter der geraden und freien Vindelizier versunken ist; so zeigt er doch noch einige unverwischte Züge in Augsburgs iezigen Bewohnern, die alle Steifigkeit, Zähe des Wizes, Armuth des feinen Geschmaks, Unkenntniß der polirtern Sitte zu vergüten scheinen. Ein Augsburger, der mich in seinen Schuz nimmt, hält sein Wort so gut, als ein Engländer oder Schweizer. Wenn ein Augsburger Mezger seine gewaltige Faust auf den Tisch schlägt, daß die Biergläser klirren, und sagt: »Den möcht' ich sehen, der dich antastet!« – so bin ich mächtig beschüzt. Gleicher Sinn, nur etwas gebändigter, herrscht auch in den höhern Ständen, sonderlich unter der biderherzigen Kaufmannschaft. Man muß aber diese braven Reichsstadter nicht nach den Zügen beurtheilen, die sie in öffentlichen [14] Versammlungen zu verrathen scheinen; im Hauskleide die Männer, im Schlafroke, im schmuklosen Gewand die Weiber, zwischen verschwiegenen Wänden muß man sie sehen, und ihr Vertrauen durch Kopf und Herzthaten zu gewinnen wissen; so wird man bald die herrlichsten deutschen Menschenmassen, bidermännische Patrizier, edelmüthige Kaufleute, forschende Weise, fühlende Künstler, brave Bürger, sittsame Mädchen und einfältige gute Hausmütter antreffen, die mehr werth sind, als die flittergoldnen Menschenbilder an so manchem Hofe, die nichts weiter thun, als rauschen und blenden. Die meisten heutigen Urtheile über die Reichsstädter kommen mir nicht gescheider vor, als des französischen Tanzmeisters Marcell Urtheil über den großen Lord Chatam: »Kann der Mann was taugen, der ein schlechtes Menuet tanzt?«

Alles Schiefe, Widerwärtige, Dumpfe, Steife und Unangenehme, was den Fremden [15] beim ersten Anblik in Augsburg anekelt; kommt von der Parität her, diesem zweiköpfigen Ungeheuer, das aus zween Rachen bellt, aus zween Schlünden giftiges Mißtrauen in die Gemüther haucht, und sie zur freien, offnen Freude gänzlich unfähig zu machen scheint. Es war mir anfangs ungewöhnlich fremd, wenn ich in Gesellschaften von beiden Religionsverwandten, wo ich nach meiner Gewohnheit in freie Urtheile über mancherlei vorkommende Gegenstände ausbrach, mehrmals von einem lutherischen Freunde auf die Zehen getretten wurde, der mir dadurch fühlbar zu erkennen geben wollte, daß Katholiken zugegen wären. Blik, Ton und Rede zeugt daher bei den Augsburgern von einer so ängstlichen, mißtrauischen und blöden Herzensstellung, daß michs wundert, wie ein freier Mann in Bier- und Weinhäußern in und außer der Stadt, sich einem so qualenden Zwange blos stellen mag. Rom, – ich nehme die weitgreifende katholische Welt für ihr Gebiet an – hat wohl [16] die alte Macht verloren, aber doch immer noch die alte Staatskunst beibehalten: »Wer sich widersezt, den verfolge! rotte aus mit Feuer oder Schwerd! mit Gift, oder jener feinen Politik, die härter und langsamer tödtet, als Aqua tofana. Wer sich aber unterwirft, dem erweise Gnade!!« – Dieser Maxime zufolge hat der Protestant, wo er blos geduldet wird, mehr wahre Freiheit, als in Ländern und Städten, wo er seine Rechte mit herrschsüchtigen Feinden theilen soll. Kunst, Geschiklichkeit, Gewerbsamkeit, Kunstfleiß, Aufklärung und Schönheit der Sitten zeichnet die Lutheraner inAugsburg so merklich vor ihren Mitbürgern den Katholiken aus, daß man nirgends mehr als hier die Wohlthat der Reformazion kennen lernt. Und doch behaupten die Katholiken einen so augenscheinlichen politischen Vorzug über die Lutheraner, daß man ohne ihre Unterstüzung in Augsburg ohnmöglich fortkommen kann. Wenn es so fortgeht, so wird der päbstliche Hecht die lutherischen [17] Grundeln bald verschlungen haben. »Im 19ten Jahrhundert ist vielleicht ganz Augsburg katholisch;« eine Weissagung, die man ohne delfisehen Dreifuß, von den vorliegenden Aspekten abziehen kann. Man schauert, wenn man am Palmtage eine sogenannte Kontrovers- oder Eselspredigt hört. Was der niedrigste Pöbel bei Saufgelagen ausschäumt, Possen, Zoten, Lästerungen; Provinzialunsinn, Bauern, oder vielmehr Hanswurstsprache hört man hier auf der Kanzel. Pater Merz, ein damals hochgefeirter Name, und nachmals selbst vom Pabste zum polemischen Klopffechter eingeweiht, ein Mann, der etwas bessers thun konnte, als seine Feder in die Pfüze der unchristlichen Streitsucht tauchen, war zu meiner Zeit, das Orakel der Katholiken. Er kleidete Sophistereien in erträgliches Deutsch ein, und dieß ist das Glimpflichste, was man von diesem Gladiator sagen kann. Durch solche Einheizer wird die Gluth in Pöbelseelen immer unterhalten, [18] und nur Ein Windstoß, so wird sie Flamme werden, und den ruhigen Lutheraner verzehren. 1

Die evangelischen Geistlichen führen hier das sittsamste Leben, besuchen und trösten ihre Beichtkinder in der Stille, predigen ohne zu rumoren, und verdienen durch ihr sanftes Betragen die kleine, von Wekherlin zu scharf geahndete Ehre wohl, in Kupfer gestochen und als Helglein, wie man sagt, in die Gesangbücher ihrer Beichtkinder gelegt zu werden. Sie hatten zwar zu meiner Zeit keine Bruker, Urlsperger 2 und Grafe mehr, aber doch noch immer Männer, die ihrem Amte Ehre machten. [19] RektorMertens wurde frühe mein Freund. An seiner Seite sah ich die dasige Stadtbibliothek, die sonderlich einige von Rißke zum Theil benuzte sehr kostbare griechische Handschriften hat. Der Eifer dieses Mannes für Litteratur und Erziehungswesen verdient den Dank seiner Stadt und den Beifall seiner Zeitgenossen. Seine reiche Gelehrsamkeit und schöne Gaben erheben ihn zum Rang der Bertholins, Ehinger, Wolfe und andrer wichtigen Männer seiner Vaterstadt. Das Augsburgische Gymnasium hat ihm beinahe seinen iezigen Flor allein zu danken. Man darf es mir glauben, daß ich auch hier meiner Neigung folgte, und die edlen Männer dieser Stadt aufsuchte, auch mich herzlich freute, so oft meine Wünschelruthe über dem Golde einer deutschen Biederseele zukte. Unter diesen Seelen verdient Paul von Stetten vorzüglich genannt zu werden. Seine schönen Schriften, womit er unser Vaterland unterrichtet und ergözt, sind nur schwache Gipsabdrüke [20] eines tausendmal schönern Stempels. Er ist ein Fluß, der still und tief in seinem Bette fleußt, die Felder seiner Vaterstadt wässert und befruchtet, und nie braußt, als wenn sich ihm hartnäkiger Frevel und die Klippe des Wahns entgegen sezt. Sein ruhiger Karakter macht ihn zum Gefühl der Schönheit und Wahrheit vorzüglich geschikt, und giebt seinen Beurtheilungen über die Werke des Geistes viel Bestimmtheit und Richtigkeit. Sein Auge für die schönen Künste ist gesalbt und scharfblikend; doch scheint er die Grazie des Kleinen leichter zu bemerken, als das Göttliche des Großen. Sein Herzenskarakter stellt ihn auf die goldne Linie der Sanftmüthigen, von denen Christus das Haupt und Johannes sein Nachfolger ist. Daher kommt die Stille, Herzensgüte, Freundschaft und Wohlwollen, die im sanftesten Lichte sein Antliz verklären. Er ist noch eine Zierde seiner Stadt. Seine und überhaupt des ganzen Stettenschen Hauses vaterländische Thaten haben ihnen schon längstens[21] einen ansehnlichen Plaz im Bildersaale der Augsburgischen Patrioten erworben. Auch ich hatte ihrer stillen und lauten Unterstüzung manches Gute zu danken. 3

So verschrieen diese Stadt ist wegen des merklichen Heruntersinkens von ihrem alten Glanze, sonderlich wegen der Abnahme des reinen Künstlergeschmaks, so sind doch noch einige ziemlich helle Spuren davon anzutreffen. 4

Der so große unternehmende Geist Schülen's, der tausend Hände in Arbeit sezt und durch geschmakvolle Pracht die vornehmsten Fremden zur Bewunderung reizt, [22] die ansehnliche Kaufmannschaft, worunter noch Manche den Glanz des alten Reichthums ausstrahlen, so viele Juwelire, Sile berarbeiter und Künstler von aller Art, didurch ihren kostbaren Vorrath, durch Erfindung und Geschmak laut genug zeugen, daß noch Spuren des alten Geistes in ihnen glänzen; geben dem denkenden Fremdling reichen Stoff zur Unterhaltung, und sonderlich zur patriotischen Anmerkung, was der Deutsche vermag, er werde unterstüzt oder nicht, er sei frei oder ein Sklave.

Einer meiner wärmsten Freunde war Stein, dessen Orgeln, Flügel, Fortepiano's, Klaviere und sonderlich die grose Erfindung [23] der Melodika ihm längst einen angesehenen Rang unter den deutschen Erfindern und Verbesserern musikalischer Kunstwerke erworben haben. Ich habe seine meisterhafte Orgel in der Barfüßer Kirche mehrmalen mit Entzüken gespielt. Wie unnachahmlich rein gestimmt! Welche schlaue Verbergung der den Orgeln so natürlichen Gebrechen! Welche liebliche Register! Welch ein brausender, diker, die zahlreichste Festgemeinde tragender, durchschneidender Baß! – Man kann nichts hinreissenderes hören, als eine mit andern Instrumenten begleitete Orgelsonate, oder auch ein Konzert auf dieser Orgel vorgetragen. Auch hört' ich in dieser Kirche den schönsten, übereinstimmendsten Choralgesang, der so mächtig die ganze Seele faßt, und sie an ihre Unsterblichkeit mahnt. Das wahre kirchliche Pathos, die Enharmonie der alten Griechen, das Psalmengeiauchz der Chöre Assaphs, die unbeschreibliche Vielfachheit in Einem, ist allein noch in unserm Choralgesange einigermaßen [24] übrig. Ich und Stein, dessen musikalischer Geschmak vortrefflich ist, lauschten oft über die Blumengeländer der Orgel hinunter, und tranken die Töne der Gemeinde auf. »O« sprach ich oft in der Begeisterung zu ihm: »wann schmilzt einmal ein deutscher Assaph alles Große, Schöne und Edle der heutigen Musik, alle Vollkommenheiten der blasenden Instrumente, den schneidenden Zinken und die Hallposaune ia nicht zu vergessen, die Kraft der Orgel und aller Saiteninstrumente, mit diesen himmlischen Tönen der Gemeinde zusammen, und bildet daraus das fürchterliche Ganze, das ich immer in meiner Seele herumtrage und nirgends dargestellt finde!« – »So mags im Himmel zugehen,« sagte Stein, 5 die Gluth dieses Gedanken fühlend, »auf dieser Welt wirst Du nur Theile dieses idealischen Ganzen finden.« [25] Da deklamirt' ich ihm die himmlischen Strofen unsers ersten Sängers, der, obgleich kein Tonkünstler von Profession, doch all dieß fühlte, ahndete:


– – – – – O es weiß der

Nicht, was es ist, sich verlieren in der Wonne!

Wer die Religion, begleitet

Von der geweihten Musik,


Und von des Psalms heiligem Flug, nicht gehört hat;

Sanft nicht gebebt, wenn die Schaaren in dem Tempel

Feirend sangen! und, ward dieß Meer still,

Chöre vom Himmel herab!


– – – – – Ach ich höre

Christengesang! ... Mit des Herzens

Einfalt vereint sich die Einfalt des Gesanges!

Und mehr Hoheit, als alle Welt hat,

Hebt sie gen Himmel empor.


Oben beginnt jezo der Psalm, den die Chöre

Singen, Musik, als ob kunstlos aus der Seele

Schnell sie strömte. So leiten Meister

Sie doch in Ufern daher.


Kraftvoll und tief dringt sie ins Herz; sie verachtet

Alles, was uns bis zur Thräne nicht erhebet;

Was nicht füllet den Geist mit Schauer;

Oder mit himmlischem Ernst.


[26]

Himmlischer Ernst tönet herab mit des Festes

Hohem Gesang! Prophezeihung und Erfüllung!

Wechseln Chöre, mit Chören; Gnade!

Singen sie dann und Gericht!


Länger nun nicht, länger nicht mehr; die Gemeine

Sinket dahin, auf ihr Antliz zum Altare!

Hell vom Kelche des Bundes; eilt, eilt!

Strömt in der Chöre Triumph!


Ruhet dereinst dort mein Gebein, an der Tempel

Einem mein Staub; wo der Chorpsalm den Gemeinen

Tönt; so bebet mein Grab, und lichter

Blühet die Blume darauf,


Wenn, an dem Tag, als aus dem Felsen der Todte

Strahlte, der Preis in dem Jubel sich ihm nachschwingt;

Denn ich hör' es, und Auferstehung!

Lispelt ein Laut aus der Gruft.


»Das ist herrlich,« sagte Stein; »Du sollst doch nächstens was hören, das Dir gefallen soll!« Am Charfreitag holte mich Stein ab, und gieng mit mir ins Dom. Die Priester mit einigen Chorknaben sangen da das erhabene Miserere von Allegri und [27] einen Psalm nur mit einem Rükpositive begleitet, so trefflich, so in die Einheit Einer Himmelsempfindung verflößt, so in der vollen vierstimmigen Kraft und mit so auf der Herzenswage abgewogenen Tönen, daß ich Opern- und Kammerstil, alle Schnörkel, Läufe, Vorschläge, Kadenzen, und all den asiatischen Schmuk der neuesten Tonkunst darüber vergaß. Noch hallt es in meiner Seele nach, so mächtig drang es ein. – Abends wurde auf einem schönen von Freunden der Tonkunst erbauten Musiksaale ein Oratorium vonSeifert aufgeführt. Obgleich die Ausführung besser seyn sollte; so fühlt' ich doch den Geist des trefflichen Komponisten tief in der Seele. – Seifert, er ist gestorben und die Palme des Nachruhms weht auf seinem Grabe – verräth zwar Grauns und Bachs Schule; aber sein eignes Genie gab ihm gewisse Eigenthümlichkeiten, welche selbst seine grosen Lehrer an ihm schäzten. Herzblut träufen seine Töne; hätte er über ein groses Orchester, [28] das sein Geist heischte, zu gebieten gehabt: so würden wir Meisterstüke vom ersten Range von ihm aufzuweisen haben. Ramlers Ino ist gewiß nicht besser gesezt worden, als esSeifert that. Das Spielende seiner Muse ist ihr nicht natürlich, sondern Gefälligkeit gegen das Publikum, das im Schlitten fahren will, ohne Schellen. Doch ich habe von diesem großen Meister das Nöthige bereits in der Chronik gesagt, und Stetten hat ihm ein Denkmal gesezt, das zur Nacheiferung für iunge Künstler bereits gedrukt ist.

Unter den vielen Virtuosen, die sich zu meiner Zeit in Augsburg hören ließen, waren einige, die diesen Namen verdienten: als der treffliche Geiger la Motte, der grose Hautboist Besozi, ein eben so groser, nur etwas bizarrer Theorist, der damalige starke Trompeter Weigel, und der süße BaritonistLidl. – Der iezige Musikdirektor Graf weiß den Charakter seines Herzens[29] – das Schwermüthigschöne – auch seinen Kompositionen einzudrüken. Er hat ein paar Kantaten von mir trefflich in Musik gesezt. Fast kann ich mirs nicht verzeihen, daß ich diese Gattung von Dichtkunst, zu der ich gar viel Geschik hatte, nicht ausgebildet habe. Ich kannte die Eigenschaften des musikalischen Dichters, mehr aus der Erfahrung, als aus Krausens schönem Buche über die musikalische Poesie. 6 Daher sezten die Musiker meine Verse sehr gern und leicht in Musik. In diesem Theile der Dichtkunst findet der Deutsche noch vieles zu thun. Die wahre geistliche Kantate ist beinah noch unbearbeitet, wie schon Herder und Göthe bemerkt haben. Freilich keinen Dryden, keine Ceziliaoden, haben wir; aber doch köstliche Oratorien von Niemaier und Sangstüke von Kosegarten.

[30] Unter meinen Freunden nenn' ich mit einer Anwandlung von Stolz Branders Namen, dessen Gesicht schon den grosen Mechaniker ankündigt, den Deutschland – selbst das stolze Britannien an ihm bewundert. Die Einfalt seines Lebens und die Bescheidenheit, womit er von seinen Erfindungen und grosen Bekanntschaften, worunter Könige und Fürsten sind, sprach, gab erst seinem Genie den wahren Werth. Ein Kästner und Lambert haben das Gewicht dieses Mannes bereits entschieden, und gezeigt, daßBrander mehr als Dollond sei. 7 Lohn' und ermuntere den Deutschen; so wird er alles vermögen! –

Einige Originalzeichnungen von Nilson, die schönen Kopien in Sandstichen von Haid, verschiedene Stüke von Herz, der sich nur zu sehr durch seine fantastischen Kunstproiekte prostituirte, die meisten Medallien [31] von Bükle und die geschmakvollen Arbeiten der Gold- und Silberarbeiter – verdienen als die lezten Odemzüge der sterbenden Kunst in Augsburg bemerkt zu werden. Daß die Reichsstädte in allem so sichtbar herunter sinken, ist eine Folge der untergehenden Freiheit in Deutschland. Wien und Berlin, München und Mannheim, Dresden, Leipzig, und wenig andre Fürstenstädte sind eben soviel Riesenarme, die die Reichthümer und Künste der Reichsstädte an sich reißen, um sie auf diese Art ohne Schwerdtschlag von sich abhängig zu machen. Die treflichsten Köpfe sind Reichsstädter, aber so bald sie sich fühlen; so wandern sie in eine Fürstenstadt, um Brod und Ehre zu erwerben. Es kam kein Jahrhundert mehr anstehen; so müssen sich die Reichsstädte, um nicht ganz zu Grunde zu gehen, dem Kaiser, oder sonst einem mächtigen Fürsten von selbst unterwerfen. 8 Die elende ökonomische [32] Verfassung, die eingerißnen schweren Misbräuche, die schimpfliche Furcht vor angränzenden Fürsten, Bischöfen oder Königen, der immer tiefer herabsinkende Geist aller Republikaner, ihre eigne kleine Denkungsart von sich selbst, indem auch unter ihnen der ehrenvolle Name eines Reichsbürgers beinahe lächerlich geworden ist – und tausend Haupt- und Nebenursachen weissagen eine ganz nah bevorstehende Veränderung der Reichsstädte. 9 Die Bürger scheinen eine solche Katastrofe zu vermuthen, und leben meist, wie Leute die alles aufzehren, damit der Feind nichts mehr bei ihnen finde. Geh du, beobachtender Fremdling, an welchem Tage, zu welcher Stunde du willst auf die Spazierpläze, in die Lust-und Wirthshäuser [33] der Reichsstädter, du wirst sie von allen Arten Menschen angefüllt finden. Ich traf oft schon mit dem grauenden Tag Leute auf den sieben Tischen, einem ungemein reizenden Waldbusen bei Augsburg, oder auf dem Ablaß beim Kaffee, Wein oder Bier an, die in wahrer Herzenstraulichkeit alle zeitliche Sorgen zu vergessen, und nur dem geräuschlosen Vergnügen zu leben schienen. Nirgends werden die Sonn- und Feiertage, mit ihren angehängten blauen Montägen, die Geburts- und Namensfeste, Tauf-Hochzeit- und Leichenschmäuse, die Aderläsen – und noch unzählich andere oft lächerliche Anlässe zum Faullenzen und Schwelgen, genauer beobachtet, benuzt, ergriffen, als hier und in mehreren andern Reichsstädten. Alles hat zwar die Miene des Wohlstandes und der äuserlichen Ehrbarkeit; man scheint sich verabredet zu haben, ia nicht eines plözlichen und jähen Todes zu sterben, sondern langsam und bedächtlich mit Zählung iedes Pulsschlags ins Grab des Verderbens zu [34] taumeln; – inzwischen ist es doch Schwelgerei, die der billigste Gesezgeber für die unheilbarste Seuche des Staats hält. – Ich schweige, mit patriotischer Betrübnis meiner Seele, denn ich liebe die Reichsstädte, und darunter die hohe Augusta vorzüglich. – Wohl mir, daß ich es nicht erlebe, wenn ein künftiger deutscher Scipio auf den Trümmern der deutschen Republiken weint! –

Die beständige Thätigkeit, in der ich mich herumtrieb, ein auf alle Seiten gewandter Blik, die häufigen Gelegenheiten zum Verdienst für mich, die ermunternde Liebe meiner Freunde, machten mir Augsburg immer angenehmer; ia ich fühlte wieder ein Analogon von Ruhe meines Herzens, ie mehr ich mich der Ordnung und allgemeinen Brauchbarkeit näherte. Nirgends war ich beschäftigter als hier. Ich gab Lektionen auf dem Fortepiano, und hatte das Glük in kurzer Zeit ein paar tüchtige Subiekte zu [35] bilden, die sich öffentlich mit Beifall hören ließen. Ich spielte auf Orgeln, Flügeln und Klavieren allenthalben mit Beifall; ich gab Vorlesungen über die schönen Wissenschaften und Künste, hatte gelehrte und Künstlerversammlungen in meinem Hause, las die neusten Schriften und Partituren, benuzte Gemählde, Kupferstiche, Holzschnitte, Medaillen, Handzeichnungen, Gebäude – Manufakturen, Bibliotheken, Kunstsäle, gab Fremden Besuch, nahm Besuch, und schrieb dabei meine Chronik mit immer wachsendem Beifall fort; – machte auch Vorreden, Einleitungen zu andern Werken, Gelegenheits- und andere Gedichte häufig, bald gut bald schlecht, nachdem meine Seele gestimmt war. Einige junge Kaufleute baten mich um eine für sie begreifliche Encyklopädie; ich entsprach ihrem Ansuchen. Man schrieb mir das Gesagte halb und links verstanden nach, und ein Buchhändler in Münster gab es zerstükelt, planlos, iämmerlich gestaltet, voller Knabenschnizer, mit vielen von fremder [36] Hand eingeschalteten Anmerkungen heraus, nachdem ich schon gefangen war. 10 Ich hielt es für eine wahre Kreuzigung meines Fleisches, als ich dieß Todengerippe in meinem Kerker zu Gesicht bekam. – Meine Absicht war, ein Handbuch für alle Künstler zu schreiben – für Mahler, Kupferstecher, Bildhauer, Stein- und Stahlschneider, Baumeister, Tonkünstler, Schauspieler und Tänzer; wo sie alle für ihre Kunst nöthige wissenschaftliche Vorbereitungen finden sollten, als: Fabel und Altertumslehre, kurze Geschichte ihrer Kunst, Philosophie der Kunst, (wohin ich die Physiognomik, Pathognomik, aesthetische Grundsäze von Schönheit, Harmonie, moralischem Sinne des Künstlers, Genie, Wiz, Laune, Licht und Schatten,[37] Originalität, und Nachahmung, und die Grundsäze der Erfindungskunst rechnete;) vom Kostume oder dem Ueblichen – und dergleichen Dinge mehr, die der wahre Künstler wissen soll und muß. Aber mein nachheriges Schiksal in Augsburg hat diesen Plan verstürmt, den ich nun einem andern fähigen Kopfe – etwa meinem lieben Junker zur Ausarbeitung empfehle. 11

Einer meiner hervorstechendsten Karakterzüge war es, daß ich nichts für mich allein behalten konnte, es sei Geld oder Wonnegefühl über eine schöne Naturszene, über ein Kunststük, oder ein trefliches Buch. Ich mußte mitteilen, oder bersten. Wenn ich vomLuginsland 12 aus, die schöne [38] Gegend um Augsburg mit trunknem Auge maß, wenn ich eine neue schöne Komposition vor mir liegen hatte, oder wenn ich in meinen Lieblingen las; so drang ich mit feurigem Ungestüm auf den blikenden, oder horchenden Freund, und ruhte nicht, bis er mir Beifall zuglühte, oder wie ein Pagodenkopf zuwakelte. Daher entstanden die Lesestunden, die ich zu Augsburg in Privathäusern und öffentlichen Sälen anstellte, und damit eine merkliche Revolution im Geschmake veranlaßte. Ich las anfangs die neusten Stüke vonGöthe, Lenz, Leisewiz, und die Gedichte aus den Musenalmanachen mit eingestreuten Erklärungen vor, und da ich großen Beifall erhielt; so wählte ich Klopstoks Messias, um an einem wichtigen Beispiel zu sehen, ob sich die Odeen der Alten auch auf deutschen Boden verpflanzen ließen, und ob ein Rhapsode auch unter [39] uns sein Glük machen würde. Mein Odeum war der schöne Musiksaal auf dem Bekenhause, und da ich nebst einer natürlichen Anlage zum Vorlesen, mich von Jugend auf darin übte, auch meinen Autor fast auswendig wußte: so war ich kein schlechter Rhapsode. Der Erfolg war über meine Erwartung groß. Mit iedem neuen Gesange vermehrten sich meine Zuhörer; der Messias wurde reissend aufgekauft; man saß in feierlicher Stille um meinen Lesestuhl her; Menschengefühle erwachten, so wie sie der Geist des Dichters wekte. Man schaurte, weinte, staunte, und ich sah's mit dem süßesten Freudengefühl im Herzen, wie offen die deutsche Seele für iedes Schöne, Große und Erhabene sei, wenn man sie aufmerksam zu machen weiß. Eine große, wahre Bemerkung fiel mir gleich schwer aufs Herz: wo wenig Kultur ist, wird Klopstok viel mehr goutirt, als wo viel Kultur ist. Der gröste Lobspruch für den Dichter, denn er hat dieß mit dem Geiste des Christentums [40] selbst gemein, der in einfältigen kindlichen Herzen leichter Eingang findet, als in vollgefüllten satten, und ekeln Seelen, denen man vorher ein Vomitiv geben muß, eh' sie zur Ertragung der starken Naturkost wieder fähig werden.

Klopstok fand in Augsburg allenthalben Bewunderer, unter Katholiken und Lutheranern, Edlen und Unedlen, Männern und Weibern. Man wiederholte den abgelesenen Gesang zu Hause, fragte mich über schwere Stellen, 13 und fühlte nicht selten die Kraft[41] seines hohen Genius. Der richtigste Beweis, daß es noch sehr viele unverdorbene [42] Seelen hier gebe. Eine Erfahrung hab' ich mehrmals angestellt, daß vom achten Gesang [43] an der Strom der Empfindung und des Beifalls etwas zu stoken schien. Man verlangte die Hinausführung des Messias zum Tode mit anzusehen, um daran herzlichen Antheil nehmen zu können. Der Katholike sonderlich paßte auf die vielen Hinfälle Jesu unter der Kreuzeslast, und auf die Episode derVeronika; aber statt dessen nimmt ihn der Dichter mit unter den feirenden Kreis der Engel auf dem Todeshügel, und läßt ihn Gesänge und Reden der Engel, und gestorb'ner Heiligen hören. So schön diese auch einzeln sind, so beinahe wirkungslos glitschen sie am Herzen ab, wenn sie im Fortgang der Handlung auch vom sorgfältigsten Rhapsoden gelesen werden. Die Messiade ist eine Piramide, unten breit und sichtbar, in der Mitte von Gewölk umflossen, und oben, wo sie sich zuspizt, nur noch durch ein künstliches Sehrohr sichtbar. – Man fühlt es, daß der Verfasser unter der Arbeit seinen Plan verändert, und am Ende, sonderlich in den Triumphgesängen [44] etwas gekünstelt habe. Daher sind die Empfindungen des Hörers beim Vorlesen so wandelbar – wie Fieberstöße, mit Hiz und Frost abwechselnd, und gleichen nicht immer der gemäsigten Lebenswärme eines Gefunden. Auch fielen meine Zuhörer öfters mehr auf die Bewunderung des Dichters, als auf die Größe und Wichtigkeit des behandelten Gegenstandes, der doch das eigne Interesse des Dichters, wie das Universum einen Lichtstral verschlungen haben sollte. – Doch meine Seele ist im Augenblik, da ich dieses schreibe, zu trübe, als daß ich mich über einen so wichtigen Gegenstand weiter ausbreiten könnte. Genug, wenn ich noch hinzuseze, daß ich aus einer achtundzwanzigiährigen Erfahrung die Würkungen der Messiade auf mich und andere, vielleicht mehr, als irgend iemand in Deutschland kenne, und ihren moralischen und poetischen Werth, sonderlich ihren großen Einfluß auf die Veredlung der deutschen Sprache so anschauend als möglich erkannt habe. Bei allen Fehlern, die [45] dieß unsterbliche Werk würklich hat, ist bei unserer gegenwärtigen Kleinheitssucht, die alle Herzen täglich mehr verengt, schwerlich etwas größeres und besseres zu erwarten. Unsre besten inngen Dichter, die Zedern oder Eichen pflanzen könnten, sind zufrieden, alliährlich ein Blümchen zu den Musenalmanachen geliefert zu haben, und von irgend einem Modenäslein beschnupft worden zu seyn. – O Schande – ihr nennt euch Barden, Minnesänger; aber Knaben, Toilettenpuppen seid ihr!! – Du aber Klopstok, leb wohl! ich hoffe dich dorten zu sehen, von Schlaken gesäubert, und deiner Freundschaft würdiger, als hier! –

So viele Geschäfte, die mir alle reichlich bezalt wurden, hätten mir das bequemste Leben verschaffen können, wenn ich die Kunst zu leben baß verstanden hätte. Es war zwar Labsal für mein Herz, daß ich meine arme Familie wieder unterstüzen konnte; inzwischen schwebt' ich doch immer noch [46] mit einem Fuß' in der Luft. Ich begieng gleich Anfangs die Unvorsichtigkeit, (eine Furie, die mich immer geisselte) den gefallenen Jesuiter-Orden anzugreifen, 14 der[47] nichts weniger als todt, sondern nur ein gefallener Riese war, der alles, was sich ihm zu dreist näherte, mit der Faust niederriß, und nicht selten in freier Luft zermalmte ... Ein Stein zu meinem Kerkergewölbe! – Gleich darauf mischt' ich mich in Gaßners Sache; – der zweite Stein zu meinem Kerkergewölbe! –

Man hat es in Berlin 15 an mir geahndet, daß ich so thöricht seyn, und mitten unter Vertheidigern des Wahnsinns, den Wahnsinnigen antasten könnte: und man [48] hatte recht. Auch nach meinen gegenwärtigen Grundsäzen bin ich fest überzeugt, daß Gaßner der Mann nicht war – nicht seyn konnte, der die unglaubige Welt von dem Einfluß und der Gewalt der Dämonen auf den Menschen überführen sollte. Sein Leben und seine Schriften, die theatralische Buffongestalt seiner Exorzismen, die unzählichen meist unglüklichen Versuche, wodurch er sein Ansehen selbst im abergläubischen Ellwang verlor; – und mehr als all dieß, das ganz und gar Schriftwidrige in seinem Verfahren überführen mich noch iezt, daß der [49] ganze Gaßnerische Lerm eine Schwaben sehr entehrende Komödie war. Aber alle diese Ueberzeugung berechtigte mich doch nicht, diesen Mann mit unaufhörlichen Spöttereien zu neken, und mir dadurch selbst Lavaters Misfallen zuzuziehen. Da sich die Jesuiten, Gott weiß warum? der Gaßnerischen Sache annahmen; so vermehrte sich ihr Haß gegen mich, der nun schon heimlich in Nachstellungen, öffentlich in Anklagen bei der Augsburgischen Obrigkeit, und endlich in Schriften und Verfolgungen bis in die Gruft meines Kerkers hinein ausbrach. Meine Sicherheit nahm in Augsburg mit iedem Tage ab. Wohlmeinende Freunde mußten mich des Nachts begleiten, um mich vor den Anfällen der Jesuiterschüler zu schüzen, die mir an allen Eken und Winkeln aufpaßten. 16 [50] Der wahre Gedanke, »der Jesuiter-Orden hätte der Wahrheit mehr geschadet als genuzt,« und das Lob des unsterblichen Ganganelli, das ich häufig in meiner Chronik ausstreute, zog mir sogar eine gerichtliche Ahndung und Bestrafung zu. Da ich aber selbst von den verständigsten Katholiken gelobt und ermuntert wurde, in meinem Eifer fortzufahren; so glaubte ich immer noch fest genug zu sizen. Einige der wichtigsten Männer von katholischer Seite waren mir sehr geneigt, und gaben mir oft heimliche Aufträge, die sie gut bezahlten.

Ich habe nicht selten an der Seite eines weisen Katholiken die rasenden Aufzüge der Jesuiterschüler verlacht, die öffentlich in den lächerlichsten Simbolen die ganze Grammatik, [51] Rhetorik, Logik, und Metaphysik – und zur Abwechslung auch eine Garküche vorstellten. Da tritt bald ein Jüngling als Vokativus, als Enallage, als Syllogismus, als Monas, – und bald darauf als Bratwurst, oder Kalbsschlegel auf. Ein Aufzug, der Unsinn und nicht komisches Salz verräth. Vielleicht würde ein deutscher Shakespear eine solche Szene benuzen können – wie ich denn überhaupt den deutschen dramatischen Dichtern und Romanschreibern rathen möchte, die katholischen Provinzen Deutschlands fleißiger zu bereisen, wenn sie ia Originale und lebendige Karrikaturen finden wollen. Auch ihr komisches Salzlager würden sie dadurch ungemein vermehren; denn hier ist das Komische zu Haus. Der Lutheraner lächelt, der Katholik aber schlägt hohe Herzenslache auf. – Wie überall, so fand ich auch hier die edelsten Seelen oft mitten im Gedränge des abergläubischen Pompes. Eine der schönsten Stunden bracht' ich bei den sogenannten Englischen Nonnen[52] zu, die hier sehr viel Freiheit haben. Die Aebtissinn war damals eine deutsche Gräfinn mit Reizen geschmükt, die man sehr ungern unterm Schleier verblühen sah. Sie spielte das Klavier sehr artig, sang ungemein schön, meist deutsche Stüke, hatte deutsche, französische und englische Belesenheit, und sprach von allem was sie wußte, mit so liebenswürdiger Naivetät, daß sie alle Herzen gewann. Sie erwies mir viel Ehre, und nie werd' ich diese reizende und zugleich so liebreich sittsame Priorinn vergessen können.

Mitten unter diesen glänzenden Bekanntschaften (darf ich auch ein Veilchen auf dein Grab pflanzen, edler Stiftsherr Bassi?) war der Boden unterminirt, auf dem ich stand, – mit Pulver gefüllt – und schon wurde die Lunte geschwungen, welche die Mine entzünden, und mich armen Pilgrim in die Luft sprengen sollte. Ich saß an einem ruhigen Abend unter einem Chor trauter und bewährter Freunde. Ein[53] fremder Kavalier besuchte mich. Ich spielte einige Fantasien auf meinem Steinischen Klavier mit Empfindung. Vertraulichkeit und helle Freundschaft leuchteten alle Gesichter herunter. So arg ich war, so brütete ich doch nichts Böses gegen irgend einen Menschen in der Welt. Dieß machte mich sicher, denn ich maß alle Menschen nach mir. – Plözlich wurde mein Haus von Soldaten umstellt; einige drangen die Treppen herauf; ein Abgeordneter vom regierenden Bürgermeister Katholischer Seits, trat ins Zimmer, und kündigte mir Arrest an. Zugleich nahm er alle meine schriftliche Sachen hinweg, versiegelte meine armselige Haabschaft, und wollte sogar den Anwesenden die Taschen aussuchen. Der Kavalier sezte sich in sehr derben Ausdrüken gegen eine so unverschämte Zumutung, nahm Abschied und ging mit der ganzen Gesellschaft weg. Ich blieb allein – bei einigen Soldaten, die mich im Zimmer bewachten; die übrigen waren an die Treppen und Hausthür [54] gepflanzt. Ein alter ehrlicher Kerl, den ich zur Bedienung angenommen hatte, wurde in die Eisen geschleppt, und wegen meiner, wie in ein peinliches Examen genommen. Meine Freunde, die eine ansehnliche Partei bildeten, machten Lerm, und die ganze Stadt kam in Bewegung. Noch in der Nacht drängte sich der Eisenberg, an dem ich wohnte, von Menschen an, die alle den Tag erwarteten, um einen Verbrecher der schreklichsten Art vorführen zu sehen. Denn man gab mir im Unsinn des ersten Lerms die teuflischesten Dinge Schuld. Die Kaufleute evangelischer Seits, waren die ersten, die sich meiner annahmen. Sie brachten mir durchs Fenster einige Burgunderflaschen zu. Nach einer schlaflosen Nacht kam mein Verleger zu mir, der für seinen Autor bereits einen harten Kampf gekämpft, und die Freiheit erhalten hatte, daß man mich besuchen dürfte. – Und nun stand mein Tisch in einem Augenblik voll von Speisen und Trank, die mir meine Freunde [55] zutrugen; und in alle Taschen wurde mir Geld gestekt. Nichts war mir rührender, als der Anblik eines vierzehniährigen Klavierschülers von treflicher Anlage, der mich besuchte, sein Geschenk auf den Tisch legte, sich plözlich wandte, kein Wort sprach, einige gebrochne Töne aus dem Klavier herausängstete und – laut zu weinen anfieng. Ich drükte ihn fest an mein Herz, den blühenden, gefühlvollen Jüngling, nezte seine Stirne mit meinen Thranen, und nahm Abschied von ihm. 17

Meine Partei schwoll immer mehr an: die Häupter des protestantischen Senats sezten sich offenbar gegen ein so gewaltsames Verfahren, und drangen darauf, mir sogleich meine Freiheit wieder zu geben. Dieß geschah; doch wurd' ich vorher noch zum Bürgermeister von Rhem unter einer [56] Flut von Pöbel geführt, der mir ohne Umstände ankündigte: daß ich sogleich auf Befehl der hohen Obrigkeit die Stadt zu räumen hätte. »Und mein Verbrechen, Ihr Gnaden?« – Wir handeln nicht ohne Ursache, und das mag Ihnen genug seyn. –

Und nun hatt' ich abermals meinen derben Abschied, nicht geschrieben, sondern herausgezürnt – den Abschied von einer Stadt, die ich liebte, und in der ich mein Leben zu beschließen wünschte. Kein Wunder wärs, wenn so plözliche, tobende Umschwünge meines Schiksals, – dieß beständige Hin-und Herzerren von Ehre und Schande; diese Fülle, diese Armut, diese gemachten und zerrissenen Freundschafts-Bündnisse, dieß Schweben zwischen Himmel und Erde, zwischen Luft und Wasser, zwischen Gott und Verzweiflung, – ia wenn dieß alles mich rasend gemacht hätte. Ich war kaum zu Hause angelangt; so standen meine lieben Freunde um mich her, alle [57] stumm, alle den bangen Abschied im Busen tragend; alle mit schimmerndem Blik, und Mitleid verkündender Wange auf mich hinblikend. – »Was wollt ihr von mir, Ihr Lieben? – Ich bin ein elender Kerl! – Werde geiagt von einem Orte zum andern – und« – – O das Herz sprang mir und die lüftende Thräne stürzte in schnellen Tropfen nieder. Ich schlug mich vor die Stirne: »So gute Seelen verlassen!« das wars, was ich sprach, und meine Wange troknete nicht, solang ich noch in Augsburg war. In einigen fliegenden Minuten – Tod lag in einer ieden – nahm ich Abschied von allen meinen Lieben – auch von dir, theurer Mertens! – und zog, von einer diken Schaar meiner Vertrautesten begleitet, zum Thore hinaus, um auf dem nächsten Dorfe den Postwagen zu besteigen. Das weite Gefild lag voll tiefen Schnees, den meine Freunde mit mir durchwateten, um sich noch einmal mit mir zu lezen. Tiefer rührte mich nichts, als einer[58] meiner Zuhörer, der mir nachfuhr, und Burgunder in seinem Wagen hatte, den er mir und seinen Freunden weihen wollte; aber der Wagen ward umgeworfen, und mein Freund brach den Arm. – O wie unwürdig war ich, von so vielen edlen, guten, gefühlvollen Seelen geliebt zu werden. Segne sie, Gott, mit deinem besten Segen! Ich umarmte alle meine Brüder mit lautem Schluchzen, und nahm Abschied – Abschied! ein abscheuliches Wort, wenn kein andres Leben wäre.

Fußnoten

1 So war es damals. Hat sich doch seitdem gar vieles verändert. Verträglichkeit und weise Duldung verbreitet sich auch in Augsburg. Was gehen uns die Nachtvögel an, die Finsterniß und Trümmer lieben:?

2 Noch lebt des alten Urlspergers Sohn ein erleuchteter Gottesgelehrter.

3 Ein wenig Patrizierstolz ist doch in den Schriften des guten Stetten nicht zu verkennen.

4 Es stäuben da doch immer noch Funken von Kunstanlagen, und Augusta hat gewiß nicht den gallichten Tadel im Schwäbischen Lexikon verdient. Ueberhaupt hat das Heruntersinken Augsburgs mit andern deutschen Reichsstädten einerlei Ursachen. Nicht allein Fehler in der Regierung, – Leviathan Aristokratismus, vor dem die kleinern Fische des Meers zittern, – sondern auch Luxus und zum Theil Trägheit der Bürgerschaft, – meist aber die Nähe gewaltiger Fürsten, die so manche Reichsstädte mit den Fluthen ihrer Macht umbrausen, wie der Ozean die Inseln, – tragen bisher die Schuld der sichtbaren Abnahme so mancher Reichsstädte.

5 Er wird nun seines Glaubens leben; denn er ist we nige Wochen nach meinem s. Vater auch hinübergegangen in jene bessere Welten. Sein Ruhm wird bei der Jezt- und Nachwelt nie sterben.

D.H.

6 Das für unsere Zeiten wieder aufgelegt werden, und mit mehreren deutschen Beispielen, an denen wir iezt reicher sind, als damals, bereichert werden sollte.

7 Nur Herschel überflog ihn hernach.

8 Könnte aber auch nach den Zeichen der iezigen Zeit wohl ganz anderst ausfallen; ia, Stollbergs Idee von allgemeiner Freiheit in Deutschland könnte früher realisirt werden, als im 20sten Jahrhundert.

9 Hamburg und Frankfurt halten sich doch immer hoch oben, weil da mehr Bürgergeist, als Patrizierstolz herrscht.

10 Die Herrn Rezensenten wußten dieß; und doch fielen einige von ihnen, besonders der in der allgemeinen deutschen Bibliothek so unbarmherzig über den armen Gefangenen her, als ob er die Schrift selbst mit der nüchternsten Besonnenheit ins Publikum gegeben hätte.

D.H.

11 Gedachter Grundriß der schönen Wissenschaften ist hernach von dem Professor Hißmann in Göttingen sehr gut umgearbeitet worden. Man las auch, und liest noch auf einigen Akademien darüber.

12 Luegin's Land; oder nach der Etymologie:Schau naus in's Land, ein herrlicher Ausblik auf dem Augsburger Walle.

13 Das stürmende Getümmel zu Ende des 16. Gesangs bei der Höllenfart Christi, hab' ich aller Sorgfalt ungeachtet, nie so deklamiren können, daß es den gehofften Eindruk bei den Lesern machte. Ich bewundre die Gewissenhaftigkeit des Dichters, mit der er an der Geschichte hieng, die von der Höllenfart nichts sagt, als: – »er zeigte sich den Teufeln zum Schreken.« – Aber dieß blose Zeigen, dießNichtsprechen, hat Leser und Hörer, soviel ich deren kenne, nie ganz befriedigt. Zudem stehen die schwarzen Farben ohne Lichtblike, so dik aufeinander, daß kein Auge dieß Chaos lange aushalten kann. Die gedrängte Sprache, die kühnen Vorstellungen, die gigantischen Bilder – Trümmer, wie im Donner niedergeworfen; machen einem die Deklamation so sauer, daß ich immer Brustschmerzen bekam, so oft ich diese Stelle deklamirte.

Zum Beispiel will ich Jünglingen, die sich in der Deklamation üben wollen, nur folgende Stelle hieher sezen; (ich wollte wetten, daß sie manche Männer nicht lesen können):

– – »weit, da er kommen höret, sahe

Jesus, da schwebt' in der Wonn' hinaus in die Schöpfung, eilte

Abdiel wieder zur Pforte der Hölle, rufe' es dem andern

Hüter, eröffnete wankendes Ungestüms, daß die Riegel

Klangen hinab, und die Angeln ins ewige Grab.«

Stürmende Eile herrscht in dieser Stelle, und doch mußte sie, nach meiner Empfindung folgende Schattirungen durch die Deklamation bekommen:

Weit – bis Jesus – ernst, feirlich, staunend. Um deutlich zu werden gibt man dem Worte weit einen scharfen Ton, macht eine kleine Pause, und fällt bei den Worten: da er kommen s.f. beinah um eine Quart. Die Wörter: hörete, sahe, werden langsam ausgesprochen, und das darauf folgende Jesus sehr feierlich. – Da bis Schöpfung – etwas geschwindpiu allegro – schwebend, ohne Tonfall.

Eilte bis eröffnete – geflügelt schnell: versteht sich der deutlichen Aussprache, und Bemerkung der Abschnitte unbeschadet. Da von dem Worte Abdiel die Deutlichkeit der ganzen Stelle abhängt; so muß es stärker und erhobner, als alle übrigen Worte deklamirt werden.

Wankendes Ungestüms – bis Grabdescrescendo, diminuendo der Stimme, und Hinschweben vom Fluge des Presto, bis zum feierlichen Gange des Maestoso.

Auf diese Art getraut' ich mir über die dunkelste Stelle Licht und Deutlichkeit zu verbreiten. Gäb' es Noten für die Deklamation; so wollt' ich mich noch deutlicher über dieß Thema ausdrüken. Aber es gibt leider keine, und es wäre doch möglich, sie zu finden.

14 Sie nahmen besonders folgenden Artikel so hoch auf:

»Die Zahl der Freunde und Vertheidiger des Jesuiterordens vermindert sich täglich. Die Partei der Großen und der Verständigen ist gegen sie. Daß hie und da katholischer Pöbel noch einen Seufzer für sie zum Himmel schikt, macht's nicht aus. Die Welt sieht nun einstimmig ein, daß die Verdienste dieses Ordens nicht so groß gewesen, als man anfangs glaubte. Die Katholischen machen nun die herrlichsten Erziehungsanstalten ohne Beistand der Jesuiten, und wir Protestanten haben schon längst in allen Theilen der Wissenschaften Meister aufzuweisen, ohne unsre Weisheit aus den Schulen oder Schriften der Jesuiten geholt zu haben. In der Mathematik und Physik hatten sie einige sehr gute und brauchbare Männer; in allen andern Wissenschaften aber würd' es schädlich seyn, ihre Grundsäze fortzupflanzen. Ihre Theologie ist ein weitläufiges scholastisches Gewirre, was das Herz nicht besserr, und den Verstand mit unnüzen Subtilitäten anfüllt. Ihre Methode, die Philosophie zu lehren, ist steif und geistlos. Schwimmt auch hie und da eine große Leibnizische Idee in ihren Systemen; so erstiken sie sie wieder in ihrem eigenen Wuste. Ihre Moral ist verderblich und dem Staate nachtheilig, und in den schönen Wissenschaften haben sie kaum etwas mehr gethan, als – gefallt!«

Jahrgang 1775 p. 106.

Man darf in unsern neusten Schriften über diesen Orden nicht lange blättern, um diese Wahrheiten noch weit stärker ausgedrükt zu finden.

D.H.

15 Der Artikel in der Chronik hierüber, der soviel Geschrei erregte, lautet also:

»Der Pfarrer Gaßner zu Klösterte fährt fort, den dummen Schwabenpöbel zu blenden. Er heilt Hökker, Kröpfe, Epilepsien – nicht durch Arzneien, sondern blos durchs Auflegen seiner hohepriesterlichen Hand. Kürzlich hat er ein herrliches Buch herausgegeben, wie man dem Teufel widerstehen soll, wenn er in Menschen und Häusern rumort. Und da giebts noch tausend Menschen um mich her, die an diese Narrheiten glauben. – Heiliger Sokrates, erbarme dich meiner! Mann hören wir doch einmal auf, Schwabenstreiche zu machen?«

Jahrgang 1774 p. 589.

16 Damals hatte mich mein seliger Vater als neunjährigen Knaben zu sich gerufen, und schikte mich zu dem würdigen Rektor Meriens, in die Schule. – Ich schlief mit ihm in einem Bette. Die Jesuiterhuben trieben ihre Wut so weit, daß sie Nachts Fauststeine zu unsern Fenstern herein warfen, und uns nöthigten,unter der Bettstatt zu übernachten, um nicht todtgeworfen zu werden.

D.H.

17 Er ist iezt einer der ersten Flügelspieler in Italien.

18. Period
XVIII.

Eh ich mit dem Postwagen fortfahre, muß ich den Antheil noch preisen, den der warhaftig edle von Stetten an meinem Schiksal nahm. Er schikte mir seinen Bedienten nach, da ich schon vor den Thoren war, und ließ mich seiner Theilnahme und Unterstüzung versichern. Es war aber zu spät, um sie benuzen zu können. Ich habe nachher, so stark man in mich drang, feierliche Genugthuung zu fordern, die ganze Sache liegen lassen, wie sie lag, da ich zumal nicht gesonnen war, meinen Aufenthalt noch einmal in Augsburg zu suchen. Die Klippen schrekten mich. – Und nun saß ich im Postwagen, mit den Nachwehen der grausamen Trennung von meinen Augsburgischen Freunden belastet, und noch härter von dem Gedanken gepeinigt: welche rauhe Pfade die ewige Vorsehung (denn an dieser zweifelte [60] ich nie, selbst in der diksten Nacht meiner Verirrungen nie,) mich zu führen beschlossen habe. – Ich kannte Menschen von äußerst mittelmäßigen Fähigkeiten, die ihr gutes Fortkommen hatten, und in Ruh und Gemächlichkeit lebten; – und nur ich! nur ich stieß allenthalben an: konnte mit so mannichfaltigen Talenten mich nirgends lange erhalten, wurde von Provinz zu Provinz fortgestoßen, mußte mein Leben wie ein verschossener Vogel in steter Angst und Kümmernis zubringen, und wußte bald nicht mehr, wo mein Fuß ausruhen sollte. Alles war Fluth um mich, und nirgends eine Arche! Ich behielt indessen immer die Selbsterkenntniß, daß ich mich allein zum Urheber meiner Unfälle machte, und alle andre Menschen, selbst meine grimmigsten Hasser von der Schuld lossprach. »Wer heißt dich,« sprach ich zu mir selber, »die friedlichen Zirkel der Menschen durch dein Ungestüm stören!« – Solche Gedanken marterten mich, und zogen einen diken Schleier [61] über mein Angesicht. – Ein Preußischer Offizier, der neben mir saß, bemerkte es. – »Zum Dövel, man muß auch nicht immer den Kopp so hängen,« sagte er sehr treuherzig zu mir. Sie verloren viele gute »Freunde, wie ich gesehen habe; aber sie werden wieder andre finden. – Ich weiß, es thut weh, wenn man seine Kameraden verliert, – meine Liebsten sind mir zuweilen an der Seite todtgeschossen worden. Aber die Welt ist groß, sie hat der Menschen viele – gewiß gute Kerls, wenn man sie nur zu suchen weiß ...« Ich sprach vieles mit diesem braven Offizier, und entdekte mich ihm sogleich mit der grösten Vertraulichkeit: denn kein Mensch konnte zur schnellsten Brudertraulichkeit aufgelegter seyn, als ich es war. Er kannte mich bereits aus dem Rufe, und war erfreut mich bei sich zu haben. Diese Bekanntschaft gab mir wieder einigen Mut: denn ich ängstete mich als es Günz burg zugieng, weil ich durch die Gaßnerische und Jesuitische Geschichte [62] weit verschrieener unter den Katholiken war, als weiland der Bairische Hiesel. Als ich zu Günzburg in die Gaststube trat, fand ich ein ganzes Rudel dikwampiger Pfaffen um einen Tisch herumsizend bei'm Bierkrug. Eins meiner lezten Blätter, lag vor ihnen. – Man denke sich mein Schreken, als ich sie in ihrem Hottentottendialekt brüllen hörte: »Jezt hand mer den Galgenkerl, den Schubart! werden 'm wohl d' Zung rausschneiden, und da Käza lebendig verbrenna. Dann schreib, Hund!« So löhrten sie aus ihren diken Braunbierkehlen, und schlugen auf den Tisch, daß die Gläser klirrten. Nur Einer unter Allen, – der einem weltlichen Beamten glich, und unstreitig der Aufgeklärteste dieses robusten fanatischen Zirkels war – ließ mir noch einige Gerechtigkeit wiederfahren, und strengte alle Sprachorgane an, um diesem rohen Haufen begreiflich zu machen: daß mein nun leider mit mir eingekerkertes Blatt ihnen allerseits doch manche frohe [63] Stunde gewahrt; manches Nüzliche und Angenehme enthalten hätte; s.w. Er verwieß ihnen mitunter ihr liebloses allzustrenges Urtheil über mich. Aber seine bessernde Moral wurde bald von dem wildbrausenden Strome ihrer Lästerungen verschlungen. Der Wirth, – daß ich dieses sonderbare Gemälde ganz vollende – in dem nichts weniger als eine Sokratische Seele lag, staunte, und horchte dem Allem von ferne, in frommer Einfalt, mit weit aufgerißnem Maul und Augen zu. – Welch ein Willkomm für mich! Der Odem trat mir zurük, als ich auf diese Schlächtergruppe hinsah, die mich aus den vielen Portraits, die von mir umherliefen, so leicht erkennen konnten. Indessen sammelte ich mich bald, mischte mich mitten unter's Gelage, und schimpfte zehnmal ärger auf mich als sie; so daß sie meine Suade bald mit Lobsprüchen überhäuften. Die Nacht hindurch hatt' ich meinen treuen Pudel zum Wächter, den ich auf meine Brust legte. Mit dem grauenden[64] Morgen zog ich meine Strasse, und schüttelte mich, wie ein Geretteter am Ufer, als ich Günzburg auf dem Rüken hatte. Mein Preuße gab mir einen andern Namen, und so kam ich sicher aufs Ulmische Gebiet. Wie erweiterte sich mein Herz, als sich der ehrwürdige Münsterthurm aus blauen Düften enthüllte, und als ich endlich nach vielen schlaflosen und kummervollen Stunden in Ulm anlangte, woselbst ich bereits von einigen guten Freunden erwartet wurde. Mein Preußischer Begleiter trank eine Flasche Burgunder mit mir, klopfte mir mit Soldatischer Derbheit auf die Schulter, und sagte beim Abschied: »Herre, sind Sie man gut Preußisch, so wird Ihnen kein Teufel was thun!«

[65]
19. Period
XIX.

Ich war kaum in Ulm angelangt; so gieng ich zum dasigen Stadtamman Häkhel, der Taufpate meiner Kinder, und seit zehn Jahren mein unveränderlicher Freund war. Er ermunterte mich schon in Augsburg, als er von Wien zurükkam, wohin er nebst dem Baron Welser in wichtigen Angelegenheiten der Stadt abgesandt war, meinen Aufenthalt in Ulm zu nehmen, und versprach mir seinen vollen Schuz. Meine ersten Tage in Ulm waren eine beständige Todenfeier. Mein Vater war gestorben, noch da ich in Augsburg war. Das Schiksal seines erstgebornen Sohnes quetschte sein Herz, sonderlich da er geraume Zeit nicht wußte, wo mich mein Damon herumtrieb. Er faßte neue Hofnung, als er einige Blatter meiner Chronik erhielt, und gab sich alle [66] Mühe, ihr Leser in seiner Gegend zu verschaffen. Ein offner Schade am Fuße, der plözlich vertroknete, erinnerte ihn an seinen Tod, den er mit Gewisheit vorempfand. Er nahm auf der Kanzel den rührendsten Abschied von seiner Gemeinde, der er dreissig Jahre vorgestanden hatte, gieng heim, und legte sich aufs Sterbebett. Er hielt die schmerzhaftesten Schnitte der Wundärzte in sein krankes Bein mit ächtem Heldenmut aus, und machte sich auf seinen Tod, wie auf eine Hochzeit gefaßt. Sein Vertrauen auf Gott gränzte dicht an den Wunderglauben. »Ich hinterlasse dir nichts,« sagte er zu meiner schluchzenden Mutter; »aber dir wird nichts gebrechen. Gott wird dich versorgen, und du wirst an meiner Seite einst ruhen!« – Der Gedanke an mich versenkte ihn oft in tiefes schwermütiges Nachdenken. Aber kurz vor seinem Tode richtete er sich auf, strekte die Hände betend gen Himmel, und sprach weinend: »Ach Herr Jesu, verlaß meinen Christian nicht, [67] kannst du ihn nicht im Guten gewinnen; so gewinn ihn durch Elend!« Mit diesen Worten sank er zurük und segnete mich, indem er mit der Hand drei Kreuze in die Luft machte. – Man mußte drauf die Vorhänge vorziehen, weil er ungesehen sterben wollte. Man fand ihn todt – mit entblößtem Haupt, die Hände über seiner Schlafmüze gefalten. – »Geist meines Vaters, wo du auch schwebst – kannst du, so blik nieder auf deinen armen Sohn, der die heisse Thräne der Buße weint, die du ihm von deinem Erlöser erfleht hast! – Dort vor dem Angesicht des niederschauenden Himmels will ich dir den tausendfältigen Kummer abbitten, den dir mein Unsinn, mein wildes Leben zuzog!« –

Noch floßen meine Thränen, und ich besang den Tod des Kassier Hakhels, der ein Vater meines Gönners und Freundes des Stadtammans war. In dem Hause des leztern bedekte ich die Wunden meiner Seele, [68] wiewohl ganz leise. Aber sie wurden aufgerissen, weit aufgerissen, als dieser mein Freund vier Wochen nach dem Tode seines Vaters, in der Blüte seines Alters nach wenigen kranken Tagen wegstarb, und seinen ganzen Stamm, und heitere Aussichten in dieß Leben mit sich verscharren ließ. – Kein Wetter Gottes stürzt betäubender nieder, als dieser plözliche Schlag auf mich niederstürzte. Todesfälle meiner Freunde machten von jeher gewaltige Einschnitte in mein Herz. Ich konnte nie einen Leichenzug, noch weniger ein offnes Grab und den hinabsinkenden Sarg sehen, ohne zu stuzzen, ohne mir mit geheimer Angst selbst zu sagen: »So gehts dir auch! und wie hernach?« – Ich sang das Todenlied meines Freundes, verfertigte seine Grabschrift, und schrieb sie mit eigner Hand auf den Marmor – und nun schlaf wohl Häkhel!

»Wohl dir, daß du gestorben bist!«

Mit diesen schwermütigen Empfindungen, [69] die mich wie in Leichengeruch einhüllten, fuhr ich nachGeißlingen, um nach zwei Jahren meine Gattin wieder zu sehen. Ich trat ins melancholische Zimmer, wo sie kränkelnd beim Nähpulte saß, und Wünsche für meine Wohlfart träumte. Sie fuhr auf, als sie mich sah, strekte die verlangenden Arme nach mir aus, und verstummte, bleich wie eine Leiche. »Da hast du deinen Herumschwärmer!« sagt' ich und warf mich in Sessel: »O 's ist gut, daß du nur da bist!« erwiederte Sie im zärtlichsten Ton der Liebe. Sie weinte, und ich saß wie ein Stok, gegen Donner und Regen abgehärtet. – »Willst du mit mir? sag's, ich bin nun in Ulm. Der Sturm hat mich auch aus Augsburg geiagt. Was ich hab' ist dein!« – »O ia ich will mit dir, und nur der Tod soll uns zum zweitenmal scheiden.« Sie führte meine Kinder hexen. »Nun dürft ihr nimmer mit eures Vaters Porträt reden, da ist er selber!« – »O Papa, Papa!« – zitterten [70] mir die Stimmen der Unschuld entgegen. – Gerechter Gott, wie kannst du einem Unwürdigen, einem Empörer ein so, zärtliches Weib, und so unschuldige Kinder anvertrauen? – war's etwa zu meinem Gerichte? – Ha, zu meinem Gerichte?! –

Ich gieng nun zu meinem redlichen Schwiegervater, der zwar etwas kalt that, aber im Herzen so heiß für mich fühlte, als wär ich nie ein Verbrecher gewesen. »Nun willst du Frieden suchen mit Gott, und aller Welt!« Das wars, was ich tief in der Seele dachte, schwur, – und nicht hielt; denn ich war viel zu weit von Gott entfernt, als daß die Annäherung zu ihm so geschwind hätte vor sich gehen können. Weib und Kinder zogen mir nach, und vom Augenblik der Wiedervereinigung mit meiner Familie begann eine gewisse Ruhe und Stille meines Herzens, die ich seit vielen Jahren nicht empfunden hatte. Mein Weib [71] war Anfangs kränklich, erholte sich aber gar bald zu meinem innigsten Vergnügen. Ihre Zufriedenheit wuchs um ein merkliches, als wir eigne Wohnung mietheten, und bei der genauen Wirtschaft meiner Gattin ziemlich wohl fortkamen. Ich hatte monatlich dreisig Gulden für meine Chronik, und einige, wiewol nicht grosse Nebenverdienste durch Gelegenheitsgedichte, und andere Arbeiten. Denn Ulm ist für einen privatisirenden Gelehrten keine so reiche Fundgrube wie Augsburg.

Mein Sohn, der schon einige Zeit bei mir in Augsburg zubrachte, gieng nun in das Ulmische Gymnasium, das unter der Aufsicht des berühmten RektorMillers noch immer viel Gutes hatte. Ausserdem hielt ich ihm auch Privatlehrer, und sah mit Vaterfreude der Entwiklung seiner Anlagen zu. Meine Tochter, ein naives Mädchen, von vieler Empfindung, zeigte eine schöne Anlage zum Singen, und machte mir [72] und andern beim Klavier tausend Freuden. Und nun drängten sich neue Bekanntschaften zu mir, worunter ich einige auslas, die Simpsichie und Simpathie mit mir verrieten, und die ich auch bis ans Ende beibehielt.

Der Karakter der Ulmischen Reichsstädter ist viel derber und freier, als der Augsburgische. Da sie den Zaum der Parität nicht fühlen; so tummeln sie sich weit freier und mutiger auf ihrem Gemeinplaze herum. Auch ist hier – vielleicht aus eben der Ursache – Lektür und guter Geschmak viel ausgebreiteter, als in Augsburg. Wenn mich Fremdlinge besuchten, und ich sie unter meinen Freunden aufführte; so sah ich oft mit Vergnügen das Erstaunen ihren Blik weitern, wenn sie unter einer diken Tabakswolke beim Bierkruge Leute in einfältiger Kleidung fanden, die über die wichtigsten Gegenstände der Litteratur mit Scharfsinn und Geschmak zu sprechen wußten. Nur muß man sich [73] über eine gewiße Roheit der Sitten hinwegsezen, die in Ulm auch den Studierten anhängt, weil es ihnen meist an guter Erziehung fehlte. Die dasigen Studenten sind gröstentheils schon reif, eh' sie die Universität beziehen, und was das wundersamste ist, sie bilden sich meistens selber durch Lektür und Umgang. Ihr Zustand ist zu beklagen, denn unter dem beständigen nothgedrungenen Informiren, bleiben ihnen kaum Fragmente von Minuten zum Privatstudium übrig. Sie sind mehrentheils schon bejahrt, wenn sie ins Amt und in Ehstand treten. Inzwischen bezeugen es doch die Beispiele eines Doktor Millers, Abbts, Häberlins, Friks, Mr. Millers und andrer, daß Ulm schon manchen Sprößling in den deutschen Eichenhain verpflanzt habe, der zum Theil noch da steht, und in Stamm, Ast und Wipfel schwillt. – Für die Künste scheint zwar Ulm ein Grab zu seyn, doch sind noch Augen und Ohren für selbige da. Der Musikdirektor Martin besaß Eifer und Geschik für [74] die Tonkunst; er führte die besten und neusten Stüke auf, so gut er's in seiner eingeschränkten Lage vermochte. Man liebt hier mehr schwerfällige Harmonie, als leichte geflügelte Melodie; daher würde die Kirchenmusik ihr Glük hier vor andern machen. Der Choralgesang in den Hallen des majestätischen Münsters hat eine Feierlichkeit, eine Würde, die das kälteste Herz erschüttert. Die Orgel im Münster ist eine der besten in Deutschland, von ungemein dikem und wie Glokenhall durchschlagendem Tone. Die Pedalregister sind ein Grund, der die Fluthen des festlichsten Gesangs mächtig trägt und hebt. Donz und Benda versehen hier die Figuralmusik meist ohne Würkung, denn die Gemeinde geht, so bald diese beginnt. Schlechte Kraft einer Tonkunst, die den Hörer nicht bei der Brust fassen, und zum Hören und Fühlen zwingen kann ... Um die Zeit der Kreisversammlung lassen sich gemeiniglich reisende Virtuosen hier hören, worunter der große ViolonzellistJäger zu meiner Zeit die Palme erhielt. – [75] Die dasigen Buchhändler sind für einen Journalisten, wie ich war, ein reicher, nie versiegender Quell zu seiner und seiner Leser Unterhaltung. Rauchend, wie sie die Presse verlassen, sind hier die Schriften zu finden; auch wird manches gute Buch, von Ausländern und Einheimischen verfertigt, hier verlegt, und in der stattlichen Wagnerischen Drukerei gedrukt. Die Zensur ist hier so frei, als an einem Ort in Deutschland. Daher können auch im Stillen manche Schriften vom kühnsten Tone in den dortigen Drukereien gedrukt werden. –

Die Lebensart in Ulm ist meist ganz einfältig, und ohne allen Zwang. Die Komplimentir- und Rangsucht, die dem Ausländer so lächerlich auffallt, ist doch nichts mehr, als Schleife an einem sehr einfältigen Roke. Wer die gewöhnlichen Titulaturen einmal inne und sie beim Willkomm und dem ersten Kelchglase angebracht hat, der ist hernach von allem übrigen Zeremoniel los, [76] und darf thun und schwazen was er will. Die Wirthshäuser in- und außer der Stadt, sind allgemeine Versammlungspläze, wo man Patrizier, Priester, Kaufleute, Soldaten, Bürger und Studenten, Handwerkspursche und Bauern oft im buntesten Kartengemisch durcheinander antrift. Man verargt es den Geistlichen, daß sie in öffentliche Wirthshäuser gehen; und in der That wäre es baß, sie blieben davon weg. Allein die dortige Geistlichkeit hat sich zu einem gewißen Tone der Ehrbarkeit gestimmt, die im Weinhaus eben so wenig ärgerlich ist, als in der Sakristei. Etwas auffallender ist es, daß die dasigen Kandidaten der Theologie am hohen Mittag ihre Mädchens mit herumschleppen, sie auf Spaziergänge und Tanzsale führen und beinahe mit ihnen hausen, als wenn sie schon Mann und Weib waren. Allein oekonomische Ursachen, und die späte Bedienung der Kandidaten entschuldigen einigermaßen diese Dissonanz. – [77] Die politische Verfassung dieser ehrwürdigen alten Reichsstadt war zu meiner Zeit schon sehr zerrüttet. – Ich hörte manche patriotische Klage laut genug aufschallen; aber das Verderben schien so tief zu sizen, daß die vorhabende Kur, nach den Zeugnissen der weisesten Staatsärzte, blos palliativ war. Die Verzweiflung hatte schon die schrekliche Maxime ausgeboren, die der Enkel dereinst verfluchen wird: »wenns nur geht, so lang ich noch lebe!« Hätten unsere Ahnherrn so gedacht; wo wären wir? O verdorbene, unermeßlich verdorbene Nachwelt! Entweder gibts keine Nachwelt mehr, oder Gott muß den verpesteten Klumpen durcheinander werfen, und aus den Steinen wieder Kinder erweken! – Wer die Ulmer Bürger kennt, wie ich sie kenne, ihr gerades, freisinniges, biderbes Wesen, ihren muthigen Ton, ihr treffendes, wie ein Pfeil aus der Brust fliegendes Urteil, ihre heitere Laune, ihr steifes Halten auf Ehr' und alte Sitte; der muß es mit Tränen [78] beklagen, daß das Wort Bürger unter den Offizianten der Stadt bereits eine verächtliche Bedeutung gewonnen hat. Afsprung, ein Mann von treflichen Talenten, der zur Schande seiner Vaterstadt auswandern mußte, nennt sich in seinen Schriften noch mit Stolz einen Ulmer Bürger, wieRousseau sich einen Bürger von Genf. nennt. Aber dieß stolze republikanische Gefühl ist nun in den meisten Ulmern verloschen: sie kriechen, schmeicheln, bestechen, bis sie Aemter haben; dann nagen sie an ihrem Knochen und lassen die Grundveste ihrer öffentlichen Freiheit zusammenkrachen, so laut sie will. – Diese Wahrheit brannte mir oft im Innersten, denn ich war dieser Stadt herzlich gut, und hätte ihr gerne ewigen Wohlstand gewünscht. Denn in der That war ich auf meiner Wanderschaft nie zufriedener und ruhiger, als hier, obgleich mein stürmisches Temperament mich auch hier in tausend Unruhen zog.

[79] Ich hatte einige Freunde, die vollkommen nach meinem Sinn waren. Miller, Siegwarts Schöpfer, einer der Lieblinge unsers Volks, war beinahe das tägliche Brod für mein Herz. Wer Millers Schriften mit Vergnügen liest – und wer sollt' es nicht? – der wird noch angenehmer überrascht, wenn er diesen Schriftsteller von Person kennen lernt. Und nichts ist leichter als dieß: Darfst nur einen Tropfen Herzblut in der Miene zeigen; so geht dir die edle Seele schon entgegen, und bietet dir Brüderschaft an. In keinem Menschen hab' ich die heterogenen Eigenschaften: – Zärtlichkeit und Mut, Liebe zum Guten und Schönen, und zürnenden Haß gegen das Böse, und Verzerrte aller Art; Freigebigkeit und weise Häußlichkeit; Höflichkeit und kalte Verachtung; Fleis und klugen Gebrauch der Ergözlichkeiten des Lebens; äußerliche Stille und inneres tiefes Brüten; Barmherzigkeit und Strenge – feiner gemischt, schattirt, verflößt angetroffen, als [80] in diesem Manne. Er ist fähig, für seinen Freund zu bluten, und seinen Nebenbuhler zu ermorden. Er liebt sein Vaterland mit Wärme, fühlt die Ehre des wahren Beifalls, korrespondirt mit mehrern unsrer grösten Männer, trägt große Plane zur Veredlung seiner Nation im Herzen, zürnt aller übertriebenen Verfeinerung, Nachäffung fremder Sitte, kleinjüngferlicher Empfindsamkeit, und der krummen oder steifen, priesterlichen oder profanen, lichtscheuen oder frechen Schurkerei. Mit einem Worte, alles strebt in ihm zur stillen Größ' empor, die nur derienige ganz verstehen kann, der selbst große Anlagen hat. Ein gemeines Auge sieht in der schönen Seele nur einzelne Lichtblike, wo hingegen das gesalbte Auge das ganze innerliche Lichtbild erblikt. Ich weiß einige Herzensthaten von Millern, die viel schöner sind, als sein Siegwart, und die es hinlanglich beweisen, daß ein guter Schriftsteller auch ein eben so guter Mensch seyn könne. Millers Umgang hat [81] mir sehr viel genüzt. Er zog mich von manchen ausschweifenden Gesellschaften mit brüderlicher Hand zurük, lehrte mich die Tugend durch sein Beispiel schäzen, machte mich wieder aufmerksam auf die christliche Religion, die ich beinahe aufgegeben hatte; erleichterte mir die Urteile über die mannichfaltigen Gegenstände meiner Chronik, und schuf mir auf Spaziergangen manchen so seligen Augenblik, daß mich damals schon Vorgefühle meiner jezigen Ueberzeugung wie Himmelsträume durchschauerten. – »Schubart, du hast keine Grundsäze!« sagte oft Miller zu mir, »und kannst deine Existenz kaum fühlen, sie mag froh oder traurig seyn! Werd' ein Christ; so ist dir's wohl. Ich kann auf manche Einwendungen gegen das Christentum nicht antworten, aber ich fühl' es doch tief, daß Jesus mein Herr ist.« – Ich nahm mir auch ernstlich vor, einmal das Christentum ernstlich zu untersuchen, meine Ausschweifungen gänzlich abzustellen, und soviel mir nur möglich ware, [82] das Tirannenjoch böser Gewohnheiten vom Hals zu schütteln. Aber es schien mir noch immer zu früh, und zum Theil hatt' ich noch viel zu viel Anlässe, mich in die Welt zu stürzen, und ihres Gifts noch mehr einzuschluken, ungeachtet ich schon dikvoll war.

Meine Chronik und mein musikalisches Talent hatten mich allenthalben bekannt gemacht. Wer nach Ulm kam, Edler und Unedler, Gelehrter und Laie, Künstler und Kaufmann besuchte mich, oder nahm mich mit sich in sein Gasthaus, um mir zu Ehren ein Bachanal anzustellen. Durch solche Ausschweifungen zerstört' ich nicht nur meine ohnehin wankende Gesundheit, sondern machte mich auch unfähig, mit immer gleicher Laune und Geistesgegenwart meine Chronik zu schreiben, wie es doch die Ehrfurcht für ein so ansehnlich gewordnes Publikum erfordert hätte. Ich habe seither oft im Kerker über die großen Verpflichtungen nachgedacht, die einem Schriftsteller obliegen, und es [83] herzlich bereut, daß ich sie manchmal so schlecht beobachtet habe. Ein Autorkatechismus von einem guten Kopfe, wäre in der That für unser Publikum zu wünschen, wo so manche Schriftstellerbuben auftreten, die mit unbegreiflichem Leichtsinn alle gesunde Moral unter die Füsse rollen. Du sollst das verstehen, tief und lang gewälzt und durchgedacht haben, was du schreibst! Gottes Ehre und deiner Brüder Heil soll dein erster Zwek seyn! Beifall soll dich weder stolz noch nachläßig machen! Du sollst deinen Bruder nicht mit liebloser Kritik beleidigen! – Gott, der unnüze Worte, nur in die Luft hinein gesprochen, wagt, und richtet, wird unnüze geschriebene Worte, die in tausend Abdrüken von zehntausenden gelesen werden, noch weit schwerer richten!! – O wer bedenkt dieß, wenn er die Feder ansezt; wer hat Mut und Verläugnung genug, den schönsten wizigsten Einfall als einen Feuerpfeil des Teufels anzusehen, sobald er Religion, Tugend, fromme Sitte, oder einen frommen Menschen [84] lächerlich macht! Die Schriftstellersünden scheinen mir unter allen am lautesten gen Himmel zu schreien, denn sie verstummen auch nach dem Tode des Autors nicht. – –

Indessen wuchs doch der Beifall meiner Chronik von Woche zu Woche, und zog mir viele Freunde, aber auch eben so viele und oft sehr wichtige Feinde zu. Man fieng nun an, öffentliche Pasquille gegen mich herauszugeben, schändliche Kupferstiche auf mich zu machen, falsche beschimpfende Gerüchte in den Zeitungen von mir zu verbreiten, mir Briefe ohne Namen zuzuschreiben – mit dem blosen Epiphonema, das Göz von Verlichingen dem Trompeter zum Fenster hinaus warf; und mir unter der Hand, sonderlich in den benachbarten Katholischen Gegenden, aufzupassen, und den Tod zu schwören. Es ereignete sich unter diesem Woogengetümmel ein Zufall, der Schriften veranlaßt hätte, wenn er nicht in einer so phlegmatischen Gegend geschehen wäre. Ein [85] katholischer Jurist, Namens Nikel, hatte aus Begierde zu den Wissenschaften, wider die Gewohnheit seiner Landsleute in Tübingen studiert. Er war von Söflingen eine halbe Stunde von Ulm gebürtig; und da er von Tübingen zurükgekommen war, gieng er öfters nach Ulm, um die Bekanntschaft der dasigen Studenten zu suchen. Bei dieser Gelegenheit besuchte er auch mich. Er sprach sehr fertig Latein, und war überhaupt ein aufgewekter Kopf. Er verlangte ein Buch von mir, und ich gab ihm einen neuen sehr unschuldigen Roman. Von der Religion aber sprach ich nicht eine Silbe mit ihm. Der junge Mensch begieng nun die Unvorsichtigkeit, einige Voltärsche Maximen, die er vielleicht zu Tübingen gehört haben mochte, in einem katholischen Wirthshause heraus zu plaudern. Er ward angegeben, im Kloster Wiblingen ins scheußlichste Gefängnis gelegt, und – wie sein Urteil lautete – aus Gnaden und Barmherzigkeit, als ein Lästerer Gottes und der [86] Heiligen, enthauptet, verbrannt, und seine Asche auf die Iler gestreut! – Eine schrekliche Begebenheit, die nur im finstersten Winkel des katholischen Schwabens geschehen konnte! – Er war kaum todt, als man allenthalben ausstreute, ich wäre die Ursache seines Verderbens, weil man wußte, daß ich mit ihm gesprochen hatte, und weil man den erwähnten Roman, den seine Inquisitoren vielleicht für den Schemhamforasch gehalten haben, bei ihm fand. – Doch Gottlob! von dieser Sünde bin ich rein; – aber, o ihr seine Richter!


/»Die Asche will nicht lassen ab,

Sie stäubt in allen Landen!«


Dieser Zufall kerkerte mich gleichsam in Ulm ein, weil man mir ein gleiches Schiksal drohte, und tausendmal dank' ich Gott, daß er mich nicht in die Hände dieser Bluthunde fallen ließ. – Doch alle diese bedenklichen Vorfalle, Drohungen, Warnungen von Freund und Feinden zugeschikt, machten dennoch meine Schreibart in der [87] Chronik nicht behutsamer: ich tastete vielmehr einen Gözen des katholischen Pöbels nach dem andern an. Pater Merz in Augsburg war ein solches Idol, dessen Kontroverspredigten voll Ehrfurcht verschlungen wurden, – ungefehr wie der Indianer den Koth des Dalai Lama verschlingt. Mich verdroß die Unverschämtheit dieses Klopffechters, womit er die grösten Männer der protestantischen Kirche, denen er an Genie und Gelehrsamkeit nicht die Schuhriemen lösen konnte, angrif, und im Eifer sogar Säze gegen die Bibel ausgeiferte, die man nur in Tolands Leviathan suchen sollte. Man kann seine Predigten nicht lesen, ohne einen Abscheu vor der Dialektik zu bekommen, die so geist- und herzlose Sophisten macht. Ich ergrif demnach fleißig die Gelegenheit, den Katholiken mündlich und schriftlich zu zeigen, welch ein lächerlicher Popanz ihr vergötterter Gladiator Merz in den Augen kluger Protestanten sei, und wie leicht es wäre, ihm zu antworten, und ihn in seiner [88] lächerlichen Zwerggestalt darzustellen, wenn die Protestantischen Theologen nicht weit wichtigere Kriege zu führen hätten. – Mein Ausfall auf diesen trübseligen Pater, zog mir einen neuen Hagelsturm von Beschimpfungen zu. Der Exjesuit Gugler schrieb ein Pasquill gegen mich, das mehrmals aufgelegt, und wie eine Heiligenlegende ausgesägt wurde. – Ich war so ruhig bei diesen Anfällen, daß ich die gegen mich herausgekommnen Schriften meinen Freunden in Ulm meist selbst vorlas, und mit ihnen herzlich drüber lachte. Doch entschloß ich mich, dem ganzen Streit durch eine Komödie im Geschmak des Aristophanes, oder Lenz ein Ende zu machen; die satirische Geißel so stark zu schwingen, als es mir möglich war; Gaßnern und seine ganze dunkle Genossenschaft wie auf den Pranger zu stellen; alle meine Gegner in Froschchören quaken zu lassen, und so die volle Rache meines Herzens an ihnen zu kühlen. Schon skizzirte ich dieß muthwillige Spiel, unter [89] dem Namen: Anna Oberhuberin, als mich der Gedanke wieder zurükriß, daß ich damit den Fürst Bischof von Ellwang, der erst kürzlich meine Mutter und Schwester versorgt hatte, vor den Kopf stoßen, und dadurch meiner eignen Familie schaden könnte. Ich schwieg also, und ließ über mich hinfahren, was da wollte. Wie gut dieser Entschluß gewesen, hab ich auch daraus schließen können, daß bald darauf meine Gegner öffentlich schwiegen, wiewol sie nie aufhörten, heimliche Plane zu meinem Verderben zu schmieden.

Ich besuchte um diese Zeit meinen Bökh in Nördlingen, 1 und traf bei ihm meine liebe Mutter an, die ich schon seit mehr als zehn Jahren nicht gesehen hatte. – Sie bot mir die Hand, weinte und sprach:

[90] »Christian, du hast uns viel Sorgen gemacht –! Das Hauptbrett zu deines Vaters Sarg ist von dir!« – Ein Wort, das mir ins Herz sägte, und noch im Kerker Blut aus den Augen trieb. Meine Schwester, und mein Bökh empfiengen mich traulich, und trugen mehr Mitleid über mein unruhiges Schiksal, als Vorwürfe im Blik. Meinen Schwager fand ich noch immer dem einfältigen Entwurfe treu, den er sich gleich anfangs gemacht hatte: Gott und der Welt mit Redlichkeit zu dienen, und die Lüken seiner Zeit mit den Empfindungen der Freundschaft und des ehlichen Glüks auszufüllen. Er war damals der erste Arbeiter an dem so gemeinnüzigen Schulmagazin, und der nachherigen Bibliothek fürs Erziehungswesen. Man wird den Karakter seines Herzens allen seinen Arbeiten eingedrükt finden. Daher sind seine Kritiken über die neusten Schriften so brüderlichsanft, und schonend. Er rügt Fehler, und liebt den Autor. Ob es ihm gleich an Wiz und Laune nicht fehlt; [91] so scheint er doch beides abzulegen, wenn er eine Schrift beurtheilen soll. »Fehler des Verstandes müssen mit der möglichsten Nachsicht gerügt werden, aber Fehler des Herzens verdienen die Knute. Jenes thu ich; das andere überlasse ich Moskowitischen Schergen.« Diß ist die Maxime, die er oft im Munde führt, und wornach er handelt. Sein Freund, der Superintendent Lang zu Trochtelfingen, Verfasser des Landpredigers und andrer gemeinnüzigen Aufsaze, ist eben so gestimmt; daher haben sie untereinander einen Freundschaftsbund errichtet, der heiß ist, wie der Bund der Liebe am Altar Gottes geschworen. Auch ich lernte diesen edlen Mann damals kennen, und brachte einige sehr schöne Lebensstunden mit ihm hin.

Bei dieser Gelegenheit besucht' ich auch den Wallersteinischen Hof, dessen Kapelle damals sehr glänzend war, und von dem berühmten HauptmannBeke gelenkt wurde. – Beke ist bekanntlich der Anführer [92] einer ganz eignen Manier, den Flügel zu spielen. Er selbst hat alle Eigenschaften des musikalischen Genies – Schöpfergeist, Feuer, Fülle, und Ausdruk. Sein Auge flammt, wenn er spielt; seine Faust ist klein, und schimmernd, und der Karakter seiner Spielart hat viel Einfalt, Bestimmtheit und Würde. Er ließ von den besten Musikern des Hofes einige seiner neusten Kompositionen vortragen, wovon jede ein einziger gut ausgeführter Herzensgedanke zu seyn schien. Man weiß sogleich was Beke empfand, als er sein Stük niederschrieb; daher sind seine Kompositionen nicht von Kaprisen schekicht, gleich einer Harlekinsjake, sondern das Horazische »Simplex et unum« ist allenthalben seine Leuchte. Große harmonische Tiefen findet man nicht bei ihm; der Pedant könnt' ihm sogar manchen Fehler vorwerfen; aber Geniezüge ersezen diesen Mangel desto reichlicher. Die dasigen Tonkünstler, worunter Janitsch – ein sehr guter Geiger, hervorragte, wußten Licht und Schatten mit[93] ungemeiner Vorsicht zu vertheilen, und dadurch die Gemählde ihres Meisters zu heben. Da man die feinsten Nüancen in der Tonkunst heutzutage zu bemerken scheint, und so zu sagen den Strom vom sanften Rieseln am Quell an, bis dahin begleiten will, wo er laut- donnernd ins Meer stürzt; so mußten sich auch die Kunstwörter so anhäufen, daß man vor musikalischen Zeichen bald die Noten nicht mehr sieht. Sollte sich nicht ein bequemeres Mittel finden lassen, diesen Uebelstand aus unsrer musikalischen Schreibart zu verbannen? Kapellmeister Reichard in Berlin hat mit dem Crescendo und Decrescendo durch die ganz einfachen Zeichen

und

einen schönen Anfang gemacht, wiewohl sie den Notenschreiber etwas hindern möchten, wenn die Noten aus dem Ufer des gewöhnlichen Sistems treten.

Außer dem gerühmten Beke hatte der Wallersteinische Hof auch einen welschen Komponisten, der noch fertiger im Saz, [94] und viel feuriger als Beke, war. Sein Requiem auf den Tod der dasigen Fürstin ist der Pendant zu Jomellis Requiem, und eben so schön und rührend, als Werkmeisters Lobrede auf diese fromme Prinzeßinn. Nur mahlt er zuviel für den einfältigen Kirchenstil. Schad, ein gefühlvoller Kenner der Kunst, hat in Wielands Merkur alles gesagt, was ich noch weiter vom damaligen Zustande der Wallersteinischen Hofmusik sagen könnte.

Als ich bald darauf meine Freunde in Aalen besuchte, und einen kleinen Strich durchs Ellwangische reisen mußte; so gab ich mir zwar einen fremden Namen, wurde aber dessen ungeachtet ausgekundschaftet und man hätte mich übel behandelt, wenn nicht der Fürst denjenigen mit seiner Ungnade bedroht hätte, der mir ein Leid zufügen würde. Man kennt auch an diesem Zuge den frommen BischofAnton Ignaz, der den Verfolgungsgeist an seinem Pöbel jederzeit verabscheute. – Die Straße von Aalen [95] nach Ellwang wimmelte eben damals von elenden Pilgrimen, welche bei Gaßnern Hülfe suchten. Das tausendfältige Elend von 10. 20. 30. Meilwegs in die Länge und Breite, schien in dieser Gegend zusammengedrängt zu seyn. Alle Heerbergen, Ställe, Schaafhäuser, Zäune und Heken lagen voll von Blinden, Tauben, Lahmen, Krüppeln; von Epilepsie, Schlagflüssen, Gicht, und andern Zufällen jämmerlich zugerichteten Menschen. Was Krebs, Eiter, Grind und Kräze, Ekelhaftes, Abscheuliches, – Entsezliches hat, – selbst was die Seele drükt und entmannt, – Schwermut, Wahnsinn, Tollheit, stille Wut, Raserei, teuflische Anfechtungen, – war hier in Aaalen, und auf dem Wege nach Ellwang an Krüken, an Stecken, auf Eseln, Pferden, Karren, in Tragtüchern, auf Reffen und Bahren, in einer schreklichen Gruppe zusammengedrängt zu sehen. O dacht' ich, Gaßner, wenn du all' diesem Jammer abhilfst, all dieß Elend im Namen Jesu [96] wegsprichst; so will ich auf den Knieen zu dir kriechen und dir meinen Unglauben mit gefaltnen Händen abbitten. Aber leider! kamen diese Elenden noch elender zurük; denn da sie auf der Reise nicht selten all ihre Habe verzehrt hatten; so mußten sie nun betteln, und zum Theil auf der Strasse zu Grunde gehn. – Mit einem Wort, ich zweifle, ob Deutschland jemals einen traurigern, Herz und Verstand beschimpfendern und den Namen Christus entehrenderen Aufzug dargestellt habe, als der ist, den Gaßner verursachte. Selbst die Katholiken fiengen frühzeitig an, sich dieses Unfugs zu schamen, und seinen Folgen durch öffentliche – mündliche und schriftliche Ahndungen zu steuren, bis endlich der Befehl des weisen Kaiser Josephs dem ganzen tragi-komischen Schauspiel' ein Ende machte.

So sehr sich inzwischen meine Chronik in und ausserhalb Deutschland ausbreitete – denn es kamen Stüke nach London, Paris, [97] Amsterdam und Petersburg – so manchfaltig war doch der Verdruß, den ich mir damit zuzog. Die Höfe Mainz und Zweibrüken, und selbst der Französische Hof glaubten darin beleidigt zu seyn, und verlangten Widerruf. Eine aus Berlin empfangene Anekdote, die ich aufnahm, hezte mir die ganze dasige Hofmusik auf den Hals. Afsprungs Schrift, worin er seiner Vaterstadt einen neuen pädagogischen Plan vorlegte, und die ich, wie billig, lobte, machte mir sogar Feinde in Ulm. Die reiche Bekanntschaft, in die ich durch dieß fliegende Blatt gerieth, legte mir oft die Verbindlichkeit auf, anders zu schreiben, als ich dachte. Die Warnungen der Ulmischen Obrigkeit, und die eingeschränktere Zensur kühlten die Lava, wenn sie sich feurig ergoß, und wandelten sie mitunter in todtkalte Schlaken. Daher wurd' ich immer mismuthiger, und schrieb meine Chronik meistens aus Zwang und Noth, und selten mehr mit dem feurigen Ausguß des Geistes, der weder [98] Damm noch Schranken kennt. Mit einem Wort, ich hab' es an mir selbst erfahren, daß für ein Temperament, wie das meinige, nichts gefahrlicher, als der Posten eines Zeitungsschreibers ist. Klug und abgekühlt, schlau, beugsam und raffinirt muß ein deutscher Novellist seyn, wenn er sich erhalten will, und nicht ein feuriger, offenet, herausplazender Thor, der die Feder eben so wenig, als die Zunge zu regiren weiß. – Ueberdem war ich fast alles Schuzes beraubt. Ich war nicht Bürger in Ulm, – nicht in Aalen, nicht in Geißlingen; – war nur Weltbürger, dessen Rechte man zwar in allgemeinen, aber nicht in besondern Fällen gelten läßt. Ich liebte mein Vaterland so herzlich, und fand doch so wenig Schatten unter den Flügeln seines Adlers. – Und noch immer ist der Gedanke einer der bittersten, der in meinem Gefängnisse über mich her stürzt: daß ich mit so viel Vaterlandsglut in der Seele, doch von meinem Vaterlande nicht geschüzt werde,[99] sondern wahrscheinlich unverhört, mein ganzes Leben in der oden Gruft dieses Kerkers verächzen soll. Wie kostbar, wie selten ist ein patriotischer Bürger und wie verächtlich wirft man ihn oft weg! Diese Betrachtungen drängten sich mehrmalen in meine Seele und vergällten mir die Freuden meines Privatlebens, die nirgends reichlicher über mich ausgegossen waren, als in Ulm. Ich liebte meine Gattin und meine Kinder aufs zärtlichste, und wurde noch inniger von ihnen geliebt. Mein lieber Schwiegervater, der Redliche, besuchte mich, und ich ihn wiederholt. Ich freute mich, Liebe zu geben, und Liebe zu nehmen.

O wie oft gieng ich an der ernsten Donau mit meinem Kapoll, oder Miller, oder an der Seite meines trauten Weibes hinunter, pflükte vom Schleebusch den ersten Blütenzweig, und ließ ihn auf dem Hute wehen; oder horchte im Steinheil – einer reizenden Waldgegend unweit [100] Ulm, – der Nachtigall, die mir um so viel schöner schlug, iemehr ich mich wieder der Ordnung näherte. Großheit, und Schauerhöhe rührte mich immer stärker, als blose ruhige Schönheit; daher empfand ichs nie mächtiger, daß ich noch eine offene empfängliche Seele hatte, als wenn ich das Münster bestieg, diese heilige Piramide, Gott und dem Genius der Deutschen zu Ehren hingethürmt: Städte, Dörfer, Felder, alles von meinen lieben Menschen wimmelnd; Wälder, Ströme, Berge, Fluren ins Gold der Sonne getaucht; und über mir der freundliche, zum Dach gewölbte Himmel in blauen Wellen hinfließend! 2 O wie weit [101] wurde meine Seele! wie durchschauerten sie Ahndungen ihrer künftigen Größe! wie las [102] ich die Unsterblichkeit von meiner Brüder Antliz herunter! wie vergaß ichs, daß tief[103] unter mir Gräber waren! und wie schämt' ich mich meiner kleinlichen Zweifel über die [104] ewige Dauer meines Geistes! – Hier auf den Rüken gestrekt, mit gefaltener Hand, [105] die Augen schimmernd von Thränen, beschaut' ich einmal in der schönsten Frühlingsnacht[106] vom Kranze des Münsters den hohen Himmel mit seinem Sternengürtel, und wünschte mir – ausgesöhnt mit Gott, den Flug des Christen hinauf in die Welten des Lichts zu fliegen, und diesen Staubleib auf dem Thurme zurükzulassen! – – Aber wie bebt' ich, wie sanken die Flügel der Fantasie wie vom schmetternden Blei zerknikt, wenn ichs dachte, – wenn ichs im Mark der Seele fühlte, welch ein Störer der Ordnung ich war! welch ein Empörer gegen Gott, der diesen Sternen zu strahlen gebot!! Fort mit dir, dacht' ich, und zitterte im Finstern die steinernen Treppen des Schauergebäudes hinunter – nicht die Regionen des Lichts, das Urdunkel ist dein Element!! – Solche Gedanken würgten mich oft, und liesen keine süße, große, himmelerhebende Empfindung bei mir reif werden. »Nichts ist dein! dieß schrekliche Wort für den Sünder, hier schon wahr – wie laut wird es dort donnern, wenn Gott sein Erbe austheilt! – –«

[107] Auch hatt' ich sonst der unschuldigen Lebensfreuden viele, mehr, als sie tausendmal bessere Weltbürger haben konnten. Welche edle Menschen lernte ich nicht unter den vielen Fremden kennen, die mich in Ulm besuchten; oder die ich selbst aufsuchte, mit der enthusiastischen Zudringlichkeit, die doch, so viel ich weiß, niemals beleidigte. Sulzer der deutsche Plato; Bahrdt, 3 dessen sanftes Auge gewiß denjenigen Feind des Christentums nicht ankündigt, den unverständige Eiferer aus ihm machen wollen; und die beiden herrlichen Grafen Stollberg, wovon der jüngere sonderlich – ein heiliges, an die Verklärung gränzendes Feuer im Angesicht trägt; – du harmonischer Kaiser! der es so ganz verdiente, von den edelmüthigen Eidgenossen beschüzt zu werden; – und so mancher vortrefliche [108] Mensch, dessen stille Würde mich zu bestrafen schien, daß ich nicht auch war, wie er – trat in den Kreis meiner Bekanntschaft und öffnete mein Herz zur Bewunderung, zur Simpathie, und einer Zartheit von Menschenliebe, die ich selten in diesem Grad empfunden hatte. Besonders waren dieSchweizer die Leute meines Herzens. Ich korrespondirte mit vielen ihrer würdigsten Männer, und suchte sie auf, wo ich sie finden konnte; sie mochten Gelehrte, oder Kaufleute seyn: denn meine Seele entdekte in ihnen gar bald jene Festigkeit und Würde, Hoheit und Einfalt, welche die Weisheit ihrer Regierungsform ausreift. Der Schweizer ist der Riese der Deutschen, der Reichsstädter sein Schatten; und der Fürstenknecht kaum noch Porzellanpuppe für jenen zum Spiel seiner Kinder. Geh in die Schweiz, Jüngling, und dann nach Hamburg, um zu wissen, was Freiheit für Leute macht; und dann an die Höfe, um zu sehen, wie Sklaverei den Menschen verschnizelt, bis er so klein wird, daß er kriechen kann!!

[109] Die jährliche Kreisversammlung in Ulm macht die Stadt lauter, als sie sonst ist. Man hat da Komödien und Konzerte, so gut man sie in der Geschwindigkeit zusammentreiben kan. Die komische Operette findet alsdann sonderlich ihren Tummelplaz; – diese dramatische Misgeburt, die keinen Wert hat, als daß sie manche gute Melodie dem Pöbel in den Mund streicht. Aber welches Unheil richtet sie auf der andern Seite an! wie entehrt sie den Ernst des deutschen Karakters! welche schlüpfrige – vergiftende Empfindungen flößt sie ins Herz des iungen unverwahrten Hörers! – Man sollte gegen diese Froschlaichgeburt schon darum mistrauisch seyn, weil sie in Frankreich ausreifte, und zwar zu einer Zeit, wo der Geist der Nation schon so klein, so weichlich, so verdorben war, daß sich der Deutsche schämen sollte, so was zu naturalisiren. Sonderlich ist die komische Operette für den ernsthaften Schwaben eben das, was der mutwillige enge Schleifer für einen Theologen [110] wäre. – O!! ich mag nicht daran denken, wie unsre Schriftsteller und Künstler mit dem Menschengefühl umgehen. Da lassen sie die grösten, edelsten, wahrsten Empfindungen, gleichsam die Grundlinien unsers Daseyns – in der Seele schlummern, ohne sie durch einen mächtigen Schrei aufzuweken, in sie zu dringen, und wie heiliges Feuer zu unterhalten; – und weken dagegen mit der Ratsche, oder Kinderklapper Gefühle, die wir schon mit dem sechsten Jahre unserer Kindheit abgelegt haben sollten. – Warum wachen doch die Obrigkeiten nicht sorgsamer über den öffentlichen Ergözlichkeiten, und geben sonderlich den sentimentalen Dramen der Franzosen und Welschen, und den deutschen Nachpfuschungen – die nicht selten geschmakloser und sittenverderblicher sind, als ihre Originale, den Staupbesen!? 4

[111] Da ich von Jugend auf ein ekstatischer Freund der Wissenschaften und Künste war; so sollte man glauben, daß keine erwünschtere Situation für mich hätte ausgedacht werden können, als die damalige. Ich erhielt alle Zeitungen und Journale mit der Post; die neusten Bücher, Musikalien, Kupferstiche, Abdrüke von Medaillen, s.w. wurden mir meist umsonst zugeschikt; und mit geheimen literarischen Anekdoten, oft[112] Beiträgen zu einer skandalösen Chronik, versahen mich genannte und ungenannte Korrespondenten in Menge. Aber Gott wollte mich mit soviel nichtigen Dingen dik anfüllen, damit sie mich desto früher anekeln, oder damit ich erkennen sollte, daß solche Speisen, die kaum etwas mehr, als die imaginären Speisen der Egyptischen Zauberer sind, keinen zur Wahrheit geschaffenen Geist lange sättigen können. Und da ich mein Vaterland so herzlich liebte; so marterte es oft meine Seele, wenn ich sah, wie unser Volk in allen Stüken so merklich zu sinken anfängt: denn niemand hat Gelegenheit, dieß leichter einzusehen, als ein Novellist, und Kunstrichter. Da sieht er Despoten, statt der alten Freiheitsvertheidiger; Auswandrungen nach Rußland und Amerika statt der häußlichen Ruhe beim Vaterlandischen Heerde; Schwerdter statt der Gras und Halmen mähenden Sichel; verfallene Handlungshauser; entnervte darbende Künstlergenies, die nicht leuchten, sondern [113] mordbrennerisch unsre Häuser ansteken; ausgeartete schwelgende Bürger, und selbst Bauern, die das Gefühl der Unschuld und Einfalt verloren haben. Ich weiß wohl, daß man Ausnahmen machen kann; aber wie wenige! – O welch ein langbeiniges Gerippe ist nicht unsre Gelehrsamkeit worden! – Wie zerfallen das Studium der Bibel, die wahre Theosophie! wie viel Rechtsgelehrte unter uns ohne den Geist der Gesezgebung, und des Verständnisses der Geseze! Wie viel Aerzte ohne Menschenkenntnis! wie viel todtkalte Weltweise, die mit gewissen Modetheologen gegen das Reich des Erlösers konspiriren, und die arme, nakte, schaudernde Menschheit in das Spinnengewebe ihres Sistems kleiden! Welche pedantische, furchtsame, kriechende, unstatthafte Geschichtschreiber! 5 Wie herabgesunken [114] unsre Dichter von der Würde der biblischen Seher, von der Sonnenhöhe Homers, Oßians, Shakespears, Miltons, Youngs, Bodmers, Klopstoks!! – Welch ein flüchtiger arbeitscheuer Geist in den meisten neuern Schriften! Welch ein kindisches Publikum, das hinter jedem unzeitigen Schreier daherfluthet, daherjolt, und sich in wenigen Monaten seines verschwendeten Beifalls schämt! Komponisten, die zu Sebastian Bachs, Händels, Lulli's, Caldara's, Telemanns Zeiten ausgezischt worden wären, sind iezt im Ansehen, – als Lieblinge der Höfe und Tongeber für Alle. Mahler, Bildhauer, Baumeister, – – doch welcher Patriot kennt und beklagt den Geist der Kleinheit nicht, der unser Vaterland schwerer ängstigt, als ehmals Hornissen das verstokte Egypten! – O Leibniz, Leibniz, noch immer ists wahr, was du ehmals in die Welt schriebst: »Es scheint, wir bleiben immer auf den ersten Fußsteigen der [115] Wissenschaften und Künste kleben, und werden durch ein gewisses trauriges Schiksal verhindert, die Wohlthaten des Schöpfers, und die Schäze der Natur und Gnade ämfiger zu durchforschen. Die Menschen würden unglaubliche Dinge leisten, wenn sie nicht so träge wären. Aber ihre Augen sind, wie mit einer Zauberbinde gebunden, und man muß schon die Zeit erwarten, bis alles reif wird.« 6 Man könnte meine Klage das hypochondrische Gewinsel eines Gefangenen nennen, der aus verdorbenen Augen sieht, wenn sie nicht schon Herder, Hamann, Lavater, Füeßli, Mengs, Marpurg, Forkel – selbst der tolerante Wieland lange vor mir angestimmt hatten.

[116] Im Jahr 1776 – dem lezten meiner Freiheit, war ich ein paarmal dem Tode ganz nahe. Ich gab Konzert inMemmingen, lernte daselbst wieder manche gute Menschen kennen, fuhr nach Babenhausen um dem dasigen Grafen aufzuwarten, und wurde von dem zweiten Vorboten des Schlags im Wagen gerührt. Ich ließ eilends wieder umlenken, und erholte mich allmählig unter der Pflege meines Weibes, und dem heitern Zuspruche meines Freundes, des verdienstvollen Prediger Schellhorns. Memmingen gehört, in Absicht auf den guten Ton, der daselbst herrscht, unstreitig unter die ersten Städte Schwabens. Sie lesen, beaugen, fühlen alles was schön und groß ist, und wissen sich eine gewisse fromme, ernste, ehrbare Miene zu geben, die auch das Weltkind in Ehrfurcht erhält. Auf meiner zwoten Reise in diese angenehme Stadt sah ich die so hochgerühmte Kirche in Ottenbeuren. Sie steht queer auf einem Hügel, und ist [117] von außen und innen – Opernhaus. Leichtsinnige Gefühle ergreifen einen d'rinnen, nicht Schauer der Gegenwart Gottes, wie im Münster zu Ulm. Wieder ein Beweis von dem so sehr kontrastirenden alten und neuen Style! –

Die zweite Lebensgefahr, aus der mich nur Gottes Arm, wie durch ein Wunder rettete, betraf mich den 20sten August dieses Jahres in Ulm. Mein Sohn kam mit seiner Mutter und Schwester zu mir, als ich mich eben in der Donau mit einigen Freunden gebadet hatte, und wollte nun unter meinen Augen auch baden. Er war kaum im Wasser; so riß ihn die Donau in ihren Wirbeln fort. Ich stürzte mich, ob ich gleich nicht schwimmen kann, schon angekleidet in die Donau, schrie meinem Knaben, von dem ich bald Kopf, bald Fuß sah, unaufhörlich zu: »Rechts, Ludwig, rechts!« hatte bald selbst keinen Grund mehr, und wurde doch von der Flut wie [118] unter den Armen getragen. Ich sah endlich mein Kind ans Ufer ausgeworfen, und arbeitete mich gleichfals glüklich ans Gestade. Der Knabe hatte einen Weidenschoß unter dem Wasser erwischt, an dem er sich mitten durch Rohr und Gezweig emporklammerte. Ein Zweiglein zitterte noch in seiner Hand, als man ihn aus dem Gebüsche zog. Da standen nun Vater und Sohn, träuflend von Wasser, wie Monumente der besondern Vateraufsicht Gottes über seine Geschöpfe; – weit oben am Gestade mein Weib und meine Tochter, bleich wie Todte, und nach dieser wundervollen Rettung, wie Auferstandne, die ihr erstes Leben athmen. Der Baron Schaflizky war bei mir, und seiner Freundschaft dank' ichs noch, daß er bereits ins Wasser sprang, und mein Leben mit Gefahr des seinigen erkaufen wollte. – Gott, ich habe dir schon öfters für diese Rettung gedankt, und auch jezt schreib' ich meinen heißen Tränendank auf dieß Blatt nieder. – Nicht wahr, Vater, du wolltest meine Seele [119] nicht ewig verderben? das wolltest du nicht, ehe du zuvor einen ernsten Versuch gemacht hättest: ob diese leichtsinnige, schwärmende, unbefestigte Seele noch zu retten wäre!? Ach nur das wolltest du, göttlicher Vater, und dafür preist dich diese Seele immer und ewiglich!

Nebst meiner Chronik hab' ich in Ulm Vorreden zu verschiednen Büchern, Einleitungen, Nachschriften, Aufsäze ins Ulmer Intelligenzblatt, und in auswärtige Journale, verschiedene Gedichte, Klavierstüke – und noch andere mir selbst entfallene Kleinigkeiten verfertigt. Im Leben des großen Pabsts Ganganelli, das Gaum herausgab, ist die Einleitung, und der ganze vierte Theil von mir. Ikstadts Leben schrieb ich auf Ersuchen seiner Freunde. Ein unschuldiger Ausdruk in der Zuschrift an den verstorbnen Kurfürsten hat diesem Buche keine günstige Aufnahme in München verschaft. Desto günstiger aber ist es sonst in Deutschland [120] aufgenommen worden, obgleich ein Held mich wenig interessiren konnte, der das schrekliche Sprichwort so oft im Munde zu führen pflegte: »Da mihi decem thaleros, pulvis et umbra sumus. –« Doch er ist hingegangen und sein Richter – ist Gott. 7

Mein fester Vorsaz war, einen Roman aus mir heraus zu schreiben, den ich schon Jahre lang mit mir herumtrug. Miller und meine auswärtigen Freunde trieben mich beständig; aber eben als ich Hand anlegen, und das Werk beginnen wollte, da sollt ich selbst vor den Augen meines Vaterlandes der Held eines sehr tragischen Romans werden. [121] Ich brütete schon lange ein Unglük in meinem Herzen; mein nahes trauriges Schiksal schien mir oft mitten unter meinen Freuden vorzuschweben. Denn die Ahndungskraft meiner Seele war immer sehr laut. Ich begegnete daher meinem Weibe und Kindern so zärtlich, als wenn ichs wüßte, daß ich mich nächstens von ihnen trennen sollte. – In einer solchen bangen Vorempfindung fuhr ich nach Aalen in Gesellschaft des mir so theuren Stadtamman Schleichs, und nahm von meiner alten Mutter, und meinen Geschwistern einen so tief heraufgeholten Abschied, als führ' ich vom Thor zum Grabe.

Als das 1777ste Jahr eintrat, so drükte ich meiner Gattin mit dem Schlag Zwölfe mit unaussprechlicher Wehmut die Hand, sah ihr ins bleicher werdende Antliz – denn wir waren beide noch auf – »daß ich dich liebe, das weißt du! – was kann ich dir wünschen?« – das war alles, was wir stammelten, weinend lächelten, zitterten, [122] und – ach unsre so nahe Trennung hieng in schweren Wolken über uns, und bildete nur einzelne, aber dike Tropfen der Wehmut im Auge. –

Gleich mit dem ersten Tage des Jahrs erhielt' ich von meinem Freunde Grießbach in Karlsruhe die Nachricht, daß der dasige Kapellmeister Skiotti gestorben, und daß man mich nachdrüklich unterstüzen wollte, wenn ich diese Stelle zu ambiren gedächte. Schon lange wars der geheime Wunsch meiner Seele, einem Fürsten zu dienen, für den ich, wie für seine weise Gemahlin, die tiefste Ehrfurcht im Busen trug. Dieser heisse, glühende Eifer würde vielleicht den Abgang derienigen Eigenschaften gar bald bei mir ersezt haben, die ein Kapellmeister nach meinem Ideale haben sollte. Schon wälzt' ich Entwürfe, wie ich an diesem Hofe, wo alles Ohr und Herz für das Große und Schöne hat, die Kirchenmusik grün den, und sie dem lichten [123] Punkte näher bringen wollte, den Klopstok in seiner herrlichen Ode Siona so richtig gefaßt, und getroffen hat. Zu gleicher Zeit wurd' ich nach Mannheim berufen, um daselbst den Triumph der deutschen Sprache über die Welsche in einer neuen Oper aufführen zu sehen. Nur der Mangel an Reisegeld hinderte mich, sogleich aufzubrechen, um an einem von beiden Höfen einmal mein Glük fester zu gründen, als es auf fliegenden Zeitungsblättern gegründet seyn konnte. Ich verschob also meine Reise von einem Tag zum andern, und rannte dadurch am hellen Mittag' in die mir schon lange gelegte Schlinge. Auch in Nürnberg arbeitete ein Mann von Ansehen und Gelehrsamkeit an meiner daurhaften Versorgung in dieser Stadt meiner Väter. Aber es sollte nicht seyn!

Meine lezte Exkursion war in Gesellschaft des Herrn von Hailbronners, von Sürmanns aus Danzig, und des Konsistorialrath [124] Miegs, der eben von Wien kam, nach Eibach zum Grafen von Degenfeld. Die freie, heitre, sachreiche Redseeligkeit meines lieben Miegs, und die ernstere Laune meiner andern Gesellschafter, machten mir diese kleine Reise zu einem Spaziergang unter Blüten und Lerchengesang. Ich bewunderte in Eibach die Anlagen des liebenswürdigen Grafen, der Geschmak mit landwirthschaftlichem Nuzen so sinnreich zu verbinden weiß, staunte den schreklichen Felsen an, der über seinem Garten hängt, auf den ein zweiterFalkonet die Statue unsers großen Friderichs stellen könnte. – Noch mehr, als das lebendige Weben der schönen, aber seelenlosen Natur, erfreute mich der Umgang mit der Gemahlin des Grafen, die ich schon lange in der Gallerie meines Herzens unter den großen Seelen aufgestellt hatte. Ihre weise Kinderzucht, der Geist der Ordnung, der von ihr ausgeht, ihr ins Große gehender Geschmak, ihr ausgereiftes männliches Urteil, [125] und selbst ihre, nicht selten etwas bisarre Laune haben mir diese Gräfin so schäzbar gemacht, daß ich sie auch im Kerker, in den trübsten Stunden meines Lebens nicht vergessen konnte.

Auf dem Rükwege sah ich meinen lieben Schwiegervater zum leztenmal – noch steht er vor mir mit dem redlichen Antliz von grauen Lokken umflogen; noch drük' ich ihm die Hand, und ruf ihm zu: »Leben Sie wohl, theurer Vater!« – der Wagen donnerte über die Steine weg, und ich sah' ihn nicht wieder! – – O du meine Mutter, die mich unterm Herzen trug; du mein zweiter Vater, der mir seine Tochter gab, verzeiht einem armen Unglüklichen, wenn sein Ungestüm euch so manche trübe Stunde machte! Jezt betet er für euch im Staube seines Gefangnisses, und hoft es immer heller, euch bald in den friedlichen Thälern einer bessern Welt umarmen zu können!!

[126] Nie hat mich Ernst und anhaltendes Nachdenken öfter angewandelt, als in den lezten Tagen meiner Freiheit. Mein Herz war wie schwüle Luft, schweigend, bangsam, ein Gewitter verkündend. Ich genoß die gewöhnlichen Carnewalslustbarkeiten – eine unanständige, Gesundheit zerstörende Ergözlichkeit für den ernsten genügsamen Deutschen, – mit so wenigem Herzensanteil, daß ich um zehn Uhr Abends gemeiniglich schon wieder zu Hause war. Mein Vorsaz, die Religion einmal im Ernst zu untersuchen, und Partei zu nehmen, wurde immer fester; ich schaffte mir auch bereits die zu dieser Untersuchung nöthigen Schriften. In allen Zusammenkünften mit meinen Freunden wurde das Gespräch auf die Religion gelenkt, und nirgends hab ich so einsehen gelernt, daß die Zweifelsucht eine wirkliche und dazu äußerst schmerzhafte und qualvolle Krankheit der Seele sei, als ich es in Ulm aus manchem traurigen Beispiel verstehen lernte.

[127] Ich hatte Denker bittre Tränen vergießen sehen, weil sie nicht wußten, wie sie sich aus diesem Labirint heraushelfen sollten. Ein denkendes Geschöpf, das weint, weil es die Wahrheit nicht finden kann; – welch ein Anblik für Gott! Sollt' er sich sein nicht erbarmen? – Der äuserst unzulängliche Religionsunterricht ist auch hier das Ei, aus welchem Zweifelsucht und Unglaube ausgebrütet werden. Die symbolischen Bücher sind in Ulm, wie an mehrern Orten, die Gränzlinie, über die es Frevel ist, nur einen Fuß hinauszusetzen. Man berührt nur Theile der Religion, und stellt nie ihr Ganzes dar, wodurch allein alle Zweifel gehoben werden können. Daher hilft sich die untersuchende Partei so gut sie kann. Spalding, Semler, Teller, Bahrdt, Eberhard, Junkheim, fanden großen Eingang bei den iungen Leuten. Miller, der es mit Herdern, Lavatern – mehr aber mit seinem Onkel, dem sanften Theologen Miller in Göttingen hielt, sezte sich [128] oft sehr eifrig einem Sistem entgegen, das Glauben, Liebe, Hofnung, – diese Grundpfeiler der Religion niederzustürzen, so viele große Anlagen der Seele zu verschwemmen, und uns allen Trost im Leben, Leiden und Sterben zu rauben droht. Die Sekte der kalten Vernünftler konnte niemals die seinige seyn, und sie war auch die meinige nicht. – Wie oft dacht' ich: »O wenn die christliche Religion wahr wäre! – Aber sie ist nicht wahr! Wer kann Mährlein glauben, von denen die ganze Natur nichts ähnliches mehr aufweist? – – Sie ist nicht wahr! – Aber was ist denn wahr?« So ängstigte ich mich mit bangen schreklichen Zweifeln, und niemand nahm sie mir. Die Schwermut hatte mein Herz so angefüllt, daß der Wein, der mich sonst ausgelassen fröhlich machte, nur ein Weker der Melancholie war; und ich stürzte oft, gesehen und nicht gesehen, ganze Fluten von Tränen herunter. Die Welt, die mich so fest gepakt hatte, wurde mir immer mehr [129] zur Last; aber ich hatte nicht Mut genug, mich von ihr loszureissen. Ich ward als Ball von einer Hand der andern zugeworfen, ein Sklave des Augenbliks. Kein Tag verging, daß mich nicht Fremde besuchten, und mit einem Sturme von Veränderungen das geheime Wimmern des frommen Entschlusses übertäubten.

Auch erhielt' ich um diese Zeit schriftliche und mündliche Warnungen, mich vorzusehen, weil ein schweres Wetter gegen mich aufzöge. Der Kaiserliche Minister in Ulm General Ried, ein stolzer, hochtrozender Mann, war äuserst aufgebracht, weil ich einmal vor ihm den Flügel spielen sollte, und es aus Mangel eines tauglichen Flügels nicht that. Seine Religionsverwandte bliesen in dieß Feuer; und er laurte nur hoch auf Gelegenheit, mich unter einem bessern Vorwande paken zu können. Als ich aus einem Wiener Briefe die Nachricht in die Chronik sezte: »Die Kaiserin sey plözlich [130] vom Schlage gerührt worden« so glaubte er Anlas genug zu haben, mich aufheben, und nach Ungarn in ewige Gefangenschaft führen lassen zu können. Aber Gott, der schon seinen Plan mit mir gemacht hatte, misbilligte diesen. Der Minister offenbarte seinen Entschluß dem Herzog vonWirtemberg, der sogleich dem Gesandten versprach, mich in Verwahrung zu nehmen, weil er selbst nicht wenig an mir auszusezen fände. Geheimere Umstände brauch' ich und der Leser nicht zu wissen. Der Tag der Entscheidung wird alles offenbaren! Nur dieß muß ich zu meiner Rechtfertigung noch sagen, daß das hernach ausgestreute Gerücht: als hätt' ich ein verfängliches Gedicht auf eine dem Herzog sehr schäzbare Person verfertigt, gänzlich falsch und ungegründet sei. – Priesterhaß, der nicht eher verlischt, als bis er den Gegenstand seiner Wut zerstört hat ist die alleinige Ursache meiner Gefangenschaft. Wär' es den Pfaffen, – diesen Schandfleken der besten Religion – [131] nachgegangen; so wär ich längst an langsamen Martern gestorben. –

Und nun waren die Befehle zu meiner Verhaftung gegeben; ich aber, und meine Gattin trugen unsre nahe Trennung immer lastender auf der Seele. Ich wußt' es beinahe gewiß, daß mir ein Unglük begegnen würde. Eben die schwarzen Kutten, die ich vor acht Jahren im Traume sah, erschienen mir wieder, marterten mich mit ihren Nägeln, und löhrten, wenn ich sie um meinen Tod bat, mit satanischem Lächeln: »Wir tödten nicht plözlich, wir martern unsre Feinde langsam zu todt!« – Ich erzählte meinem Freunde Kapoll diesen Traum, der ihn aber weglachte. Und nun bemerkt' ich die feierliche schrekliche Stille immer mehr, die vor einem Unglük, wie vor einem Wettersturme herzugehen pflegt. Der Arm war hoch aufgehoben, der schmetternd auf mein Haus niederstürzen sollte.

Den 22sten Jenner 1777 kam der KlosteramtmannScholl von Blaubeuren, den [132] ich schon ehmals kennen lernte, zu mir, und lud mich zum Mittagessen im Baumstark. Ich hatte eben Musik, und wollte Abends Konzert geben. Ich nahm indeß seine Einladung an. Als ich mit ihm hinging, sagte er ganz furchtsam: »Sie könnten mir einen sehr großen Gefallen erweisen?« und worinn besteht der? – »Mein Schwager der Professor B****r von E****g ist bei mir, und wünscht Sie kennen zu lernen.« – Der kennt mich in schon von Stuttgart her; und dazu muß ich morgen meine Chronik schreiben. – Doch ich geh' mit ihnen; mein Chronikblatt soll dennoch fertig werden! – Mein leztes Blatt war das siebente Stük des 1777sten Jahres, und meine lezte öffentliche Arbeit das angehängte Memento mori für Kunstrichter. –

So willig, und so ohne alle Vorsicht eilte ich in die mir gelegte Schlinge. In Ulm hätte mich gewiß niemand gegriffen, den ich hatte da viele und sehr wichtige [133] Freunde, die mich herzlich liebten. Die dasigen Preussischen Werboffizirs waren mir äuserst zugethan, und hätten dem den Hals gebrochen, der mich angetastet hätte .. Ader eine höhere Hand lenkte das ganze Gewirre, und ich mußte folgen. Ich speiste mit meinem Todesengel, und brachte den Tag ziemlich vergnügt zu. Nach dem Konzert hohlte mich mein Weib ab, und gieng so stumm, so schwertragend neben mir nach Hause, daß ich sie über ihre Schwermut zu Rede sezte. »Ich weiß nicht, wie mir ist« sagte sie, und ließ eine Träne fallen. – Ich schlief das leztemal in ihren Armen – so sanft und ruhig, als ich lange Zeit nicht geschlafen hatte. Denn immer hab' ich bemerkt, daß ich vor einem mir begegnenden Unglüke sehr sanft ruhte. So stärkt der treue Vater im Himmel seine Geschöpfe, damit sie auch ihr Leiden tragen können.

Der Tag brach an; ich stund auf, kleidete mich an. Meine Kinder schwiegen um [134] mich herum, meine Gattin bangte. Der Schlitten klimperte vor dem Hause, der mich in Baumstark führen sollte. – »Leb wohl, Weib!« Sie bot mir die Hand, ward bleicher, alle Muskeln ihres Angesichts zitterten. »Kann denn dieser Fremde nicht zu dir kommen?« – Und das war das lezte Wort aus dem Munde meiner Lieben. Ich eilte die Stiege hinunter, bestieg den Schlitten. Mein Sohn, dem das Lictorgesicht des Klosteramtmanns wie Wurmsaamen zuwider war, schrie aus dem Fenster mir nach: »Papa kommen Sie bald!« – Hoch klopfte mein Herz auf, und Tränen riselten wider meinen Willen die Baken herab. Ich hielt mich nur Augenblike im Baumstark auf, – und der fliegende Schlitten riß mich aus Ulm, – weg von allen meinen Lieben, meinem trauten Weibe, meinen Kindern, meinen Freunden, – ohne sie noch einmal fest ans Herz drüken, ihnen für alle ihre Liebe danken, und dann die bange, heiße, blutige Abschiedsträne, schreklich [135] wie die Träne Zoars am Halse Sebas, an ihrem Herzen weinen zu können. – Ach ich habe sie seitdem desto öfter im Kerker geweint. Gott hat sie gesehen und gezählt, und den heissen dankvollen Wunsch gehört, den ich für deine, und deiner Kinder Wohlfart, du liebes, deutsches Ulm, zum Himmel schikte. – Er wirds euch gewiß lohnen, was ihr mir armen herumirrenden Fremdling, – und – noch nach meinem Abschiede meiner Wittwe und meinen Waisen Gutes gethan habt! – Eine Wittwe und Waisen haben – und eine so geliebte Wittwe – so unschuldige liebe Waisen – noch bei seinen Lebzeiten haben; und nicht mehr auf wiegenden Knien hören, das süße Papagestammel:

Ουδε τι μεν παιδες ποτε γουνασι παππαζουσιν. Weltrichter, hast du im Kelche der Leiden noch einen bitterern Tropfen als diesen? – ach diesen, den du mir armen, unsteten Pilger, zu schlürfen gabst? –

Fußnoten

1 Dieser, durch mehrere, an inn'rer Kraft mit den Werken eines Weissens und Kampens wetteifernden Erziehungsschriften sehr geschäzte Gelehrte, starb als Archidiakonus daselbst, im 59 Jahre seines rastlosen Lebens; mir vier Monate nach meinem Vater.

D.H.

2 Man erlaube mir hier die Stelle, womit sich der 1776te Jahrgang der Chronik eröffnet:

»Münster! ehrwürdiges Denkmal deutscher Große, sei mir gegrüßt in deiner Majestät! du trägst heilige Spuren deutscher Kraft, und deutschen Geistes. Nie geh ich an dir vorüber, ohne vor Ehrfurcht aufzuschauern; dann fließen den kühnen Bauleuten, die dich himmelan thürmten, Thränen des Danks und der entzükten Bewundrung. Wie fürchterlich ehrwürdig strekst du dein schwarzgraues Haupt in die Wolken; – und wie leuchtet deine Zinne in der Winternacht, wenn dich der Mond vergüldet, und der Polarstern über dir flammt! – Muß hinauf, hinauf auf deine Höhen, und mein Herz lüften auf deinem erhabenen Kranze. – Das sind ia die steinernen Hüften, die seit Jahrhunderten den Sturmwinden trozten; und dieß die Brust, von der selbst Gottes Gewitter nur Schiefer absplittern konnten. Wohl mir! diese Schnekentreppe bringt mich immer näher zur Heitre des Himmels empor. – Da steh ich – Gott, wie ist mir? wie so ganz anders, als wenn ich im Staube kröche. Hoch über mir dein Himmel, und unter mir deine Welt. Darf ich hinaufschau'n zum höhern Ozeane, der über mir blauwoogig dahinfließt? O der Wonne! – Muß ausruhen, und auf meinen Brüdern, den Menschen, verweilen, die dort unter mir wandeln, und durchs Leben kriechen, hinken, gehen, taumeln, fliegen. – Dort unten liegen ia ihre Hütten, mit Schnee wie mit Wolle bedekt; meist umstürmt von des Lebens Sorgen, und selten besucht vom leisen Tritt der Ruhe.

Seid mir gegrüßt', meine Brüder, mit dem ersten Strahl des erwachenden Jahres! Edle und Unedle, Weise und Thoren, Reiche und Arme, Tugendhafte und Sünder, Nahe und Ferne, Freunde und Feinde – seid mir alle gegrüßt! Mit euren Wünschen, Sorgen, Kämpfen; mit euren Arbeiten, euren Tugenden – selbst mit euren Fehlern seid mir gegrüßt! Noch wölbt sich diese blaue Deke über euch hin; noch träuft aus sanften Gewölken wie aus Schläuchen, Seegen auf euch, noch kreist das Jahr mit fröhlichen Monden und tanzenden Stunden harmonisch um euch: Sollt' ich euch nicht auch lieben, ihr Lieblinge Gottes? nicht für euch zum benachbarten Himmel hinauf betem.«

»Schau hinab, o Gott, auf deine Erde,

Sieh der Menschen ängstliches Gewühl.

Ach, da gibts, du weist's ia viel Beschwerde

Und des Stofs zu Thränen gibt es viel.«

»Christen gibt es – die sich's scheu'n zu sagen,

Daß sie Christus, daß sie Gottes sind;

Weise gibt es, die die Thoren tragen,

Und mit ihren Seufzern spielt der Wind;«

»Tugendhafte – die den Strom der Laster

Fürchterlich vorüberziehen seh'n –

Auf dem Strome seegelt ein verhaßter

Wüterich, taub zu der Menschheit Flehn:«

»Greise – die mit dünnen weißen Haaren,

Mit des Fluches schreklichem Gewicht

Ach hinunter in die Grube fahren,

Denn ihr Enkel ist ein Bösewicht!«

»Unschuld – die am Todeshügel iammert,

Wo der Vater, wo die Mutter ruht;

Wie sie da das Todtenkreuz umklammert!

Wie sie ächzt: ach rettet euer Blut!«

»Denn sie scheucht der Böswicht, der zum Raube

Im Gebeinhaus tükisch sich verbirgt;

Wie der Geier, der die fromme Taube,

Selbst auf Tempelzinnen niederwürgt;«

»Patrioten – die am Eichenstamme

Mit gesenktem trübem Blike stehn;

Ach sie seh'n mit unterdrükter Flamme

Deutsche Sitt' und Freiheit untergehn;«

»Jünglinge – beim dumpfen Trau'rgeläute

Langsamschreitend zu der schwarzen Gruft, –

Um die schönste, edelste der Bräute

Jammert ihre Klage in die Luft.«

»Vater, alle diese Menschen unten

Müssen sterben – deine Engel nicht!

Sterben – ach mit heissen offnen Wunden

Zittern vor Verwesung und Gericht!«

»Schöpfer, Vater, ach erbarm' dich ihrer,

Sieh dieß Wimmeln deiner Kinder an;

Alle brauchen Hülfe; sei ihr Führer

Auf des Lebens dornenvoller Bahn!«

»Sieh, auf dieses Thurmes luftgen Höhen

Bitt' ich dich mit hochgehob'ner Hand:

Wie die Eiche tiefgewurzelt stehen

Laß mein Vaterland, mein Vaterland.«

»Unsern Kaiser, laß die Fürsten leben

Dir nachahmend – ohne blutgen Zwist.

Aber laß sie vor dem Donner beben:

Daß du Richter aller Fürsten bist.«

»Reiß dem Heuchler, in der Wahrheit Lichte

Seine schwarze Larve vom Gesicht.

Aber ist die Larve vom Gesichte,

So beschäme – nur verdamm' ihn nicht!«

»Wenn der Wald, wenn Felsen wiederschallen

Frevler, deinen Greu'l und deinen Spott;

O so tönen dieses Tempels Hallen:«

»Eine veste Burg ist unser Gott.«

»Gib uns Dichter, die von Tugend glühen:

Die, wie Klopstok, von der Ewigkeit.

Kühn den Lichtgewebten Vorhang ziehen

– Und von deutscher Biederherzigkeit.«

»Dient das rasche Feuer kühner Jugend,

Dient die Himmelsflamme – das Genie

Nicht der Wahrheit, nicht der Schönheit, Tugend:

So verlösch' es! so vertilge sie!«

»Stärk' den Müden, der des Lebens Plagen,

Seine Lasten duldet – friedsam still,

Donner sollen den Tirannen schlagen,

Der des Schweisses Frucht ihm rauben will!«

»Gib dem Mangel Speise, Trank und Hülle,

Gib dem Armen – ach mir bricht das Herz –

Gib dem Armen von des Reichen Fülle,

Lind're du des müden Pilgers Schmerz!«

»O dann wölbt sich ruhig einst der Hügel

Meines Grabes über mir: O Glük!

Laß ich doch, beweht von Gottes Flügel

Dich, du liebes Vaterland, zurük!«

D.H.

3 Auch dieser vielseitige, mit so manchen Geistesgaben ausgerüstete, durch mehrere seiner Schriften – die eben diesen Stempel tragen, vorzüglich durch seine eig'ne Biographie – bekannte Mann, starb im Apr. d.J.

D.H.

4 Der Geschmak der Deutschen an der Operette ist seitdem noch weit allgemeiner geworden. Noch immer aber nimmt man es mit dem Text so wenig genau, daß man dem Dichter die unverzeihlichsten Schnizer, die anstösigsten Zoten vergibt, wenn nur der Tonsezer den undankbaren Stof zu beleben – oder auch nur das Ohr der Hörer zu kizeln wußte. Mann werden wir Deutsche einen Metastasio erhalten? So sehr sich unsre Sprache gegen diese zarte weiche gelenkvolle Dichtungsart zu sträuben scheint; so laut fordert der Geschmak des Zeitalters einen solchen Mann; und so auffallend hat es Meister Bürger durch seine Sonnette bewiesen, daß die Sprache Luthers

– die wiederhallt im Felsengebirge –

doch auch der zartesten Biegsamkeit, der lieblichsten Melodie fähig sei. Schmieder in Mainz hat einige ausländische Operetten mit Gink auf unsern Boden verpflanzt. Wir haben iezt mehrere iunge Dichter, die gute Operetten schreiben könnten, wenn sie in der Nähe eines guten stehenden Theaters wären.

d.H.

5 Damals hatten die Möser, Plank, Spittler, Schiller, ihre Meisterwerke noch nicht aufgestellt.

6 »Videmur,« lauten die eigenen Worte dieses Sehers »in primis adhuc scientiarum viis hærere, et fato quodam impediri, ne beneficia Creatoris et naturæ et gratiæ thesauros solertius rimemur. Puto homines incredibilia fere præstituros, si maiorem diligentiam adhiberent. Sed oculi ipsorum fascia quasi obducti; et tempus expectandum est, donec omnia maturescant.«

7 Wer diesen Ikstadt, und den vierten Theil vonClemens XIV lieset, der wird es gewiß mit mir bedauren, daß Schubart nicht mehr in diesem Fache schrieb; – daß er überhaupt so wenig ins Große und Ganze arbeitete, und seine Thätigkeit an Zeitungen, Gelegenheitsgedichte, und hundert anderevorübergehende Dinge verschwendete.

D.H.

20. Period
(I.)

Mein erstes Gefühl war Erstaunen über die Erfüllung eines schon vor acht Jahren gehabten Traums. Eben diesen halb abgebrochnen Thurm, dieß schwarze Gewölbe, dieses harte Lager, dieß Eisengitter, und eben diesen Mann hier, meinen Befehlshaber Rieger; – all dieß, was mir mein Genius lange zuvor im Schlaf vorgezeichnet hatte, fand ich hier ganz genau, Bild vor Bild, Zug vor Zug, dargestellt, ins Leben gedrukt. Wie ich damals durch glühende Asche watete; so war mirs als ich auf dem Exerzierplaze des Asbergs im Angesicht des Fürsten in diesen Kerker geführt wurde. – O ihr Thoren, die ihr alle Träume verlacht, was sagt ihr zu solchen Beispielen? – Als die Betaubung mit ihrem eisernen Arm von mir abließ; da versank ich in die tiefste, dicht an Verzweiflung granzende Schwermut. [146] Ich saß ganze Stunden starr und unbeweglich auf meinem Strohbette, betrachtete die öde, schweigende Wand und den eisernen Ring, der drein gemauert war, um mich nach dem Befehle des Fürsten daran zu ketten, wenn ich nur im geringsten was versehen sollte. Ich sah mich schon in der Kette, und hörte sie rasseln am zitternden Arm und klirren am bebenden Fuße. – Für mein freies Gefühl war nichts Schreklichers als die Kette. – Nichts war weit um mich herum, was mich tröstete. Die Menschen, die mir mein Tränenbrod und das Zisternenwasser brachten, hatten den strengsten Befehl, nicht ein Wort mit mir zu sprechen. Kein Buch, kein Klavier, nicht Dinte, Feder, Bleistift und Papier – und ach! keine Mutter, kein Weib, kein Kind, kein tröstender Freund! – Alles war stumm um mich her, wie das Grab um einen Todten. Von dem Gipfel der lautesten Freude in diese Gruft voll stummer Verzweiflung, von der heitersten Geselligkeit in diese trübe menschentodte [147] Einsamkeit; von der Freiheit zur Kette herabgesunken: – welch ein plözlicher, schreklicher Umschwung! Mit einer so feurigen Seele, einer so kühnen, meist schaurichten Fantasie, mir diesem Drange des Menschengefühls, mit dieser oft ungestümen Thätigkeit – allein! ohne Hofnung allein!! – O du mein Erhalter im Himmel! Dir, nur dir hab' ichs zu danken, daß ich nicht rasend wurde und mich dadurch unfähig machte, meine Sünden zu beweinen, und Gnade bei dir zu suchen! –

Erst nach einigen Tagen borst mein Herz, und goß eine Flut von heissen Tränen aus. Ich wagte es, einige Seufzer zu Gott zu schiken; aber der Gedanke donnerte mich nieder: du hast Jahrelang nicht gebetet; nun wird dich Gott gleich erhören, da du im Elend bist! – Feige Seele, schäme dich deiner Malefikantenbuße! Solltest du wie ein Opfer mit der Kette vor den Altar geschleppt werden? – Bete nicht, denn [148] Gott erhöret dich nicht! – du bist verworfen, zum schreklichen Beispiel für andere weggeworfen, und dank' es Gott, wenn kein Jenseits ist. –

»Ich bin Gott und nicht ein Mensch!« flisterte es einmal in einem solchen Verzweiflungsanfalle in meinem Herzen; und ich sank, wie von Gott ergriffen, in Kerkerstaub nieder; und betete das erstemal ein heisses, aufschluchzendes Tränengebet. »Du bist Gott und nicht ein Mensch! – Du hast dein empörendes Volk gehört, als es in Babel zu dir schrie; hast den abgöttischen Manasse gehört, als er in der Kette dich um Erbarmung anflehte; – ja, du würdest den Teufel hören, wenn er beten könnte, denn du bist gnädig! barmherzig bist du! willst nicht den Tod des Sünders! bist dieLiebe!« Mit dergleichen Gedanken bewahrte mich Gott vor der Verzweiflung, der ich sehr nahe war. Der Tod, den ich sonst nie ohne Schauder dachte, wurde mir [149] nun sehr angenehm. Ich schrieb an die Wand mit Ruß: »Denk an den Tod!« und so oft ich mein Stroh aufschüttelte, seufzt' ich: »Ach wenn eine barmherzige Hand so die Spane in meinem Sarg aufschüttelte!« – Daß nur schwere trübe Leiden einem den Tod erleichtern müssen, daß man nicht mitten im Genusse der Freiheit, des Lebens und des Wohlstandes auch mit Paulus sagen kann: »Ich habe Lust abzuscheiden und bei Christus zu seyn«! ...

Die Langeweile war die erste Geissel, die ich aufs empfindlichste fühlte. Ich zählte nicht mehr Tage, sondern Stunden, und hörte oft Minuten auftreten, so leise wurde mein Gehör für die Zeit. Ein zurükgelegter Tag, war für mich ein vom Herzen abgewälztes Felsenstük. Ich zählte meine Tritte, meine Pulsschlage, alle Spalten und Rizen im Kerkergewölbe, die Faden an der Matraze, womit ich mich dekte. Ich wiederholte nach dem Alphabet alles, was ich ans verschiednen [150] Wissenschaften und Künsten wußte; aber dieser Zeitvertreib verleidete mir am ersten, denn alle Wissenschaft ist ohne die Wollust der Mitteilung Qual für die Seele. Da ich Menschen hörte, ob ich sie gleich nicht sah; so war dieß meine erste, liebste Unterhaltung, daß ich auf ihre Stimmen horchte, und einen Versuch machte, wie viel sich vom physischen, intellektuellen und sittlichen Karakter des Menschen aus der Stimme errathen lasse. Es ist mir bei manchen gelungen, wie ich nachher erfahren habe. So wie sich das Alter nach seinen verschiedenen Stufen in der Stimme des Menschen abbildet: so gibt der Mensch auch nicht selten den Ton seiner innern Fähigkeiten und Herzensstimmung an. Klarheit und Dumpfheit, Tiefe und Höhe, Dike und Dünne, heller und finsterer Ton, Schnelligkeit und Trägheit, Einklang und Tonwechsel, hoher klingender Diskant und tiefer tragender Baß, mit einem Wort: der ganze Umfang des Tons vom ersten kaum hörbaren Laut an, bis zum [151] Schlage des hallenden Donners hat seine bestimmte Deutung, und der Mann wird noch kommen, der mit demOhre fast eben so sicher, als Lavater und noch schärfere Physiognomen mit dem Auge, über den Karakter des Menschen zu urteilen fähig seyn wird. –

So empfand ich in meiner traurigen Einöde die Tirannei der Langweile ... Wie schön und helle wurde mir nun die Stelle im Messias, wo Thoas Seele in geschöpflose Einsamkeit verbannt wird:


.... »Sie war allein, war

Ganz von allen Wesen verlassen! war nicht in der Schöpfung!

Nicht auf der Erde der Sterblichen, nicht auf ihrer! Sie sahe

Keines Unsterblichen Antliz! vernahm, in der bitteren Wehmut

Keines Himmlischen Stimme! Sie dachte wie ehmals; auch konnte

Sie sich bewegen, doch blieb, auch bewegt, sie stets in der Oede.

Ach, vor ihr war jeder Schauplaz neuer Erkenntniß

[152]

Weggesunken; sie hatte nur Voriges, und sich selbst! war

Freundelos, ohn' einen Laut Antwort auf die bange

Frage: Wann sein Gericht der Richter endigen werde?

Nur daß ihr aus den alten bisweilen Gedanken entstanden,

Welche, doch dieses wußte sie nicht, die ihren nicht waren.«


O wie wahr! wie wahr! dacht' ich mit glühender Stirne. Ich sah die Einsamkeit, nach Klopstoks treflicher Schilderei, vor mir stehen:


»Mit dem Becher der Freud' in der Rechten!

In der Linken dem Dolche! –

Dem Glüklichen reicht sie den Becher der Freude;

Dem Elenden den blinkenden Dolch!«


Ja mir reichte sie den blinkenden Dolch, und oft hob ich den Arm, um mit einem wütenden Stosse die Qualen meines Herzens zu enden. Aber mein schüzender Engel wand mir den Dolch aus der Hand, und ließ mich sogar – wiewohl erst nach vielen durchjammerten Monden – einige Tropfen [153] aus dem Becher der Freude schlürfen ... Mit einem Worte, Bruder, der du erfahren hast, was ich erfuhr, oder es noch erfahren kannst,


»Einsamkeit ist eine schwere Last, wenn du Gott nicht bei dir hast!«

(II.)

Unter diesen Herzenskämpfen und Qualen waren die Besuche des damaligen Kommandanten mein einziger Trost. Ich fand gar bald, daß es Gott so gelenkt hatte, mich just diesem und keinem andern in die Zucht zu geben. Er war ehmals in gleichem noch schreklichern Gedränge gewesen, und die Erzählung von seiner vierjährigen Gefangenschaft, seinem Verhalten dabei, und den wunderbaren Rettungen Gottes, wodurch er sich an ihm verherrlichte, und ihn zu einem erleuchteten Bekenner der Religion umbildete, waren für mich lehrreich und erquikend. Sein Zustand war der grausamste, [154] den man sich denken kann. Er sah vier Jahre lang kein Menschenantliz; denn man haspelte ihm seine sparsame Kost von oben herunter, gab ihm weder Stuhl noch Tisch, kehrte seinen Kerker nie aus, ließ ihm Bart und Nägel wachsen, und erlaubte ihm nicht einmal einen Nachtstuhl; so daß er im Staub und Gestank hätte zu Grunde gehen sollen. Außerdem mußte er die langen Winternächte in schreklicher Finsterniß verseufzen; hörte nicht die geringste Nachricht von seiner Familie, und hatte außer der Bibel kein geschriebenes noch gedruktes Blatt bei sich. Und doch erhielt ihn Gott, und stärkte ihn so mächtig, daß er in seinem Kerker geistliche Lieder verfertigte, die voll Andacht, und Gottseligkeit sind. Er sammelte sich auch in seiner Einsamkeit einen solchen Schaz aus Gottes Wort, daß mir kaum jemals ein Mensch bekannt wurde, der die Bibel so in Mark und Geist verwandelt hatte, wie dieser. Sein Beispiel gab mir gleich anfangs die Lehre, daß wo die Worte [155] Gottes nicht ins Leben des innern und äusern Menschen eindringen, und dem Geist eben so zur Speise werden, wie es Brod dem Leibe ist, sie vom Herzen ohne bleibenden Eindruk abglitschen, uns ohne Trost lassen, und keine Früchte der Heiligung bringen. Verschlungene verdaute, in Geist verwandelte Schriftideen können uns allein erleuchten, heiligen, und zu Menschen Gottes machen .. Diese Wahrheit sah ich gar bald ein, und lernte hernach an einigen Beispielen die starke, schöne Bildung bewundern, die das Christenthum seinen Jüngern gibt. Mein Vorsteher erquikte mich bald leiblich, durch Speise, Trank, Arznei, Pflege; bald geistlich, durch sanfte und harte Bestrafungen, durch Beugen und Niederschmettern meines noch hoch auffahrenden Geistes, durch starke der Offenbarung entschöpfte Trostgründe, und sonderlich durch Mittheilung von Büchern, die im Geiste des Christenthums geschrieben waren.

[156] Die Schriften seines seligen Vaters, Arnds, Bengels und andrer frommen Männer, haben mir in meiner Einsamkeit große Dienste gethan, ob sie gleich mehr mein Herz aufthauten, als ihm seine quälende Zweifel nahmen. Ich mußte Trost haben, und glaubte, daß Gott auch für solche Situationen, in die seine Geschöpfe durch Leichtsinn und Unvorsichtigkeit gerathen können, schon zum voraus gesorgt habe. »Sie haben Schiffbruch gelitten, sagte mein Kommandant, und nur noch ein Brett ist für sie übrig – die Religion!« – Ich grif auch nach diesem Brette, und gewiß eben so begierig, als der mit den Wellen ringende Unglükliche das seinige ergreift, und sich damit aus Ufer arbeitet! »Hilf Gott! deine Pfeile steken in mir! ich versinke in tiefen Wassern, da kein Grund ist!« – So schrie ich in meiner Felsenkluft, und empfand es zum erstenmal, was es heiße, die Psalmen im eignen gleichen Herzensdrange herauszuweinen, herauszubluten ..

[157]
(III.)

Das erste, was Gott an meiner Seele that, war, daß er mir zeigte, wie entsezlich mich die Sünde verwüstet hatte. Ich lag mit der ganzen vollen Aufmerksamkeit über der Bibel, und so oft ein Frevler gebrandmarkt wurde, so oft der Richter dem Sünder aus Gewittern drohte, so oft er die Hölle vor ihm auflodern ließ; so sprach mein innerer lauter strenger Zeuge: »das bist du! das geht dich an! dahin gehörst du!« – Im zweiten Kapitel des andern Briefs Petri verglichen mit dem Briefe des Judas fand ich mich so treffend gezeichnet, daß ich diese Stellen unzählichemal mit Bangigkeiten des Herzens las, die kein Ausdruk schildert. – Der leichtsinnige, wilde, hochtrabende, Lästerer Gottes und seines Sohnes bist du! die Wasserleere vom Sturm getriebene Wolke! der Maiestatsschänder bist du! – Gott hat rebellische Engel gestürzt, hat eine Welt voll Sünder weggeschwemmt, hat [158] Städte mit Schwefelfeuer zerstört, hat sein eignes ihm so liebes Volk um des Undanks willen zum Scheusal der Nationen gemacht: – wird er dich einzelnen, armseligen, nakenden Empörer verschonen? – Nein! hier beginnt nur deine Strafe, und dort sind dir die Kette des Urdunkels aufbehalten.

Aus Erbarmung zeigte mir Gott mein Verderben nicht auf einmal, sondern stufenweise. Er führte mich von der Dämmerung nach und nach von Treppe zu Treppe in die schwarze, grauenvolle Nachtkluft hinunter, und zeigte mir in schnellen Blizen die Verwüstungen, die das Laster in mir angerichtet hatte: alle meine Seelenkrafte misbraucht; den Verstand von der Fantasie angekettet; Einbildungskraft und Gedächtnis mit unreinen Bildern angefüllt; den Wiz zur grinsenden Spottsucht erniedrigt; das Menschengefühl verschwemmt; jede moralische Kraft, wie Saat vom Hagelwetter zerknikt! – eine zertrümmerte Welt!! Ein[159] Chaos, über dessen Tiefen kein beseelender Geist schwebte!!! – O wie schreklich fiel mir nun der Misbrauch meiner schönen Naturgaben auf die Seele; wie greulte mir vor allem, was ich gedacht, gesprochen, gethan, geschrieben, wenn es auch den Schein des Guten hatte; in welchen Schrekgestalten traten die Menschen vor mich hin, die mein Unsinn beleidigt hatte; mein armes Weib! meine Kinder! meine Mutter! meine Blutsverwandte! Freunde und Feinde! – denn das erwachende Gewissen rächt Beleidigungen der Menschen eher, als Beleidigungen Gottes: so hoch ist der Mensch vor Gott angeschrieben, und so weit ist der Ewige entfernt, sein Recht an uns zuerst zu suchen.

Mein Weib hatte die Gewohnheit, Sprüche der Bibel auf kleine Zettelchen zu schreiben, und sie an Oerter zu legen, wo ich sie finden mußte. Ich schien sie zu verachten, behielt sie aber all' im Herzen, und im Kerker fielen sie mir wie Feuerflokken auf die[160] Seele .. Schlug ich die Bibel auf; so sprachen Donner daraus. Schlief ich, so schwangen schrekliche Träume die Schlangenpeitsche. Bald sah ich meinen Vater, der mir sein geschwollenes Bein aufs Herz legte, daß ich keuchend unter seiner wachsenden Schwere mit einem Jammerschrei erwachte; bald Feuerfiguren, die zu wimmern schienen: »Dein Religionsspott hat uns vergiftet; wir sündigten – starben! weh über dich!!« – Ich riß mich vom Lager, fiel auf den Ziegelboden meines Kerkers, rang die Hände, sah mit dem starren Blike der Verzweiflung durch's melancholische Eisengitter gen Himmel, heulte, schlug mich an Schedel, rannte gegen die Wand, und war einmal fest entschlossen, mir bei'm Mittagessen das Brodmesser ins Herz zu stoßen. Denn ich dachte wie Judas


»Nein, sie kann nach dem Tode nicht fürchterlicher mich fassen

diese hamlose Quaal – –«


Ich habe diese Monologe aus der Messiade [161] in meinem Kerker oft mit soviel Natur deklamirt, daß, wenn ich Zuschauer gehabt hätte, sie den höchsten Ausdruk dieser Stellen gefühlt und gesehen haben würden ... Aber Gottes Engel, dessen Nähe mir in solchen entscheidenden Augenbliken am fühlbarsten war, schüzte mich vor dem Selbstmord. Der Gedanke an Weib, Kinder, Mutter; – nicht der Gedank' an mein ewiges Verderben hielt mich zurük. Ich verglich mich oft mit andern Menschen, um mich in etwas aufzurichten: aber ich entdekte an all' diesen Menschen, selbst an denen, die mit mir gesündigt hatten, noch immer soviel Gutes, an mir hingegen soviel Finsteres, und Zurükstoßendes, daß ich vollkommen überzeugt war, ich sei – ein Ungeheuer in der Welt. –

Man vergleicht sich so gerne mit andern Menschen, und freut sich, wenn es andre auch nicht besser machen, als wir. – Aber, o betrogne Seele, wird dich Gott nach dem Beispiel der Menge richten? Ist [162] nicht sein Wort dein Gesezbuch? Was hilfts dem Teufel mehrere Teufel um sich zu haben? wird es dich in jener Welt trösten können, wenn du gedrükt vom Fluche, einen gleichen Fluchwürdigen neben dir röcheln hörst? – Diese erwachende, würgende Selbsterkenntnis brachte mich bald dahin, daß ich ohne Rüksicht auf politische Ursachen, mich vollkommen dieser und einer noch viel strengern Kerkerstrafe würdig hielt. Ja, wenn man mich verbrannt hätte; so würd' ichs vom Holzstoße herabbekannt haben, daß jede einzelne Sünde, noch mehr, jede Ausschweifung der Wollust, jeder ausgeschäumte Unsinn gegen die heiligsten Wahrheiten; selbst jede Beleidigung des Men schen (denn jede Sünde ist Beleidigung der Bruderpflicht) einer so strengen Ahndung gar wohl werth ware. Wenn Menschen, deren Richter meist Unheilige sind, die sich selbst soviel vorzuwerfen haben, nicht immer, auch oft die grösten Verbrechen, so strenge strafen, als sie sollten: so wird es [163] gewiß Gott thun, der nach dem Zeugniß Christus nicht die groben Ausbrüche des Lasters allein, sondern schon ihren ersten wehenden Funken mit schweren Strafen ahnden wird, wenn nicht schon hier Vergebung erfolgt (s. Matthäi V. 21. v. folg. nebst andern unzählichen Schriftstellen.) Nicht der Babilonische Mantel, den Achan vom Raube behielt, sondern die Uebertretung des göttlichen Gebots zog ihm Steinigung und Verbrennung zu. – Wer die Grundsäze der Billigkeit, wie sie Menschen gelernt haben, auf das Betragen Gottes anwenden will, der mißt das Meer mit der Faust. –

Du bist ein Empörer gegen Gottes Majestät! Nur diese Wahrheit sah ich iezt, wie mit Ruß an meine Kerkerwand geschrieben. Ich lag Stundenlang auf meinem Antliz, walzte mich im Staube und löhrte, wie ehmals die Ephraimiten, auf meinem Lager .. Die Hölle muß im Menschen seyn, denn ich fühlte ihre sengende Flamme, [164] und flehte mehr als einmal meinen Richter nur um einen Tropfen – einen armseligen Tropfen Trost an. Nicht um Abwendung, nur um Erleichterung meiner Qualen bat ich ihn ... So in hingestürzter Verzweiflung, nahe dem Tod, grif ich einmal nach der Bibel, schlug sie auf, legte mein glühendes Haupt auf die aufgeschlagene Stelle, und ohne sie zu lesen, schrie ich: »So laß mich sterben, Weltrichter, mit dem Feuergesez' unter meinen Schlafen!« – Als ich mit vorgepreßtem Auge die Stelle anstarrte; so war's die Geschichte vom verlohrnen Sohne. – Ich las sie mit verschlingendem Hunger des Geistes. Gottes unsichtbare Kraft drang in meine Seele, in mein Herz, in's Mark meiner Gebeine; von kommender Hofnung, wie auf Flügeln getragen, hob sich mein Geist. »Vielleicht strekst du auch die Arme nach mir aus? – Ja ich habe gesündiget! bin nicht werth, daß ich dein Sohn heisse! Ach, vielleicht, vielleicht erbarmst du dich meiner!« Ströme [165] von Tränen stürzten aus meinem Auge, und näßten die Bibel. Nach langem Weinen breitete sich das Licht des himmlischen Friedens in meiner Seele ans, und ich stand göttlichgestärkt, von meinem Kerkerboden auf .. So tröstete mich Gott öfters; denn kein wiederkehrender Sünder würde die Qualen seines Herzens aushalten können, wenn es nicht Erholungsstunden gäbe. –

Aber nun fehlte mir eine genauere Anweisung, wie ich meine Buße einzurichten hätte. Zu den Zeiten der Apostel, wo die Gemeinschaft der Heiligen noch so sehr mitwirkte, und die eigentliche Stelle Gottes vertrat, war die Bekehrung viel leichter, als jezt, wo man Jahrelang, zumal in einem so verlaßnen Zustande, wie der meinige ist, kämpsen muß, bis man seines Gnadenstandes gewiß ist. Leß hat viel an meiner Seele gethan; ich hatte sein Werk- über die Wahrheit der Christlichen Religion, und seine Evangelienpredigten; aber seine strenge [166] Moral verwundet mehr, als sie heilt Unsre neuern Theologen sind mehr Diatetiker als Therapevtiker! »Du mußt dich vor Ausschweifungen hüten, sonst wirst du krank!« Gut! aber ich habe mich nicht gehütet, und bin nun tödtlich krank. Wie werd' ich gesund? – Das war iezt die Frage, die heisse, dringende Frage, die ich an meine Lehrer that. Hollaz, 1 den ich sonst als Fantasten wegschmiß, hat mir anfangs diese Frage noch am besten beantwortet. Als ich seine evangelische Gnadenordnung das erstemal aufschlug, fand ich gleich die Stelle: »So herrlich es nun ist, daß ihr heraus seyd aus Sodom, und auf dem Berge eine Errettung gefunden; so wißt doch, daß ihr noch einen gefährlichen Feind bei und um euch habt – euer Fleisch und [167] euern alten Menschen. Legt ihn auf diesem Berge dem Herrn zum Schlachtopfer dar! Bindet dem Eigenwillen Hände und Füße! Opfert euch ganz dem Herrn! dringt in die Gemeinschaft des Todes Christi – allem abzusterben!« – – Diesem einfältigen und verachteten Lehrer hab' ich den ersten Schritt zu meiner wahren Herzensberuhigung zu danken. Ich war vorher in eine so qualvolle, ängstliche Selbstwirksamkeit gerathen; hatte mir solche eigenmächtige Martern des Fleisches auferlegt, daß mein Zustand dadurch um vieles elender wurde. Der gemeine Wahn, ich müßte erst rein seyn, eh ich mich zu Christo nahen dürfte, mattete mich ab. Ich fiel in eine wahre περισσείαν (gutmeinende Uebertreibung), und würde dabei in Schlafsucht und tödtliche Ermattung versunken seyn, wenn dieser Zustand von längrer Dauer gewesen wäre. Hollaz lehrte mich die ganze simple Methode: »Fühlst du deine Krankheit – so geh zu Christus – und laß dir helfen!« [168] Also Sündengefühl, Suchen der Gnade inJesu, und die daraus fließende Heiligung war das erste Rezept, was ich für meine Seelenkrankheit sehr bewährt fand. Aber, wie schwer war's, Jesum zu finden, dessen Feind ich bisher gewesen! Ich konnte nicht an ihn glauben, weil ich nicht wuste, wer er sey? – Seine Gottheit kam mir noch immer als die unglaublichste Sache von der Welt vor. Ich hielt ihn für das erste, vollkommenste Geschöpf, das Gott zum Oberhaupt der Menschheit bestimmt hatte, und betete ihn nun – obgleich mit zweiflendem Herzen, ob ich nicht Gott seine Ehre raubte? – an. Tausendmal bat ich ihn um Verzeihung meiner frevelhaften Beleidigungen gegen seine Ehre; bat ihn um Fürbitte bei Gott; um die Anwendung der Kraft seines Bluts auf mich, und sonderlich um Hebung meiner quälenden Zweifel. – Ich dachte, auf dieser Welt wird dir schon Niemand mehr deine Zweifel nehmen; glaube, was in der Bibel steht, bereue deine Sünden, und bessre dich! –

[169] Mit diesen Gedanken hab' ich mich ein ganzes Jahr lang erhalten, ängstlich, sorglich, auf zweiflenden Wogen schwebend. Mein Gebet war oft sehr heiß, und mit augenscheinlichen Segnungen begleitet. Ich fieng nun an, mich straks an die Bibel zu halten, und mein Leben darnach einzurichten. Und – o Gott! welche Kämpfe mußt' ich da bestreiten! Ich war allein – aber mein Ich, mein ärgster Feind war bei mir. Schäumende Lust, Rachsucht gegen meine Feinde, brausendes Freiheitsungestüm, tobende Ungeduld, Murren gegen die strenge christliche Moral, bald Aberglaube, bald Unglaube in schnellen geflügelten Uebergängen; bald Hofnung, bald Verzweiflung, bald Weltlust, bald heisser Wunsch des Todes – warfen mich armen eingekerkerten Mann in meiner Grotte hin und her, so daß ich oft den Zustand eines Christen für den elendesten unter allen Zuständen hielt. Inzwischen gab mir Gott einen Halt, der mich durch alle Stürme durchbrachte. [170] Einst lag ich Nachts auf meinem Boden im heissen, stürmenden Gebete für mich! – für meine Lieben! – für meine Verfolger! – für die Welt!! – Ich schloß nach meiner Gewohnheit mit dem Senfzer: »Nichts soll mich scheiden von der Liebe Gottes etc.« – Als ich das Wort Liebe aussprach; so war's, als schwäm ich in Strömen von Licht. Licht quoll aus mir, und Licht strömte in mich – so rein, o himmlisch – so mein ganzes Ich in dieß neue Gefühl verschlungen, daß ich wie ohnmächtig liegen blieb. »Gott ist die Liebe!« – dies zitterte meine Seele, »und du heulst und willst verzweifeln?« – Tränen, wie ich da weinte, weint man nur im Himmel zu den Füssen des Allversöhners .. Ich legte mich müde von Wonne auf's Stroh, und entschlief so in Frieden gewiegt, wie der Säugling entschläft, vom Auge der Mutter belächelt. –

Diese Ueberzeugung, daß Gott die Liebe [171] sey, und daß die bittersten Schikungen zum Besten seiner Geschöpfe abzweken, wurde gar bald die Axe, um die sich das Rad meines neuen Sistems drehte. Was ich nicht mit diesem Grundsaze reimen konnte, das verwarf ich mit Hize. Daher fiel mir ausser und in meinem Kerker kein Saz der christlichen Theologie abscheulicher auf, als der von der Unendlichkeit der Höllenstrafen. Unverstand und Grausamkeit haben diesen Saz ausgehekt, welcher der christlichen Religion weit schädlicher geworden, als alle Angriffe der Atheisten, Deisten, Naturalisten, Freigeister und Wizlinge. Wer Gott an seiner Liebe antastet, nimmt ihm sein Wesen, und ist mehr Gottesläugner, als Spinoza es gewesen seyn soll. Gott schaft nichts, was ganz unverbesserlich werden könnte, sonst wär' er nicht die ewige Weisheit. Alle Finsternis muß Licht, alle Mistöne müssen Wohllaut, alle physische und moralische Gebrechen müssen Gesundheit; Grab Tod und Hölle muß ausgerottet, [172] und alle Sünder müssen, wenn sie ihre Strafe nach scharfgemessenem schreklichem Maase ausgestanden haben, wieder begnadigt werden – denn Gott ist die Liebe! –

Aber »die Sünden haben unendlich Folgen, daher müssen auch ihre Strafen unendlich seyn,« sagtLeß. – Das folgt ganz und gar nicht. Gott straft auf der Welt bis ins dritte und vierte Glied, und thut wohl bis ins tausendste. – Steht hier Gerechtigkeit mit Liebe im Verhältniß? – Gott begnadigt hier auf der Welt Sünder, wenn gleich die Folgen ihrer Sünden noch fortdauren; wird er dieß nicht auch dort thun? Und was wäre das für eine Welt, wo das Uebel unendlich wäre? – Kann ein endlicher Grund unendliche Folgen hervorbringen? – Nur was Gott thut, und was seine Geschöpfe übereinstimmend mit ihm thun, kann unendlich seyn: was aber endliche Geschöpfe, aus eignem endlichem Naturtrieb, ohne Uebereinstimmung [173] mit Gott thun, ist Sünde, und folglich endlich. Der von einem endlichen Verbrechen zur Gerechtigkeit bestimmte Gott, straft also auch nur endlich – das heißt, auf eine der Größe des Verbrechens angemessene Weise. Die Sünde wekt das Zornfeuer in Gott, das sie verzehrt. Sie wird verschlungen; und der Sünder erhalten. »Wer ein unendliches Wesen beleidigt, wird auch unendlich gestraft.« – Diesem Grundsaz zufolge würde die erste Sünde schon unvergeblich seyn; da sie aber Gott verzeiht, wenn wir ihn darum bitten; so muß der Saz falsch seyn. Augustus kann dem Cinna verzeihen; so viele Christen haben für ihre Mörder gebetet; und Gott könnt' es nicht? Gott sollte etwas von seinen armen Geschöpfen fordern, was er selbst nicht thut? – Und wo stehts denn in der ganzen Bibel, daß Ewigkeit Unendlichkeit bedeute? Wo steht es, daß Gott sein Erbarmen nur auf Ein Weltalter eingeschränkt, habe, und in [174] der Ewigkeit kein Erbarmen mehr kenne? – Schreklich! Mein Blut siedet, wenn ich diesen unmenschlichen Säzen nachdenke! – O wie freu' ich mich, daß ich gewiß bin, Jesus werde nicht aufhören zu wirken, oder seiner Erlösungsanstalten fortzusezen, bis Er der wahrhaftige Erlöser aller gefallenen Geschöpfe ist; bis alle Feinde zum Schemel seiner Füße gelegt sind; bis selbst dem Satan das Panier des Aufruhrs aus der Hand sinkt, und bis er und seine gefallene Engel alle sich ächzend niederwerfen, um Gnade flehen und Gnade erhalten. 2[175] Denn Gott ist die Liebe, und ihm werden noch alle seine Geschöpfe danken. Man verzeihe mir diese Abschweifung, denn sie gehört mit zu meinem Glaubensbekenntnis.


[176] Unter den Wundern Gottes, wodurch er sich noch täglich unter den Menschen verherrlicht, ist die Bekehrung eines Sünders gewiß das allergröste. Wenn wir, wie die Engel, die Zerstorung unsers ganzen Wesens durch die Sünde; jedes verbogene [177] Organ, jede zerknikte Fiber, die tausendfältigen Eindrüke der Lüge und des Wahns in unserm Gehirne; das wildfluthende Blut; unser Angesicht, von der Sohle des Lasters zertreten; jede Verkrümmung, jeden Winkelzug, jedes widrige Lineament unsrer ganzen [178] Gestalt; Ton, Gang und Miene – alles unsre innere Verstimmung nachhallend und ausdrükend; – wenn wir dieß alles anschauend zu erkennen vermöchten: so würden wir den Heiden recht geben, die nach dem vierzigsten Jahre alle moralische Verbesserung für unmöglich hielten. Eben die Macht, die Gott zur Schöpfung der Welt, und zur Erwekung seines Sohnes angewandt hat, gebraucht er auch zur Erwekung und Umschaffung des todten Sünders. Daher ist jede Bekehrung eine innre und äußere Umgestaltung unsers ganzen Wesens, doch so, daß die individuellen Merkmale unsrer Ichheit bleiben. Es ist bedenklich, daß ein großer Phisiognomist, der berühmte Maskovski, schon vor sechzig Jahren behauptete: »man könne aus der Phisiognomie eines freiwillig wiederkehrenden Sünders nicht mehr wahrsagen.« So pflegt sich unser innrer Zustand im äußern zu offenbaren. – Welches Geschäft hatte der Geist Gottes bei mir! Ein Leichtsinniger sollte gesezt; ein Gedankenloser[179] – nachdenkend; ein Wollüstling enthaltsam und strenge gegen seinen Leib; ein Wizling und Spötter ernsthaft und Gott und Menschen scheuend; ein brausender Gesellschafter, ein sanfter Eremit; ein rohes Weltkind, ein Jünger Christus; ein fantastischer Schwärmer ein redlicher Wahrheitsfreund: Strohfeuer – sollte ewiges Altarfeuer; Wankelmut und Flatterhaftigkeit, felsenfeste Standhaftigkeit; Unreinigkeit, Reinigkeit; chaotische Unordnung, lichte Ordnung; und Sturm, ein sanftes Säuseln werden. Ein Geschäft, das nur ein Gott beginnen und hinausführen kann. –

Cyprianus hat recht, wenn er in seiner Apologie den Grund, als einen der stärksten für das Christenthum anführt, daß es ihn als einen vierundvierzigiahrigen rohen Heiden, der alle heidnische Greuel mitmachte, von Grund aus heilen konnte .. Gott heilt meine Untugenden meist dadurch, daß er sie mir außerst beschwerlich, und ihr [180] Gegenbild täglich nothwendiger und zugleich angenehmer macht. Ich merke, daß die Bekehrung, nicht wie ich oft wähnte, eine plözliche Umschaffung unsers Wesens, sondern eine stuffenweise, durch wiederholte Reaktionen, unter Gottes Aufsicht und Beistand gewürkte Wiederherstellung und Verbesserung unsrer innern und äußern Kräfte sei. Es geht oft sehr langsam her, nachdem der Widerstand von Seiten des Menschen groß ist. Das vom Plazregen niedergestürmte Aehrenfeld richtet sich nach und nach von Halm zu Halm im Sonnenstral wieder empor: so die niedergeschmetterten sittlichen Kräfte im Lichte des belebenden Geistes. Ich bangte oft darüber, ob Gott den Menschen erst alsdann begnadige, wann seine Bekehrung vollendet sei; aber ich sah bald, daß völlige Heiligung erst dort zu erwarten stehe, und daß sich Gott die Freiheit vorbehalten habe, den Sünder anzunehmen, so bald er sich wendet und mit einem in Angst und Vertrauen zusamengedrängten [181] Schrei aufruft: »Vater, vergib! ich habe gesündigt!« – Die Himmelsleiter ist vielsprossig; wer auf ihrer ersten Sprosse stirbt, wird deswegen nicht heruntergestossen, sondern er steigt fort, – auch nach dem Tode noch fort. –

Uebrigens habe ich sehr deutlich folgende Stuffen bemerkt, die ich bei meiner Wiederkehr betreten mußte: Gott sandte mir eine schrekende Begebenheit, die alle meine Lebenshoffnungen zertrümmerte; ich erwachte und forschte nach der Ursache dieser Schikung. Die Angst trieb mich ins Wort Gottes hinein, und ich fand da wechselsweise meine Verdammung, und meinen Trost. Ich erschrak über meinen schreklichen Seelenzustand, erkannte mich für einen Sklaven der Sünde – wert der Verdammnis, und sah mich schon in der Welt als einen Menschen an, den Gott zum abschrekenden Beispiel für andre als ein Denkmal seines Zorns, im Lande wo ich mich am meisten vergangen [182] hatte, auf den Felsen stellte. Seine Hand ließ nicht ab von mir, bis ich es ihm gestand, daß ich bisher sein Feind gewesen. Die Sünde wurde mir täglich abscheulicher, und das einzige wahrhafte Uebel, um dessen Abwendung man bitten soll. Der heilige Geist machte mein Gewissen immer zarter, daß ich auch dissonirende Gedanken richtete, und dagegen kämpfte. Ich suchte so gut ich konnte, in der Erkenntnis der Religion zu wachsen, ihr Kreuz auf mich zu nehmen, und ihrem großen Stifter nachzufolgen. Heilige Dinge und Vorstellungen; der Gedanke an den Tod; an den Zustand der Seele im Todtenbehältnis; an die Auferstehung, an die Herrlichkeit jener Welt – rührten mich immer mächtiger, und verdrängten allmählig die irrdischen Gedanken und Bilder, die in tausendfachen Gestalten und Einkleidungen vor meiner Seele schwärmten. Nichts war mir mehr gleichgültig, ich fieng an, auf die geringsten, unscheinbarsten Handlungen acht zu haben. Ich war strenger gegen [183] mich, als es meine Feinde jemals waren. Ich kämpfte gegen die Sünde, daß es mich oft Schweis und Tränen kostete. Und unter tausend begangenen Fehlern, unter dem fühlbaren Wellenschlag meines Herzens, – noch unter vielen Unruhen und bangsamen Zweifeln niedergebükt, – nur ganz schwach noch überzeugt von meiner Begnadigung – bebte ich das erste Jahr meiner Gefangenschaft vorüber – ein Höllenzustand, wenn er von langer Dauer gewesen wäre.

(IV.)
IV.
Noch eine nöthige Abschweifung.

Man pflegt in unsern kalten Tagen, wo frostige Tugend und gefrornes Rasonnement dem warmen Religionsgefühle, der begeisterten Tugend, und jedem Merkmal des innern Lebens mit unbegreiflichen Eigensinn vorgezogen wird, alle Bekehrung für Schwärmerei, [184] oder für eine Folge abnehmender Verstandeskräfte, oder gar für Wirkung schwarzen Geblüts, oder verstopften Unterleibs zu halten. Daher schreibt man sie mehrenteils Greisen, Blödköpfen, alten Weibern, verzweifelten mannlosen Jungfern, eingekerkerten Elenden, armen Sündern, oder Siechen und Sterbenden zu. In dieses Gericht werde auch ich fallen, wenn dieser Lebenslauf zum Vorschein kommen sollte .. Aber ich gebe dem Leser, eh er in dieß Modeurteil ausbricht, folgendes zu bedenken:


1.) Bekehrung ist eine Verwandlung der alten Gesinnungen in neue; Uebergang aus der Finsterniß ins Licht; aus der Lüge zur Wahrheit: sie muß also mit völliger ruhiger Ueberlegung des Verstandes vor sich gehen. Paulus, Petrus, Cyprian, Augustin und in neuern Zeiten der Graf Rochester, Stru ensee, und unzähliche andre, die aus tiefen Irren wiederkehrten, waren gewiß weder Schwärmer[185] noch Dummköpfe, und wer wird ihre Bekehrung der Hypochondrie, oder Schwarzblütigkeit zuschreiben?

2.) Krankheit fördert oft die Bekehrung als ein Zuchtmittel, so wie Armut, Verfolgung, Gefangenschaft, und tausend andere Unglüksfälle, meist ernste Einladungen und Nöthigungen Gottes zum großen Abendmale sind. Wohl dem, bei dem noch das lezte Rettungsmittel anschlägt!

3.) Was Anfangs Nöthigung war, wird am Ende freies Belieben. Welcher Tugendhafte dankt seinen Eltern, oder Lehrern nicht für die strenge Zucht seiner Jugend, so unwillig er auch als Kind darüber seyn mochte!

4.) Es ist also nicht Hypochondrie oder Kerkerzwang die Ursache meiner Sinnesänderung; sondern freie, voreilende Gnade Gottes ists allein. Anfangs war es freilich bittere Nöthigung bei mir; nun aber dien' ich Gott mit der völligen Zustimmung meines Herzens, und danke ihm für seine Strenge.

[186] 5.) Durch den innern Menschen wird auch der äußere verbessert. Man hat mehrmalen gesehen, daß die Gesundheit der Seele, die Gesundheit des Leibes herstellte ... Die Furcht Gottes ist ein Baum des Lebens, eine Leuchte im Menschen, die auch in die Kammern seines Leibes eindringt. Die Bibel ist die beste Phisiologie, sagt Oetinger, der große, verkannte Theosoph.

(V.)

Ich habe eben meine Seele in ihrem Kampfe geschildert, – diese Schwalbe, die im Gewitter niedrig fliegt, und im Sonnenstral hoch: nun muß ich auch sagen, wie es meinem Naturmenschen zu Muthe war .. Meist erbärmlich! Ich betrachtete mich als einen Gestorbenen, dessen Schatten der Richter in dieß Geklüft verdammt hätte; und das Gemurmel um meinen Felsen schien mir das Gewimmer abgeschiedner Seelen zu seyn, [187] die zu gleichem Gericht vom Engel des Todes vor mir vorüber geführt würden. Oft fühlt' ich den Freiheitsdrang so ungestüm, daß ich mit den Fäusten an die Wand schlug, und mir Luft schaffen wollte. Der Dampf meines Gefängnisses, – denn keine Luft konnte durchstreichen, fraß meine Brust an, preßte mir den Odem, senkte tödende Müdigkeit in meine Glieder, und machte mir den Tod immer wünschenswürdiger. Viele Nächte hab' ich schlaflos durchgeweint. Wenn der Schlaf in goldnen Tropfen von den Flügeln unsers Schuzengels auf uns fällt, und uns unser Elend vergessen macht; so ists die gröste Wolthat für uns arme Müde; verläßt uns aber der Schlaf in den Stunden des ermüdenden Jammers, wie mich; o wie ächzt da die Seele gen Himmel: »Hüter, ist die Nacht schier hin?« – Ueberdieß verbreitete der Dämon Hypochondrie, seine schwarzen, zakichten Flügel immer schreklicher über mir. Ich sah mitten unterm Beten, oder Lesen, oder in schlaflosen Nächten, gähnende, [188] grinsende, blasse, schwindlichte, mit breiten Händen tappende Figuren vor mir, oder nächtliche Vögel mit langen aufgerißnen Schnäbeln und Fledermausflügeln. Oft war mirs, als müßt' ich plözlich auffahren und rasen. Meine Freunde, die mich am genausten kannten, befürchteten diesen Zufall, und im August dieses Jahres verbreitete sich weit herum das Gerücht, ich läge wirklich als ein Rasender an der Kette. Und gewiß! nur durch ein Wunder der väterlichen Güte Gottes bin ich davor bewahrt worden. Ich bat Gott mit tausend Tränen, die glühende Stirne aufs Pflaster meines Kerkers gelegt: er möchte mich nicht in einen Zustand versezen, der mich zur Wiederkehr unfähig machen würde. Und oft, wen ich dicht an der Gränze der Raserei starrte, empfand ich die rettende Hand Gottes, die meine Sinnen fühlbar wieder in Ordnung brachte. Aber Düsternheit blieb immer wie Wettergewölk auf meiner Seele liegen. Der heulende Sturm um meine Kerkergruft her, war mir [189] lieber als die Stille des Sonnenscheins, die an den eisernen Stäben meines Gitters hieng. Es waren gerade einige schrekliche Donnerwetter: Der Bliz fiel zusammengeballt auf das Dach des Blokhauses, das dicht neben meinem Thurme war; – ich aber betete, ohne sonderliche Herzensangst, und wünschte mir öfters, im Wetter zu sterben. Ich sang:


»Wenn ich im Scheine

Des Blizes bet' und weine;

Ist Gott mein Schuz!«


Eine schlaflose Nacht im Kerker, wenn Blize das Schauergewölbe erleuchten, und Donner es erschüttern, ist eine grauenvolle Situation, wenn man zumal kein gutes Gewissen hat. Ist aber das Gewissen beruhigt; so fürchtet man nichts, und kann im christlichen Sinne dem Horaz nachsprechen:


»Si fractus illabatur orbis,

Impavidum ferient ruinæ.«


Der Mangel an Umgang bei einem zur Geselligkeit so gestimmten Herzen, war für mich eine der grösten Qualen. Ich tödtete [190] nichts, was sich in meinem Kerker regte. Das Gewebe der Spinnen, ihre Triebe zum Fang und zur Nahrung – vertrieben mir ganze Stunden. Der leuchtende Wurm, der meine Wand bekroch, war mir nun ein lieber Gesellschafter bei Nacht. Als es Winter wurde, so heizte ich oft bei Nacht ein, daß die Fliegen nicht sterben möchten, deren Summen um mein Ohr mir nun Musik war .. Eine Welt ohne lebende Geschöpfe, wenn diese Welt auch noch so schön wäre, könnte nach meiner Vorstellung nichts anderes als eine Hölle seyn, für den, der sie allein bewohnte. –

Ich machte Anfangs Entwürfe zu Romanen, Gedichten, und andern Büchern, und versuchte es zuweilen, ob ich nicht, wie Moser, mit der Lichtpuze schreiben könnte. Es gelang mir, und ich verfertigte auf diese Art manches geistliche Lied, auch andre Gedichte, wovon einige wohl verdient hätten, gedrukt zu werden. Aber man merkte es [191] bald, und feilte die Spize an der Lichtscheere ab, wodurch ich auf einmal um meinen süßen Zeitvertreib kam. Die verfertigten Gedichte wurden mir abgenommen, und sind hernach verloren gegangen. Ich bedaure darunter: Die Freiheit; ein Gedicht an Klopstok; eins an Miller; und einen Entwurf: der verlohrne Sohn. 3 [192] Ich versucht' es aber mit dem Dorn meiner Knieschnalle, und machte wieder verschiedenes. Aber diese wurde mir entwendet. Endlich behielt ich eine Gabel: aber man entdekte auch dieß, und drohte mir mit der Kette. – Und nun ließ ich alles fahren, und warf mich ganz in geistliche Uebungen hinein. 4

[193] Die heilige Christzeit war gleichsam der Gipfel meiner Qualen. Traurigkeit über den Verlust der Meinigen, würgende Hofnungslosigkeit, Angst eines Missethäters ergrif mich. Ich stand um Mitternacht auf, warf mich auf die Steine, und bat Gott um meinen Tod. Meine Kräfte waren vertroknet, mein Fleisch weggewelkt, mein Auge von Tränen zerfressen – (ich betrachtete es in einer zerbrochenen Fensterscheibe, die ich auf einen schwarzen Grund legte.) Ich aß nicht, ich jammerte nur: – meine Nerven bebten, mein Kopf schwindelte, mein Herz zitterte, meine Knie brachen – – O Feind, der mich auch im Kerker verfolgen konnte, hast du nicht genug an dieser Jammergestalt, zu der mich die Thorheit meiner Jugend erniedrigte? – Ich habe gelernt, für dich zu beten, und that es oft mit solcher Herzlichkeit, daß ich schluchzte; wirst du mir auch wohl verzeihen? – Ja, ich hab' euch beleidigt, Brüder; aber ich wollt' es nicht, und dachte nie, daß Unvorsichtigkeit [194] und Leichtsinn so schrekliche Folgen haben! – Seid Gott ähnlich, und verzeiht mir! – Unter so vielen Qualen schloß ich mein erstes Kerkerjahr, – man kann aus nachstehenden, nur im Kopfe von mir verfertigten Strofen sehen, in welchem Zustande:


Halleluia! Amen, Amen! Preis dem Herrn, der ist und war! Ach, in Jesu Christi Namen Schließ ich nun das alte Jahr. Engel Gottes, leiht mir eure Harfen, daß ich dank' und feire; Denn mein Herz ist zu beklemmt Und von Tränen überschwemmt.

Welcher Berg ist überstiegen! Welche Last ist abgelegt! Gott der Starke, half mir siegen, Dessen Arm die Schwachen trägt. Wenn die Knie im Steigen brachen; Wenn die hohlen Augen sprachen: »Hilf mir, Gott!« – so half er mir. Helfer, Preis und Dank sei dir!

Aus der Welt herausgezogen Hast du mich, wie aus dem Meer. Mich umbraußten Todeswogen, Stürme heulten um mich her. [195] Schwindelnd hieng ich an dem Maste. Als dein Vaterarm mich faßte Und in dieses Felsen Schoos Wie in Flügel mich verschloß.

Nun erwacht' ich aus dem Schlafe, Mit dem Richter in der Brust: »Zittre,« donnert' er, »du Sklave Niedrer Sklave kleiner Lust!« Um und um war kein Erretter, Ueber'm Scheitel hieng ein Wetter! Unter mir Gericht und Tod; Und ich fühlte Höllennoth.

O, ein Leben voller Schande Stellte sich vor mein Gesicht. Gott, dem Freund, dem Vaterlande, Und mir selber nüzt' ich nicht! In gedankenlosem Spiele, Unter weibischem Gefühle, Mir verwirrtem, trunknem Sinn Taumelt' ich durchs Leben hin.

Schöpfer, meines Geistes Gaben, Die Geschenke deiner Hand, O, wie hab' ich sie vergraben! O wie schändlich angewandt! Den Verstand hab' ich verblendet, Meinen Wiz im Rausch verschwendet, Und die Funken von Genie, Schöpfer, wie versprizt' ich sie!

[196] Freche Lüste, wilde Triebe Haben ganz mein Herz entweiht, Meine Liebe war nicht Liebe, War nur Nervenreizbarkeit Wenn ich auch was Gutes dachte, Menschen um mich fröhlich machte, War's nicht Tugend, es war nur Gute Laune der Natur.

Swar hat oft von dir ein Schimmee Meiner Seele Nacht erhellt, So wie oft auf Babels Trümmer Bliz vom Himmel niederfällt. Aber so wie Blize schwinden, Die nur leuchten, nicht entzünden; So verschwanden auch in mir, Rührungen, o Gott, von dir!

Deinen Sohn, den Spötter schmähen, Hab' ich oft, wie sie, geschmäht; Nie zum Kreuz hinauf gesehen, D'ran er auch für mich gefleht: »Vater, schone des Verirrten! Den des Fleisches Lüste wirrten! Schone sein, sieh an mein Blut! Ach, er weiß nicht, was er thut.«

Gott, dein Wort, das Felsen spalket, Diese Leuchte in der Nacht, Die das Herz, wenn es erkaltet, Wieder heiß und brünstig macht, [197] Lobt' ich zwar, wie Menschenwerke, Zeugend von des Geistes Stärke: Aber seine Kraft, sein Licht, Fühlt' ich nie, und sah es nicht.

Deines Sabbaths stille Feier, Wie entweiht' ich sie vor dir! O Allmächtiger, Getreuer, O vergib, vergib es mir! Wenn ich deine Bothen schmähte; Unempfindlich bei'm Gebete, Ungerührt bei'm Tempellied, Nie vor dir! vor dir gekniet!

Ach, nun denk' ich an die Meinen, Die mein Herz so innig liebt! Blut und Tränen möcht' ich weinen, Denn – wie hab' ich sie betrübt! Ausgepreßte Zahren zeugen Wider mich! – O Gott, sie steigen Auf zu dir, wie Tropfen Blut, Reizen deines Zornes Glut!

Meinen Vater, der mich zeugte, Der mir soviel Gutes that, Wie betrübt' ich ihn! wie beugte Ihn so manche Frevelthat! Ach, er starb im Herbst der Jahre, Und ich hab' zu seiner Bahre Auch ein Brett gelegt – am Thron Zeugt er wider seinen Sohn.

[198] Mutter, deine Lokke graute Früher, denn du härmtest dich; Jede Trän', die dir entthaute, Floß aus Kummer über mich, Brüder, Schwestern – welche Schmerzen Schuf mein Unsinn eurem Herzen! Manche Post von mir war euch Schreklich, wie ein Donnerstreich.

Gattin, die mir Gott gegeben, Um ein Engel mir zu seyn, O wie macht' ich dir dein Leben So zur Qual und Höllenpein! Nicht dein Herz, das Liebe klopfte, Nicht dein Aug, das Wehmut tropfte, Nicht dein Arm, der mich umschloß, Riß mich aus der Lüste Schoos.

Sey zufrieden, Gott der Rächer Nahm sich endlich deiner an; Ferne hat er mich Verbrecher, Dulderin, von dir gethan. Ohne Abschied, ohn' Erbarmen, Riß er mich aus deinen Armen, Gab dir Ruh – und schloß mich ein, Unter diesen Felsenstein.

Und nun martert mich die Liebe, Einsam, ohne Trost von dir! Wilde, ungestillte Triebe Brausen schäumend auf in mir. [199] Ach mit ausgestrekten Händen Greif' ich nach den schwarzen Wänden, Glaube, Weib, es sei dein Bild! Und mein Blik ist starr und wild.

Reiß mein Bild aus deinem Herzen, Sei bei meinem Jammer kalt; Denke nicht an meine Schmerzen, Nicht an meine Geistgestalt! Ja vergiß mich ewig, – weihe Einem andern deine Treue, Dieß dein Herz voll Zärtlichkeit, Der es nicht wie ich entweiht.

Jüngling, sieh durchs Eisengitter Mir ins bleiche Angesicht, Höre, wie im Ungewitter Meine Stimme mit dir spricht: »Wollust hat mich so zerschlagen, Mir bereitet diese Plagen; Ist dir deine Seele theu'r, O so flieh dieß Ungeheu'r!«

Aber du, Weltrichter, Gnade! – Nicht um Freiheit bitt' ich dich, Meines Erdenlebens Pfade Seyen noch so fürchterlich; – Laß mein Fleisch, mein Fleisch verderben, Aber ewig, ewig sterben Laß mich nicht, ich bitte dich! Jesu, rede du für mich!

[200]
(VI.)

Solche stürmende Gefühle hatt' ich noch, da ich schon ein Jahrlang im Kerker schmachtete. Man kann sich daher leicht ein Bild von meinem Zustand machen. Er war dem Zustande eines Verdammten sehr ähnlich. Eine der schreklichste Empfindungen in langwierigen Gefangenschaften ist das Gefühl – der langsamen Verwesung. Die Juden haben abscheulich gefabelt: der Gottlose fühle seine Verwesung im Grabe; hätten sie es von einem Gefangenen gesagt, so hätten sie nicht gefabelt. Ich sah und fühlte meine Verwesung; jeden welkenden Zug, jede alternde Linie um die Augen, jede wachsende Ermüdung, jeden dumpfer werdenden Ton, jede zunehmende Schlaffheit, jedes graue Haar im Richtkamme; fühlt' es tief in mir, wie sich die Seelenkrafte, gleich der Wose im sengenden Strahle, neigten, krümmten, [201] einschrümpften. – Mein Wiz, ein Schmetterling mit versengtem Flügel, traurig im Staube zukend; meine Fantasie eine Gruft voller Todtengebeine; mein Verstand, müde vom Forschen; meine Einbildungskraft gelahmt, und beinah' jede Nerve der Seele abgespannt. –


»Aber ach, mein Herbst ist gekommen,

So früh ist schon mein Herbst gekommen!

Das Schiksal blies mit kaltem stürmendem Odem:

Und meine Blätter fielen.«


»Heisser ist mein Gesang;

Die geflügelte Hand erlahmt

Auf den braunen Tasten

Des goldnen Saitenspiels.«


»Fern ist meine Liebe,

Meine Kinder sind ferne.

Der schwarze, starre, enthaarte Ast

Vermag nicht mehr zu schatten den Lieben.«


s. Gedichte 2. B. S. 108.

Denn so wie auf einem Thurm oder Gebirge die Seele weit und groß wird; so wird sie hingegen in einem dumpfen Kerker eng und klein. Ich sah es ganz deutlich, und [202] empfand es mit Wehmut, wie alle Kreise der Wesen in meiner Vorstellung von Tag zu Tage enger wurden, beinahe so eng, daß ich Gott und seine ganze Schöpfung in meinem Felsengewölbe zu umschreiben wähnte. Wände, Riegel und Ketten sind des Geistes Tod.

Hätte dieser Zustand lange gedaurt, so wär' ich jezt begraben, und schon halb vermodert. Aber Gott wollte mir noch immer mehr Gelegenheit zu seiner Erkenntnis, zum Glauben, zur Geduld verschaffen; daher befreite er mich aus meinem Loche, eh' ich es dachte. Ich konnte schon nicht mehr gehen, an allen Wänden mußt' ich mich halten, um nicht plözlich umzusinken und hülflos zu verschmachten. Aber den dritten Februar 1778 kam der Kommandant, und führte mich auf Befehl des Herzogs aus meinem Thurme, in ein luftiges, troknes, heiteres Zimmer, wo ich wieder aufathmete, wie ein Auferstandner, als ich den weiten [203] schönen Himmel und – ach! meine lieben Menschen wieder sah. Der blose Anblik meiner Brüder, das frohe Gewimmel der spielenden Jugend auf dem Festungsplaz; ein mitleidiges Auge, das zuweilen zu meinem Eisengitter emporsah, stärkte mich mehr, als es alle Arzneien der Welt vermocht hätten. Nie hab' ich die Liebe zu den Menschen und ihren unaussprechlichen Wert tiefer empfunden, als in diesen seligen Augenbliken. Und wie durchstach es mein Herz, wenn so mancher mit mir reden wollte, wenn ich kommenden Trost auf seinen Lippen schweben sah, und er – eingedenk des fürstlichen Verbots, wieder verstummte .. O ihr Brüder, dort wollen wir genug miteinander reden, wo kein Machtwort uns mehr die Lippen verschließt! Gott lohn's einem jeden, der mich getröstet hat, und der mich trösten wollte!

Je mehr Liebe Gottes durch seinen Geist in unser Herz ausgegossen wird, desto [204] größer und fühlbarer werden in uns die Empfindungen des Wohlwollens, des Mitleids, der Barmherzigkeit gegen unsre Brüder. O wie marterte mich nun der Drang der Mittheilung; ich wünschte allen Gutes zu thun, und war doch so dürftig, daß ich iedermanns Hülfe bedurfte. Ich wollte mich ergießen, und die Felder meiner Brüder befruchten; aber ich war ein verschlossner Quell, aus dem niemand schöpfen durfte, »Aus der Ordnung gerissen seyn, und zum Wohl des Ganzen nichts beitragen können, ist der Verdammten gröste Qual,« sagt Origenes, – und ich unterschreibe diese Wahrheit mit meinem Blute. Aber – du sollst zuvor selbst mehr Licht und Leben in dich trinken, eh' du es einem andern mittheilst – das dacht' ich, und denk' es noch jezt, wenn mich der Drang der Mittheilung foltert. –

Eine der bittersten Empfindungen war für mich der Anblik so vieler Elenden, die [205] ich nun täglich vor meinen Augen sah. Ich hörte vorher die Ketten nur rasseln; nun sah ich auch die Unglüklichen, die sie trugen. Leute, die bei Wasser und Brod Ketten tragen, und hinter dem Karren ächzen müssen, wie durchschneidend ist dieser Anblik? – Ich sah einmal das Weib eines Gallioten (welche ihn besucht hatte,) neben ihm sizen, und mit dem vollen Blike des Mitleids auf sein Fußeisen niederschauen. Sie schob es ihm weg, rieb die Stelle, und beträufelte sie mit dem Balsam ihrer Tränen. Der Mann rauchte Tabak, und dampfte so sehr er konnte, um seine Tränen zu bergen, »O Judith, betrüb dich nicht so sehr, es wird schon anders kommen!« Das war alles was er stammeln konnte ... So oft ein solcher Unglüklicher befreit wurde; fiel ich auf meine Knie, und dankte Gott mit freudigem Gefühl. Nie sah ich einen ehmaligen Beamten, oder sonst einen Bürger des Landes, der sich etwa aus Uebereilung, aus Mangel ökonomische [206] Einsichten, von einer starken Familie gedrükt; oder aus der thörichten Begierde, sein Glük in Lotterien zu suchen, an der Kasse des Fürsten vergrif, (immer mit dem Vorsaz, es wieder zu ersezen;) ohne mir die Züchtlinge jener Welt vorzustellen, die entweder in Feuer-oder Eiszonen die Last ihrer Verbrechen tragen, und dem Tage der Erbarmung entgegen ächzen. – O wie sehr, wie am meisten sind die Menschen zu bedauren, die sich ihr Elend selbst zugezogen haben! denn dieß sind eben die Allerunglüklichsten unter der Sonne, weil ihnen der Trost des guten Gewissens fehlt. Ich konnte mir den Trost der Schrift Jahrelang nicht zueignen, weil ich dachte: das geht nur die Leidenden um der Wahrheit willen an. Die Stellen Petri II. 20. v. und IV. 15 und 16. v. brannten oft wie griechisches Feuer in meinen Gebeinen, bis ich im Lichte Gottes erkannte, daß die ganze Versöhnungsanstalt ganz eigen auf die Errettung derjenigen abzweke, so sich selbst elend gemacht haben. [207] Niemand hat jemals unschuldig gelitten; Jesus litt für alle; und die heiligsten Märtirer trugen die Last ihrer eignen Schuld. – Man ist so grausam, die Buße der Gezüchtigten eine Henkersbuße zu nennen, und zu glauben, daß wenn sie wieder aus der Klemme kämen, sie ärger würden, als zuvor .. Es kann seyn, dacht' ich, – und mir schauerte die Haut, daß du in der Welt wieder umschlügest; aber sind deswegen deine jezige Empfindungen nicht wahr? – »O Gott, umzäune mich, bewahre mich, erhalte mich zum ewigen Leben! Willst du mir Freiheit geben; so gib sie mir erst alsdann, wann ich sie nicht mehr misbrauche!!« – Wenn man sich doch hütete, ein rasches Verdammungsurteil über seine Brüder zu sprechen! Kein Mensch ist so verdorben, der nicht noch einen troknen Flek hätte, bei dem ihn Gott greifen und aus dem Schlamme heben kann. –

Das einfältig erhabne Tempellied, das [208] ich nun wieder aus der nahen Kirche tönen hörte, erquikte mein Herz: ich sang mit, feierte den Sonntag mit entzükter Andacht, und empfand die Segnungen Gottes nie mehr, als an diesem Tage. Die Vorsehung Gottes verherrlichte sich so augenscheinlich an mir, daß ich in der kleinsten Begebenheit meines so engen Lebenskreises ihren lenkenden Finger bemerkte. Ich stellte häufige Prüfungen über mich selber an – das allerwirksamste Geschäft eines Christen – und fühlte gleichsam mit ängstlichem Schmerz jeden finstern Flek in mir. Aber jedes Gefühl dieser Art ist eine Wehe, die eine neue Frucht des Lichts ausgebiert. Der neue Mensch, dieser wahre Sohn Gottes, wird, wie der alte, unter Geburtsschmerzen geboren. Ich fieng nun an, mit Erstaunen und tiefer Anbetung, die Möglichkeit meiner Herstellung oder vielmehr Umschaffung nach Gottes Bild einzusehen. Je mehr ich's einsah, desto mehr wuchs die Liebe Gottes in mir; und jemehr diese wuchs, je sichtbarer [209] waren die Spuren seiner Gnade um mich her gestreut. Wenn mich Krankheit und Unmut so niederdrükte, daß ich kaum noch seufzen konnte; so entstand plözlich ein schnelles, unaussprechliches Gefühl in mir, daß ich schreien, und flehen mußte: »O laß nach, ewige Liebe laß nach! ich bin noch zu schwach, deine Umarmungen zu tragen.« –

Was suchst du Gott außer dir, so flisterte oft mein Geist, Er ist in dir! In dir hat er sein Allerheiligstes, wie in der Stiftshütte, aus dem er sich deiner betenden Seele offenbart. Christus ist im Viehstalle gebohren, vielleicht, – damit wirs glauben können, daß Gott seinen Tempel in der zerrütteten Menschheit habe – ein Tempel, der in seiner ganzen namenlosen Herrlichkeit erscheinen wird, wenn alles Unsichtbare ins Sichtbare tritt ... So viele Beweise, daß ich unter der Aufsicht eines erbarmenden Gottes stehe, und das Gefühl, [210] wie nothwendig mir Ohnmächtigen jede Glaubensstärkung sei, entzündeten bald einen heißen Hunger und Durst nach dem heiligen Abendmal in mir.

Ich war schon acht Jahre, seitdem ich exkommunizirt worden war, davon geblieben, und in meinen Um ständen mit Recht. Es hielt schwer, die Erlaubnis zu erhalten; endlich erhielt' ich sie vom Konsistorium zu Stuttgart: und obgleich ein strenger Verweis damit verknüpft war; so küßte ich doch den Brief des Special Zillings von Ludwigsburg, eines mir sonst so verhaßten Mannes, der diese Erlaubnis enthielt ... O Gnade, wie zahm kannst du die trozigsten Seelen machen! – Ich empfieng das heilige Abendmal den 13ten Merz dieses Jahres aus den Händen des damaligen Pfarrers Payer, eines herzguten Mannes – mit der süßesten Empfindung der Liebe Christus, ob ich schon noch tausend Zweifel gegen ihn in meiner Seele hegte .. O wie wahr ists, [211] daß Gott nicht sowohl auf große Einsichten des Verstandes (denn was ist vor ihm groß?) sondern vielmehr auf gerade, einfältige, kindliche Herzensstellung sehe! Daher übersieht er auch tausend Fehler des Verstandes, bis er einen einzigen Fehler des Herzens ungeahndet hingehen läßt.

Der Genuß des heiligen Abendmals, wodurch ich mich mit der Kirche gleichsam wieder aussöhnte, nachdem ich alle Stuffen des büßenden Sünders nach der Vorschrift der ältesten Kirchenzucht 5 durchgemacht hatte, gab mir gleichsam ein neues Leben. Die Natur verschönte sich mir, ob sie mich gleich in meinem Kerker nur von der Seite [212] ansah. Ich hieng am Mond, meinem alten Vertrauten, mit Begeisterung, wenn er über dem Festungsplaz stand, und fühlte das Wehen des kommenden Frühlings durch meine ganze Seele, obgleich mein Körper um diese Zeit am meisten leiden mußte. Mein Herz entfaltete sich, meine Fantasie regte die Flügel, und ich empfand wieder Trieb und Reiz zur Dichtkunst .. So liegt in Kanarienvogel, wie todt im Staube seines Kefichts; man besprizt ihn mit lebendem Wasser; und er regt wieder die Flügel, öffnet die Augen, wagt's auf die Beine zu treten, pikt am Zuker, schlürft mit gehobnem Halse Wasser, hüpft auf die Stange, und versucht einige zitternde Noten, bis nach wenigen Tagen der volle Gesang wieder aus seiner Kehle schmettert. –

Da ich alle meine Verse ohne Feder, Dinte, Bleistift, oder irgend ein Werkzeug zum Schreiben, bloß im Gedächtnis verfertigte; so konnten sie niemals so ausfallen, [213] wie sie nach meinem Ideale von der Dichtkunst hatten seyn sollen. Man kann im Kerker wenigneues schaffen; man kann nur klagen. Jeremias Klaglied, der achtundachtzigste und hundert sieben und dreisigste Psalm, das Gebet Manasse, waren lange die Flöten, nach denen ich meine Töne stimmte, bis mir Gott zeigte, daß man auch im Kerker jauchzen könne. Die Psalmen, worunter so manche auf meinen Zustand paßten, wie der hundert und siebente, hundert und sechsundvierzigste, und viele andere, haben mich den Unterschied eines geistlosen und geistvollen Gebets, eines waßrigen, ungereimt in Reimen tanzenden Liedes, und eines wahren, himmelandringenden Herzensgesangs empfinden gelehrt, und mir Schamröthe ausgeiagt, wenn ich meine kalten, wie zerschmolzenes Eis niedertropfenden Strofen damit verglich .. Wie wenig geistliche Lieder besizen wir noch, die sich durch Kürze, Reinigkeit der Lehre, Geisteskraft und Einsalt empfehlen! Und [214] wie wenig scheint unsre nordische, abgezogene, in Exklamationen, oder kalten Sentenzen, in den Schellen des Reims daher faselnde, jedes kühne orientalische Bild mordende Denkart, sich mit dem Palmen- und Hymnenflug Davids und Assaphs zu vertragen!! Auch hier möchte man sagen: »Die Herrlichkeit Gottes kommt von Paran!« – Kein Wunder, daß die orientalischen Völker die Europäischen mit dem Unnahmen der Schneemänner belegen, die entweder gefroren bleiben, oder, wenn sie aufthauen, in schäumendem trübem Schneewasser zerfließen. Daher prallen die Töne unsrer meisten geistlichen Dichter so schlaff am Herzen ab, weil sie nicht, wie die göttlichen Profeten, unsre inwendige Stimmung und Verhältnisse zu treffen wissen. »Man stimmt sich selbst, (sagt ein herrlicher Mann, –) aus der heiligen Schrift, und aus der Welt, nach gewissen angenommenen Akkorden und Verhältnissen, ein Klavizembel von Aumutigkeiten zusammen, die [215] aber gar seichte Eindrüke machen, weil die Ewigkeit, die Gott in der Menschen Herz gelegt, nicht, wie in Davids Psalmen, Grundtext dabei ist, sondern meist als Nebensache kalt und todt behandelt wird!« Welche strenge, anhaltende Diät gehört dazu, wenn ein so ganz verdorbner Geschwak gebessert werden soll! –

Ich kann sagen, daß ich die mit jedem Tage zunehmende Liebe zu seinem Worte für eine der allergrösten Gnaden Gottes, und zugleich für ein Merkmal halte, daß ich unter den Geretteten bin. Ein Christ, zumal unter der Presse eines solchen daurenden Leidens, wie das meinige ist, findet in der Bibel weit mehr Schönheit, Hoheit, Kraft, Geist und Leben, als ihm Glassius, Lowth, Michaelis, Mendelsohn, Tobler, Oetinger, Lavater, Schulz, und andere Schriftforscher und Schriftführer er anpreisen konnten. Sobald ich einmal den Blik hatte, mit dem man die [216] ganze Schrift fassen soll; so fand ich unzähliche Schönheiten, Wahrheiten, Höhen und Tiefen, selbst an solchen Stellen, die ich ehmals für jüdischen Galimathias hielt .. Mir war es z.B. sonst sehr anstößig, daß Männer, vom Geist Gottes getrieben, die Verfasser des Neuen Testaments, schlechter schreiben sollten, als unerleuchtete Heiden. Aber ich sah bald tiefe Weisheit in diesem Wege Gottes. Wenn Homer, Ossian, Xenophon, Plato, Tacitus, Shakespear, Milton, Klopstok, Baco, Neuton, Leibniz, Herder, die zwölf Apostel gewesen wären, und die Thaten des Erlösers und seine Lehrsäze in Poesie und Prose verbreitet hätten; würde man nicht die Ausbreitung dieser Lehre mehr der Gewalt des Genies, als ihrer innern Kraft zugeschrieben haben? Paulus hat dieß in seinem ersten Brief an die Korinther so stattlich dargethan, als hätt' er im Geiste blos auf unsre Zeiten gesehen .. Doch in der Schrift ist für die Bedürfnisse [217] aller Zeiten gesorgt. Unzähliche Wahrheiten liegen darinn eingewikelt, die erst ἐν ἰδιοις καιροις (zu ihren eig'nen Zeiten) aufgerollt werden sollen. –

Und hat nicht Gott im alten Testament durch die grösten Genies mit den Menschen gesprochen? – Wer kömmt einem Moses, David, Salomo, Jesaias, Daniel bei? Aber eben weil dieß unter den Juden so wenig Früchte brachte; und eben weil die Heiden bei all ihren Meisterstüken des Genies immer ruchloser wurden; so gefiel es Gott, durch einfältige Predigt die Menschen selig zu machen. Zu dieser Absicht wählte er unstudierte, meist genielose, unansehnliche Leute, oft aus dem untersten Pöbel gegriffen; ließ sie die einfältigste, nach menschlicher Grammatik und Rhetorik fehlerhafteste Sprache reden, drängte aber seine eigene Gottesideen in diese Sprache, und wirkte aus ihr bis auf unsre Zeiten mit unwiderstehlicher, allmächtig durchschneidender[218] Kraft fort .. So, aber im weit kleinern Verhältniß, ist noch jezt der Christ im schlechten Gewande, das seine Herrlichkeit verhüllt, die Bewunderung des Himmels. Eben diesen Weg scheint Gott durch den ganzen neutestamentlichen Zeitpunkt gewählt zu haben. Kempis, Arnd, Tauler, Spener, Frank, Steinhofer, Statius. Lichtscheid, wovon kein einziger auf Genie 6 Anspruch machen kann, haben doch größere Thaten gethan, das heißt, mehr Untertanen für das Reich Christus geworben, als Manner vom weitgreifendsten Genie. – Diese Betrachtungen, deren Wahrheit mein Herz fühlte, machten mir das neue Testament so angenehm, so heilig, so unaussprechlich theuer, daß ich oft auf den Knien darin las, über die gelesnen Stellen betete, und nicht selten unter'm Gebet Aufschlüsse bekam, die nur Wirkungen des Geistes Gottes seyn konnten.

[219] Wie unverantwortlich ist es, daß man nicht größern Fleis anwendet, dem Volke die Bibel – ließ Lagerbuch der Welt, verständlich zu machen? Aus einem kindischen Aberglauben läßt man in Luthers, sonst so einziger Uebersezung, die unverzeihlichsten, allen Schriftsinn entstellenden Fehler stehen, die doch dieser große Mann, wenn er noch lebte, schon lange weggestrichen haben würde. Michaelis dreht und modelt das alte Testament nach seinem Kopf, um das Wunderbare natürlicher zu machen; Grynäus giest unaufhörlich Wasser ins heilige Feuer, damit es die blinzenden Augen der heutigen gebrechlichen Lesewelt nicht zu sehr angreifen möge; – ein anderer lähmt die Nerven der Geistessprache, um, wie er glaubt, so gewissenhaft als möglich, das Urbild mit allen Artikeln, Präfixen, Konjunktionen, Beugungen und Zeitbestimmungen herüberzutragen; ohne zu bedenken, wie viel Geist unter solchen bedächtlichen, ängstlichen, mit wankendem Stabe abgemessenen[220] Schritten verfliege. Man hat den Hartnak ausgelacht, der auf diese Art einige klassische Schriftsteller übersezte; ein biblischer Uebersezer von dieser knechtischen Art verdient zwar mehr Ehrerbietung, aber doch auch zugleich eine Verweis, daß er aus Ekel gegen die Schöngeisterei seine Muttersprache so sehr verwahrlost, und sich dadurch untüchtig macht, die starken orientalischen Bilder in deutscher Tracht darzustellen. – Wann wird der große deutsche Bibelübersezer erscheinen, dessen Geist, wie im Orient ausgereift, und von Gott gesalbt, mächtig in deutscher Zunge, so mit uns spricht, wie Jehova aus dem heiligen Dunkel des Sinai, und aus dem Urim und Thumim, und aus stillem Säuseln mit den Schauern seiner Geheimnisse geredet haben würde, wenn er unsre Sprache gesprochen hätte!! –

Aber, was nüzt dich das Studium deines Gesezbuches, dacht' ich, wenn du nicht darnach lebst? Daher sucht' ich mir den Geist [221] der heiligen Schrift durch Ausübung ihrer Gebote immer tiefer einzuprägen und die schreklichen Versäumnisse meiner Jugend soviel möglich einzubringen. Die Strenge der christlichen Moral machte mir viel zu schaffen, sonderlich hielt ich die Lehre von der Verleugnung, NachfolgeJesu, Aufopferung unsers ganzen Selbsts, täglichen Ertödtung des Fleisches, mit einem Wort den ganzen Kreuzesweg für übertrieben und der Natur des Menschen, so wie sie jezt ist, ganz und gar nicht angemessen. 7 Aber Vergleichungen, Nachdenken und Gebet nahmen mir nach und nach alle Bedenklichkeiten. Was, sagt' ich oft im einsamen Monolog zu mir selber, was legten nicht die heidnischen Weltweisen, einPythagoras, [222] Zeno, Plato, selbst Epikur, Ammonius, Saccas, und die heutigenBraminen und Bonzen in Asien ihren Schülern für Verpflichtungen auf! – Wie strenge sind nicht unsre heutigen philosophischen Moralisten, die meistens mehr fordern, als Christus! Und was heischt die Welt selbst von uns, oft für einen karglichen Unterhalt! – Der Soldat schwimmt nach Amerika, läßt Braut, Weib, Kinder, Vaterland zurük, und beut um wenige Kreuzer Taggehalt der Axt des Wilden seinen Schädel hin. Niemand erwirbt etwas ohne Verleugnung; und Christus sollte nicht fordern dürfen, für die unvergängliche Herrlichkeit seines Reichs den vergänglichen Gütern des Lebens zu entsagen? – Du sollst Weib und Kinder verlassen um deines Erlösers willen; mußt du sie denn nicht auch im Tode verlassen? – Du sollst dein Fleisch tödten; aber damit der Geist lebe, und dem Fleische Unverweslichkeit und Verklarung mittheile. Du sollst Christo nachfolgen –[223] durch manchen sauren Gang, mit manchem bittern Schmerzgefühl; aber nicht nur bis auf den blutbeträuften Todeshügel, – auch sein Weg in Himmel, ins ewige, unaussprechliche Gottesleben ist dein Weg. Christus Kuren sind kein Flikwerk, nicht palliativ; sie rotten das Uebel sammt der Wurzel aus. Daher ist nicht nur der Mord, sondern schon der erste Funken des Mordsinnes; nicht nur der Ehebruch, sondern schon jeder wollüstige Blik; nicht nur der falsche Eid, sondern jede falsche Betheurung; nicht nur die grobe Lüge, sondern schon die Schminke der Wahrheit; nicht nur die Zote sondern selbst der feinere Schwank – in Gottes Gericht verdammlich. Jeder Gesezgeber muß die Natur und die Bestimmung seines Volks kennen, wenn er wahre, wohlthatige Geseze geben will. Da nun Christus mich tausendmal besser kennt, als ich mich selbst; da er den Kreis meiner Bestimmung bereits aufs genaueste ausgemessen hat; so muß er auch am besten wissen, durch welche [224] Geseze er mich darauf vorbereiten soll. Wer die künftige Welt nicht zu dieser nimmt, wer die ganze Schriftmoral blos auf dieses Leben einschränken will: dem ist die Bibel Unsinn; er lasse sie liegen um Gottes willen, und gebe dem Volk Basedows Sittenlehre für alle Stände in die Hand! –

Gott könnte blindlings Gehorsam von uns fodern; aber er will seine vernünftigen Geschöpfe nicht als Sklaven behandeln; deswegen entdekt er ihnen den Grund seines Verfahrens, so bald sie nur nachdenken wollen. »Du sollst dich reinigen damit du zum Umgang Gottes, wozu ein tiefes Verlangen in unsrer Seele liegt, geschikt werdest – oder du sollst dich ausleeren, damit Gott in dich eindringen könne« – ist die Spindel, um die sich die ganze christliche Sittenlehre dreht. Wer alles entbehren gelernt hat, verdient alle zu besizen. O wie [225] wohl wird die abgeschiedne Seele ruhen, die allen Erdstaub von sich geschüttelt hat! und wie rastlos hingegen wird diejenige Seele in den öden lichtlosen Haiden des Todes herumirren, die mit jeder Begierde an Dingen hängt, so sie auf ewig verloren hat. – Ha, sei mir willkommen, Gedanke, vom Absterben der Welt, und aller irdischen Dinge! In dir find' ich nun wahre, volle, erquikende Ruhe! Alles was gut, edel, schön, Gott ähnlich ist, werd' ich doch wieder finden; das Uebrige verdient die Zähre des Christen nicht!

Wenn ich so in den einsamen Stunden meiner Gefangenschaft der heutigen Jüdischheidnischen Christenheit nachdachte; so entstürzte mir manche glühende Träne. Man rühmt die Tugend und scheint sie wohl leiden zu können, nur an Christus und seinen Gliedern nicht. Man preist die Enthaltsamkeit und Mäsigung des Demokritus, Aristides, Cimon, Curius, und nennt [226] eben diese Tugenden Uebertreibung – so bald sie ein Christ besizt. Man rühmt den Tod für's Vaterland an den Beispielen, eines Kodrus, Curtius, Leonidas, Epaminondas, die heroische Tugend eines Regulus, Virginius, einer Lukretie, Arria, und andrer Heiden und Heidinnen; aber mit den Märtirern für das Reich Jesu sterben, heißt fanatischer Unsinn ... Welcher Geist der Parteilichkeit! der laut von innerer Feindschaft gegen Gott und seinen Sohn aufzuzeugen, und zugleich ein dunkles Vorgefühl zu seyn scheint, daß eben dieser verachteteJesus einst unser Richter seyn werde; denn der Lasterhafte haßt den, der seine Laster zu bestrafen Gewalt hat. Je mehr ich die Sittenlehre Christus studierte, desto treflicher, und selbst desto billiger fand ich sie. Christus verbot die ehlichen Freuden nicht, aber Hurerei und Ehebruch verbot er. Er verbot das freundschaftliche Mahl, und den herzerfreuende Wein nicht, denn er bediente sich hierinn [227] selbst aller anständigen Freiheit; aber Schwelgerei und Besoffenheit verbot er. Jede Freude der Natur, jedes Wonnegefühl der Freundschaft und Bruderliebe, jeder süße Anblik der knospenden Menschheit im Antliz der rosichten Jugend, jedes Vergnügen des Verstandes und der schaffenden Einbildungskraft, jede heitere Erfindung oder Ausbildung des Wizes, jede Ruhe nach den Geschaften des Lebens – wird durch sein Beispiel gebilligt und empfohlen; nur Ausschweifungen, die selbst nach den Zeugnissen der Aerzte und Weltweisen, Leib und Seele zerstören, misbilligt er, verbietet er, verdammt er. War' er vom Himmel gesandt, wenn er dieß nicht thäte? Liebe deine Feinde! Auch die dich einkerkern! die dich morden! Ein fürchterlich hartes Gebot! Aber verlangst du dieß nicht auch von Gott, dessen Feind du warst? Und ist es dir nicht genug, daß dieser Gott dich rachen will? Sollt' ichs meinem Feinde misgonnen, wenn er sich bekehrt? Sollt' ich nicht den bildenden [228] Finger Gottes an ihm verehren? So dacht' ich, wenn heimlicher Groll gegen meine Verfolger in mir aufloderte, und fand, wenn sich diese Nachtwolke wieder zertheilte, daß mir Gott durch meine Feinde größre Wohlthaten zufliessen ließ, als durch meine Freunde. Ich kann nun herzlich für jene beten, weil ich überzeugt bin, daß sie noch meine besten Freunde werden. –

Nichts fiel mir schwerer zu bekämpfen, als die Liebe zum weiblichen Geschlecht. Da ich von Jugend auf dieser Neigung, die man ohnehin nur für eine süße Schwachheit hält, nicht widerstand, so wurde sie mir bald zur zweiten Natur, so daß ich glaubte, ohne Zerstörung meines Wesens würd' ich diesen Hang nicht ausrotten können. Ich sah nun zuweilen wieder Weibergesichter, und empfand es, wie die Lust aufwallte und mein Herz preßte. Aber durch lange Entsagung ist auch diese starke, unüberwindlich scheinende Neigung zu bekämpfen, in ihre [229] Schranken zurükzuweisen, – nur nicht ganz auszurotten. – Wälz dich, wie der heilige Benedikt, auf Nesseln und Dornen; iß Wurzeln, und trink Pfüzenwasser; es kommen doch Stunden, wo sich Mädchengestalten in deine Fantasie stehlen, und es dich fühlen lehren, daß Naturtriebe unmöglich auszuwurzeln sind. Das Gebet, oder ein ernstes anhaltendes Geschäft ist noch das einzige Mittel dagegen, und ich muß es zum Preis Gottes gestehen, daß mir sonst so unkeuschen Menschen die strengste Keuschheit von Tag zu Tage leichter wird. Die Allgegenwart des reinsten Wesens, das Donnerwort: »Draußen sind die Hunde!« und die Betrachtung, daß der Unterschied der Geschlechter dort aufhören 8 wird; wirken noch immer tief auf mich


– »wenn die Lust, wie Schwefeldämpfe,

wolkicht aus dem Herzen steigt,«


[230] Inzwischen liegt doch noch eine so herzliche Liebe zum sanften weiblichen Karakter, der so viel Unschuld, Zärtlichkeit, Demut, Geduld, Leichtigkeit im Denken und Sprechen, Naivetät, Herzenswärme, Weichheit und Schönheit ausstralt – in meiner Seele, die ich ewig nicht bestreiten kann – und vielleicht auch nicht soll. Wohl dem, der auch diese Schwäche besiegt, und Mädchenreiz, wie alle vergängliche Reize, unter seinen Füßen hat! Ein Jüngling, der seine Unschuld bewahrt, ist für den Himmel ein schönerer Anblik, als Alexander am Granikus, oderCäsar auf den pharsalischen Gefilden. – O Wollust, wie hast du mein Herz verschlammt, meinen Verstand gelähmt, meine Fantasie vergiftet, meinen Körper zerstört, meine Seele abgespannt! Unersezlich für diese Welt ist der Verlust, den mir deine tyrannische Herrschaft zuzog! – Licht der künftigen Welt, wirst du diese Narben ausheilen??

[231]
(VII.)

Wenn diese Kämpfe in mir, nach Gottes Veranstaltung, nicht mit Erholungsstunden abgewechselt hätten; so wär' ich längst kraftlos niedergesunken, ohne die Palme des Sieges errungen zu haben. Aber Gott gab mir durch mannigfaltige Erquikungen Mut und Kraft zu neuen Kämpfen. Die Besuche meines Kommandanten wurden immer häufiger und erheiternder für mich. Seine helle Laune, seine weisen Gespräche, seine Nachrichten, die er mir zuweilen aus der Welt mittheilte, verschiedne oft sehr gute Dinge, die er mir zum Lesen brachte, und die leiblichen Erquikungen, 9 womit er [232] mich stärkte, hielten meinen Mut in der Höhe, wenn er eben sinken wollte. Sonderlich waren mir die Nachrichten von meinem Weibe, und meinen Kindern höchst erfreulich. Wenn ich oft lange mit der Liebe zu meiner Gattin rang; so erfreute mich plözlich ein zärtlicher Brief von ihr, der die herzlichste Theilnehmung an meinem Schiksal athmete. In der ersten Schwärmerei wollt' ich mir oft eine Ader aufschlizen, und ihr statt der Dinte einen Brief mit meinem Blute schreiben; aber der Geist der Religion strafte diese romantische Thorheit in mir, und lenkte die Liebe zu meiner Gattin ins ruhige Geleis des Christentums. Ich betete unermüdet für sie, und meine Kinder, und weiß es beinahe gewiß, daß es ihnen nach meinem Tode wohlgehen wird. Nicht Weltglük und Sättigung mit vergänglichen Gütern erfleh' ich ihnen, sondern Bewahrung vor der Welt zum ewigen Leben. Nur Christen können sich des Wiedersehens trösten, aber verworfne Sünder nicht, wenigstens [233] durch die ganze künftige Ewigkeit nicht. Diese einzige, so festgegründete Wahrheit, sollte uns zu den eifrigsten Christen machen, wenn wir anders unsre Freunde – unsre Eltern, Weiber, Kinder, wieder zu finden, und in ewiger seliger Verbindung mit ihnen zu leben wünschen. Ich glaube, es wird eine der empfindlichsten Qualen der Verdammten seyn, in so langer, hofnungsloser Entfernung von ihren Lieben zu schmachten.

(VIII.)

Den 24sten Juni war mein lieber Bruder, und den 26sten 1778. Lavater und Hahn hier. Man denke wie mir das Herz schlug, daß es mir versagt war, mit Menschen zu sprechen, die Blut und innre Herzenssympathie mir vor andern so lieb und theuer machten. Lavater äußerte sehr viel tröstendes [234] Mitleid mit meinen Umständen, und gab einige sehr gute Anweisungen zu meiner Seelenführung. Er hat auch meinem Weibe Unterstüzung angeboten, – was ihm Gott, der Allvergelter, tausendfach lohnen wolle. Ich weiß es noch nicht, was meine Freunde draußen in der Welt alles für mich und die Meinigen gethan haben. Mein Weib weiß es, und wird diese Lüke ausfüllen, 10 wenn diese meine Lebensbeschreibung nach meinem Tode bekannt werden sollte. – O ich bin es überzeugt – die Menschen haben viel Gutes, Großes, ihren göttlichen Ursprung ankündigendes in sich! auch gegen mich haben sie dieß in tausend Fällen gezeigt, und werden es nicht minder gegen meine arme Hinterlassene zeigen! Wie manchem mir noch unbekanntem Freunde, der an meinem Schiksal Theil nahm, will ich [235] dort die Hand bieten, und ihm ein fröhliches inniges »Gottlohn's« zustammeln?

Auch für meine leiblichen Bedürfnisse sorgte Gott väterlich; denn ob ich schon nur zwölf Kreuzer des Tags zu verzehren hatte: so legt' ich mich doch selten hungrig zu Bette. Ich lernte mit jedem Tage auch im Leiblichen den Wert der Gaben Gottes schäzen; hob öfters meinen Bissen Brod, meinen Becher Wein dankend zum Himmel, und bat es Gott weinend ab, daß ich seine unzählichen Wohlthaten in meinem rohen Naturzustande, stumm wie ein Fisch, ohne betenden Dank verschlungen hätte. Mein gütiger Kommandant brachte mir öfters Speise und Trank mit eignen Händen, und meist in Zeiten, wo sie Manna und Panacee für meinen geschwächten Körper wurden.

Den 23sten Juli wurde ich in ein anderes, etwas dunkleres Gefängnis gesperrt: aber ich war schon stark genug, mit mir machen [236] zu lassen, was man wollte. Neben diesem Zimmer wohnte Herr v. S*** aus A*** den die Grausamkeit seiner Brüder, wegen eines leicht verzeihlichen Fehltritts, bereits ins neunzehnte Jahr hier eingegraben hatte. 11 Ich hörte ihn bisweilen auf dem Klavier spielen, lesen und beten, singen, und in schlaflosen Nächten bang gen Himmel seufzen. O, wie empfand ich nun wieder den Trieb der Geselligkeit! Mit welchen lauten Schlägen klopfte mein Herz diesem armen Unglüklichen entgegen! – Wir besprachen uns miteinander durch eine Oeffnung unterm Ofen, den wir unter uns gemein hatten; da entdekt' ich an ihm mit Bewunderung einen Mann von scharfem richtigem Verstande, grosen, vom Christentum abgezogenen, und ins Leben verwandelten Grundsazen; noch Reste von sehr schönen Kenntnissen, die er sich in der Welt [237] gesammelt hatte, und einem Wize, der zwar etwas dunkel kolorirt war, aber doch noch manche helle, Farbenspielende Seite hatte ... Gleiches Schiksal macht gar bald Freunde, wie gleichgestimmte Saiten einander zuzittern. Er erzählte mir die Hauptumstände seines Lebens; ich ihm die meinigen; und beide waren sich darinn ähnlich, daß wir nicht geschikt genug waren, unser Jugendfeuer zurükzuhalten, und es auf denjenigen Punkt zu lenken, wo es erlaubt ist, zu leuchten und zu zünden. Sein Herz ergoß sich täglich mehr in seine Gespräche, und ertheilte ihnen diejenige Wärme, ohne die alle Unterredungen mir nichts, als ein todter Schall sind. Welch' ein Mann, dacht' ich, muß da in kriechender Unthätigkeit faulen, indeß so viele Geist- und Herzlose Menschenleichname auf den glänzendsten Stufen der Ehre – gemästet, angebetet, begafft und beneidet werden! – Bist du so reich Augusta, daß du so edle Steine wie Gassenkoth wegwirfst?

[238] Sein Schitsal preßte mir oft bittre Tränen aus, so wie mich seine Geduld, seine lange Erfahrung im Leiden, sein ungeschwächtes Vertrauen auf Gott, seine tiefe Reue über jeden Fehltritt, und sonderlich seine herzliche Ehrfurcht und Liebe zu Jesu, oft beschämte. – Wir errichteten miteinander einen ewigen Freundschaftsbund. 12 Sonst haben mir beständige, oft sehr gefährliche Anfälle von Schwindeln, Lähmungen, Zittern der Nerven, Brustschmerzen, nebst einigen empfindlichen Verweisen, die ich vom Kommandanten, dessen Laune sich nicht immer gleich blieb, bekam, dieses Gefängnis sehr bitter gemacht. Im Oktober vermehrten sich meine Schwachheiten dergestalt, daß [239] ich täglich mein Ende vermutete, und deswegen nachstehenden Brief an meine Gattin mit einem Nagel ins Papier krazte:

»Ahndungen, und ein von Ausschweifungen und anhaltenden Leiden geschwächter Körper kündigen mir meinen Tod – das Ende meiner Qualen an. – O du meine Liebe, du einzige auserwählte Freundin meines Lebens, du einsame Uebrige! könnt' ich es dir sagen, wie lieb und theuer du mir bist, und wie ich schon zwei Jahre im Kerkerstaub mit meiner Liebe, und ach! mit der bittern Empfindung ringe, deiner nicht wert gewesen zu seyn. – Gott hat die Tränen schreklich gerächet, die ich dir auspreßte, hat mir jeden Schmerz heimgegeben, den ich dir zuzog, hat mich der zärtlichen Pflege deiner Hand entrissen, und mich in Kerker geworfen, wo ich ohne süßen, menschlichen Trost, und ohne beklagt zu werden, sterben soll. – Tausend Tränen hab ich deinetwegen geweint, bis ich Vergebung erflehte. – [240] Er hat mir verziehen der erbarmende Gott; und du, mein Engel, verzeihest mir gewiß auch. Was ich für dich jezt thun kann, das thu' ich. In jedem Gebet kniest du mit unsern lieben Kindern neben mir, und ich lege die Hand auf euch und segne euch. Ich weiß, Gott hat mein Gebet erhört. Du wirft leben, und keinen Mangel haben; wirst deiner Kinder Ratgeberin seyn, und viel Freude an ihnen erleben. Vielleicht, daß noch ein würdigerer Freund, als ich bin, dein Führer auf dem Weg zum Himmel wird. Ich hätt' es seyn sollen, und war's nicht. – O tröste dich wegen meiner. Gott ließ sein Gericht über meinen Leib ergehen, damit die Seele genese. – Ach ich habe schwer gesündigt, einzige Freundin, mehr als dich deine Liebe glauben läßt. Aber Jesus betete für mich – der Jesus, den ich schändlich verkannte, hat mich in seine Pflege genommen, meine Tränen gesehen, mein Seufzen gehört, und mich versöhnt mit seinem Blute. In seinem Reiche [241] will ich dir's erzählen, durch welche heifen Kämpfe er mich geführt, wie göttlich er mich überzeugt, und wie unaussprechlich er sich meiner erbarmt hat. Du wirstmich wiedersehen in jener Welt, wie du so oft und so zärtlich wünschtest; aber du hast noch manchen Kampf zu kämpfen, noch manche Veränderung an Leib' und Seele zu erfahren, bis des Wiedersehens selige Stunde erscheint. Es ist alles viel anders, als die natürliche Zärtlichkeit im Mondschein träumt. Gottes Geist wird dir dieß, wie mir, aufschließen, wenn du ihn darum bittest ...«

»Meine Kinder! – O meine Kinder! Leg' deine Hand statt meiner auf ihre Stirne, und heilige sie dem Herrn. Wenn sie dereinst die Schmach drükt, daß ihr Vater als ein Verworfner im Kerker starb; so erzähl' ihnen meine Fehler, meine Reue, und erfleh' ihnen von Gott die Klugheit, gleicher Schande zu entfliehen ... Ich sah unsern Sohn im Traume auf einem reichen vergüldeten Aehrenfelde neben einer[242] reifen Garbe stehen; ich aber stand unter einer Menge Bäume voll unreifer Kirschen. Ein Mädchen pflükte eine Kirsche, die halb röthlich war, und bot sie mir. ›Sie ist unzeitig,‹ sprach' ich, und warf sie weg. ›Das bist du,‹ sagtest du zu mir, meine Liebe, indem du feierlich ernst neben mich tratest. ›Aber sieh dort unsern Sohn auf dem goldnen Aehrenfeld! Er soll als eine reife Garbe in die Scheune kommen.‹ – Ich erwachte, haschte nach deinem Bild, aber es zerfloß in Luft. So tröstet mich der Engel der mich beschüzt, bald wachend, bald träumend. – Segne meine Tochter; Grüße deinen Vater, den ehrenvollen Greis, deine Mutter, deine Geschwister. Sei du ihr Engel und lehre sie, zu entsagen dem Irrdischen, und zu trachten nach dem, was im Himmel ist. Erneure mein Andenken in den Herzen aller meiner Freunde, und sag' ihnen, daß ich im Glauben an Christus, nach manchem schweren Kampfe, freudig und getrost entschlafen sey. Besuche mein [243] Grab, so du kannst; ich werd' auf einen ländlichen Kirchhof zu liegen kommen, und einst unter Landleuten, Soldaten, und armen Gefangenen, die hier ihre Ketten niederlegten, erwachen .. Du darfst wohl weinen auf meinem Grabe, denn da modert ein Herz, das dich bis in Tod geliebt hat, und alle deine Briefe, die du mir schriebst, liegen auf diesem Herzen, und modern mit ihm. Und nun! meine Tränen sind geweint, – meine Seufzer hingegossen, – mein Schmerz durch empfunden! – Gottes Friede schwebt über meiner Seele. – Leb wohl! für dieses Leben gute Nacht! – Beste, liebste, treuste, zärtlichste Gattinn, du fromme, arme Dulderin – Gott lohn' dir deine Liebe und deine Leiden!


– ›O Wiedersehen!

O du der Liebenden Wiedersehen!‹ –


Tränen und Herzschläge lassen mich nicht mehr schreiben.«

»Am 642sten Tage meiner

Gefangenschaft.«

»dein armer gesangener

Mann.«

[244] Da dieser Brief Empfindungen enthält, die ich noch unterschreibe; so mag er immer hier stehen bleiben, als ein Denkmal meiner Gesinnungen gegen meine Lieben. –

Dieß kränkliche Wesen währte bei mir den ganzen Herbst hindurch, und jedes welkende fallende Blatt einer Linde, die gerade vor meinem Gesichte stand, erinnerte mich an meinen Tod. Zwar hatte der Tod sein Schrekliches für mich mehrenteils verloren; aber ich blieb Mensch, und dachte daher nie ohne heimliches Aufschauern an ihn. Wenn unser Oberhaupt Christus sagen konnte: »Vater, hilf mir aus dieser Stunde!« – wenn er im nächtlichen Garten die Angst des Todes mit Blutschweis auf der Stirne, mit tiefgesenktem Haupt, durch alle Tiefen seiner Seele empfand: warum will man seinen schwächlichen Bekennern einen Heroismus im Tode, eine Furchtlosigkeit vor seinen Schreknissen zumuten, die gegen die Natur des Menschen streitet? – Wie melankolisch süß [245] war für mich der Anblik, wenn man eine Soldatenleiche vor mir vorübertrug, und der Todtenmarsch mit gedämpfter Trommel hinter dem Sarg hertönte; wenn die Kameraden des Heimgegang'nen ernst und mit gesunknem Gewehr hinter ihm herschritten, und mir von ferne den lezten Soldatengruß aus praßlenden Wehren in die Ohren donnerten! – »O schlaf wohl, du guter Krieger,« dacht' ich, »du kommst in ein Land, wo kein Bajonet mehr blinkt, kein Säbel durch die Luft pfeift, keine tödtende Kugel fliegt, kein Schlachtruf brüllt – wo Sturm und Schneegestöber dich nicht mehr treffen; wo der Geist des Friedens über dir säuselt, und dir einen Posten anweiset, auf dem du all deinen Kummer, dein Aechzen unter dem Degen deines Befehlshabers, deinen Mangel, dein trauriges Negerleben bald vergessen haben wirst!!!« – 13

[246] Und so brütete ich den Herbst und seinen strengern Bruder den Winter hin. O wie lang, wie öde, wie schrekhaft ist die zögernde Winternacht für einen Gefangenen. Um acht Uhr mußt' ich das Licht löschen, und zwölf bis dreizeh'n bange Stunden in [247] todter Finsternis liegen. Ich machte oft meine Betrachtung darüber, daß Gott den Verdammten mit den Ketten der Finsternis droht. – Finsternis! eine schrekliche Strafe für den Lichtverlangenden Menschen. Ich dachte oft, wenn alles Nacht [248] und dunkel um mich war, wenn kein Sternenlicht an meinem Gitter hing, wenn die Finsternis sichtbar und beinahe greifbar vor mir brütete; da dacht' ich: »wenn du zeh'n, zwanzig Jahre in dieser Finsternis leben müßtest, nichts hörtest, als das Geächz und Röcheln der Elenden um dich her, und ihr Kettengeklirr! – wenn eine bleiche, gähnende Jammergestalt zuweilen aus der diken Nacht blikte, und mit einem hohlen Seufzer wieder verschwände! – wenn Todtengerippe um dich her schlotterten; wenn schneidende Kälte das Mark in deinen Gebeinen erstarren machte; – dann wärest du in der Hölle; in eben dem Theil derselben, von dem Christus spricht: ›werfet ihn hinaus in die äußerste Finsternis – in's Dunkel! da seyn wird Heulen, und wegen des unerträglichen Frostes – Zähneklappen. ;‹ – Solche Betrachtungen vermehrten meinen Eifer in der täglichen Heiligung, und mein erster, gröster, heißester Seufzer war es:« O Gott, aus dem Kerker, wieder in Kerker! – Ach, [249] vor diesem Schiksale bewahre mich deine Liebe, deine ewige Liebe!

Wenn ich ein Klavier, oder Dinte und Feder gehabt hätte; so würd' ich den Schwachheiten meines Leibes weniger haben nachdenken können. Aber dieß wurde mir noch immer mit der äusersten Strenge versagt. Man erlaubte mir nicht einmal ein Bleistift, die Sprüche der Bibel zu unterstreichen. Meine Gattin verstekte einmal in der Uhrtasche meiner Beinkleider ein Bleistift; ich fand es, schrieb einige Lieder damit auf, und warf es bald in der Angst meines Herzens zum Fenster hinaus. – »Gott«, seufzt' ich da, »welchem Vögelein hab' ich in meiner Jugend die Zunge ausgerissen und es wieder fliegen lassen, daß es dir kein Lied singen soll?« – Doch so büßt man Schriftstellersünden, dacht' ich wieder, und trug mein Schiksal geduldig.

[250]
(IX.)

Gott hatte seine Gnade noch lange nicht gegen mich erschöpft; er wollte sie mir immer fühlbarer machen. Ich hatte noch immer schwere Religionszweifel in meiner Seele liegen, und ergab mich schon darein, erst die Ewigkeit würde sie mir aufschliessen. Aber der Kommandant brachte mir die Schriften des Pfarrer Hahns. Ich kannte und bewunderte diesen Mann schon lange als einen der grösten Mechaniker unsrer Zeit; aber als eines Theosophen kannt' ich ihn noch nicht. Welch ein Staunen wandelte mich an, als ich zu lesen begann, und in den Schriften dieses Malines fast alles fand, was ich suchte. Ich las ihn nicht, ich verschlang ihn, ob mich's gleich im Bauche grimmte, wenn er mir in's Gewissen sprach. Kein Armer hat je einen Schaz gefunden, und sich herzlicher drob gefreut, als [251] ich mich über meinen Fund freute. – »Gefunden! gefunden!« – schrie ich mit größerem Entzüken, als jener Grieche, der durch einen Zufall die Wasserwaag' erfand. – Was ist alle Ehr' und Herrlichkeit der Welt gegen das Vergnügen der Wahrheit suchenden Seele, wenn sie findet, was sie verlangt! –

Mein Geist lag mit verschlingende. Blik über den Schriften dieses Mannes, und ich fühlte es ganz deut lich, wie er nach und nach alles Unbrauchbare aus meiner Seele hinauswarf, das gesammelte Brauchbare zusammensezte, und daraus dasjenige Lichtbild formte, das seitdem immer bei mir im Wachstum begriffen ist. Gott würkte nicht, wie man hätte glauben sollen, durch Schriften auf mich, die auch die Welt, wegen ihrer geschmakvollen Einkleidung schäzt. Floskeln, rhetorische Figuren, Modesprüche, Sprünge der Einbildungskraft, Blumen des Wizes – wurden mir immer widerlicher, und ich suchte nur Wahrheit [252] im einfältigsten Gewande. Lavaters Aussichten rührten mich daher jezt wenig, so hoch ich diesen Mann sonst schazte. Er schildert mir die Herrlichkeit des Menschen so, wie sie vielleicht erst nach dem Ablaufe vieler Ewigkeiten seyn, – vielleicht nie seyn wird, – und berührt die Zustände nach dem Tode vielleicht zu frostig, als daß sie interessiren könnten. Stufenweise Zustände müssen nach Art der heiligen Schrift, auch stuffenweis entdekt und dargestellt werden. Was ich bald nach dem Tode seyn werde, das rührt mich mehr als das, was ich nach vielen Jahrtausenden erst sehn kann. Daher hab' ich viele die Aussichten Lavaters geistliche Donquixoterien, Ausritte auf fantastische Ebentheuer nennen hören, und dieß blos deswegen, weil Lavater ungeheure Sprünge macht, und den übersprungenen Weg nicht ausfüllt.Hahn hingegen hält sich ganz genau die Schrift; bei jeder einzelnen Stelle hat er das große Ganze vor Augen, und wie seine Führerin, so [253] führt auch er seinen Schüler stufenweiße durch lichtvolle Ueberzeugungsgründe über den Pfad der Verläugnung und Nachfolge Jesu, ins Todtengefild, zur Auferstehung, zur wachsenden Herrlichkeit im Reiche Christus, bis auf die höchste Stufe der Gottähnlichkeit. Dadurch wird alles so klar, so naturgemäß, so dem Schriftsinne anpassend, daß der forschende Leser ihm bald seinen Beifall zujauchzt. Hahns Sprache ist bis auf einige Mängel der lichteren Darstellung, meist rein und den großen Sachen gewachsen, die er zu sagen hat. Gedanke und Empfindung scheint bei ihm in eins zerflossen zu seyn. Seine tiefblikende Seele wagt sich an Gegenstände, die man bisher für unauflösliche Geheimnisse gehalten hat. So wie er Leibnizens Rechenmaschine in weit einfacherer Gestalt darstellte, so verbesserte er auch seine Theodizee auf die bewundernswürdigste Art. Von der Zulassung und Zurechnung des Uebels in der Welt spricht er auf eine Weise, daß dadurch Gottes Gerechtigkeit, [254] Weisheit, und Liebe mächtig gerettet wird. Die Lehre von Gott, seinem Sohn und dem Geiste; das Geheimnis der Heiligen Dreiheit; die Lehre vom Fall, von der Versöhnung; die mir bisher so unverständliche Typik, die Lehren von Licht und Finsternis, Fleisch und Geist; die Ursache warum Gott unter den är gerlichsten Umständen meist die erstaunendsten Dinge ausführe? warum die Offenbarung nicht allgemein sey? – mit einem Wort, das ganze große Geheimnis seines Willens, in Christo alles wieder herzustellen, zusammen zu fassen, und sich dadurch einen lebendigen Tempel zu bilden, wo er in tausend Farben und Gestalten wiederstralt: all dieses, und hundert kleine Nebenzweifel, die mich bisher stachen, hat mir Hahn mit solcher Klarheit aufgeschlossen, daß vom Augenblik der Bekanntschaft mit ihm meine volle Ueberzeugung anfängt.

Wie licht wurden mir nun folgende Säze:

[255] »Gott wird erst vom Moment seiner Offenbarung an denkbar; wer sich über diesen Moment hinauswagt, schwärmt mit den morgenländischen Philosophen in den Regionen des Unsinns.«

»Gott sprach, und sein Wort war nicht leerer Schall; war Gestalt, war der Sohn – die ewige Weisheit, das Urbild aller erschafnen Dinge. Durch diesen Sohn, den Abglanz seiner Herrlichkeit, die leibliche Darstellung seines unsichtbaren Wesens, schuf er das ganze große All' und beschloß zugleich, diesen Sohn in Menschengestalt auf den Thron seiner Herrlichkeit zu erheben, und ihn zum Beherrscher des Universums zu machen.«

»Satan, das Haupt der Engel, ärgerte sich an diesem Wege Gottes, und fiel mit unzälichen Engelschaaren von ihm ab ... Von diesem Augenblik an beginnt der Streit der Finsternis mit dem Lichte, des Teufels [256] mit Christus. Gott beschloß – es war nicht neuer, es war ein schon lange auf die Vorhersehung dieses Abfalls gegründeter Entschluß, – nicht, wie er gekonnt hätte, das Reich Satans plözlich zu zerstören; sondern nach und nach in selbiges einzudringen, eine Provinz nach der andern zu erobern, und so seine Feinde stufenweise zu besiegen, und ihnen das Geständnis abzunötigen, daß Gottes Wege heilig und gerecht seyen, und daß alle seine Anstalten auf die höchste Glükseligkeit seiner Geschöpfe abzweken.«

»Gott schuf den Menschen, weil er die Erde zum Grundgestell seines Offenbarungsthrons machen wollte. Nicht die Erdgestalt des Menschen, sondern das durch Gottes Hauch in ihm aufgeschaffne Lichtbild ist das Ebenbild Gottes. Der Mensch sollte Gradweise – durch Glauben, Gehorsam, Uebungen der Seelenkrafte zur Gottähnlichkeit aufwachsen, und durch den in ihm wohnenden, immer reifer werdenden Geist [257] feinem Leibe Verklärung und Unsterblichkeit mittheilen. Aber der Mensch glaubte Gott nicht; er wollte seiner Herrlichkeit voreilen und, wie Satan, vor der Zeit Gott gleich seyn ... Im Himmel und auf der Erde war nun Abfall von Gott, Aufruhr, Unordnung, Elend. – Und nun begann die successive Offenba rung Gottes durch Bilder, Gleichnisse, Geschichten, Lehren, und deutliche. Anzeigen durch Moses und die Propheten; – die Offenbarung des großen. Gottwürdigen, erstaunungsvollen Plans, durchChristum, den Erstgebornen seiner Geschöpfe, alle Mistöne aufzulösen, alle Unordnungen, Zerrüttungen wieder herzustellen, und die abgeriss'nen Welten der Engel und Menschen, unter seinem Sohne, als ihrem höchsten Oberhaupte, wieder zu vereinigen.«

»Der Mensch hatte das Ebenbild Gottes nicht verloren; Gottes Hauch ist unzerstörbar – es zog sich nur zurük, und wurde [258] von den Schlaken des Fleisches verdunkelt.«

»Von allen vernünftigen Geschöpfen wurde nun der Mensch angeklagt, als Rebell, Schänder der höchsten Majestät Jehovahs, den Gott ohne Beleidigung seiner Ehre nicht mehr begnadigen konnte ... Aber der verheissene Messias erschien, ward Mensch wie wir, trug die Schwachheiten des Fleisches wie wir, mußte glauben wie wir, durch schwere anhaltende Kämpfe Geist werden wie wir: – denn das Bewußtsein seiner vorweltlichen Herrlichkeit hatte er nur in gewissen heitern Geistesstunden; es war ein Bliz, der plözlich leuchtete, und wieder verschwand; – er mußte die Schrift zu seiner Führerin wählen, wie wir ... Er that's, und zwar mit der vollkommensten Beugung seines Willens unter den Willen seines Vaters; er hofte, wo nicht mehr zu hoffen war; er vertraute fort, auch unter den widrigsten, bittersten [259] Schikungen seines Leben. Er suchte nicht seine, sondern Gottes Ehre; erfüllte die Forderungen der Heiligkeit Gottes aufs vollkommenste; er litt alles Leiden, allen Hohn der Welt, selbst den Tod eines Missethäters in tiefster Unterwerfung unter den Willen seines Vaters, – in der gewissesten Erwartung, Gott werde die grösten Folgen aus seinem unschuldigen Tode herzuleiten wissen. Er wurde begraben, bereiste der Seele nach, die Behältnisse der Todten, predigte auch diesen das Evangelium; stand auf, – und die bisher in ihm verborgne Herrlichkeit durchdrang seinen Leib, und gab ihm Unverweslichkeit und siegende Herrlichkeit. – Nun war die Ehre Gottes aufs vollkommenste gerechtfertigt, wenn er die Menschheit wieder zu derienigen Würde emporhob, zu der er sie von Anfang bestimmt hatte. Denn Christus, das Oberhaupt der Menschheit, hatte alle Forderungen Gottes erfüllt ... Er salbte nun diesen seinen Sohn mit einem so reichen Maase [260] des Geistes, daß er alle seine Brüder damit entzünden, die Wunden ihrer Seele heilen, und sie nach und nach zu Gottes Söhnen erheben könnte. Der Glaube an diesen über alles erhöhtenJesus ist also unsre Versöhnung; aber ein Glaube, der nicht nur Christum ergreift, und sein Blut und Verdienst sich zueignet; sondern der überzeugt ist, daß er, wie Christus, durch Leiden, Gehorsam, Verläugnung, Gebet, Kämpfen, Ringen, und Tod vollendet werden müsse.«

»Wenn also Gott dem Sünder nachsieht; so ist es kein Schenken der Strafe, sondern ein Warten auf Besserung um des Erlösers willen.«

»Ohne Wiedergeburt, Ertödtung des alten, und Erneurung des innern Menschen durch Wort und Geist, ist keine Besserung, und folglich auch keine Seligkeit möglich.«

[261] »Gott hat an seinem Christus ein Muster gegeben, welchen erstaunenden Plan er mit den Menschen vorhabe. – An ihn schließen sich die Erstgebornen –Juden und Heiden an, als das Israel Gottes, die dem Rufe der hohen Erwälung noch in dieser Welt folgten. Diese werden Priester, und Könige, kommen zur ersten Auferstehung, werden als Gesandte in die Geisterwohnungen versandt, um daselbst die Predigt des Evangeliums fortzusezen, die Christus, nach dem Zeugnis Petrus, gleich nach seiner Auferstehung anfieng. Wer in jener Welt erst gerettet wird, ist ein Nachgeborner Sohn Gottes.«

»Christus sezt seine Erlösungsanstalten fort, bis alles gerettet, bis Tod und Hölle in einen alles umfassenden Sieg verschlungen ist: bis er sagen kann:« »Vater, hier sind sie, die du mir gegeben hast! Ich habe deren Keinen verloren; denn alles Verlorne hat sich wiedergefunden.«

[262] »Die ganze heilige Schrift zielt auf die Errichtung einer Universalmonarchie, wo alle Reiche Gottes und seines Christus werden sollen. Man versteht ohne diesen Blik kein Buch des alten und neuen Testaments, wie man es verstehen soll. Aber mitdiesem Blik sieht man oft da das hellste Licht, wo man vorher nur liegendes Dunkel sah.«

»In dem nächsten Jahrhundert wird die Herrschaft Christus mehr ins Licht treten. Der fünfzehnte Gesang des Messias giebt eine sehr wahrscheinliche Erläuterung, wie es um diese Zeit den Glaubigen auf Erden seyn könnte.«

»Die Offenbarung Johannis ist nicht nur die ganze heilige Schrift in Einen Lichtpunkt zusammengedrängt, sondern deutlicher, klarer, der unverdorbnen Menschennatur angemessner Aufschlus von den Schiksalen der Kirche Christi auf dieser Welt, [263] und von den Geheimnissen der künftigen, bis Gott spricht:« »Es ist geschehen! Siehe, ich mache alles neu!« – »Die ganze Natur wird an der Herrlichkeit des Menschen Anteil nehmen, weil sie hie auf dieser Welt auch an seinem Fluche Anteil nehmen mußte. Jedes Thier ist einer größern Vollkommenheit fähig, und wird sie dort bekommen. Das himmlische Jerusalem wird eben so massiv gesehen werden, als körperlich und massiv es beschrieben ist.«

»Die Heiden und dieienigen Christen, die in unverschuldeter Unwissenheit hinsterben, erhalten im Reich Jesu Unterricht, und genesen durch die Blätter vom Holze des Lebens.«

»Gottes weiser Rathschluß war, sich stufenweis zu offenbaren – erst den Juden, dann den Heiden, und endlich in den künftigen Ewigkeiten dem ganzen menschlichen Geschlechte ... Wer dieß nicht im Blik behält, [264] dem ist die Nichtallgemeinheit der Offenbarung ein ewiges Räzel.«

»Er, der seine Geschöpfe am besten kennt, wird sich dort vollkommen rechtfertigen, warum er einige zur frühern Herrlichkeit erkohr. Wo wir glauben, es sei blos freier Entschlus eines unumschränkten Beherrschers, da werden wir Gründe der tiefsten Weisheit finden; denn Gott thut nichts ohne Grund.«

»Wenn die ganze Natur von aller Unordnung gereinigt ist, wenn alle Strafen der Verbrecher ausgestanden sind, wenn alle Feinde vor den Füßen Jesu liegen, wenn die ganze Schöpfung ein heller, voller, reiner, lieblicher Akkord ist; – dann ist Gott alles in Allem; dann ist er einem Menschen so nah, als dem andern; dann werden die Provinzen Gottes unter seine Auserwählten verteilt; dann herrschen sie alle unter der Oberherrschaft Gottes, und [265] von allen Sonnen, Sternen, und Welten tönt der allstimmige Preisgesang der entsündigten, erneuerten, Gottes ganze Herrlichkeit ausstrahlenden Schöpfung wieder.« 14

»Wie zerschmilzt in diesem Blike jeder Einwurf von der Nichtallgemeinheit der Offenbarung und der anscheinenden Parteilichkeit Gottes!«

»Wir werden in alle Unendlichkeit unsre Ichheit nicht verlieren; – In alle Tiefen der Ewigkeit hinein wird die holdselige, große, göttliche Menschengestalt bleiben! – Wir werden ewig aus der unerschöpflichen Urquelle Leben anziehen, und Leben mitteilen! – Wir werden Beherrscher des großen Alls seyn; denn:›Werherrscht, [266] der kommt zur Ruhe,‹ pflegte Jesus, nach dem Zeugnis desKlemens von Rom, sehr oft zu seinen Jüngern zu sagen ... Ein himmlischer, hoher, unsrer tiefsten Natur entschöpfter Gedanke!« –

All' diese und unzählich andre Gedanken, die zwar schon in meiner Seele lagen, aber die ich nicht selbst ausgebähren konnte, fand' ich in Hahns Schriften, so stattlich erwiesen, daß ich von Tag zu Tag an innerer Beruhigung wuchs, und meinem Gott mit freudigen Tränen dankte, daß er mich einmal von der großen Bestimmung des Menschen, deren Ungewisheit mich durch mein ganzes Leben hindurch so empfindlich marterte, überzeugen wollte. – So du nur weißt, daß es deinen lieben Menschen nach dem Tode wohl geht; mit dir mag's Gott machen, wie er will ... – Wenn mich die Abnahme meiner Leibes- und Seelengaben oft innig betrübte, [267] so tröstete mich Gott mit der Gewisheit, daß ich sie dort nicht nur wieder bekommen, sondern geheiligter, erweiterter und unwandelbarer wieder bekommen würde. Denn Gaben gehören zum individuellen Karakter, zur Ichheit des Menschen; verliert er die, so ist er entweder Krüppel, oder kindischer Greis, oder ein Todter: soll er wieder leben, und ewig leben, so wird ihn Gott nicht in seiner Unvollkommenheit, sondern in seiner Vollkraft, das heißt mit all den Gaben der Natur und Gnade, die ihm hier seinen bestimmten Karakter gaben, wieder herstellen, und ihm tausend Gelegenheiten verschaffen, diese Gaben auszubilden, und durch weisen Gebrauch zu erhöhen. 15 – Welche süße, himmlische [268] Beruhigung liegt in diesem Gedanken, für alle, die unter den Aengsten langsamer, und sichtbarer Verwesungen schmachten! Mensch, was du Gutes an dir hast, bekommst du wieder; böse Fertigkeiten gehören nicht in's Reich Christus, und du wirst sie auch nicht mitzunehmen verlangen, wenn sein Geist in dir leuchtet. –

(X.)

Den 14ten November besuchte mich Hahn: mein Kommandant hatte mir diese Gnade vom Herzog erbeten. Ich war schwach und krank an diesem Tage; aber die Ehre eines solchen Besuchs, das Glük einen Mann vor mir zu sehen, den Gott zu meinem Lehrer ausersah, und den ich aus vollem Herzen liebte, durchströmte mich mit einem Gefühle, das den Schauern der Auferstehung gleicht. Was ich suchte, das fand [269] ich an ihm: den Mann, der im sanften Lichte der ersten christlichen Einfalt daherleuchtet; dessen Herrlichkeit unter dem Schleier der tiefsten Demut ruht; der den unaussprechlichen Wert einer Menschenseele kennt, und selbst rohen Sündern mit Schonung begegnet; der nur heiß wird, wenn man von Gott, seinem Gesalbten, und dem künftigen Königreiche spricht; dessen Gespräche tiefe Weisheit und sanfte Liebe athmen; und der sich und alles vergißt, wenn er eine Seele seinem Herrn und König zuführen kann. –

Ich weiß nicht, wie mir war, als er mir so gegenüber saß, meine Zweifel beantwortete, meinen Seelenzustand prüfte, und mir die weisesten Verhaltungsgeseze gab. – War dir anderst, Abraham, als du im Schatten deiner Hütte Engel Gottes bewirthetest? – O Menschengeschlecht, welch' edle, schöne Seelen hast du! Selbst patriarchalische Einfalt, altchristliche Hoheit und [270] Würde ist noch nicht ganz aus dir weggeschwunden ... Aber solche heilige Trümmer des Paradieses liegen, wie die Wahrheit, verstekt; man muß sich durch manche, oft ärgerliche Hindernisse durcharbeiten, bis man sie findet, – und hat man sie gefunden; so muß man schon ein vom Geiste gesalbtes Auge haben, um ihren hohen Wert schäzen zu können. –

Noch immer muß ich mich wundern, wie es doch möglich ist, daß ich dem Systeme eines Mannes so ganz beipflichten kann, dessen Karakter von dem meinigen, so viel abstechendes, unendlich verschiedenes hat. Aber der Geist der Wahrheit fügt sich in alle Karaktere, wenn er gleich in der sanften stillen Seele wirksamer seyn kann, als in der feurigen, ungestümen Seele. Das Ungestüm legt sich, wenn die Wahrheit gebietet. – Ich habe erst seit diesem Augenblik die Grösse des Christen kennen und schazen gelernt, und zugleich eingesehen, wie schwach, [271] wie kränkelnd, wie gebrechlich, wie umschlägig noch meine Frömmigkeit sei. Fleisch soll Geist werden; und ach, wie gewaltig fühl' ich noch in jeder Stunde die Anfälle des Fleisches! wie ermüdet oft meine Geduld! wie meine Aufmerksamkeit auf das Wort! wie vergeß' ich oft in kritischen Augenbliken meiner schönen Entschlüsse! Wie fliest oft mein Gebet so kalt, wie Wasser am Felsenstein herunter! wie ringt noch mein Geist mit der Finsternis, wie der Mond mit nächtlichem Gewölk! wie fliegt oft meine Vermessenheit hoch über der Sonne, und wie zagt oft mein Kleinmut im Staube! Wie zweifelt der Glaube, wie fröstelt die Liebe, wie bangt die Hofnung! wie fühl' ich oft die Wehen des unter der Geburt liegenden Geistes!! – O Gott, Gott,wann wird der Vorhang reissen, und das Allerheiligste unenthüllt da stehen? Wann werd' ich so rein seyn, um dich schauen zu können, wie du bist? –

[272] Da mein Verlangen Gott zu sehen, mit jedem Tage zunimmt; so konnt' ich der Meinung Hahns damals noch nicht beistimmen: »wir würden in alle Ewigkeiten keinen andern Gott sehen, als Jesum, der der sichtbare Thron der Herrlichkeit Gottes bleiben werde.« – Freilich, wenn ich mir Gott, entweder als den zusammengedrängtesten Lichtpunkt, oder, als die unbegränzteste Ausdehnung vorstelle; so scheint es, seine Geschöpfe würden ihn nie sehen, wie Er ist. Aber kann man nicht von jeder Linie aus auf den Mittelpunkt sehen? durchschaut denn nicht der Geist, mit dem wir gesalbt werden, die Tiefen der Gottheit? Steht's nicht ausdrüklich in unzählichen Schriftstellen, und sonderlich in der herzerhebendsten Stelle der ganzen Schrift Offenb. XXI. v. 3. Gott werde unter uns seine Hütte haben, wir werden ihn sehen, mit ihm sprechen, ςομα κατα? Wenn alles offenbar werden soll; so muß auch Gott endlich aus seiner Verborgenheit hervortreten, und sich als Vater [273] an der Spize der ganzen Schöpfung zeigen ... O das muß eine von den höchsten Gottesfreuden seyn! ja, das muß in den Tagen der Ewigkeiten der schönste Tag seyn, wenn Gott aus seiner Verborgenheit hervortritt, und sich nun allen seinen betenden, schweigenden, verstummenden, all in Einem großen Blik des entzükten Staunens zusammentreffenden Geschöpfen – alsGott und Vater enthüllt! – Wenn kein banger Blutstropfen mehr in seinen Geschöpfen wallt; wenn kein Engel mehr klagt, kein Wurm sich mehr krümmt, kein Schlachtfeld mehr raucht, kein Schlachterstahl träuft, kein Armer mehr am Zaune hülflos schmachtet; kein Elendthier mehr in epileptische Verzukungen schäumt; – wenn Kerker, Rabensteine, Todtengrüfte, Feuerseen, Angst- und Schauernächte, wenn Zweifel und Wahn und alles, was Leiber würgt und Seelen lastet, weggeschwunden ist, und nun das ganze All entsündigt, entlastet, neugeboren, im Urlichte dergegenwärtigen [274] Gottheit schwimmt – und endlich nach Tagelangem Schweigen, alles Laut und Stimm' und Jubel, und jauchzender Aufschrei wird, daß die Höhen der Schöpfung erbeben! – Wenn von allen tausendmaltausend Seiten Freude ausströmt und Freude zurükfließt; wenn Gott die erste Freuden träne weint!! – Meine Knie wanken, mein Auge dunkelt, mein Ohr klingt, ich kann den grösten, schönsten, seligsten der Gedanken nicht tragen – denn ich bin Staub!! – Genug, übergenug, ich werde Gott schauen!

Hahn versprach mir eine Diät für meine Seele aufzusezen, und sie mir zuzuschiken. Ich erhielt sie bald nach seinem Besuche, und freute mich, daß ich bisher oft mehr, freilich zuweilen auch weniger that, als er mir vorschrieb. Zur Erbauung meiner künftigen Leser, will ich sie wörtlich hier einrüken:

[275] Gedanken,
wie Hr. Schubart seine Zeit in seiner Gefangenschaft am nüzlichsten anwenden könnte.

»Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, so würde ich 1.) Morgens, so bald ich aufgestanden, und mich angezogen hätte, auf meine Knie vor Gott niederfallen und ihm danken, daß er mich diese Nacht nicht habe sterben oder krank werden lassen, auch daß er mir bis daher das Leben gefristet, und mich nicht in meinem ehmaligen Unglauben hingerissen; sondern die Wendung nach seiner Warmherzigkeit so gemacht, daß ich nun zu mir selbst gekommen, und in stiller Einsamkeit ohne Störung von Weltgeschäften oder Zerstreuungen und böser Gesellschaft ruhig dem grosen Geheimnis seines Willens nachdenken, und mich im Glauben der ewigen Erwählung in seinem Sohne mit Weile gründen kann: ... Auf diesem Wege kann man sodann erweket werden, für das Wohl eines Fürsten, seines Kommandanten, und seises Hauses aus dankbarem Sinn zu beten, weil [276] doch diese die Werkzeuge sind, wodurch Gott Ihnen so viele Wohlthaten, die ihren Bezug bis in die Ewigkeit hinein haben, erwiesen hat.« 16

»Daneben könnte vorzüglich um weitere Erleuchtung, wahre Demut, und fortgehende, festhaltende Herzensänderung gebeten werden.«

»Je mehr man in Demut sich vor Gott erniedriget, seinen tiefgewurzelten Unglauben, Leichtsinn und andere böse Gewohnheiten, die schon einen festen Siz in den Gliedern und in den verschiedenen Organen bekommen haben, bedenkt, je mehr man erkennt, wie unbefestigt man noch seyn würde, wenn man heute seine Freiheit erlangte: je mehr man also ins Licht der Ratschlüsse Gottes eindringt, und ihm auch seine jezigen Umstände und Gefangenschaft danken lernt, desto mehr wird [277] das Gebet Frucht bringen. Auch die Regierung an jedem Tage, – daß man auch an diesem Tage einen Schritt in der Befestigung weiter wachse, daß man lerne im Glauben wandeln, und im Geist leben, hängt von Ihm ab. Denn die finstern Kräfte der bösen Engel können unser Gemüt auch in der Gefangenschaft zerstreuen, und auf böse Vorwürfe lenken; uns kalt, müde, träg machen, daß wir am Lesen und Beten Ekel haben, und unzufrieden über unser Schiksal sind.«

»2.) Nun würde ich lesen, und zwar der Ordnung zuförderst den güldenen Text der Schrift. Aber auch dieses mit einem vorhergehenden Aufsehen auf Gott, die Quelle und den Vater des Lichts, damit ich mich ja nicht an den einfältigen und doch tief gehenden, und viel in sich fassenden Ausdrüken der Schrift, nach der Gewonheit der Weltgelehrten ärgern, sondern mit einem lernbegierigen, meine tiefe Unwissenheit erkennenden Gemüte lesen möchte.«

»Hier wäre gut, zum Abwechseln jeden Tag etliche Kapitel aus den Büchern Mosis, alsdann und vorzüglich in den Psalmen nach Oetingers [278] Uebersezung, zu lesen; denn hier ist Vorschrift, wie man alle seine Umstände Gott vortragen, von Gott unmittelbar annehmen, und vor GOtt im Glauben nach Davids und Jesu Art wandlen soll. Jesus selbst hat durch die Aussprüche am Kreuze gezeigt, daß ihm die Psalmen bekannt gewesen, und daß er in den Umständen Davids seine Umstände gesunden.« u.s.w.

»Weiter: etwas in den Propheten; aber alles in der Ordnung. Die Propheten aber immer im Blik auf's verheissene Königreich der lezten Zeitdamit Ihnen das bekannt werde, was noch kommen soll; aber mit einem einfältigen kindlichen Glauben: daß Gott dem Wort nach manches erfüllen könne, was uns thöricht und unmöglich scheint, gleichwie er auch von Anfang an gethan: z.B. in Ansehung der Sündflut, Erscheinungen, und Besuch beiAbraham; in den Offenbarungen, die dem Moses zu verschiedenenmalen wiederfahren; ferner bei'm Durchgang durch's rothe Meer, Speisung eines so großen Volkes in der Wüste, und Tränkung desselben aus einem Felsen, wo vorher kein Wasser floß: u.s.w. welches alles die heutigen Gelehrten vorher, eh es geschehen [279] war, eben so wenig geglaubt, und Gott lieber in den engen Bezirk ihres kurzgefaßten Möglichkeitsystems eingeschlossen, und einen jeden Glaubigen ausgelacht hätten, wie ver mutlich die vor der Sündflut den Noah ausgelacht, als er den Schiffkasten gebaut; und die zu Sodom denLoth, als er die Zerstörung ihrer Stadt geglaubt.«

»Nun könnten Sie auch im Lebenslauf Jesu nach meinem Testament ein Pensum vornehmen, und sich solches bekannt machen, nach der Zeitordnung, und nach den dabei vorgefallenen Thaten Jesu. Und so könnte dieses Pensum auch die Apostelgeschichte in sich begreifen, wenn der Lebenslauf Jesu zu Ende wäre.«

»Ferner könnte auch ein Pensum in den Briefen genommen werden; und zwar so, daß man den Brief entweder nach dem Wortverstande, nach meiner Anleitung im Testament, zu verstehen, sodann etwas zur Lehre und zum Trost für seine Umstände daraus zu fassen suchte. Das nüzt gar viel, das System Pauli oder eines andern Apostels aus dessen Briefen übersehen zu lernen.«

[280] »Endlich auch noch etwas aus der Offenbarung Johannis, entweder nach meiner, oder Bengels Erklärung. Hölders seine taugt nicht. Er weicht zuviel vom Worte ab; wenn man alles so unbestimmt verstehen darf, was in der Bibel steht, so haben wir gar keine Bibel mehr, und ein jeder kann seine Meinung als Gottes Wort verkaufen, und aus der Bibel beweisen.« 17

»Diesen Pensu suchen Sie so zu fassen, daß Sie solche einem erzählen können, nach den Hauptpunkten, und dann auch nach den Nebenpunkten. Z.E. den LebenslaufJesu nach der in meinem Testamente befindlichen Bengelschen Harmonie, sollte ein jeder Christ so fassen lernen, daß er solchen einem Kinde von Punkt zu Punkt erzählen könnte: so auch jede Epistel, und vorzüglich [281] die Offenbarung Johannis. Und wenn man das alles auch noch nicht so glauben kann, so sollte man doch zur Prü fung des Systems eines Manes Gottes, wie z.B. Bengel ist, den Zusammenhang desselben recht deutlich zu fassen, sich befleissen, sonst kann man kein Urteil fällen.«

»Dieß, meine ich, werde jeden Tag ziemlich wegnehmen; also, daß wenn man das Essen, und die Bewegung durch Auf- und Ablaufen, und Nachdenken im Zimmer ausnimmt, wenig Zeit mehr übrig bleiben wird. Auch das Essen und Trinken soll mit mündlichem Dank gegen Gott, und seine Gutthäter, und Vorsteher geschehen.«

»Und ohne ernstliches Gebet und Unterredung mit Gott, soll man nicht zu Bette gehen: im Bette aber sich vor Gottes Gegenwart fürchten, und auch vor der Sünde der Selbstbeflekung sich hüten, und dagegen beten, und streiten. Ueberhaupt muß man auf alles Achtung geben, was in einem vorgeht, und nichts zu leicht nehmen, damit man in Zeiten auf den laurenden Feind gefaßt ist.«

[282] »So kann die Zeit meines Erachtens nüzlich hingebracht werden. Dürften Sie schreiben, so wäre es mit gewisser Maase und Einschränkung noch besser, und alsdann wollte ich auch hierüber meine Gesinnungen auf Begehren äussern.«

»So viel vor dießmal in Eil.«

»Hahn.«


So schlos ich das zweite Jahr meiner Gefangenschaft, betend, Gott dankend, voll frommer Entschlüsse, und wie durch ein Wunder, tausendmal ruhiger, als ich das erste schlos.

Den 1ten Februar war der Herzog hier und erlaubte mir die Besuchung des öffentlichen Gottesdienstes. Wieder eine neue Empfindung für mich, als ich nach zwei Jahren unter einer Anzahl Menschen, die sangen und hörten und beteten, im Tempel vor Gott erschien, und mich wie [283] ein Aussäziger, nach der ehmaligen Verordnung Gottes, dem Priester zeigte. Die Ketten der Gallioten, die über's Kirchpflaste rrasselten, mein lieber von Sch****** – den ich durch die Kerkerwand hindurch liebgewann, und den ich nun im Gitterstuhle leibhaftig neben mir stehen hatte, nebst der Schwäche meiner kaum gebornen frommen Gefühle – erfüllten mich bei'm ersten Kirchenbesuch mehr mit Wehmut, als mit Freude. Ein Neubekehrter ist wie ein Mensch, der von einer schweren Krankheit aufstand: seine Tritte sind schwach, sein Ton ist gepreßt, die Farbe bleich, die Blike matt; er fühlt den Hauch der Luft, und das kleinste Steinchen schneidet und schmerzt seine Sole.

[284]
(XI.)

Ein neu aufgerichtetes Füsilier Bataillon, wovon mein Kommandant der Chef wurde, verursachte eine abermalige Veränderung in den Zimmern. Ich kam den dritten Februar in einen andern Flügel, und wieder – wie beschüzt Gott die tugendhafte Freundschaft! – dicht neben meinen lieben Sch****** zu wohnen. Mein Schlaf ist noch so süß, wenn er mich mit der Empfindung überfällt: dein armer Freund schläft neben dir, von eben dem allmächtigen Flügel beschirmt, der über dir schattet: – Ueberhaupt wächst die Freude und der Trost an der Vorsehung Gottes fühlbar in mir; sie ist der Gurt, womit ich mich morgens gürte, und das Kissen, worauf ich des Nachts entschlummere. Jeder Mensch, denk' ich hat seine Seite, seinen Lichtpfad ins Vaterherz Gottes hinauf. Wenn mein Flehen für das Heil der [285] Brüder und aller meiner Lieben auf diesem Pfade hinaufsteigt; so, denk ich im Glauben, wandelt es Gott in Segen, und gießt es auf demienigen Lichtweg herunter, an den meine Lieben gränzen. Auf diese Art wird mir begreiflich, wie zwei liebende Herzen, in der weitesten Entfernung, zu gleicher Zeit, in gleichem Augenblike, in himmlisch süßen Mitgefühlen einander entgegen klopfen können: denn Seufzer und Erhörung ist oft Ein Bliz, der hier aufsteigt, droben seine Richtung bekömmt, und dort entzündet. –

Mein Zimmer ist lustig, ziemlich helle, und hat Aussicht auf meine liebe Menschen. Der Hauptmann, welcher die Aufsicht über die Gefangenen hatte, warein Christ, zum reinsten Wohlwollen gestimmt – auch eine Gnade, für die ich Gott danke! –

Den 13sten Merz war Hahn wieder bei mir. Der gute Mann wollte Anfangs alle acht Tage eine Stunde weit zu Fuße zu mir [286] gehen, und mich stärken, trösten, befestigen, gründen; aber es wurde ihm nicht verstattet. Mein Herz flog ihm entgegen, als er kam. Die tiefe Ehrfurcht vor ihm, verbietet mir's noch, ihm mit traulicher Bruderliebe zu begegnen. Er erzählte mir, daß seine Schriften vom Königreich Jesu verfolgt würden. – »Gieng es dem besser,« sagt' ich, »der diese Lehre zuerst gepredigt hat?« –

Wegen meines Gnadenstandes ließ er mich noch immer im Zweifel: er hielt es blos für ein gutes Kennzeichen, daß mir Gott ein Ohr, ein Auge, einen Geruch für das Göttliche gegeben hätte. »Es gehört beständiger Kampf, daurender Ernst, fortstrebender Eifer dazu, wenn man überwinden will,« das sagte er, und verlies mich mit den Segnungen seiner Blike. – Welcher Mann, dacht' ich, als ich ihn mit bestaubten Schuhen, altväterischem Ueberroke, fliegenden kurzabgeschnittnen Haaren, den Stab [287] in der Rechten, über den Vestungsplaz in Apostolischer Einfalt wandeln sah! welcher Mann! und wie verkannt von den meisten! – denn den Ruhm, den er sich durch sein großes mechanisches Genie in der Welt erworben, achtet er für nichts. »Es kostet mich allemal einen Tod,« schrieb er an meinen Kommandanten, »wenn ich den Fremden meine Maschinen zeigen, und ihre Lobsprüche einärndten muß.« Welche Stufe der Herrlichkeit wird er einnehmen, wann die Wage des Richters Entscheidung tönt! – Er empfal mir Oetingers Epistelpredigten, womit mir mein General ein Geschenk machte, aufs nachdrüklichste. »Wo dieser schon ist, dahin muß ich erst kommen.« sagte er. Ein Zeugnis, das mich zum Studium dieses Buchs wie hinzauberte. Ich empfand bald, daß man dem Verstande eines Menschen nicht wenig zutraut, wenn man ihm Oetingers Schriften empfielt. Wen Hahns Schriften nicht vorbereitet haben, der hält Oetingers Predigten meist für Unsinn, wie es [288] auch die deutschen Kunstrichter in ihren schiefen Urteilen über diesen großen, etwas seltsamen Mann, darthun. – Wie aufgehäuft sind die tiefsten Geistesresultate in den Schriften, sonderlich in den Epistelpredigten dieses Mannes! weh dem, der sich einigen Erdstaub hindern läßt, die Pracht dieser Krone, voll der reichsten Steine, zu bewundern! Sein Styl ist nicht immer troken, sondern zuweilen stark, kraftvoll, und meist original. Seine Schriftauslegungen sind vom ganzen Plane des Geheimnisses Gottes abgezogen. Seine Sittenlehre ist nicht so ängstlich, so furchtbarstrenge, wie Hahns seine; sondern frei, gemildert, durch tausend Kunstgriffe des Geistes erleichtert, und so ganz der Natur des Menschen angemessen. Das Geheimnis vom Opfer Jesu, sein ewiges Hohepriestertum, von der obern Mutter, dem heiligen Geiste, den verschiednen Zuständen nach dem Tode, den Höllenstrafen, der massiven Herrlichkeit der künftigen Welt; vom BluteJesu auf Erden und [289] im Himmel, – und unzähliche andere tiefe, noch von niemand so begreiflich dargestellte Warheiten, findet man beinah auf allen Blättern dieser Predigten. Freilich wer nicht Mut genug hat, seine Metaphysik hinauszuwerfen, der wird die Lehre von der Seele, als einem aus verschiedenen Kräften zusammengesezten Wesen, vom Geiste, dessen Theile oder μερισμες, nach Oetingers treflicher Definition, wieder ein Ganzes sind; seine Meinungen von der Magie, Geisterseherei, Scheidungskunst auf die Psychologie angewandt; und mehrere dem Schulschlendrian entgegenstrebende Ideen für Schwärmerei und Unsinn halten. – Wer muß nicht die Arme nach diesem Manne ausstreken, und ihn fest ans Herz zu drüken wünschen, wenn er folgende Stelle von den Höllenstrafen bei ihm liest?


»Schreklich ists, in die Hände des lebendigen Gottes fallen. Inzwischen muß man denken, daß dies Erschrekliche nicht [290] kann zunichtmachen; daß Gott die Liebe selbst sei, dem der Zorn etwas fremdes ist; und daß sein Zorn gegen der Liebe nur einen Augenblik währe. Weil nun Gott die Liebe ist; so wird Er auch wissen, die Gerichte über die Sünder so einzurichten, daß – so schreklich die Strafen sind, so hart es klingt, daß Er in der Hölle Leib und Seele auseinander sezt, und zur Verderbnis bringt, so schreklich es anzuhören, daß der Rauch ihrer Qual aufsteige von einer Ewigkeit zur andern, wie der Rauch zu Sodom von einer Ewigkeit zur andern bis diese Stunde, nach den Zeugnissen der Reisebeschreiber aufsteigt; so erträg lich müssen doch die Höllenstrafen seyn, so, daß sie solche Feuerverzehrende Schmerzen, wie wir, nicht fühlen können, weil ihre Leiber nicht verbrennen, sondern, daß sie noch zurükdenken können, und ihre Knie beugen und bekennen, daß Jesus Christus der Herr sei, zur Ehre Gottes, des Vaters![291] – Wenn sonst kein Wort in der heiligen Schrift stünde, als Davids: ›Es werden dir danken, Herr, alle deine Werke;‹ so wäre es genug, das Allzuschrekliche in der Abbildung der Hölle zu mäsigen.«


Ich habe schon oben bemerkt, daß solche Mäßigungen der Höllenstrafen den Menschen nicht sicher und leichtsinnig 18 sondern vielmehr eifriger zum Guten machen müssen. Denn wer sollte einem so lieben Gott nicht alles zu Gefallen thun? – Und ist das [292] nicht Hölle genug – auch Hölle, wenn man im Himmel wäre, – das Misfallen seines so unaussprechlich gütigen Vaters lange Jahrhunderte tragen zu müssen? –

(XII.)

An Hahns und Oetingers Beispielen, auch ausReizens Lebensbeschreibungen einiger Wiedergebornen lernt' ich erst die Würde und Hoheit des Christen kennen. Der irrdische Mensch sieht die Hoheit und Schönheit [293] nur halb, oder gar nicht, zu der die Christen im Verborgnen aufwachsen. – Wie groß sind nun Christen in meinen Augen! Sie hoffen in den trostlosesten Lagen; sie glauben, wo sie nicht sehen; sie dulden unverschuldete Leiden; sie kämpfen ungesehene, unbesungene, ungekrönte Kämpfe; sie stüzen die Welt mit betenden Händen, und befruchten die Erde mit ihren Tränen; sie strahlen Licht aus, und die Finsternis begreift sie nicht; sie thun Gutes, und werden mit Schmach und Verachtung belohnt; sie tragen das heilige unsichtbare Feuer des Geistes Gottes in sich, und werden Dummköpfe gescholten; sie sind die Bewunderung der Engel, und ein Scheusal der Welt; sie sind unausgeborne Götter; sie sterben tausend Tode, und erringen zehntausend Leben; sie tragen die heiligen Spuren ihrer künftigen Hoheit an sich, und werden in allem verkannt; sie steigen von Sprosse zu Sprosse – durch Demut, Glauben, Liebe, Hofnung, Arbeit, Gebet, Tränen, Tod und [294] Verwesung – himmelan, bis die Hütte fällt, und der Gottessohn da steht!! – O wie langweilig ist's, wenn man einen Christen nach Hollazens und seiner Zeitgenossen Art zergliedert! Sie zeigen seine Tugenden, wie Lichtfleken nur einzeln; aber schöner, himmlischer, göttlicher ist die in Ein ganzes, großes Lichtbild zusammengeronnene Gestalt selbst!


Die heilige Paßionszeit hab ich in diesem Jahre auf eine selige Art gefeirt. Da ich gerade in dieser Zeit mein vierzigstes Lebensjahr erreichte; so fand ich tausendfachen Anlas, Gott für die Wunder zu preisen, wodurch er sich an meinem Leib und an meiner Seele auf eine so ausnehmende Weise verherrlichte. – Ich dachte, wie manche nüzliche Menschen, wie viele brauchbare große Gelehrte, z.B. Baumgarten, Töllner, Meinhard, Ludwig, hat Er im vierzigsten Jahre ihres Lebens himweggenommen;[295] welche Hofnungen wurden mit den Cronek, Brawe, Abbt, Michaelis, Hölty, Hartmann, Willamov, verscharrt! – Und du unnüzer, meist schädlicher Mensch lebst noch? Bei all deinen Ausschweifungen, bei all dieser tiefgestürzten Traurigkeit, bei all diesen wiederholten Ankündigungen des Todes lebst du noch! – Gottes Gnade lehrte mich den großen Wert des Lebens stets mehr und mehr kennen. Ich bete nun nicht mehr um meinen Tod; sondern danke vielmehr dem Erhalter meines Lebens für jede Stunde, die Er den kostbaren Tagen meiner Heimsuchung beilegt. Wachsen können in der Geduld, Verläugnung, im Glauben, der Lieb' und Hofnung; seine Einsichten in göttliche Dinge, sonderlich ins große Geheimnis des Vorsazes Gottes mit jedem Tag verstärken, und die Entwiklung seiner innern Gestalt gleichsam fühlen können: – o das ist Wohlthat, das ist Gnade, die unsern wärmsten Dank verdient. – Ja Mensch, bedenke dich wohl, [296] eh du dein Todenlied – gemeiniglich der Ausdruk einer frommen Ungeduld – anstimmst: »Ich bin müde mehr zu leben!« – Glaube nicht, daß es Gott angenehm sei, wenn du im Drange der Leiden dein Gesangbuch haschest, und heulend singst: »Nur Flügel her, dem Himmel zu!« – du mußt vorher sagen können: »es ist vollbracht!« eh du Gott mit solcher grundlosen Zuversicht deinen Geist empfehlen willst.

Die ganze heilige Leidenszeit hindurch empfand ich es so recht, was es heisse, mit Christo zu leiden. Ich hatte mit äussern und innern Versuchungen zu kämpfen. Mein Kommandant warf in der Anwandlung seines so häufigen üblen Humors wie eine Ungnade auf mich, weil ich ihm in der Kirche nicht andächtig und eifrig genug schien. Ob mich ungleich mein Herz wegen dieser Beschuldigung rechtfertigte; so warf mir doch mein Gewissen mehr als einmal den noch so unvollkommenen Zustand meiner Seele vor. [297] Ich war einsam und ohne Trost; ich floh also zur stillen Betrachtung des Leidens Jesu, und lernte meinem Erlöser seine Aengsten, die Schande seiner Verwerfung den Schmerz der zerfleischenden Geißel, jeden Riz der Dornenkrone, jeden Nervenzerreissenden Nagel durch Händ' und Füße, nach dem kleinen Maase meiner Leidenskräfte nachempfinden. – Brust und Zahnschmerzen vollendeten meine Marterzeit; – aber der Tag der Auferstehung Jesu begann, und ich sollte mit trölichem Herzen den Triumf meines Herrn, und der ganzen Menschheit feiern. Ich erhielt an diesem Tage einen gefühlvollen Brief von meiner Gattin, die Erlaubnis in der Kirche die Orgel: zu spielen, und Abends die Freiheit, mit dem Kommandanten um den Wall herum spazieren zu gehen ... Nun hatt' ich über achthundert Tage, nicht das Wehen der freien Gotteslüfte, nicht den erquikenden Sonnenstral empfunden; nicht gesehen die schöne Natur, und die lebende wimmelnde Welt [298] in den Höhen der Schöpfung, und in den Tiefen der Schöpfung. Und o, nun sah ich sie wieder, nach so langen Leiden, nach so hofnungslosen Qualen – die schöne Welt von meinem Walle herab wieder, – weit und breit, hoch und tief im Schimmer des werdenden Frühlings vor mir liegen. Zwar ist die Natur dem Gefangenen minder schön, denn sie scheint ihm beinahe eine Gebundene zu seyn, die in goldnen Fesseln schmachtet: aber doch gab sie mir einige Mutterblike, die wie zärtliches Mitleid, erheiternden Trost in mein Herz ausgoßen.

Man sieht vom Walle des Asbergs ein weites siebenstündiges Thal von Bergen eingefaßt, in mannichfaltiger Schönheit vor sich liegen; – Felder, Wiesen, Ströme, Weinberge, Gärten, Städte, Dörfer und Schlösser schmüken dies Thal, und bilden das schönste, musivische Gemälde, das man sehen kann. Die treflichen Anstalten, die der Kommandant seit seinem Hiersein getroffen, [299] geben auch dem Walle, und der ganzen Veste ein ungemein schönes Ansehen. Ueberall herrscht der Geist der strengsten Ordnung, die selbst Kleinigkeiten nicht aus der Acht läßt, um dem Ganzen seiner Vollkommenheit zu geben. Man sah es am Beispiele dieses Mannes, daß man Christ seyn könne, ohne dadurch seinen bürgerlichen Pflichten etwas zu entziehen. Ja, das Christentum gibt vielmehr allen unsern Handlungen, Anstalten, Verordnungen einen gewissen Geist, den sie ohne dies nicht haben können. Gestärkt an Leib und Seele kam ich in mein Klagezimmer zurük, und dankte Gott für die Wunder dieses Tages. – »Ach!« seufzt' ich, »du hast mir alles genommen, gütiger Vater! um es mir stükweise wieder zu geben, und mir Leichtsinnigen den Wert deiner Gaben fühlbarer zu machen. – Ich las hierauf das schöne Lied, womit mich meine Gattin beschenkt hatte. Hier ist es für die, so der Empfindung der ehlichen Liede noch einen Wert beilegen, wiewohl die Blume dieser Liebe so feinen Geruchs ist, [300] daß sie in der dritten Hand gemeiniglich zu verduften pflegt:«


* * *


»Ausgeweint in trüben Stunden Hat mein Auge seine Kraft, Ruh und Freuden sind verschwunden, Wenn sie Gott nicht wieder schaft.«

»Hin in meine Klagekammer Folgt mein banges Leiden nach, Einsam such' ich meinem Jammer Lindrung, die so lang' gebrach.«

»Fern in Schauerfinsternissen Seufzest du dein Leben hin, Weg aus deinem Arm gerissen Fühl' ich kaum noch, daß ich bin.«

»Holder Frühling, allen Dingen, Die dich fühlen, bist du gut: Wirst du mir auch Wonne bringen? Neu erweken meinen Mut?«

»Wirst du nicht, mein Kummer, enden? Enden nicht, o Herzensdrang? Wirst du mir nicht Tröstung fenden, Gott, auf meinem Lebensgang?«

»Ja du bist der Gott der Liebe, Liebe war dein erstes Thun, Du belohnst die reinen Triebe, Die in unserm Busen ruhn.«

[301] »Nun so steh' in düstern Tagen Meinem liebsten Freunde bei; Laß mich nicht vergebens klagen, Hör mein jammerndes Geschrei.«

»Schik im Lauf von vierzig Jahren Meinem Besten Freude zu, Laß ihn deine Lieb' erfahren, Ström in seine Seele Ruh.«

»Schau, o Gott, auf uns hernieder, Tröstungen im Vaterblik, – Gieß auf unsre Wege wieder Segen, Frieden, Heil und Glük.«

»O dann rinnen Dankes Zähren Auf mein glühend Herz herab; Ewig soll mein Preis dann währen Ihm, der mir den Lieben gab.«

Antwort
am heiligen Osterfeste.

»Und du klagst noch immer, Theure,

Weinest deine Blike stumpf?

Und ich stehe da und feire

Jauchzend meines Herrn Triumf?


[302]

Stehe da auf meinem Walle

Voll von Gott und seinem Lob,

Der mich nach so tiefem Falle

Wieder aus dem Staub' erhob.«


»Seh' auf Hügeln, seh' in Thalen

Die Natur im Feierkleid!

Seh' die Erde wiederstrahlen

Des Erlösers Herrlichkeit.«


»Seh' in trunkenem Entzüken

Engel auf die Frühlingsflur

Aus den jungen Wolken bliken,

Und belächeln die Natur.«


»Hör sie singen: Mensch, wie diese

Bäume, wie der Rosenstrauch,

Wie das Blümchen deiner Wiese,

Freu dich! so erwachst du auch!«


»Und du weinst noch? weine nimmer,

Beste, lüfte deine Brust;

Dieser hohen Hofnung Schimmer

Füllt uns ja mit Himmelsluft.«


»Geh hinaus, und zieh die Düfte

Jedes Blutenzweigs in dich,

Denn der Wohlgeruch der Lüfte

Schwimmt, und düftet auch um mich.«


»Hörst du Nachtigallen schlagen?

O sie schlagen ja auch mir!

Und die Turteltauben tragen

Girrend mir dein Leiden für.«


[303]

»Immer blik' auf Veilchen nieder,

Immer küsse deinen Straus;

Denn die Blümlein düften wieder

Balsam deinem Gatten aus.«


»Ehre, nichts als Gottes Ehre

Klopft mein Herz mit jedem Schlag;

O, ich bin so froh, als wäre

Heut' mein zweiter Hochzeittag!«


»Drum so spare deine Zähren,

Bis du dich mit mir vereinst;

Welcher Engel wird dir's wehren,

Wenn du dann vor Wonne weinst?«


»Ueber'm Grab sollst du mich finden,

Nach durchkämpfter Lebenspein,

Ohne Krankheit, ohne Sünden,

Fessellos und – ewig dein!«


Ich bin nach diesem noch ein paarmal ausgegangen, habe mit Menschen gesprochen, und nach so langer Zeit wieder das Klavier gespielt. Wie krank war meine Fantasie! wie gelähmt meine Faust! Und doch erhielt ich großen Beifall. – Ich weiß nicht, warum ich unruhig wurde, als ich wieder in meine Zelle zurükkam. Der Geist Jesu [304] schien mich zu bestrafen, daß die Eitelkeit Reiz genug hatte, meine Seele nur auf Augenblike ins Aeussere zu jagen; denn derGeist Jesu ist eifersüchtig auf Seelen, die er einmal ergriffen hat. Ich hatte nicht eher Ruhe, als bis ich mich durch Tränen und wiederholte Gelübde, ewig meines Herrn zu seyn, von dem Staube wieder los machte, womit mich der Geschmak am Eiteln beflekt hatte. 19 Einer meiner grösten Fehler ist, daß meine Seele so gerne vom Lichtpunkte der Einfalt hinausstreift auf die Grenzlinien der Vielfalt, sich darüber vergißt, und manches spricht und thut, was hernach in den Stunden der Einsamkeit mein Gewissen misbilliget. Einheitsgefühl ist das Gottähnliche im Menschen; wer dies hat, der bewahr' es sorgfältig: er blike hinaus auf die durchkreuzenden Lichtstralen der Mannigfaltigkeit; [305] aber er lasse sich ja nicht verleiten, diesen seinen Ruhepunkt zu verlassen, wo er alles in Einem, und Eins in allem besizt. Wer viel sehen, viel genießen, viel hören, vieles auf einmal verschlingen will, der hascht nach Luft. Dieses bei mir so oft verwischte Einfaltsgefühl hoff' ich in Christo allein wie der zu finden. Seine ganze Zucht geht dahin, mich von allem nach und nach loszumachen, um mich alsdann ganz mit seinem Geiste füllen zu können. Daher leg' ich ein Erbauungsbuch nach dem andern auf die Seite, und ich sehe den Augenblik sehr nahe, wo mir die Bibel allein, und mit ihr alles gelassen wird, was mein Geist zu seinem Unterricht und Trost bedarf. –

Schwer wird mir's, die Anwandlungen von Fleischesträgheit zu bekämpfen, da ich nicht in der Gemeinschaft irgend einer wahren Christenversammlung lebe, wo uns das Beispiel wekt und treibt. Ich muß meine Reise einsam, und ohne Gefährten fortsezen, und [306] das macht lange Weile, und reizt mich oft, auszuruhen, wo kein Ruheplaz für einen thätigen Christen seyn sollte. Alles ist in der Geisterwelt wie in der Körperwelt, in beständiger Strebsamkeit, im rastlosen Aufflug zum Ziele. Du darfst nur Augenblike ruhen, und ein andrer, den du noch nicht kennst, ist dir vorgeflogen, und strekt den Arm nach der Palme aus, die dein war. Mein Ziel ist die Hofnung, im Reich des Messias angenommen, und auf einen Posten gestellt zu werden, von dem ich etwas zum Wohl des Ganzen, vielleicht auch zur frühern Vollendung derienigen meiner Lieben beitragen kann, die mit einem sehr schwachen Geistesanfang in jene Welt hinüber kommen. Ich weiß, daß es mir unaussprechlich wohl seyn wird, wenn ich dies Ziel erreiche, und da alles freies Geschenk der Gnade Gottes ist; so ist es gewiß nicht Vermessenheit, eine solche Seligkeit zu hoffen. Daher bitt' ich Gott unaufhörlich, daß er mir nur den Glauben an Jesum mehre und bewahre. Nichts ist [307] schwerer, als dieser Glaube, denn er ist ein Alleiniges Geschenk der Erbarmung Gottes, und wie Paulus sagt, »nicht eines jeden Sache.« Man kann vollkommen von der Lehre Jesu überzeugt seyn, man kann auch Jesum seinen Herrn nennen, und im Herzen stößt doch noch ein Widerspruch an den andern. Wir sind nemlich mit der Wahl Gottes nicht recht zufrieden; es ist uns nicht recht, daß Jesus unser Herr ist; wir glauben wohl an sein Königreich, aber wir haben keinen Geschmak an seinen Geistesfreuden und Uebungen. Nur anhaltendes Gebet, nur Studium des Karakters Jesu, und der Beschaffenheit seines Reichs, können uns stufenweise dahin bringen, daß wir Ekel an der Welt und Geschmak am Himmel bekommen, daß wir uns immer mehr in himmlische Einfalt versenken, und endlich aus vollem Herzen in den Triumfgesang des Himmels, der Erde, der Todtengefilde einstimmen: »Das Lamm ist würdig zu nehmen und aufzuthun das Buch mit sieben Sigeln, [308] denn es hat sich schlachten lassen, und uns erkauft mit seinem Blute!« –

Der Geist Jesu ist, wie ich es immer mehr empfinde, vom Geiste Gottes merklich verschieden. Es ist modificirter, durch die verklärte oder himmlische Menschheit Christi bestimmter, individualisirter, auf einen besondern Zwek arbeitender, konzentrirter Gottesgeist. Der Geist Gottes arbeitet mehr ins allgemeine; der Geist Jesu ins besondere. Der Geist bekommt gleichsam einen Geschmak oder ein Gefährt von dem Gefässe, in welches er ausgegossen wird; daher bleibt Mannigfaltigkeit in der Geisterwelt, wie in der Körperwelt ... In diese Gedanken und sonderlich in den erfreuenden Gedanken der Allwirksamkeit und AllgegenwartGottes hüll' ich mich ein, wenn Kummer meine Seele trübt. Was trauerst du, denk' ich oft; Gott ist ja überall, im Sonnenstral und in der Staubwolke, im freien ungemessnen Universum, und hier in [309] deinem engen, dunkeln Gefängnis! – Ich fühl' ihn in mir, ich bemerke seinen Finger in der Lenkung der kleinsten Begebenheiten um mich her; ich weiß, da ich in seinem Strahlenkreise athme, bete, weine, ringe; und daß ich nicht aus diesem Kreise herausfallen werde, auch wenn ich sterbe.


Der Herr ist überall! – O fühl es meine Seele!

Anbetend fühl' es – Gott ist überall!

Im lichten Raum, in deiner Kerkerhöhle!

Im Staubgewölk! im Sonnenstral!


Wo Strahlenbilder stehn und ihre Händ' erheben,

Gleich schwesterlichen Flammen; wo ein Geist

Auf Sonnen denkt; wo Menschenseelen schweben!

Wo dich die Welt der Thiere preist;


Wo Berge stehn, in Thälern und in Schlünden

Wohin kein Aug des Erdenbürgers sah.

Flög' ich gen Himmel, du bist da zu finden,

Sänk' ich zur Hölle, du bist da!


Auch da bist du, wo ich oft bangsam ringe

In dieser Gruft, so todt, so Menschenleer!

Du hörst mich, wenn ich klag' und bet' und singe;

Ich fühl' dein Säuseln um mich her.


Und wenn ich sterbe; Vater in der Höhe –

Nicht wahr? so bist du auch bei mir!

Und wenn ich wieder auferstehe;

So aufersteh' ich dir!


[310] Die oft wundervollen Gebetserhörungen stärkten mich täglich mehr in meinem Glauben, und Gott hat es bereits mit mir dahin gebracht, daß ich ihn für meine Leiden preise, daß ich oft im Kerker so freudig bin, als ich es niemals ausser demselben war, und daß ich meinen Willen dem durch Weisheit und Liebe gelenkten Willen meines Vaters in allem unterwerfe. Ich glaube oft nicht anders, als daß ich im Kerker sterben werde. So schreklich mir dies anfangs vorkam; so ruhig bin ich nun bei diesem Gedanken.Bayle hielt es für ein großes Glük, ungesehen und unbeklagt sterben zu können. Was würd' es mich helfen, unter dem Wimmern meiner Gattin und Kinder hinzuschlummern, und meine Seele noch lange nach dem Tode mit den Eindrüken der Todtenklage zu ängstigen, die um mein Sterbebett erscholl. Ein Unteroffizier, der mir mit rauher Hand über's sterbende Angesicht fährt, und mir die Augen mit einem alten christlichen Seufzer zudrükt, ist mir [311] lieber, als der zitternde Finger eines lieben Weibes, die ich mit Widerwillen zurüklasse. –

Inzwischen fliessen meine Tage so einförmig hin, daß ich aufhöre, die Welt zu interessiren, weil ich aufhörte, zu stürmen. Ich stehe früh auf, ich bete, lese, denke, weine, freue mich, segne die Menschen, die ich durch mein Eisengitter sehe, esse und trinke wenig, flistre mit furchtsamer Stimme durch die Wand zu meinem trauten Freunde Scheidlin hinüber, habe der Welt gute Nacht gegeben, hoffe nichts mehr von ihr, und erwarte die Entscheidung meines Schikfals aus den Händen Gottes. Meine Scherzhaftigkeit ist weggeschwunden, und der Ernst an ihre Stelle getreten. Mein gröster Kummer ist das Gefühl meiner noch so großen Gebrechen, und mein ganzes jeziges Leben besteht in einem Hinschmachten nach Vollendung.

Die Langweile, unter deren schwerem [312] Zepter ich manche qualvolle Stunde hinbrütete, tirannisirt mich immer weniger, je mehr ich lerne, über die gemeinsten Gegenstände lehrreiche Betrachtungen anzustellen. Die plaudernde Schwalbe auf meiner Dachrinne, die gluchzende Henne vor meinem Fenster, und die pipenden Küchlein um sie her; die Spinne, die mit ihrem wundervollen Gewebe die Quadrate meines Gitters verwebt; meine freundliche Nachbarin die Linde, die mir zulieb ihr grünes, luftiges, augenstärkendes Sommerkleid wieder anzieht, und süße Düfte verhaucht; mein Freund, der neben mir seinen neunzeh'njährigen Kummer im geselligen Tabaksrauche durchs Eisengitter hinaus zu verdampfen scheint; die schweigende Miene des Feldwebels, der mir das Essen zubietet; jedes Klirren meiner Eisenriegel, jeder Seufzer der Gefangenen neben mir, jedes Spiel der frölichen Jugend vor meinem Fenster; jedes ehrerbietige Verstummen des Soldaten vor dem Donner des Befehlhabers, und jeder Wirbel der lermenden [313] Trommel, beut mir zuweilen – denn meine Seele springt oft von den Schrauben und ist alsdann schlaff und ohne Ton – Stof zur nüzlichsten Betrachtung.

Da wird ein Soldat durch die Spißruthen geiagt, weil er seinem Kameraden einen Siebzehner stahl; – und du zürnst auf Gott, wenn er Kleinigkeiten zu ahnden droht? die Flamme, die schon oft Städte verwüstete, war zuerst ein kleiner Funken. Weh dem Gesezgeber, der Funken für nichts achtet! – Ein Galliot läuft einem Mädchen in einen Winkel nach: – so gibt's denn auch Frevler, die die Kutte nicht bändigt? – Ein armer Schulmeister schikt mir aus Liebe, mit Vergünstigung des Kommandanten Erfrischungen, und nikt mir von der Gasse herauf Mitleiden und Trost zu: – ich weine! denn eben nicht die Größe der Wohlthat, sondern die Herzlichkeit, womit man sie erteilt, rührt mein Innerstes bis zu Tränen. – [314] Der Pfeiffer bläst unter der Linde einen deutschen Tanz; und alles wird Pantomime. Das Kind hüpft auf den Armen der Mutter, der Knabe ist ganz Pantin, – vom Dreiachteltakt, wie vom Faden gezogen, zukt er rechts und links, das Mädchen nimmt ihn in Arm, und wirbelt mit ihm herum. – Sollte der Tanz verwerflich seyn, da er doch unsrer Natur so angemessen ist? Nicht doch! auch das Tanzen hat seine Zeit.

Eine gaffende Menge von Fremden, die zu den Gittern der Gefangnen hinaufstarren, und nach der Ursache ihrer Gefangenschaft fragen. – – Gott segne euch, ihr lieben Freunde, wenn ihr Mitleid mit uns Armen habt, und hier von unsern Gittern gen Himmel schwört: »Daß ihr zeitlichen und ewigen Banden durch die genauste Befolgung eurer Pflichten zu entfliehen trachten wollt!«

[315] Ein Bauer führt Abends seine Pferde ermüdet in den Stall, der gerad unter mir liegt ... Auch dieser müde alte Gaul wird einst Theil an den Freuden des Menschen nehmen, da er jezt seinen Fluch tragen hilft. – Weine nicht Irokese, traure nicht Araber, du wirst deinen treuen Hund, und du dein gutes Pferd wieder finden.

Einige Soldaten singen das Abendlied: »Nun sich der Tag geendet hat.« Der zärtlich-schmachtende rührende Amollton, die andächtigen Empfindungen des Liedes öffnen mein Herz, und ein Vorgefühl der Wonne durchzittert mich: wenn ich einst mit harmonischen Freunden in meiner Lauberhütte size, und ein Lied des Himmels – herzlicher einfältiger anstimme, als der Nachtgesang war, den Pater Ceva 20 die Hirten vor dem Stalle des Kindes Jesu singen läßt.

[316] Die Nacht sinkt vom Himmel herunter. Die Sterne Gottes gehen auf; ich sehe den Stern an der Brust der Kassopeia grad über mir leuchten, und – »in meines Vaters Hause sind der Wohnungen viele!« – Dieser Gedanke lüpft mich empor, als hätt' ich auch schon eine Stätte in meines Vaters Hause ...

Zu solchen Betrachtungen geben mir die täglichen Ereignisse in meiner dumpfen Sphäre Anlas, und ich kann oft mit dem H. Antonius sagen: »Kannder alleine seyn, der mit Gott allein ist?« O nein, sein Gespräch ist Gott, sein Zeitvertreib Gott, seine Ruhe Gott, seine Freude und sein TrostGott, – sein Alles der allgegenwärtige Gott!!

Und so nehme ich dann von meinen Lesern Abschied – traurig, als müßt' ich eben sterben ... Wenn dir meine Schreibart, lieber Leser, nicht Leben genug hatte; so denk' an meine Umstände, laß dir's vom [317] Herausgeber 21 sagen, unter welchem Zittern und Zagen ich dies mein Leben niederschrieb, niederblutete; denn bis diese Stunde sind mir noch alle Schreibmaterialien verboten. Freilich wirst du in meinem Vortrage Kerkerdampf und Todtengeruch wittern; aber ekelt's der guten Seele an ihrem treuen sterbenden Freunde, wenn er die Hände, feucht von Todesschweis, nach ihr ausstrekt, und den bangen Abschied hervorröchelt. Ich bat oft meinen Wiz, mir eine Rose zu [318] brechen, und er pflükte mir einen Rosmarinstengel vom Todeshügel – betropft von Tränen der am Grabe zurükgelassnen Lieben ... So lebt denn wohl, meine Freunde, die Blut oder gleiche Herzensstimmung mit mir verband! Gott lohn's euch, daß ihr mich geliebt habt; daß ihr mir so viele Fehler verziehen, daß ihr über mein Schiksal Tränen vergossen! – Ja, Gott lohn' es euch, und lehr' euch weise leben, und freudig sterben!

O Vaterland, Gott weiß, ich habe dich geliebt! Noch sind sie nicht alle todt deine freien edlen Biederseelen; aber sie achzen in den Fesseln des Despotismus; sie jammern über das Verderben ihrer Kinder; sie sezen sich wie Elias unter die Wachholderstaude, und sprechen: »Es ist genug! so nimm, Herr, meine Seele zu dir!« – Gott helfe dir, wenn dir zu helfen ist. Wenn ich versammelt werde zu meinem Volke – denn auch nach dem Tode und in künftigen Ewigkeiten hoff' ich euer Mitgenosse zu seyn, ihr meine deutschen Brüder, weil die Nazionen beieinander [319] bleiben; – so will ich dort noch flehen für dein und deiner Brüder Heil, – für all die unzählichen Freuden, die mir deine Sprache, deine Sitten, deine großen Köpfe, deine weisen und frommen Männer, deine sanften einfältigen Weiberseelen, deine Kinder, deine Speisen, deine labenden Getränke, deine schöne Gegenden, – deine Berge, deine Thäler, deine Flüsse, deine Luft, dein gemäßigter Himmel, deine Städte, deine Dörfer deine Gebäude, deine Gärten gemacht haben – – nimm meinen tausendfachen Tränendank! .. Und nun – und noch einige Spannen Erde von dir zu meinem Grabhügel: dann leb' ewig wohl!!

Sei mit meinem Vaterlande, Gott! sei mit deiner Gemeinde, Erlöser! sei mit allen wiederkehrenden Sündern, Geist der Gnaden!!


(am 819ten Tage meiner Gefangenschaft den 21sten April 1779.)

Ende des Zweiten Theils.

Fußnoten

1 Unglüklicherweise war die Bibliothek des GeneralRiegers um ein halbes Jahrhundert zurük; und dieser Zufall hatte einen Haupteinfluß auf die nachfolgende Geistesrichtung meines seligen Vaters.

d.H.

2 Ich fuhr einst mit meinem Vater spaziren. Der Abend war herrlich. Da fieng er an, mir von einem Gedichte »Satans Wiederkehr« zu erzählen, das er schon seit vielen Jahren mit sich herumtrage, das seiner Reife nahe sey, und seine bisherigen Gedichte sowohl an Umfang, als an Energie und Eigentümlichkeit weit übertreffen wurde. Die Idee war diese: »Wann sich das ganze entsündigte All um den Wesenvater versammelt hat; wenn selbst die abgefallenen Geister alle die dunkeln Regionen der Hölle verlassen, um Gnade gefleht – und Gnade von Gott, der die Liebe ist, erhalten haben; dann wirdSatan, von allen Wesen verlassen, noch ein Jahrhundert allein auf seinem Nachtthron sizen; tiefsinnend wird er da sizen; Gedanken werden sich in ihm drängen, wie Wellen des empörten Meeres; die gräßliche Leere wird sein Geist bevölkern; die öden Strekken des Abgrunds wird er auf den Flügeln des Sturms durcheilen; und Welten schaffen, und Welten vernichten.«

»Endlich kann er die Geschöpslose Einsamkeit nicht länger ertragen. Mit verwüstendem Fuß verläßt er sein schwarzes Gebiet, und fleugt empor in die Himmel der Himmel. Vor der Ankunft des großen Gefallenen stehen die ersten Erschaffnen von ihren Stühlen auf, und staunen seinem Vorüberflug nach. Er naht sich dem Trone Jehovahs. Zum erstenmal seit seiner Erschaffung beugt er sein ehernes Knie, und ruft, daß es die Himmel hören: ›Gnade, Weltrichter! Du Erster, du Lezter! Vater des Alls! Allmächtiger! Gnade! Fürchterlich bin ich gefallen – – Unendlicher, richte mich auf!‹ ›Und – Gnade! wird wie Aetherluft von den Lippen des Allvaters säuseln. Seinem Throne wird er selbst entsteigen, und den Flehenden aufrichten .. Die ganze Schöpfung wird es durchtönen:‹ ›Gnade dem Ersten Gefallnen! Gnade dem grösten Geiste nach Gott!!‹« – – »Stell dir das Fest vor, Sohn, wenn keine Sünde, kein Tod mehr ist; kein Mislaut mehr den millionenstimmigen Preisgesang stört; wenn dieser Riesengeist sich an die Spize der Geisterwelt stellt, und mit der Stimme des Donners ruft:« »Ehre dem Ersten, dem Lezten! Ehre dem Weltenvater – der ewigen Liebe allein!!«

So sprach mein Vater in der Glut der Begeisterung zu mir. Nachher führte er mir sogar ganze Stellen aus diesem Gedicht an .. Aber leider fanden sich nicht einmal diese Stellen unter seinen Papieren. Er nahm diese Idee, wie so manche andre, unausgefuhrt mit sich hinüber;

d.H.

unter welchen ich noch am meisten das vorgehabte Werk: »Der Schächer am Kreuz, oder Zustand der Seele vor, bei, und nach dem Tode;« bedaure: zu dem er den Stof durch unermüdetes Nachdenken und Schriftforschen in seiner Einsamkeit, wollte gefunden haben, und das immer eine seiner Lieblingsideen war. Er hatte die Absicht, dieses ganze Werk auf den Ausspruch Christi zu dem Schächer: »Heute wirst du noch mit mir im Paradies seyn!« zu gründen, und in zwei Bänden auszuführen. Auch davon unterhielt' er sich gar gerne, und sagte manche Episode daraus her. Das Ganze war höchst wahrscheinlich; die angenehmsten poetischen Bilder waren nebeneinander gestellt, und jeder Hauptsaz war mit Schriftstellen bestätigt. Sein Plan war schon ganz vollendet, und – hätte sein früherer Hingang es nicht verhindert, so wäre dieses Werk gleich nach der Vollendung seiner Lebensgeschichte, im nämlichen Verlag, von ihm herausgegeben worden. Bei weitem wäre diß – nach seinem eig'nen Ausspruch – ein's seiner vollkommensten, dauerndsten, allgemein beliebten und zugleich populäresten Werke geworden.

3 Auch von diesem Gedichte sprach mein seliger Vater, da ich ihn auf dem Asberg besuchte, öfters mit Bedauren zu mir. Es war in Hexametern geschrieben, und vier Gesänge lagen bereits davon fertig – mit Bleistift sehr deutlich geschrieben – und hinter einer Diele seines Kerkers verstekt. Einst, da er eben die im Kopf verfertigten Hexameter niederschrieb, öffnete plözlich der Kommandant seine Thüre, überraschte ihn noch, da er die Zettel verbergen wollte, und drang so heftig in ihn, daß er das ganze Verbrechen gestand, und leider! auch die verstekten Papiere auslieferte. Vergebens stellte mein Vater vor, daß der Innhalt der unschuldigste von der Welt sey, und selbst ein Inquisitionsgericht aushielte. – Der General verließ ihn mit der Drohung: Daß er ihn an die Wand würde schmieden lassen, wofern er sich wieder mit so heillosem weltlichem Geschreibsel befaßte; nahm die Papiere und sein theures Stift mit sich; und nie sah der arme Gefangene sein Gediche wieder. Selbst unter den Papieren des bald darauf am Schlag gestorbenen Generals – fand es sich nicht, und war also wohl mit alten Raporten und Kuchenzetteln in's Kehricht gewandert.

Auch gegen Fremde, die seine Fürstengruft, sein Krucifix, den ewigen Juden und andere Gedichte lobten, hörte man meinen Vater oft äußern:

»Meine besten Gedichte sind in den Strudeln meines Lebens untergegangen. Weit das beste, was ich auf dem Asberg sang, war der verlorne Sohn – ein episches Gedicht in zwölf Gesängen, wovon beinahe fünf ganz vollendet; die übrigen – klar und fast ganz ausgebrütet in meiner Seele lagen.« s.w.

d.H.

4 Eine wichtige Stelle für dieienigen, die den Hang meines Vaters zur Mystik und Theosophie in der Folge, so gar nicht begreifen wollten.

d.H.

5 ἡ σροσκλαυσις – das Weinen – ἡ ακροασις, das Zuhören und Lesen des Worts, ἡ ὑποπτωσις, das Niederwerfen, συςασις die Vereinigung mit den Glaubigen, ἡ μεδεξις των ἁγιασματων, Genuß der Sakramente – waren diese Stufen und sinds noch, so weit unsre heutige Kirchenzucht davon abgewichen ist.

6 Das weiß der liebe Gott!

d.H.

7 Man ist heutzutage allgemein übereingekommen, daß dieß gar der Sinn der christlichen Moral nicht sey; daß diese unendlich sorgfältiger auf unsre Natur berechnet war – und daß jene Ertödtungen und Kreuzigungen die Erfindung unwissender und lichtscheuer Pfaffen waren.

d.H.

8 Da sey Gott für! »Möcht' nicht in Himmel kommen,« sagte der große Albrecht Dürer, »wenn keine Weiber drin wären!«

d.H.

9 Diese folgten, nach dem mündlichen Zeugnis meines Vaters, gemeiniglich nur alsdann, wenn ein wichtiger Brief für den Herrn General zu koncipiren, oder ein empfehlendes Gelegenheitsgedicht zu machen war.

d.H.

10 Wird im dritten Bande geschehen, wo ich den Faden der Erzählung vornehmlich aus den Nachrichten meiner Mutter, und den vorhandenen Briefen an sie, fortzuführen gedenke.

d.H.

11 Siehe das Gedicht Selmar an seinen Bruder im zweiten Theil, das nach dieser Erzählung erst volle schneidende Verständlichkeit gewinnt.

d.H.

12 Dieser Herr von Sch*****n hat nachher fast gleichzeitig mit meinem Vater, und wo ich nicht irre, vornehmlich durch die Verwendung meines Vaters seine Freiheit erhalten. Eben ihm hat der Verfasser diesen Lebenslauf durch eine dike Wand – mitunter auch durch eine Mündung unter dem Ofen, dictirt.

d.H.

13 Diese Empfindung hat mein Vater in einem Grabliede, der Todtenmarsch, so rührend ausgedrükt, daß ich mich nicht enthalten kann, einige Strofen davon hieher zu sezen. Es ist nach der Melodie des gewöhnlichen militärischen Todtenmarsches gemacht, und wird in unsern Gegenden häufig von den Soldaten gesungen.

»Zieh hin, du braver Krieger, du!

Wir gleiten dich zur Grabesruh,

Und schreiten mit gesunkner Wehr,

Von Wehmut schwer,

Und stumm vor deinem Sarge her.«

»Du warst ein redlicher Soldat,

Der wenig sprach, und vieles that,

Dem Fürsten und dem Lande treu,

Und fromm dabei

Von Herzen, ohne Heuchelei.«

»Du standst in grauser Mitternacht,

In Frost und Hize auf der Wacht;

Ertrugst so standhaft manche Noth,

Und danktest Gott

Für Wasser und für's liebe Brodt.«

»Der liebe Herrgott kannte dich,

In Himmel kommst du sicherlich.

Du Wittwe, und ihr Kinderlein,

Traut Gott allein!

Der wird nun eure Stüze seyn.«

»Die Bahre poltert in die Gruft;

Wir aber donnern in die Luft

Dein leztes Lebewohl dreimal.

Im Himmelssaal

Dort sehen wir dich allzumal.«

»Nehmt seinen Säbel von der Bahr,

Und seid so brav, als wie er war.

Dann überwinden wir wie er,

Und heiß und schwer

Drükt uns des Lebens Joch nicht mehr!«

14 Dieses ganze theosofische System ist in den geistlichen Gedichten meines Vaters, besonders in »Gottes ewigem Rathschluß,« und in dem »Blik ins All,« vorgetragen.

d.H.

15 Geht aber nur die Bekehrten an. Denn Leuten, die ihre Gaben hier misbrauchten, wird sie Gott dort zur Strafe wieder nehmen. Linne' blieb dochLinne', wenn er gleich im Alter seinen Nahmen nicht mehr wußte – und Swift blieb Swift im Tollhause – ob er gleich sein ehmaliges Talent verloren hatte. Man schließe weiter.

Der Verf.

16 Es gehört viel Gnade dazu, bis man für strenge – viele Jahrelang daurende Zucht dem Herrn, als für Wohlthaten, danken kann. Es gibt manche finstre Stunde, wo ich dieß nicht vermag. So lang man am Bein sägt: so erkennt man die Wohlthat der Amputation nicht.

d.V.

17 Ich habe Gründe, weder Hahns und Bengels, noch Hölders apokaliptischen System beizutreten. Levater in seinem Jesus Messias, – mehr noch Herder, haben mir das meiste Licht in der Apokalypse gegeben. Hahn, Bengel, Hölder, sind zu wenig Dichter, als daß sie den Sinn orientalischer Feuersymbole erreichen könnten.

d.V.

18 Doch gibts leider Beispiele, daß diese himmlische Lehre unverschuldet geschadet habe. Ein Wirtembergischer General erzählte mir, daß er kürzlich auf der Jagd einen Bauren angetroffen, der im Zorn zu seinem Gegner sagte: »Kerl, an dich wend' ich auch tausend Jahr!« – der General, dem dieses auffiel, fragte den Bauren: wie er dies meine? »Mein Pfarrer« erwiederte der Bauer, »hat mir gesagt, daß die Höllenstrafen zwar lang, aber nicht ewig dauren – und um meine Rache zu kühlen, verwend' ich tausend Jahre an diesen Kerl.« – Der Bauer war ein Schurke; und doch scheint sein Beispiel darzuthun, daß sühe Entdekungen gewisser Wahrheiten unvorbereiteten Seelen so gewiß schaden, als jähes Licht dem lang gewesenen Blinden. Der weise Okulist führt diesen durch allmähliche Stufen, bis er das volle Licht der Sonne wieder ertragen kann. – Sollt' es der Lehrer mit gewissen Warheiten nicht eben so machen? – Die Aufgabe der Berliner Akademie: »Ob Täuschung einem Staate nüze oder schade?« ist so geringfügig und lächerlich nicht, als sie der herzlose Rösonneur Linguer auszuschreien für gut fand.

Der Verfasser.

19 Ganz der lichtscheue, schriftwidrige, kränkelnde, und entmannende Ton der Pietisten!

d.H.

20 In seinem gefühlvollen Ewigkeit ahndenden»Jesus puer.«

21 Der Herausgeber kann hier nichts als wiederholen: daß mein Vater dies Leben seinem Mitgefangnen, dem ofterwähnten von Scheidlin, durch eine Wandrize unter dem Ofen diktirte. Er pflegte sich nach türkischem Brauch auf den Boden auf eine Matraze zu lagern: Nachbar Scheidlin bot ihm eine Pfeife durch die Rize, sezte sich sofort auf die bare Erde, und schrieb auf einem hölzernen Stuhle das Manuscript, das ich hier vor mir habe. Der verständige Leser fühlt wol, daß es sich in einer solchen Galeerenpositur unmöglich so schreiben lasse, wie in freier Luft, und ermißt von selbst, daß der Verfasser in diesem zweiten Theile vieles gestrichen, hinzugesezt, und abgeändert haben würde, was sich für den Sohn nicht ziemt, und oft ganz unmöglich ist.

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TextGrid Repository (2012). Schubart, Christian Friedrich Daniel. Autobiographisches. Leben und Gesinnungen. Leben und Gesinnungen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-014B-C