[13] 10. Die wilden Frauen.

Von Friedrich Beck.


Sie kommen hervor aus den felsigen Höh'n
Vom Berge die Frauen, die wilden;
Da hütet die Ziegen ein Knabe so schön;
»O hüt' uns die Schäflein, die milden!«
Sie flehen und locken mit schmeichelndem Wort,
Sie haschen ihn eilig, sie ziehen ihn fort
Am ringsum bebüschten, am schattigen Ort;
Das Kind ist hinweg und entschwunden,
Noch hat es kein Auge gefunden.
Es forschte der Vater; wie schmerzlich dringt
Zum Mutterherzen die Wunde;
Ein Jahr ist vergangen; kein Hirte bringt,
Kein Jäger den Aeltern noch Kunde;
Da gingen sie einstmals im Walde hinan:
»Wer sitzet so säuberlich angethan
Mit dem grünen Röcklein auf schattigem Plan?
Der Knabe, der ist es! O Wonne,
Heut schien uns die glücklichste Sonne!«
Sie rufen ihm freudig, sie rufen ihm laut:
»O eil' in die Arme der Deinen!
Wir haben gesund dich und blühend erschaut,
Den längst wir als Todten beweinen;
Wer gab dir Gewande so zierlich und neu?
Wer pflegte wohl deiner so lieb und treu?
Bekenne nur Alles, verkünd' es uns frei;
Wer immer uns schützte den Knaben,
Wir wollen's ihm danken mit Gaben!«
Sie traten ihm näher, sie priesen ihr Glück,
Das Kind, das betrachtet sie lange,
Es heftet mit Schweigen den staunenden Blick
Auf beide gar furchtsam und bange;
Und als sie ihm reichen zum Gruße die Hand,
Da hat es sich eilend zum Fliehen gewandt,
Hat Vater und Mutter nicht wieder erkannt,
Schon ist es im Dickicht entschwunden,
Kein Aug' hat es wieder gefunden.
[14]
Und abermals stiegen von felsigen Höhn
Die Frauen des Berges, die wilden;
Ein Brüderlein hatte der Knabe so schön,
Er war es, auf den sie nun zielten;
Er saß auf dem Rosse, das zog vor dem Pflug,
Den jubelnden Reiter es willig ertrug,
Da gab es wohl Scherze und Lust genug,
Der Vater, er weilte von ferne;
Wie hatt' er sein Söhnlein so gerne!
Und als er die wilden Frauen ersah,
Da kam er zur Rettung geflogen;
Bald war er dem Kinde, dem sträubenden, nah,
Sie hatten's vom Pferde gezogen;
Doch furchtlos schalt er die Frechen aus:
»Gebt meinen Knaben mir schnell heraus,
Was treibt euch so kühn aus dem Felsenhaus?
Schon habt ihr geraubt mir den Einen;
Nicht will ich den Zweiten beweinen!«
Da sahen die wilden Frauen sich um,
Ihr Haar flog nieder im Winde,
Sie standen mit Thränen, sie standen stumm,
Sie ließen die Hand von dem Kinde:
»O wehe, wie wehe ist uns doch gescheh'n!
Wir dürfen dich, Kindlein, nicht wiederseh'n!«
So hörte man klagend zum Walde sie geh'n;
Sie schwanden wie Nebelgedüfte
Auf immer dahin ins Geklüfte.

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TextGrid Repository (2012). Schöppner, Alexander. Sagen. Sagenbuch der Bayerischen Lande. Erster Band. 10. Die wilden Frauen. 10. Die wilden Frauen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-FAC3-B