Arthur Schnitzler
Marionetten
Drei Einakter

[838] I. Der Puppenspieler

Studie in einem Aufzug

Personen

Personen.

    • Georg Merklin.

    • Eduard Jagisch, Oboespieler.

    • Anna, seine Frau.

    • Beider Sohn, acht Jahre alt.

    • Ein Dienstmädchen.
    • [838]

[Stücktext]

Bescheiden, aber behaglich eingerichtetes Zimmer. Zwei Fenster, Blick auf Dächer, Hügel, blaßblauer Frühlingshimmel. Rechts Eingangstür, links auch eine Tür.
Eduard Jagisch von rechts. Schmächtiger, bartloser Mann von etwa 40 Jahren, bescheiden und nett gekleidet; im Gehaben ein wenig befangen, liebenswürdig. Gleich hinter ihm Georg Merklin, etwa 50 Jahre, ziemlich ergrauter Vollbart, dichtes graues Haar; abgetragener Überzieher mit aufgestelltem Kragen, dunkle, etwas fettig glänzende Beinkleider, weicher Hut, staubige, vertretene Schuhe, aber in seinem Auftreten eine gewisse, auch äußere, Vornehmheit.

EDUARD.

Ja, nun wären wir zu Hause. Tritt ein, Georg, ich heiße dich willkommen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich den Zufall preise, wie sehr ich mich freue ... Er legt Hut und Überzieher auf das Sofa. So. – Willst du nicht ablegen?

GEORG
hält seinen Überzieher mit einiger Absichtlichkeit fest.
Danke, danke.
EDUARD
betrachtet die Kleidung Georgs; über sein Gesicht gleitet ein Zug von Mitleid, das er aber nicht merken lassen will.

Ja, du hast recht, es ist etwas kühl. Aber natürlich, man heizt doch nicht mehr Ende April – nicht wahr? Willst du nicht Platz nehmen? Georg bleibt stehen. Nun, Georg, weiß du auch, wie lange es her ist? Mehr als elf Jahre ... jawohl, mehr als elf Jahre haben wir einander nicht gesehen. Und das Sonderbare ist, daß es gerade gestern elf Jahre waren.

GEORG.
Gestern?
EDUARD.

Ja, ich weiß, daß es gerade der achtundzwanzigste April war. Denn der Abend, an dem wir das letzte Mal zusammen waren, ist mir gewissermaßen unvergeßlich geblieben und hat noch in der Erinnerung einen seltsamen Zauber.

GEORG.
Fern.
EDUARD.

Da geht nun eine so lange Zeit hin, in der man gar nichts voneinander gewußt hat – und nun trifft man einander zufällig auf der Straße. Und so hätte man vielleicht sein ganzes Leben in der gleichen Stadt leben können, ohne einander zu begegnen.

GEORG.
Allerdings.
EDUARD.

Aber ohne meine Schuld. Denn was mich anbelangt, so habe ich dich gesucht, habe nach dir geradezu geforscht – zum mindesten in den letzten drei Jahren, seit ich wieder aus [839] Amerika zurück bin. Es lag mir sehr daran, dich wieder zu finden.

GEORG
der auf demselben Fleck stehen bleibt, sich im Zimmer umsieht, gleichgültig.
Warum?
EDUARD.

Warum? Ich sehnte mich nach dir – jawohl! Begreifst du das nicht? Denke doch, wie viel wir in früherer Zeit miteinander verkehrten; besonders in der letzten Zeit meines Wiener Aufenthaltes. In meinem kleinen Zimmer in der Nußdorfer Straße war es, wo du uns dein Stück vorlasest ...

GEORG
am Fenster.
Ein hübscher Blick.
EDUARD.

Ja, das find' ich auch. Darum bin ich so weit herausgezogen. Trotzdem es manchmal seine mißlichen Seiten hat, insbesondere wenn ich spät abends aus der Oper nach Hause fahren muß, bei schlechtem Wetter. Wenn es schön ist, geh' ich manchmal zu Fuß, auch im Winter. Es dauert doch nicht mehr als drei Viertelstunden. Und dafür ist man dann geradezu auf dem Lande. Es ist sogar ein kleiner Garten bei dem Haus; zwar dürfen wir ihn nicht betreten, aber es ist doch für das Kind von Vorteil, wenn es so den Kopf nur zum Küchenfenster hinauszustrecken braucht, um den Duft der Blumen ...

GEORG
wendet sich plötzlich nach ihm um.
Du bist verheiratet?
EDUARD
ein wenig erschrocken, daß er sich zu früh verraten hat.
Allerdings bin ich das.
GEORG.
Ja, warum sagst du mir denn das nicht gleich?
EDUARD.
Ich wollte dich eigentlich überraschen. Ja, hm ... nun ist es heraus.
GEORG.
Schon lang?
EDUARD.

Nun, wie man's nimmt. Jedenfalls steht es fest, daß meine Frau soeben unsern Buben von der Schule abholt, und unser Bub' ist acht Jahre alt – jawohl.

GEORG.
Ah!
EDUARD.
Ja. Und ich darf sagen, daß ich glücklich bin – vollkommen glücklich – schattenlos glücklich.
GEORG
kopfschüttelnd.

Glücklich ... Ich würde nicht wagen, ein solches Wort so kühn hinauszuschmettern. Das ist vielleicht eine Art, Unheil heraufzubeschwören.

EDUARD.
Ich fürchte kein Unheil mehr.
GEORG.
Du hast dich sehr verändert.
EDUARD
vergnügt.
Findest du?
GEORG.

Wenn ich mich erinnere, was du damals für ein ängstlicher, [840] verschüchterter, ja man kann sagen, armseliger Bursche gewesen bist ...

EDUARD.
Oh!
GEORG.
Ja, bleiben wir dabei: ein gedrückter, armseliger Bursche. Und jetzt! ...
EDUARD.

Nun, ich habe eben das Gefühl, daß alles Unglück hinter mir liegt. Jetzt kommt nichts Böses mehr. Ich weiß es. – Nun ja, der Tod. Aber der kommt für uns alle. Ich denke nicht an ihn. Und übrigens, ich versichere dir, hat der Tod nichts Schreckliches mehr, wenn man einmal Weib und Kind hat, die einen beweinen werden. Ich weiß nicht, wie du über diese Dinge denkst.

GEORG.

Ich habe weder Weib noch Kind – stehe also dem Tod ohne Sympathie gegenüber. – Warum siehst du mich so an? Wie findest du, daß ich ausschaue?

EDUARD.
Gut, gut – vorzüglich!
GEORG.
Grau.
EDUARD.

Grau ... Nun, auch ich beginne – sieh nur, hier an den Schläfen. Und du bist ja beinahe zehn Jahre älter als ich.

GEORG.
Ich kannte einen, der mit siebenundzwanzig Jahren schneeweiß war.
EDUARD.

Natürlich – Merlet! Ich kannt' ihn ja auch ... schneeweiß. Ich treff' ihn noch zuweilen, aber man kennt sich nicht mehr ... Ja, das Leben! – Er war ja auch an jenem Abend, an jenem unvergeßlichen Abend, in unserer Gesellschaft.

GEORG
beinahe vor sich hin.

Grau sein beweist nichts. Auch die Jahre beweisen nichts. Gibt es nicht Menschen, die noch mit sechzig oder siebzig Jahren Väter werden – oder Feldzüge mitmachen? Kann man solche Leute alt nennen? Nein. Nur eines beweist, daß man alt ist – der Tod. Alt sind nicht die Hundertjährigen; alt sind, die morgen sterben müssen. Zum Fenster hinausweisend. Diese junge Dame ist uralt, wenn sie an der nächsten Ecke tot zusammenstürzt.

EDUARD
zu ihm hin.

O, ich dachte, du erblickst meine Frau, sie muß nämlich jeden Augenblick kommen ... Nein, nein, sie ist es nicht.

GEORG.
Es hätte mir auch leid getan.
EDUARD.
Leid – warum denn?
GEORG.
Nun, ich habe Grund, mit solchen Bemerkungen vorsichtig zu sein.
EDUARD.
Wie meinst du das?
[841]
GEORG.

Ich will dir eine Geschichte erzählen, die mir vor ein paar Jahren auf der Eisenbahn passiert ist. Es war früh um sechs, ein Wintermorgen. Mir gegenüber sitzt ein Mensch, lehnt in der Ecke und schlummert. Ich kenn' ihn nicht, ich hab' ihn nie gesehen, er interessiert mich nicht im allergeringsten. Plötzlich geht mir der Gedanke durch den Kopf: Stirb! Und mit diesem Gedanken seh' ich ihn eine geraume Weile an. Er schläft weiter und rührt sich nicht. Ich blicke wieder zum Fenster hinaus in die beschneite Landschaft, wie es meine Art ist, und vergesse den Kerl vollkommen. Wir kommen in Wien an. Ich erhebe mich, steige aus, der andere nicht. Der andere bleibt sitzen, regungslos. Ich rufe Leute herbei – man trägt ihn hinaus – er war tot ... tot. Die Ärzte nannten es Herzschlag.

EDUARD.
Jedenfalls ein sonderbarer Zufall.
GEORG.

Zufall? – Weißt du denn, wie viel Tag für Tag auf der Welt geschieht, weil es irgend jemand insgeheim wollte – oder auch nur leichtfertig aussprach? Ahnst du etwas von der geheimnisvollen Macht, die in schöpferischen Naturen steckt? – Ich begab mich zu einem Kommissär und teilte ihm den Sachverhalt mit. »Setzen Sie mich ins Gefängnis, Herr,« sagte ich, »denn offenbar bin ich es, der diesen Herrn ermordet hat. Dabei empfinde ich nicht die geringste Reue.« Aber der Kommissär setzte mich nicht ins Gefängnis – er sah mich so einfältig an wie du und entließ mich wieder.

EDUARD
freudig.

Ja du bist es! Du bist der Alte! Georg, Georg! – Wo nur meine Frau heute, gerade heute so lange bleibt! Wie erstaunt wird sie sein ... Du kannst dir ja denken, daß ich häufig von dir gesprochen habe, Georg. Aber darf ich dir nicht eine Zigarre anbieten?

GEORG.

Danke, nein, danke; ich rauche nicht mehr. Ich habe mir diese überflüssigen Dinge abgewöhnt. Nein, nein, laß nur, ich würde es nicht mehr gut vertragen.

EDUARD.

Wie du willst. Aber setz' dich wenigstens. Und sag' mir endlich, was du denn die ganze Zeit über gemacht hast. Ich kann es so gar nicht begreifen, daß man nichts mehr von dir gehört hat, daß du so gut wie –

GEORG.

Daß ich verschollen war. Nun ja, sprich's nur aus. Ich versichere dir, es tut gar nicht weh, verschollen zu sein. Und ich glaube nicht, daß Menschen meiner Art überhaupt etwas Besseres zustoßen kann.

[842]
EDUARD.

Aber ... damals schien es doch – wir erwarteten alle ... Du warst doch auf dem Wege, etwas Großes zu werden.

GEORG.

Wer sagt dir, daß ich es nicht geworden bin? Müssen es denn die andern merken? Wenn du heute deine Oboe verkauftest, oder wenn deine Finger und Lippen gelähmt würden, daß du nicht mehr blasen könntest – wärest du ein geringerer Virtuose als zuvor? Oder nimm an, du hättest keine Lust mehr und würfest sie einfach zum Fenster hinaus, deine Oboe, weil ihr Klang dir nicht genügte – wärst du dann kein Künstler mehr? Oder wärst du nicht vielmehr erst recht einer, wenn du's zum Fenster hinuntergeworfen hättest, das Instrument, das so ohnmächtig war im Vergleiche zu der göttlichen Musik in deinem Hirn?

EDUARD.
Ohnmächtig – ja! Sieh, was du da sagst, ich hab' es öfters gefühlt.
GEORG.

Nun, ich habe sie zum Fenster hinuntergeworfen, meine Oboe. – Die Dummköpfe haben ausgeschrien: Es fällt ihm nichts ein! Ich lasse sie schreien. Dem wahren Künstler kann nie etwas einfallen, denn er hat alles in sich – er hat die innere Fülle. Das ist es, darauf kommt es an.

EDUARD.

Es ist mir, wie wenn ich dich gestern zum letztenmal gehört hätte – wahrhaftig! Ich kann es nicht fassen, daß wir uns heute zum erstenmal wiedersehn, – seit jenem Abschiedsfest am 28. April.

GEORG.
Es war doch kein Abschiedsfest. Nur zufällig –
EDUARD.

Für mich war es eins. Ich hatte ja schon meinen Vertrag für Boston in der Tasche. Erinnerst du dich nicht mehr? Man trank auf meine Zukunft; du hieltest sogar eine Rede. Erinnerst du dich nicht? – Ah, was für ein Abend! Wie an einen Traum denk' ich an ihn zurück. Als wär' es überhaupt der erste Frühlingsabend, den ich erlebt habe. Wir saßen unter hohen Bäumen, an zwei langen Tischen, die man hatte zusammenrücken müssen. Auf den Tischen brannten Windlichter. Merlet, der Schneeweiße, saß da – dort Habicht, der junge Schauspieler mit den glühenden Augen – dort jene Geigenspielerin, die noch im selben Jahre starb. Und deine Geliebte ... von damals war ganz in weiß gekleidet, hatte dunkelrote Rosen im Haar – und später, als außer uns gar keine Leute mehr im Garten waren, lag sie zu deinen Füßen, den Kopf an dein Knie gelehnt. Sie hieß Irene.

GEORG.

Ja. Sie hieß Irene. – Übrigens erinnere ich mich sehr wohl, [843] daß du dich an jenem Abend auch eben nicht zu beklagen hattest.

EDUARD.
O nein, durchaus nicht. Hab' ich's denn getan? Ich hatte mich keineswegs zu beklagen.
GEORG.

Hast du sie wiedergesehen? Ich meine, ob du sie nach jenem Abend überhaupt noch einmal wiedergesehen hast?

EDUARD
als verstünde er nicht.
Irene?
GEORG.

Nein, nein, die andere. Die an deiner Seite saß. Die Blonde mit dem Kindergesicht. Hast du sie nicht wiedergesehen?

EDUARD.

Diese Blonde? Nein. Ich hatte doch meinen Kontrakt in der Tasche, für Boston. Nach ein paar Wochen mußt' ich jedenfalls fort. Das hatt' ich ja unterschrieben. Was sollte mir da irgend eine Blonde mit einem Kindergesicht?

GEORG.
Es war ein schönes Geschöpf.
EDUARD.
O ja, schön war sie wohl. Eine Freundin von Irene, wenn ich mich recht entsinne.
GEORG.

Ja, ich denke, daß sie befreundet waren, soweit Frauen das eben sein können. Sieht vor sich hin. Dann. Eduard ...

EDUARD.
Nun?
GEORG.
Es war wohl der erste berauschte, sozusagen glühende Abend, den du erlebt hast?
EDUARD.
Es war ein seltsamer Abend, ganz gewiß.
GEORG.
Es waren wohl die ersten zärtlichen Worte, die du zu hören bekamst, – an jenem Abend?
EDUARD.
Du glaubst?
GEORG.

Ich weiß es ja. Wie oft hatt' ich dich seufzen gehört, daß du zum Glück nicht geschaffen, daß du bestimmt wärst, deine Jugend einsam und ungeliebt zu verbringen, weil du ein so verschüchterter und ängstlicher Bursch' warst.

EDUARD.
Nun ja, meine Jugend war freilich recht armselig in mancher Hinsicht.
GEORG.
Bis zu jenem Frühlingsabend, da man dir zum ersten Male glühende Worte zuflüsterte.
EDUARD
mit listigen Augen.
Daß du dich daran noch erinnerst!
GEORG.

Es hat seinen Grund, Eduard. Und ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß uns das Schicksal nur deshalb noch einmal zusammengeführt hat, damit du die Wahrheit erfährst.

EDUARD
wie oben.
Was willst du mir sagen, Georg?
GEORG.

Ich vermute, daß dieser Abend bedeutungsvoller für dich war, als du ahnst. Ich glaube, daß du an diesem Abend [844] den Lebensmut in dich getrunken hast, von dem du auch heute noch erfüllt bist. Denn damals, gesteh es, hast du zum ersten Male empfunden, daß auch du imstande bist, Glück zu geben, Glück zu empfangen.

EDUARD.
Da hast du nicht unrecht.
GEORG.

Wäre jene Stunde nicht gewesen, du wärst wohl dein Lebtag der verschüchterte, ängstliche Bursch geblieben, als den ich dich kannte. Vielleicht hättest du nicht einmal den Mut gefunden, um ein Weib zu werben.

EDUARD
wie überzeugt.
Da magst du wohl recht haben, Georg.
GEORG.

Und wie kam dies alles? Wodurch ward diese außerordentliche Veränderung deines Wesen hervorgerufen? Dadurch, daß du glaubtest, das schöne Mädchen, das dich damals doch zum ersten Male sah, hätte sich auf den ersten Blick in dich verliebt.

EDUARD.
Ich hatte doch alle Ursache.
GEORG.
Du hattest Ursache, es zu glauben; aber du hast dich geirrt.
EDUARD.
Wie? Ist es möglich?
GEORG.
Das Ganze war ein tiefsinniger Spaß, den ich ausgedacht hatte.
EDUARD
in verstellter Verwunderung.
Ein Spaß?
GEORG.

Ja. Es war eine abgekartete Sache. Die Kleine, die so zärtlich mit dir war, tat einfach, was ich wollte. Ihr wart die Puppen in meiner Hand. Ich lenkte die Drähte. Es war abgemacht, daß sie sich in dich verliebt stellen sollte. Denn du hattest mir immer leid getan, Eduard. Ich wollte in dir die Illusion eines Glücks erwecken, damit dich das wahre Glück bereit fände, wenn es einmal erschiene. Und so hab' ich – wie es Leuten meiner Art wohl gegeben sein mag – vielleicht noch tiefer gewirkt, als ich wollte. Ich habe dich zu einem andern Menschen gemacht. Und ich darf wohl sagen: es ist ein edleres Vergnügen, mit Lebendigen zu spielen, als Luftgestalten im poetischen Tanze herumwirbeln zu lassen.

EDUARD.
Höre, Georg, alles in allem genommen, finde ich, du hättest mir das nicht sagen sollen.
GEORG.
Warum?
EDUARD.
Denke nur, ich hätte mir damals allerlei eingebildet; es wäre nun doch einigermaßen beschämend ...
GEORG.
Warum?
[845]
EDUARD
am Fenster.
Ah, da ist sie! Meine Frau! Ah, wie wird sie sich freuen!
GEORG.

Nun, ich will allerdings bemerken, daß ich nicht vorbereitet war. Du wirst die Güte haben, mich bei ihr wegen meiner Toilette zu entschuldigen.

EDUARD.
Aber keine Umstände! Du wirst meiner Frau gewiß willkommen sein.

Anna kaum 30 Jahre, sehr hübsch, höchst einfach, aber mit Geschmack gekleidet, und der achtjährige Bub' kommen herein.
EDUARD.
Nun endlich bist du da! Sieh einmal, Anna, wen ich dir da mitgebracht habe.
GEORG
verbeugt sich.
ANNA
sieht ihn, erkennt ihn, ist sehr überrascht, faßt sich; herzlich.
Sie leben also!
GEORG
blickt auf.
ANNA
streckt ihm die Hand entgegen.
Seien Sie mir willkommen.
GEORG
hat sie erkannt.

Ist es denn möglich? Anna!Zu Eduard. Und dieser Mensch läßt mich meine ganze Geschichte zu Ende erzählen. So ein Pfiffikus ist aus diesem verschüchterten Burschen geworden. Ihr habt euch also geheiratet?

EDUARD.

Ja, wie du siehst. Und nun stelle dir vor, wie wir uns auf diesen Augenblick gefreut, ja, wie wir ihn gewissermaßen herbeigesehnt haben. Ich, und Anna auch.

ANNA.
Ja, ich auch!

Sie betrachtet Georg lange.
EDUARD
zu Anna.

Du mußt nämlich wissen, daß wir seine Puppen waren. An seinen Drähten haben wir getanzt. Sie sind aber allmählich sehr lebendig geworden, deine Puppen; nicht wahr, Georg?

GEORG.
Ja, das bemerk' ich. Das also ist euer Sohn. Ein hübscher Junge. Wie alt bist du denn, kleiner Mann?
DER KLEINE.
Achteinviertel Jahre!
GEORG.
Und wie heißt du denn eigentlich?

Er hält ihn bei den Händen.
DER KLEINE.
Ich heiße Georg Jagisch.
GEORG.
Georg? Zu den anderen gewendet. Georg? Wer von euren Verwandten heißt denn Georg?
EDUARD.

Keiner. Wir haben uns eben erlaubt, ihn nach einem alten Freund, nach einem gewissen Puppenspieler – Er lacht vergnügt. Es war übrigens ein Einfall meiner Frau.

[846]
GEORG
sieht sie alle an.
Kinder, ihr habt wohl keine Ahnung, wie abgeschmackt ihr seid. Vor sich hin. Georg –
ANNA.

Also Bub', jetzt geh' hinein, bring' deine Sachen in Ordnung, wasch' dir die Hände; dann kannst du wieder hereinkommen.

GEORG.

Ja, Georg, dann kannst du wieder hereinkommen. – Georg. Wenn ein anderer so heißt wie wir selber, noch dazu so ein ganz kleines Individuum – das hat im Grunde was unbeschreiblich Komisches.

DER KLEINE
ab.
EDUARD UND ANNA
sehen einander an.
Pause.
ANNA.

So sieht man sich also wieder. Setzen Sie sich doch. Wollen Sie nicht ablegen? Blick Eduards. Allerdings, es ist etwas kühl – wirklich, ich möchte mir am liebsten was umnehmen.

GEORG.

Ja, es ist kühl. Aber außerdem will ich ganz ehrlich gestehen: Ich bin im Arbeitsrock, darum will ich dieses Überkleid nicht ablegen. Ich hatte ja keine Ahnung, daß ich heute plötzlich als Besucher aufzutreten hätte. – Nein, Anna, wie Sie jung geblieben sind!

EDUARD.
So sagt euch doch du, wie damals; es ist doch wahrhaftig kein Grund –
GEORG.
Es ist wahrhaftig kein Grund ... Ei, was bist du jung geblieben, Anna!
EDUARD
betrachtet seine Frau mit Liebe.
Ja.
ANNA
etwas verlegen.
Aber wie kommt es denn nur, wie habt ihr euch denn ...
EDUARD.

Denk nur den Zufall, Anna! Hier vor dem Hause! Nachdem man einen Menschen durch Jahre wie mit Lichtern gesucht hat! Ich gehe spazieren – oder vielmehr, ich komme aus der Probe, da erblick' ich ihn zehn Schritte vor mir – am Gang hab' ich ihn erkannt – und ruf' ihn an. Und er wendet sich um und will wieder seines Wegs gehen.

GEORG.
Ich hab' dich nicht erkannt, ich bin ein wenig kurzsichtig.
EDUARD.

Oder wolltest mir wieder davon. Aber nein, das wäre denn doch zu arg; wenn man jemanden durch Jahre sucht –

GEORG
ernst.
Wie mit Lichtern.
ANNA.
Wo waren Sie denn eigentlich?
EDUARD.

Wo warst du? Ich bestehe darauf, daß ihr euch du sagt, wie früher. Ich bin sonst nicht eigensinnig, aber darauf besteh' ich.

[847]
ANNA.
Wo warst du denn eigentlich in dieser langen Zeit?
GEORG.
Ich war meistens auf Reisen.
ANNA.
Auf Reisen?
GEORG.
Ja in der Welt herum.
ANNA.
Und allein?
GEORG.
Vorzugsweise allein. Anfangs allerdings nicht.
ANNA.
Anfangs bist du wohl mit Irene – gereist?
GEORG.
Ja, mit Irene.
EDUARD.
Hm. Wo – ich meine – Blick Annas. wo sie jetzt wohl sein mag, Irene.
GEORG
ruhig.

Ich weiß nicht. Ich habe lange nicht mehr von ihr gehört. Ich war weit herum. Ich bin sogar in Kalifornien gewesen und in Indien.

EDUARD.
Ah!
GEORG.

Dann hab' ich mich allmählich auf Europa beschränkt, und später sind meine Reisen immer kleiner geworden. Beschreibt mit der Hand eine Spirale. – Der Kreis immer enger. Jetzt mach' ich nur noch Wanderungen in der Umgebung Wiens. Aber das ändert nichts. Denn für mich bedeutet ein Spaziergang auf den Geländen da draußen mehr als für andere eine Fahrt um die Welt. Denn überall gibt es Menschen und Schicksale, wenn man versteht zu sehen und zu hören.

EDUARD.
Im Ganzen lebst du jetzt sehr zurückgezogen, nicht wahr?
GEORG.

Wie man's nimmt. Ich finde auch Gesellschaft, wenn mir's gerade paßt. Ich habe auch Freunde und Freundinnen – für einen Tag. Und ein Tag ist lang, wenn man versteht zu leben. Ich bin wie Harun-al-Raschid, der unerkannt im Volke wandelt. Die Leute, mit denen ich da draußenGroße Geste. rede, ahnen nicht, wer ich bin; und wer von mir Abschied nimmt, weiß nicht, ob er mich wiederfindet. Es ist ein höchst interessantes Dasein.

EDUARD.

Und wenn du nicht spazieren gehst, was fängst du denn dann an? Womit beschäftigst du dich eigentlich? Mit einem plötzlichen Entschlusse. Schreibst du denn noch?

GEORG.
Schreiben ... In dem Sinne, den du dem Worte gibst – nein! In einem andern – ja.
EDUARD.
Ich wußt' es ja!
GEORG.

Nichts weißt du! Es ist euch jedenfalls bekannt, daß man essen muß – wenigstens zuweilen. Nur aus diesem Grunde [848] mache ich gelegentlich kleine Arbeiten für ein Journal. Nicht unter meinem Namen natürlich. Ich könnte ebensogut Kohlen tragen oder Pfeifenrohre schnitzen. Womit ich ausdrücken will, daß diese Arbeit mit meiner Seele nichts zu tun hat, mir nichts von meiner inneren Freiheit raubt. Aber genug von mir! Genug! Pause. Blick zwischen Anna und Eduard. Es ist seltsam.

EDUARD.
Was findest du seltsam?
GEORG.

Wie ihr nun da in einem behaglichen Heim haust; die Lampe hängt überm Tisch; ein Kind wächst euch heran ... Das Dienstmädchen kommt herein. Eine Zofe bedient euch; wahrscheinlich seid ihr auch gegen Unfall und Feuersbrunst versichert –

ANNA
nimmt dem Dienstmädchen das Tischtuch aus der Hand und beginnt selbst aufzudecken.
Das Dienstmädchen ab.
GEORG.
Ja, wer hätte das alles vor zehn Jahren geahnt.
EDUARD.
Ja, wer hätte das geahnt, vor elf Jahren am 28. April!
GEORG
als besänne er sich plötzlich.
Nun versteh' ich aber nicht, wie sich all das gefügt hat. Es war doch ein Spaß.
EDUARD.

Ist aber Ernst daraus geworden. Nicht wahr, Anna? Er nimmt Anna, die eben aufdeckt, um die Taille; sie wehrt leicht ab. Wundervoller Ernst.

GEORG.
Aber wie ist es denn gekommen, daß ihr euch –
EDUARD.
Überlege doch nur, Georg. Das war wohl das Geringste, was sie mir schuldig war.
ANNA.

Sag' das nicht, Eduard! – Wäre es nur meine Schuldigkeit gewesen, die hätt' ich auch damit getilgt, daß ich dir die Wahrheit eingestand.

GEORG
sieht von einem zum andern.
Ach so – nun ist mir alles klar.
EDUARD.
Da irrst du dich aber sehr! Denn das Interessanteste weißt du noch lange nicht!
GEORG.
Und das wäre?
EDUARD.

Das eigentlich Interessante an der ganzen Sache ist, daß Anna früher eine Neigung für dich im Herzen trug.

GEORG.
Für mich? Ach so, nun soll wohl mit mir ein Scherz verübt werden.
EDUARD.

Ein Scherz? das wäre nicht übel. Einen Blick Annas erwidernd. Ach, er soll alles wissen. Wir sind es ihm schuldig. In mancherlei Hinsicht. Jawohl, sie trug eine Neigung für dich im Herzen.

GEORG.
Anna –?
[849]
ANNA
deckt den Tisch, ruhig.

Etwas dergleichen wird es wohl gewesen sein. Sonst hätt' ich mich zu der ganzen Komödie kaum hergegeben.

GEORG.
Das versteh' ich nicht. Kein Wort versteh' ich.
ANNA.
Diese Komödie war nämlich meine letzte Hoffnung, sozusagen. Du solltest eifersüchtig werden.
GEORG.
Ich sollte? Ach so ... Hm, Eduard, es muß dir doch eigentlich unangenehm sein, das anzuhören?
EDUARD.

Unangenehm? Mir? Du bist aber komisch. Ja, merkst du denn nicht, daß ich soeben den größten Triumph meines Daseins erlebe?

GEORG.
Nun ja, wenn es so ist, – dann erzähle mir die Geschichte doch weiter, Anna.
ANNA.

Es ist nichts mehr zu erzählen. Lächelnd. Die Sache ist mir mißglückt, wie du weißt. Du wurdest durchaus nicht eifersüchtig. Und so war es eben zu Ende.

GEORG.
Zu Ende ...
ANNA
lächelnd.

Es mußte wohl zu Ende sein, da die letzte Hoffnung versagte. Nicht wahr? Da mußt' ich mich natürlich abfinden.

GEORG.
Immerhin wäre auch die Möglichkeit zu erwägen, daß es mit deiner Neigung gar nicht so weit her war.
EDUARD.

Das hab' ich für meinen Teil immer behauptet. Es war eher eine Art Freundschaft, die sie für dich hegte, Mitgefühl, wenn man so sagen darf. Und darum lag ihr daran, dich wieder auf den rechten Weg zu bringen.

GEORG.
Auf den rechten Weg –?
ANNA.
Den ich für den rechten hielt.
EDUARD.
Dazu war es vor allem notwendig, dich von deiner unglückseligen Leidenschaft zu kurieren.
GEORG.
Von welcher Leidenschaft?
ANNA
blickt vor sich hin.
GEORG.
Von welcher unglückseligen Leidenschaft?
EDUARD
schweigt.
GEORG.
Irene –? Pause. – Irene –?
ANNA.

Sie war doch gewissermaßen mit Schuld daran, daß du damals nach deinem ersten Erfolg deine geregelte Existenz aufgabst ...

EDUARD.
Daß du aus dem Amt austratest, wo du immerhin dein sicheres Einkommen hattest –
GEORG.

Sie hat an mich geglaubt! Sie hat an mich geglaubt. Sie [850] hat nicht gewollt, daß ich meine freie Seele in die Bande eines täglichen Berufes schlüge.

ANNA.

Ich hätte dich so gern in Sicherheit und Ruhe gewünscht und ich fürchtete, daß du dergleichen bei Irene nicht finden würdest.

GEORG.
Sicherheit? Ruhe? Sind das Dinge, die für mich jemals irgend welchen Wert besaßen?
ANNA.
Nun wie immer, es dachte mancher damals, Irene wäre nicht ganz die Richtige für dich.
GEORG.
Nicht die Richtige?
EDUARD.
Soll ich's mit einem kräftigen Wort bezeichnen, sie hielt dich zum Narren.
GEORG.
Mich? Irene – mich?
ANNA.

Jedenfalls war ich überzeugt, es wäre zu deinem Besten, wenn du nicht mit ihr zusammenbliebst. Mir war sogar manchmal, als fühltest du selbst –

GEORG.
Als fühlte ich selbst –?
ANNA.

Als fühltest du selbst, daß nicht Irene – – Darum habe ich damals in ... der Komödie mitgetan. An jenem Abend schien mir sogar in irgend einem Augenblick, als gelänge das Spiel ... Du sahst mich zuweilen so seltsam an ...

GEORG.
Wie sah ich dich denn an?
ANNA.

Wie du sonst nur Irene anzuschauen pflegtest ... Und an den Tagen, die nun folgten, habe ich mir allerlei dummes Zeug eingebildet. Ich habe gewissermaßen auf dich gewartet. Mir war, als müßtest du ... als ... Pause. Aber du bist nicht gekommen. Und nachdem ich ein paar Tage vergeblich gewartet hatte, wurde es mir endlich klar. Alles. Alles. Und ich habe mich sehr geschämt. Nicht nur für mich; auch für ihn. Für Eduard. Ja wirklich, bis in die tiefste Seele hab ich mich geschämt – für uns beide. Mir war so weh. Am liebsten wär' ich –

EDUARD.
Nein, sprich das Wort nicht aus!
ANNA
still.
wär' ich gestorben ...
EDUARD.

Ja, das hat sie mir auch damals gesagt, Georg. Und auf den Knien ist sie vor mir gelegen ... Das heißt, ich hab' sie natürlich gleich aufgehoben ... und hat mir das Ganze gestanden, alles. Ja, viel mehr, als du selber wußtest. Und in meinen Armen hat sie sich ausgeweint.

ANNA
lächelnd.

Ja. Und so wurde es auch wieder gut. Es dauerte gar nicht so lang. Es war doch ganz gut, dacht' ich bald, daß er nicht gekommen ist.

[851]
EDUARD.

Und sie schrieb mir Briefe, als ich drüben in Amerika war. Ah, und was für Briefe! Alle hab' ich aufbewahrt. Wir lesen sie auch zuweilen wieder. In dem Fach dort liegen sie. Und dann, nach einiger Zeit nahm sie ein Billett und ging zu Schiff und kam zu mir nach Boston. Ja, Georg, hier steht ein Wesen, das mir nach Amerika nachgereist ist, so sehr hat sie mich – geliebt. Pause.

GEORG
nachdenkend.
Und wenn ich damals gekommen wäre, als Sie mich erwarteten?
ANNA.
Da wäre wahrscheinlich manches anders geworden.
GEORG.
Es ist wohl möglich. Von welchen Gefahren man manchmal bedroht ist, ohne es zu ahnen!
EDUARD.
Wieso?
GEORG.

Wenn ich bedenke, es hätte mir passieren können, ein geordneter Hausvater zu werden, wie du – unter einer Hängelampe zu sitzen und eine Zofe in Diensten zu haben ... Nein, laßt uns alle froh sein, daß ich damals nicht gekommen bin. Nein, ich bin nicht dazu geboren, an einem weißgedeckten Tisch zu speisen.

EDUARD.
Aber heute, Georg, heute wirst du es wohl doch einmal ausnahmsweise tun.
GEORG.
Was denn?
EDUARD.
Du bleibst bei uns zu Tische.
GEORG.
Keineswegs.
EDUARD.
Aber sieh doch, Anna hat schon für dich gedeckt.
GEORG.

Nein – ich bitte sehr – laßt das. Ich wünsche nicht, in meiner Lebensführung gestört zu werden. Ich bin nicht mehr jung genug, um langjährige Gewohnheiten abzulegen.

EDUARD.
Um welche Gewohnheiten handelt es sich da?
GEORG.

Ich bin gewöhnt – ob ihr nun darüber lächelt oder nicht – mein Diner, wann es mir beliebt, im Freien, während des Spazierengehens, zu mir zu nehmen – und trage es daher der Bequemlichkeit halber meist in der Tasche bei mir.

DER KLEINE
kommt herein.
Ist die Suppe noch nicht da?
GEORG.

Geduld, mein Junge. Gleich wird sie da sein. Und da ich euch auch nicht in euren Gewohnheiten zu stören wünsche, werdet ihr mir erlauben, mich ergebenst zu empfehlen.

EDUARD.
Aber Georg, was fällt dir denn ein?
GEORG
bestimmt.
Laßt mich.
EDUARD
durch einen Blick Annas aufgefordert, nicht wieder in ihn zu dringen.
Ja, aber man wird sich doch wiedersehn ...
[852]
GEORG.

Es ist möglich, aber nicht gewiß. Wir wollen es dem Zufall überlassen. Ich lebe nach keinem Programm. Und wenn ihr etwa meine Wohnung erfahrt – ich gebe nichts auf Formalitäten, ich erwarte keinen Gegenbesuch.

EDUARD.

Ja, aber wenn du auch nicht besucht werden willst, mein lieber Freund – nimm's mir nicht übel auf – es wäre ja möglich, daß ... ich habe nämlich gewisse Verbindungen – am Ende könnt' ich dir in irgend welcher Weise dienlich sein.

GEORG.
Dienlich? – Es scheint, du willst mir so irgend etwas wie eine Anstellung verschaffen?
EDUARD.
Nun, das wäre doch nicht das Schlimmste.
GEORG.

Es duldet dich wohl nicht, daß du mich so frei und unbeschränkt leben siehst? Ich soll wohl ein Tropf werden wie damals, da die Dummköpfe etwas von mir hielten? Aber die Zeiten haben sich geändert. Als ich arm war, konnt' ich euch geben, was ich besaß – heute bin ich zu reich, um ein Verschwender zu sein.

EDUARD.

Ich denke ja nicht an eine Anstellung im gewöhnlichen Sinne. Aber es wäre ja möglich, daß du bei einiger Ruhe, bei einigem Fleiß auf die leichteste Weise, ja ohne deinen Willen zu Ruhm und zu Reichtum kämest.

GEORG.

Ruhm? – Zehn Jahre – tausend Jahre – zehntausend? Sag' mir, in welchem Jahr die Unsterblichkeit anfängt, und ich will um meinen Ruhm besorgt sein. – Reichtum? – Zehn Gulden – tausend – eine Million? – Sag' mir, um wie viel die Welt zu kaufen ist, und ich will mich um Reichtum bemühen. Vorläufig ist mir der Unterschied zwischen Armut und Reichtum, zwischen Dunkelheit und Ruhm zu gering, als daß es sich mir lohnte, einen Finger darum zu rühren. Laß mich spazieren gehn, Freund, und mit Menschen spielen. Das ist das einzige, was eines Menschen meiner Art würdig ist. Lebt wohl, meine Lieben, ich freue mich, euch wiedergesehen zu haben. Zu dem Kleinen. Adieu – Georg – Adieu! Zu den anderen. Wer weiß, wozu dieser kleine Junge einmal berufen ist. Und wenn man zugleich bedenkt, daß er nie geboren wäre, wenn ich nicht an jenem Abend den Einfall gehabt hätte ... Ihr müßt es ihm erzählen, wenn er einmal groß genug ist, um es zu verstehen.

EDUARD.
Das werden wir uns doch überlegen.
GEORG.
Ein Kind meiner Laune – wahrhaftig. Das Dienstmädchen bringt die Suppe. Adieu.
[853]
EDUARD.
Und keinen Löffel Suppe – es ist geradezu kränkend! Du willst weggehn, ohne das Geringste ...
GEORG.

Nun denn, wenn ihr mir durchaus etwas anbieten wollt, so erlaubt mir, meinem jugendlichen Namensvetter einen Kuß auf die Stirn zu geben. Er hebt ihn in die Höhe und küßt ihn. Nach einer Pause. Vielleicht bedarf dieser etwas rührsame Einfall der Erklärung. Nun, ich habe keinen Anlaß, euch zu verhehlen, daß ich auch einmal eine Frau hatte.

EDUARD.
Du hattest eine – Frau?
ANNA.
Irene!
GEORG.
Ja. Und auch ein Kind.
ANNA
ergriffen.
Einen Sohn?
GEORG.
Ja.
ANNA.
Wo sind sie –?
GEORG.

Meine Frau ist von mir später fortgegangen, und der Bub', den sie mir zurückgelassen ... Absichtlich kalt. ist gestorben. Ja. Ersehet daraus, meine Freunde: – das Schicksal wünscht nicht, daß ich durch Alltagssorgen an den Boden geschmiedet werde. Menschen meiner Art müssen frei sein, wenn sie sich ausleben sollen. Lebt wohl.


Ab.
EDUARD.
Georg! Will ihm nach.
DER KLEINE
hat angefangen, seine Suppe zu essen.
ANNA.
Laß ihn! Laß ihn! Wir wollen ihm nicht das Letzte nehmen, was ihm geblieben ist.
EDUARD.
Wieso denn? Sieht sie an.
ANNA
bindet dem Kleinen die Serviette um.
EDUARD
kommt herbei, streicht ihr über die Haare.
ANNA
blickt nicht auf.
EDUARD
nickt wie verstehend.
Nun ja ...

Sie setzen sich und essen.
Vorhang.
[854]

II. Der tapfere Cassian

Puppenspiel in einem Akt

Personen

Personen.

    • Martin.

    • Sophie.

    • Cassian.

    • Ein Diener.
    • [855]

[Stücktext]

Ein Dachzimmer im Stil Ende des XVII. Jahrhunderts. Kleine deutsche Stadt. Blick durch das Fenster auf Dächer und Türme und weiter hinaus auf eine Hügellandschaft, über die der rötliche Glanz der Abendsonne fließt. Das Zimmer in einiger Unordnung. Eine offene Truhe. Ein offener halbausgeräumter Schrank. Wäsche und Kleidungsstücke liegen auf Stühlen herum. Martin ist beschäftigt, einen Reisesack zu packen. Sophie nahe vor ihm.

MARTIN.
Weine nicht, Kind, – weine nicht.
SOPHIE.
Ich bin ja ganz still.
MARTIN
ohne sich umzuwenden.
Ich höre es deinem Atem an, daß du weinst.
SOPHIE.
Soll ich dir helfen?
MARTIN.
Das könntest du wohl tun. Sieh, dort im Schrank – ganz oben – liegen Taschentücher.
SOPHIE
geht hin.
Neue ... seidene ...
MARTIN.

Gib sie mir. Du nimmst mir's wohl nicht übel, daß ich neue seidene Taschentücher auf die Reise mitnehme.

SOPHIE.
Und die prächtige Spitzenkrause! ... So hast du sie doch dem persischen Handelsmann abgekauft.
MARTIN.

Gewiß. Oder wolltest du, daß dein Liebster sich auf Reisen wie ein Handwerksbursche trägt? ... So reich' sie mir doch her, die Krause. Sophie bringt sie ihm langsam. – Er deutet auf die Krause. Ist dies nicht wieder eine Träne?

SOPHIE
einfach.
Vergib.
MARTIN.

Nun, nun ... Gutmütig; er berührt die Krause leicht mit den Lippen. Nun siehst du wohl, daß ich dir nicht böse bin. Aber sei nur endlich ruhig. Gib dich drein, Kind. Beschäftigt. Es ist ja nicht auf ewig.

SOPHIE.
Das hoff' ich wohl.
MARTIN.
Nun also.
SOPHIE.
Aber wie lange? ...
MARTIN.
Wie lange? Willst du mich zum Lügner machen wider Willen, Kind? Ich weiß nicht, wie lange.
SOPHIE.
Der März ist zu Ende.
MARTIN.
Ich weiß.
SOPHIE.
Auf der Wiese vor der Stadtmauer blühten die Veilchen, als wir neulich draußen spazierten.
MARTIN.
Was soll's?
SOPHIE.
Bist du wieder da, wenn der Flieder blüht?
MARTIN.

Vielleicht früher ... vielleicht auch ein wenig später ... [856] Am Ende erst, wenn die Pfirsiche reif sind – was weiß ich! Jedenfalls komme ich wieder, wenn ich nur am Leben bleibe – und das hoff' ich.

SOPHIE
angstvoll.
Wenn du dich werben ließest, Martin ...
MARTIN.

Werben? ... Ich denke nicht daran. Hab' gar keine Lust, mich herumzuschlagen. Das ist meine Sache nicht.

SOPHIE.

Wenn du erst fort bist! Ich hab' wohl vernommen, wie sie zu locken verstehen, mit List und Tücke! – Und dein Vetter Cassian, von dem du mir so viel erzählst, der ist ja auch Soldat.

MARTIN.

Der tapfere Cassian – ja, mit dem ist es ein ander Ding. Der schlug schon, als er dreizehn Jahr alt war, zwei Räuber tot ... O, dem ist ein menschliches Leben nicht mehr wert als einer Mücke Dasein. Das ist einer!

SOPHIE.
Ich möchte ihn wohl kennen lernen.
MARTIN.

Cassian! ... Das ist ein Held! Ich wette, über kurz oder lang wird er Oberst, General ... Feldmarschall ... Ei, wenn ich Cassian wäre, ich hätte mir längst ein Herzogtum erobert. Bald werden wir ja irgend was der Art hören, das ist gewiß ... Freilich, der tapfere Cassian! – Ich aber bin ein friedlicher Gesell und blase meine Flöte.

SOPHIE.
Und wenn sie dir ein schönes Handgeld bieten?
MARTIN.
Handgeld? ... Bin ich ein Schlucker?
SOPHIE.
Martin, wenn du's so weiter treibst, wird bald nicht viel übrig sein von den gewonnenen Dukaten.
MARTIN.

Mit den tausend Dukaten käm' ich weit. Die lumpigen tausend Dukaten, die ich den Studenten hier abgewann! Das Bettelvolk hier in der Stadt!

SOPHIE.
Weißt du, was sie sagen?
MARTIN.
Kann's mir wohl denken.
SOPHIE.
Du seist mit dem Teufel im Bund.
MARTIN.
Ihnen ist Witz und Glück Teufelei. Ihr sollt eure Wunder erleben! Geht hin und her, macht Toilette.
SOPHIE.
O Martin, Martin!
MARTIN.
Was willst du?
SOPHIE.
Bleib daheim, bleib daheim! Ich ahn' es, du bleibst mir nicht treu!
MARTIN
betreten.
Gab ich dir jemals Anlaß?
SOPHIE.

Was weiß ich denn von dir? Erst im Herbst bist du in unsere Stadt gekommen, und am Weihnachtstag hast du mich zum erstenmal geküßt.

[857]
MARTIN.
Nun, was weiter? Seither hast du mancherlei erfahren! –
SOPHIE.
War es dein erster Kuß? So wie es mein erster war?
MARTIN.
Das kann ich dir schwören.
SOPHIE.

Martin! ... Und von den schönen Frauen, die im Herbst hier das Ballett tanzten, hast du keine geküßt?

MARTIN.
Keine.
SOPHIE.

Bist du nicht alle Abend im Theater gewesen? Hast du nicht gewartet spät nachts, bis sie nach Hause gingen – an der kleinen Tür auf dem Rathausplatz?

MARTIN.
Hab' doch keine gekannt, zu keiner gesprochen.
SOPHIE.
Und die Blume, nach der du haschtest?
MARTIN.
Genug der kindischen Geschichten.
SOPHIE
dringender.
Wie hieß sie, die dir die Blumen zuwarf?
MARTIN.
Ich weiß nicht mehr.
SOPHIE.
Sie tanzte an jenem Abend das gefangene Mädchen aus Athen.
MARTIN.
Das mag wohl sein.
SOPHIE.

Wie ich sie vor mir sehe! Gleich zuckenden Schlangen im Schnee ringelten ihr die schwarzen Locken über die Schultern. Alle, die sie sahen, waren toll vor Entzücken. Und der Erbprinz warf ihr rote Rosen hinunter auf die Bühne ... O, ich weiß es noch! Und später auf der Straße warteten Hunderte; und als sie kam, den Strauß in der Hand, jubelten alle laut, und sie lächelte, und blickte um sich und streute Blumen unter die Menge ... Und du, ja du ... du! du bücktest dich und jagtest nach einer und hobst sie vom Boden auf und verwahrtest sie – ich hab's wohl gesehen! – an deiner Brust.

MARTIN
greift unwillkürlich nach seiner Brust.

Er wirft einen flüchtigen Blick nach Sophie, ob sie's gesehen. Nun, was soll's? Sie ist fort, ich habe nichts mehr von ihr gehört.

SOPHIE.
Aber mich bangt, Martin, daß du mich einmal über solch einer vergessen und verraten könntest.
MARTIN.
Unsinniges Zeug! ...
SOPHIE.

Denke, Martin, daß sie alle falsch sind, die heimatlos durch die Welt ziehen ... so schön sie auch tanzen oder singen mögen. Und denk', es wär ein Unglück auch für dich, Martin, wenn du mich vergäßest!

MARTIN
ungeduldig.
Wie spät ist's an der Zeit?
SOPHIE.
Es läutet zur Vesper, Martin.
MARTIN.
Drei Stunden noch! ... Drei lange Stunden, bis die Post abgeht.
[858]
SOPHIE.
Lange? ... lange? ...
MARTIN.
Hab' ich dir weh getan?
SOPHIE
ausbrechend.
Warum ... warum gehst du fort?!
MARTIN.

Wie oft noch die törichte Frage? Weil mich irgendwas forttreibt ... Das strömende Blut in mir ... der blühende Frühling draußen ... Was Neues will ich sehen – Menschen – Städte! ... Mich ärgern die Wände hier – die Mauern engen mich ... kein Lied mehr will mir über die Lippen ... Hin und her; sieht den unruhigen Blick Sophiens auf sich gerichtet. 's ist so was Dummes um die letzte Stunde vor dem Abschied! ... Mußt du nicht nach Hause, Sophie? – es wird spät.

SOPHIE.
Wenn du willst, Martin, geh' ich gleich fort.
MARTIN.
Nicht, daß ich wollte, aber die Mutter ...
SOPHIE.
Heute dürft' ich länger fortbleiben. Ich wollte dir noch das Geleit bis zum Posthaus geben.
MARTIN.
So? ... Nun, es ist gut. So können wir wohl miteinander zu Abend essen.
SOPHIE.
Freilich.
MARTIN.
Laß uns gehen.
SOPHIE.
Wohin?
MARTIN.
Ich denke, wie neulich, an den Fluß – ins Wirtshaus zum goldnen Schwan.
SOPHIE.
Dorthin –? ...
MARTIN.
Willst du nicht?
SOPHIE.
Du kannst dir's wohl denken! ... Die Soldaten dort und Studenten, die keck dreinschauen ...
MARTIN.
Ei, deswegen? Das kümmert uns wenig.
SOPHIE.
Wieviel fehlte neulich, daß ihr mit den Degen aufeinander losgegangen wärt?
MARTIN.
Es ist nicht meine Schuld. Ich duld' es nicht, daß dich einer anblickt, wie sich's nicht schickt.
SOPHIE.
Wär's nicht traulicher, zu Haus zu bleiben?
MARTIN.

Traulich wär's wohl. Aber es ist nichts zu essen da. Frau Brigitte ist fort seit heut nachmittag, und mein Diener kommt erst, wenn's Zeit ist, den Sack auf die Post zu tragen.

SOPHIE.
Ich will selber was holen.
MARTIN.
Willst du?
SOPHIE.
Ein bißchen kaltes Fleisch, Backwerk, Orangen und Datteln – ist's dir recht?
MARTIN.
Gutes Kind! Was wirst du nun wohl tun all die Abende, die ich fern bin?
[859]
SOPHIE.
Dein gedenken ... was soll ich anders! –Wehmütige Umarmung.

Es ist ziemlich dunkel geworden. Schwere Tritte auf der Treppe. – Die beiden schauen auf. Cassian tritt ein, in phantastischer Uniform.
CASSIAN
sehr laut und heftig.
Bin ich recht hier?
MARTIN.
Vetter Cassian!
CASSIAN.

Ja, ich bin es ... Woher dringt diese Stimme? ... Es ist meines Vetters Martin Stimme, die aus dem Dunkel zu mir schallt ... Sei mir gegrüßt, Vetter Martin! ... Und einen guten Abend dem schönen Fräulein.

MARTIN.
So dunkel es sein mag, ob irgend ein Fräulein schön ist, sieht er gleich.
CASSIAN.
Mehr Klugheit als scharfes Aug' ... Wär' es die alte Tante Cordula, du hättest längst Licht gemacht.
MARTIN.

Mach' Licht, Sophie, mach' Licht! Auf daß du den Gespielen meiner Jugend, meines Vaterbruders Sohn, den tapfern Cassian von Angesicht zu Angesicht erblickest!


Sophie ist zu Cassian getreten und betrachtet ihn. Sie starren sich gegenseitig ins Auge. Dann erst macht sie Licht.
MARTIN.
Woher, Cassian? ... wohin? ... wie lange bleibst du? ... was führt dich her?
CASSIAN.
Zu viel Fragen für einen, der hungrig, durstig und müde ist.
MARTIN.

So mußt du nun für drei sorgen, Sophie. Beeil' dich ein wenig – du weißt, wir haben nicht viel Zeit ... Kaltes Fleisch, Backwerk, Orangen und Datteln – wie du sagtest.

CASSIAN.
Und vom Sekt sprachen Sie nichts, Fräulein? Das täte mir leid.
SOPHIE.
Ich werde alles bringen, was Sie wünschen.
MARTIN.
Sei rasch zurück!
SOPHIE.
Auf Wiedersehen.
CASSIAN
streckt sich aufs Bett.
Vortrefflich! Ah, da möchte man wohl vierundzwanzig Stunden ruhen!
MARTIN.
Wenn es dir beliebt, brauchst du nicht wieder aufzustehen. Ich verreise.
CASSIAN.
Das trifft sich gut. Da trittst du mir wohl auch dein Zimmer für eine Nacht ab?
MARTIN.
So lang du willst.
CASSIAN.
Etwa auch das Fräulein, das uns Abendessen holt?
[860]
MARTIN.
Hier hört mein Recht zu verfügen und deines zu fragen auf.
CASSIAN.
Oho! vor einem Jahr hättest du keine so rasche Antwort gefunden.
MARTIN.
Und heut über ein Jahr hätt' ich dich vielleicht statt aller Antwort ...
CASSIAN.

Mit deinem Degen aufgespießt. Laß es mich lieber selbst sagen, sonst könnt' es ein übles Ende nehmen. Und das wäre dumm, denn ich wünsche, gut Freund mit dir zu bleiben. Gib mir die Hand.

MARTIN.
Sei willkommen.
CASSIAN.

Laß dich betrachten. Du hast dich verändert. Dein schüchtern frommes Wesen ist fort ... die Stadt hat dich gebildet, wie es scheint. Gehst du noch zur Kirche?

MARTIN.
Ach Cassian, das Leben selbst hat Himmel und Hölle genug! ... Was brauch' ich Kirche und Pfaffen!
CASSIAN.

Prächtig! prächtig! ... Was ist dir widerfahren? Hast du dem Schah von Persien die Krone vom Nachttisch gestohlen? ... fährst du morgen in einem vergoldeten Gespann mit sechs weißen Pferden nach Hinterindien? ... hast du den Erzbischof von Bamberg vergiftet und ist man dir auf der Spur? ... reisest du auf die Löwenjagd nach Afrika? ... hat dich der Sultan in seinen Harem geladen? ... oder bist du am Ende der Kerl, der neulich auf der Landstraße zwischen Worms und Mainz die Kutsche überfiel, darin die schöne Gräfin von Wespich und ihre schöne Tochter saßen? ... bist du's am Ende, der den Kutscher an einen Baum hing und den beiden Damen die Kinder machte, die vorgestern zur gleichen Stunde auf die Welt gekommen sind?

MARTIN.
Nichts von alledem.
CASSIAN.

Ah – ich hab' es geahnt: das Mädchen, das uns Datteln und Orangen holt, ist eine verkleidete Prinzessin.

MARTIN.
Aber von der ist ja gar nicht die Rede!
CASSIAN.

Wetter, es gibt einen, der den Cassian neugierig machen kann ... und der eine ist mein kleiner Vetter Martin!

MARTIN.

So höre! ... Er nimmt aus seinem Wams eine Blume. Die da ist von einer, die ich noch nicht einmal gesprochen habe, und die ich liebe wie ein Toller. Im Herbst war sie hier in der Stadt und hat getanzt – sie heißt Eleonora Lambriani ... Er schwankt.

CASSIAN.
Was ist dir?
[861]
MARTIN.
Mich schwindelt, wenn ich den Namen ausspreche.
CASSIAN.
Eleonora Lambriani? ... Des Herzogs von Altenburg Mätresse?
MARTIN.
Gewesen!
CASSIAN.

Die in Fontainebleau nachts im Schloßpark vor dem König von Frankreich und seinen Offizieren ohne Schleier tanzte –?

MARTIN.
Ein Dummkopf, der's nicht begreift! Sie war von ihrer Schönheit berauscht.
CASSIAN.

Die den Grafen von Leigang zum Fenster in den Hof hinunterwarf, daß die Hunde auf ihn stürzten und ihm ein Ohr abfraßen –?

MARTIN.
Es war nur einen Stock hoch und er behielt das andere ...
CASSIAN.

Die einmal schwor, neunundneunzig Nächte lang jede Nacht einen andern Liebhaber zu beglücken, von denen keiner was Geringeres sein durfte als ein Fürst, – die ihren Schwur hielt und sich in der hundertsten einen Savoyardenknaben mit seinem Leierkasten ins Schlafgemach holte –?

MARTIN.

Ja, sie ist's, sie ist's! die Elende, Herrlichste, Schönste! Und ich will sie – ich muß sie haben! Und dann sterben!

CASSIAN.

Willst du? Hm ... Es könnte sein, daß du sie für einen Groschen kriegst; – es ist aber auch möglich, daß sie zehntausend Dukaten fordert für einen Kuß auf die Fingerspitzen. Es ist möglich, daß sie auf deinen ersten begehrenden Blick ihr Hemde mitten entzweireißt – es kann aber auch sein, daß sie dich gegen tausend Türken schickt, bevor sie dir erlaubt, ihr die Schuhschnalle aufzusprengen.

MARTIN.
Ich bin bereit.
CASSIAN.
Weißt du, wo sie in diesem Augenblick weilt?
MARTIN.

In Homburg. Dort tanzt sie bei den Festlichkeiten, die anläßlich der Monarchenzusammenkunft stattfinden. Und morgen früh bin ich dort.

CASSIAN.
Wo hast du deine Schätze vergraben?
MARTIN.
Heut sind sie noch in anderer Taschen. Aber morgen vor Abend bin ich reich.
CASSIAN.
Wie willst du das machen?
MARTIN.

Sollte dir nicht bekannt sein, daß in Homburg zu den Festtagen alle Spieler Europas zusammenströmen? ... Wer sich mit mir einläßt, dessen Reichtum ist mein. Ein Tag ist lang, wenn man Glück hat. Und abends begeb' ich mich ins Theater, setze mich ans Proszenium, sehe Eleonore tanzen, [862] und nachher warte ich vor ihrer Tür, lege ihr meinen Reichtum, mein Herz und mein Leben zu Füßen.

CASSIAN.
Und wenn sie nichts von dir wissen will?
MARTIN.
Bin ich um Mitternacht eine Leiche.
CASSIAN.

Deine Phantasie lahmt zu früh. Um ein Uhr nachts will ich mit ihr auf deinem Grabe ein Menuett tanzen und der Kaiser von China soll von einem Luftballon aus zuschauen.

MARTIN.

Du hast recht, dich über mich lustig zu machen, Cassian, denn du kennst nur meine Hoffnungen und Wünsche, nicht aber meine Kraft und Kunst. Du weißt nicht, daß ich gewinnen muß.

CASSIAN.
Muß?
MARTIN.
Wie immer die Würfel fallen – sie fallen für mich.
CASSIAN.
Du bist dessen sicher?
MARTIN.
So sicher – wie meiner Augen und meiner Hand.
CASSIAN.
Hast du's erprobt?
MARTIN.

Natürlich. Zuerst spielte ich mit mir selbst. Als ich meiner Sache gewiß war, lud ich mir Freunde ein, Studenten wie ich, einer brachte den andern, alle verloren, und heut ist in meinen Taschen das ganze Geld der Stadt. Es ist nicht eben viel, tausend Dukaten, aber es reicht zu Ausstattung, Reise und erstem Einsatz.

CASSIAN.
Mich juckt's ... Bist du deiner Sache ganz sicher?
MARTIN.
Versuch's doch! Hier sind Becher und Würfel; wir wollen spielen.
CASSIAN.

Vortrefflich. Nimmt den Becher zur Hand. Aber was ist's mit dem schönen Fräulein, das uns das Essen holt?

MARTIN.

Das arme Kind! – Du weißt ja, Cassian, als ich im Herbst von dir Abschied nahm, du zum Regiment einrücktest und ich die Universität bezog, war ich ein unschuldiger Knabe, hatte noch keines Mädchens Mund geküßt, keinem Liebe geschworen. Durft' ich Eleonoren so gegenübertreten? ... Ich wagt' es nicht! In Sophiens Armen hab' ich küssen gelernt, ihr schwor ich die Eide, die Mädchen gerne hören. Den Glühenden, Eifersüchtigen, Zärtlichen hab' ich gespielt und weiß, aus einem Weib zu machen, was ich will. Eine letzte Probe steht noch aus, daß ich mich sieghaft und stark genug fühle, um vor der Angebeteten nicht zu zittern. Eh' ich die Stadt verlasse, will ich ihr sagen, daß ich sie niemals wiedersehe; und du sollst Zeuge sein, wie sie eilends zu diesem Fenster hinfliegt, um sich hinabzustürzen.

[863]
CASSIAN
die Würfel schüttelnd.
Dein Einsatz, Vetter Martin! – Wie? nur einen Dukaten?
MARTIN.
So beginn' ich.
CASSIAN
würfelt.
Drei.
MARTIN
ebenso.
Vier.
CASSIAN.
Das war eben nichts Besonderes.
MARTIN.
Nicht mehr als ich brauchte.
CASSIAN.
Zehn.
MARTIN.
Elf.
CASSIAN.
Zwölf ... Ha, nun wird's dir nicht gelingen!
MARTIN.
Zwölf.
CASSIAN.
Teufel! – Elf!
MARTIN.
Zwölf. – Vorwärts!
CASSIAN.
Vorwärts? Ich bin zu Ende. Ich habe keinen Heller mehr im Sack. Sophie kommt herein.
CASSIAN.

Gnädiges Fräulein, hier sehen Sie einen, der in diesem Augenblick so arm ist wie eine Kirchenmaus ...

MARTIN.
Das sollst du nicht sagen ... Hier, mein Freund, es ist ein Dukaten. Ich leih' ihn dir gern.
CASSIAN
steckt ihn in die Westentasche.
Man kann nicht wissen ...
SOPHIE
bereitet den Tisch, schenkt ein.
So ist es wahr, daß er ein System hat, mit dem er unfehlbar gewinnen muß?
CASSIAN.

Es scheint so ... Ich danke. Auf Ihr Wohl, mein Fräulein ... Auf dein Wohl, Vetter Martin ... Wer mir das gestern prophezeit hätte, daß ich heute an einem gedeckten Tisch im Freundeskreise sitzen sollte ... Ei, was Sie für ein hübsches Häubchen haben, Fräulein!

MARTIN.
Wahrlich, es ist hübsch. Du hattest es nicht, da du fortgingst, das Essen holen.
SOPHIE.

Ich wohne ja so nah. Ich lief auf einen Augenblick in meine Kammer – man muß sich doch ein wenig anständig herrichten, wenn der Liebste so vornehmen Besuch bekommt.

MARTIN.
Sie weiß, was sich schickt, nicht wahr?
CASSIAN.

Und was schmeckt, nicht minder. Ich schwöre, daß die Trüffelpastete, die ich beim Herzog von Andalusien zum Frühstück aß, eine lächerliche Bettlerkost war gegen diese!

MARTIN.

Das ist kaum möglich ... Wahrhaftig, es ist ein ganz bescheidenes Wirtshaus, aus dem die Pastete kommt, und der Koch ist aus dem Städtchen wohl nie herausgekommen ... nicht wahr, Sophie?

SOPHIE.

Du irrst, Martin. Da ich doch schon zu Hause war, bin [864] ich gleich über den Markt gelaufen, in den Gasthof zum wallfahrenden Kamel – dort haben sie jetzt einen Koch, den der Großherzog von Parma zum Land hinausgejagt hat, weil er so gut kochte, daß die Prinzessin ihn durchaus heiraten wollte.

CASSIAN.

Es lebe der Großherzog, die Prinzessin und das wallfahrende Kamel ... und Sie mein Fräulein! Sie trinken.

CASSIAN.
Köstlich! ... Ich habe nicht gedacht, daß die Keller hier mit so trefflichem Weine versorgt seien.
MARTIN.

Daran ist in der Stadt kein Mangel. Dabei sind sie so wohlfeil als irgendwo. Die Flasche dreizehn Groschen – nicht wahr, Sophie?

SOPHIE.

Nein, Martin. Dies ist der beste Wein, den sie im wallfahrenden Kamel haben. Die Flasche kostet einen Dukaten.

MARTIN.
Teufel! Haben sie dir's auf dein Gesicht hin geliehen?
SOPHIE.

Nein. Ich ließ das goldene Armband zum Pfand, das du mir neulich schenktest ... Sollt' ich nicht, weil wir doch so vornehmen Besuch haben ...?

CASSIAN.

Mein Durst ist gut, der Wein ist besser – aber Ihre Freundlichkeit, Fräulein, ist besser als Durst und Wein. Erlauben Sie, daß ich Ihnen die Hand küsse, Fräulein.

SOPHIE.

Nennen Sie mich doch nicht »Fräulein« – ich müßte mich schämen. Meine Mutter ist eine arme Witfrau, und mein Vater war zu seinen Lebzeiten ein bürgerlicher Schmied.

CASSIAN.

Das mögen Sie einem einreden, der weniger von der Welt und von den Weibern versteht ... Ihr Vater war kein Schmied.

SOPHIE.
Ich versichere Sie, Herr Offizier ... meine Mutter ist eine ehrsame Frau.
CASSIAN.

Wir wollen nicht daran zweifeln, Fräulein, daß Ihre Mutter nach ihrem besten Wissen tugendhaft gewesen; aber schwören will ich, daß sie sich, während sie Euch unter dem Herzen trug, an der heidnischen Göttin Venus selbst verschaut hat, die ihr wohl im Traum erschienen sein mag. Solches widerfährt den ehrbarsten Frauen; ich selber war zu dem Traum einer vornehmen Dame geladen, der ein Mohrenfürst erschien und die ein kohlrabenschwarzes Mägdelein auf die Welt brachte!Glocken.

MARTIN
ungeduldig.

Den Nachtisch! Die Stunde drängt! ... Wie? nichts mehr da? Ei, Sophie, so hast du trotz aller Sorgsamkeit doch etwas vergessen!

[865]
SOPHIE.
O nein! Sie bringt einen Aufsatz mit Früchten.
CASSIAN.
Herrlich! ... Sie duften so frisch, als wären sie eben vom Baume gepflückt.
MARTIN.
Wie kommst du zu so prächtigen Früchten? ... Wie kommen so herrliche Früchte in diese Stadt?
SOPHIE.
Es ist ein Zufall. Im Schaukasten des Silvio Renatti sah ich den Aufsatz ausgestellt.
CASSIAN.
Schön genug, um eine herrschaftliche Tafel zu zieren.
SOPHIE.

Dafür war er auch bestimmt. Der Bürgermeister empfängt heute den Fürsten von Dessau, der sich auf der Durchreise zum Kriegslager hier aufhält ...

MARTIN.
Nun? ... bin ich der Bürgermeister? ... ist dies der Fürst? ...
SOPHIE.
Nein, das nicht.
MARTIN.

Oder hab' ich dir mehr Schmuck gegeben, als ich mich erinnere, daß du imstande warst, diesen Aufsatz zu bezahlen?

SOPHIE.
O nein. Diese Rechnung hab' ich in anderer Art beglichen.
MARTIN.
Und wie, wenn's zu fragen erlaubt ist? –
SOPHIE.
Der junge Italiener, der im Laden stand, verlangte einen Kuß dafür ...
MARTIN.
Und du bezahltest so?
SOPHIE.
Sollt' ich nicht, da wir so vornehmen Besuch haben?
CASSIAN.

Sie haben über alle Maßen edel und gastfreundlich gehandelt, Fräulein. Aber ich schwöre, wenn diese Früchte eben aus dem heißen Sizilien kommen, wenn der, der sie pflückte, an Sonnenstich zugrunde ging, der, der sie nach Deutschland brachte, an Heimweh verstarb und Bürgermeister und Fürst vor Kränkung darüber wahnsinnig werden, daß sie auf einen solchen Nachtisch verzichten müssen, – der freche Italiener hat sie sich doch tausendfach überzahlen lassen, und er soll es mir büßen, eh' ich die Stadt verlasse ... Nun aber wollen wir's uns schmecken lassen.


Sie essen.
Sophie sieht Cassian an. Martin beobachtet sie. – Schweigen. Dann.
MARTIN
zu Cassian.
Woher kommst du denn eigentlich?
CASSIAN.
Woher? ... Soll ich's mit wenigen Worten sagen oder die ganze Historie erzählen?
MARTIN.
Mit wenigen Worten, wenn du's vermagst.
CASSIAN.

Es ist nicht so einfach zu berichten. Ich komme aus einer Schlacht, wo mir zwei Pferde unterm Leib und drei Mützen [866] vom Schädel weggeschossen wurden. Des Fernern komm' ich aus der Gefangenschaft, wo etliche brave Kameraden verhungert und von Ratten aufgefressen worden sind. Ferner vom Richtplatz, wo sieben an meiner Seite füsiliert und ich mit ihnen für tot in eine Grube geworfen wurde, obwohl alle Kugeln an mir vorbeigepfiffen waren. Ferner aus den Krallen eines Geiers, der mich für Aas hielt wie die andern, die sich an meiner Seite bereit machten zu verwesen, und der mich aus Bergeshöhe auf die Erde herunterfallen ließ, – glücklicherweise auf einen Heuschober. Ferner aus einem Wald, wo mich ein paar Kaufleute für ein Gespenst ansahen und mir in ihrem Schrecken allerlei gutes Zeug und Bargeld zurückließen. Ferner aus einem gar lustigen Haus, wo Kroatinnen und Tscherkessinnen und Spanierinnen meinethalb mit den Dolchen aufeinander losgingen, und ihre Galans mich umbringen wollten, ... so daß ich durch den Rauchfang aufs Dach flüchtete und fünf Stockwerke heruntersprang, ... kurz und gut: ich komme aus so viel Abenteuern, daß ein anderer mehr Mühe hätte, sie zu erfinden, als es mir gemacht hat, sie zu überstehen.

SOPHIE.
Herrlich!
MARTIN.

Seltsam! ... Und aus den tausend Fährlichkeiten bist du entkommen – ei, hattest du Glück! – ohne Wunden?!

CASSIAN.
Das würd' ich sagen, wenn ich ein Aufschneider wäre; aber da ich es nicht bin – seht!
SOPHIE.
Ich sehe nichts.
CASSIAN.
Wie, mein Fräulein, Sie sehen nicht, daß der Nagel an meinem kleinen Finger gebrochen ist?

Er trinkt. Sophie sieht ihn staunend an.
MARTIN
immer ärgerlicher.
Woher du kommst, wüßten wir nun, ... aber wohin gehst du denn?
CASSIAN.
Sobald ich von meiner Verletzung wieder hergestellt bin, rücke ich zu meinem Regiment ein.
SOPHIE.
O, wenn Sie mich doch mitnähmen!
MARTIN.
Bist du toll, Sophie?
SOPHIE.

Was soll ich ferner hier? Ich denke, eine flinke Marketenderin ist in Kriegszeiten überall gut aufgenommen.

CASSIAN.
Ihre Hand, Fräulein, – schlagen Sie ein, die Sache ist abgemacht!
MARTIN.
Was hast du ihr in den Wein gemischt, Cassian?
CASSIAN.
Was kümmert's dich, was das Fräulein beginnt, da du doch auf Reisen gehst.
[867]
MARTIN.
Ich widerrat' es dir, Sophie – ich widerrat' es dir. Denk' an deine Mutter!
SOPHIE.
Steht Ihr Regiment weit von hier?
CASSIAN.
Es wird wohl eine Reise von einem Tag und einer Nacht sein, Fräulein.
MARTIN.
Teufel! Teufel!
CASSIAN.
Was gibt's?
MARTIN.
Die Ungeduld plagt mich, wo mein Diener bleibt. Ich werde die Post versäumen!
CASSIAN.

Ist dir die Zeit lang? – Komm, Vetter, auch ich liebe nicht leere Viertelstunden ... Heh, noch ein Spielchen!

MARTIN.
Ha, mit dir? ... Du vergißt, daß du keinen Heller mehr hast.
CASSIAN.

Oho! da hat mir ein reicher Vetter einen Dukaten geliehen, mit dem werd' ich wohl anfangen dürfen, was mir beliebt.

MARTIN.

Meiner Seel', das darfst du. Und es soll mir ein Vergnügen sein, dir nebst diesem Dukaten auch Wams, Strümpfe, Degen und Hemd abzunehmen.

SOPHIE.
Martin, was fällt dir ein, deinen Gast so schnöde zu behandeln?
CASSIAN.
Die Würfel her!
MARTIN.

Ein trauriger Einsatz, – ein jämmerlicher Einsatz! – Ich schüttle. – Zwölf! Nun ist der Spaß wohl zu Ende.

CASSIAN.
Ei, das kann ich auch! – Zwölf!
MARTIN.
Zehn.
CASSIAN.
Elf.
MARTIN.
Zwei.
CASSIAN.
Drei. – All das?
MARTIN.
Du siehst es. Hast du etwa Angst? – Vier.
CASSIAN.
Fünf.
MARTIN.
Elf! – Es will sich wenden.
CASSIAN.
Zwölf.
MARTIN.
Vorwärts!
CASSIAN.
Es wird nicht mehr reichen ...
MARTIN.

Kümmre dich nicht! ... Hier ist mein Reisesack wohl gepackt; es ist mehr darin, als du ahnst. Sie würfeln. Elf!

CASSIAN.
Zwölf! Und er gehört mir.
MARTIN.
Hier – mein Schrank! ... hier mein Bett ... mein Bettzeug ... Du wirst dich bezahlt machen! Elf.
CASSIAN.
Das werd' ich ... Zwölf! ... Gewonnen! Und nun genug.
[868]
MARTIN.

Genug? ... Noch einmal ... Der Diener wird gleich hier sein ... einmal noch, es kann nicht so fortgehen!

CASSIAN.
Was hast du noch einzusetzen?
MARTIN.
Alles, was ich am Leibe trage, zum Teufel! ... und den Diener ... und den Platz auf der Post ...
CASSIAN.
Es reicht nicht.
MARTIN
auf Sophie weisend.
Und die dazu!
SOPHIE.

Martin! ... Ich verschenk' mich selber. Setzt sich Cassian auf den Schoß und umarmt ihn. Cassian lacht.

MARTIN.
Schurke! Schurke! Was hast du ihr in den Wein gemischt? ... Hörst du nicht? Ich sage: Schurke!
CASSIAN
auf.
Ah! ist's so gemeint?!
MARTIN.
Vorwärts! vorwärts!
CASSIAN.
Komm, wir wollen's vor dem Tor abmachen!
SOPHIE.
Um Himmels willen! Cassian! Cassian!
MARTIN.
Ich habe nicht so viel Zeit, vors Tor zu gehen. Hier ist Raum genug.
CASSIAN.
Wie's beliebt, Vetter.
SOPHIE.
Cassian, soll ich Sie gleich wieder verlieren! Cassian lacht.
MARTIN.
Es ist keine Zeit zum Lachen – vorwärts! vorwärts! Gefecht.
CASSIAN.

Nicht übel! Das hast du gut gemacht ... noch sieben oder acht Jahre, und du wärst ein gefährlicher Gegner – wenn auch nicht für mich.Sticht ihm ins Herz.

MARTIN
sinkt nieder.
Weh! weh!
SOPHIE
zu Cassian hinfliegend.
Und ihnen ist nichts geschehen?
CASSIAN.
Es tut mir leid, Vetter Martin ...
DER DIENER
kommt.
Hier bin ich, gnädiger Herr.
CASSIAN.
Sein Herr steht hier. Nehm' Er den Sack ... So! ...
MARTIN.
Mein Aug verschleiert sich! ...
CASSIAN.
Wie sagtest du, Vetter Martin? ...
MARTIN.
... die Schatten des Todes ...
CASSIAN.

Wie war ihr Name? ... Eleonora Lambriani ... Es wäre der Mühe wert, sich noch einen Tag Urlaub nehmen ...

SOPHIE.
Eleonora Lambriani – was ist das?! Das Mädchen von Athen! so hieß sie! –
MARTIN.

Ja, Elende, Elende! daß du's nur weißt! ... Eleonora ... hier die Blume ... ich hab' sie aufbewahrt ... es ist dieselbe ... nimm du sie, Vetter Cassian ... bring' sie ihr ... ich lasse sie grüßen ...

CASSIAN.
Beim Himmel, ich will es ihr bestellen und mancherlei [869] dazu, was ihr noch mehr Spaß machen soll!
SOPHIE.
Wie, Sie verlassen mich um Eleonora Lambriani?
CASSIAN.
Ich kann es nicht leugnen. Aber erst morgen früh. –
SOPHIE.
Weh mir! ... Sie eilt zum Fenster und stürzt sich hinunter.
MARTIN
will ihr nach, sinkt nieder.
Sophie! Sophie! Cassian stürzt ihr nach, zum Fenster hinunter.
MARTIN
zum Diener.
Wehe! wehe! ich kann mich nicht rühren! Seh' Er nach!
DIENER
zum Fenster.

Höchst Wundersames hat sich ereignet. Der springende Herr hat das springende Fräulein in der Luft aufgefangen und beide sind wohlbehalten unten angelangt ...

CASSIAN
von unten brüllend.

He! wird's bald? Bedienter! den Reisesack! rasch! Ich will die Post nicht versäumen! Und habe vorher noch einem frechen Italiener einen Degenstich zwischen die Rippen zu versetzen.

DIENER
ruft hinunter.
Sofort, gnädiger Herr!
MARTIN.

Gib mir die Flöte, eh' du gehst ... Ich danke dir ... Warte! ... Auf dem Weg zur Post zieh' die Glocke auf dem Kreuzweg Numero siebzehn ...

DIENER.
Numero siebzehn ...
MARTIN.
Mir schwinden die Kräfte ... Um Mitternacht sollen sie meinen Leichnam holen. Hörst du?
DIENER.
Um Mitternacht. Ich will es bestellen, Herr.

Ab.
MARTIN
spielt die Flöte.

Es ist bitter, allein zu sterben, wenn man eine Viertelstunde vorher noch geliebt, wohlhabend und der herrlichsten Hoffnungen voll war. Wahrlich, es ist ein übler Spaß, und ich bin eigentlich gar nicht gelaunt, Flöte zu spielen.Läßt sie fallen und stirbt.


In der Ferne klingt das Posthorn.
Vorhang.
[870]

III. Zum großen Wurstel

Burleske in einem Akt

Personen

Personen.

    • Der Direktor.

    • Der Dichter.

    • Der Wohlwollende.

    • Der Bissige.

    • Der Naive.

    • Ein Bürger.

    • Seine Frau.

    • Zweiter Bürger.

    • Seine beiden Töchter.

    • Erster Skandalmacher.

    • Zweiter Skandalmacher.

    • Der Graf von Charolais.

    • Der Meister.

    • Ein Ringkämpfer.

    • Ein Herr im Parkett.

    • Ein Unbekannter im blauen Mantel.

    • Bürger, Soldaten, Kellner, Kinder etc.
      [871] Personen des Marionettentheaters
    • Der Herzog von Lawin.

    • Die Herzogin von Lawin.

    • Der Held dieses Stückes.

    • Der traurige Freund.

    • Der heitere Freund.

    • Liesl.

    • Der düstere Kanzlist, ihr Vater.

    • Ein Vetter Brackenburgs, ihr Bräutigam.

    • Der Räsoneur.

    • Ein stummer Herr.

    • Ein zweiter stummer Herr.

    • Ein totes Mädchen.

    • Ein Diener.

    • Der Tod.
    • [872]

[Stücktext]

Im Wurstelprater. – Abend. – Den erhöhten Hintergrund der Bühne nimmt ein großes Marionettentheater ein, dessen Vorhang heruntergelassen ist und das die Aufschrift trägt: »Zum großen Wurstel«. Seitlich links, schief gestellt, ein schmales, hohes Wursteltheater alter Konstruktion. Weiter vorn links, in die Kulisse hinein, ein Ringelspiel. Seitlich rechts, schief von rückwärts nach vorn, ein Staketgitter, dahinter ein Gasthausgarten, dessen Fortsetzung rechts in der Kulisse gedacht ist; rechts vorn hinter dem Gitter ein erhöhtes Podium. Vor dem großen Wursteltheater ein Klavier. Die Bühne wird großenteils von Tischen und Sesseln eingenommen; doch ist die Mitte freigelassen, so daß eine ziemlich breite Straße vom Marionettentheater bis zum Souffleurkasten führt. – Wenn der Vorhang aufgeht, großer Lärm. In der Ferne eine Militärmusik. Vor dem kleinen Wursteltheater, in dem eben eine Vorstellung stattfindet (zwei kleine Figuren raufen sich, beide werden vom Teufel geholt usw.) Kinder mit ihren Begleitern. Eine dicke Frau sammelt mit einer Blechtasse von den Zuschauern Münzen ein. Das Ringelspiel in Bewegung, mit Kindern und Erwachsenen. Auf dem Podium rechts endet eine Chansonettensängerin eben ihr Couplet. Applaus. –
Die Tische großenteils besetzt; die Leute essen und trinken. – Der Bürger und seine Frau, der zweite Bürger mit seinen zwei Töchterchen usw., Soldaten, Bürger, Mädchen. Andere kommen eben; darunter der Bissige und der Wohlwollende.

DER WOHLWOLLENDE.
Nun, wie wär's, wenn man sich hier niederließe?
DER BISSIGE.
Was gibt's denn da?
DER WOHLWOLLENDE.
O, eine neue Bude ... Ich kenn' sie wenigstens noch nicht.
DER BISSIGE.
Bude? – Kann sein ... Neu? Wird sich zeigen.
DER NAIVE
kommt mit Freunden.
Ah, schauts daher! Das ist ja was Neuchs? He, Kellner, ... Bier!
KELLNER.
Bitte ... bitte sehr ...

Zwei halbwüchsige Burschen verteilen Theaterzettel an die Eintretenden. – Der Klavierspieler beginnt zu spielen; dann kommt der Direktor als Wiener Strizzi, stellt sich auf eine erhöhte Stufe vor dem Theater und spricht im Ausruferton (wienerisch, zuweilen gezwungenes Hochdeutsch mit falschen Betonungen).
DIREKTOR.

Meine Herren! Hier ist zu sehn das preisgekrönte allerneueste Figurentheater oder auch Marionettentheater genannt – ein Theater, welches fürderhin jeglichen Theaterbesuch [873] endgültig überflüssig zu machen geneigt und anvertraut ist. Denn eine Betrachtung oder selbst Besichtigung des Theaterzettels beweist, daß hier für jegliches dramatisches Bedürfnis des geehrten Publikums in vollem Maße gesorgt und vertreten ist. – Auf diesem Theater tritt auf kein geringerer als der Herzog von Lawin, eine hochfürstliche und elegant gekleidete Persönlichkeit sowie seine rechtmäßige Gemahlin, ein hochmodernes Weib in Sensationstoilette, und noch nicht genug, haben wir vorrätig den Helden dieses Stückes, alsdann denjenigen, dem die ganze Handlung passieren tut, sowie dessen Freunderln, von denen der eine traurig, hingegen der andere kreuzfidel zu sein die Ehre hat. Damit nicht genug, tritt Fräulein Liesl auf, ein süßes Mödchen, um die sich mancherlei dröhen und begeben dürfte, und noch nicht genug, erscheint ihr leiblicher Vater, ein düsterer Kanzelist, ihr Bräutigam, auch Verlobter genannt, und eine Figur von überlegenem Verstand und schwarzem Vollbart, Räsoneur betitelt. Noch nicht genug, beteiligen sich an der heutigen Vorstellung zwei Herren, welche das Mäul zu halten haben und daher vom Dichter als stumm benannt werden. Damit nicht genug, haben wir vorrätig einen Ringkämpfer mit Orden und Riesenkraft, ein totes Mödchen, einen livrierten Bedienten, welcher die Türen aufzustößen hat, und das Neueste, was wir erst kriegt haben, einen Tod als Wurstel oder Wurstel als Tod, wodurch das Schauerliche dieses Dramas getilgt werden möchte und dürfte. Ferner zu bemerken: alle diese Herrschaften reden in Versen, welche gereimt sind, wodurch das Banner der Poesie hochgehalten und keineswegs verleugnet wird. – – Herreinspaziert, meine Herren und Damen! Sofort beginnt eine neue Vorstellung, welche sofort beginnt.

DER WOHLWOLLENDE.
Das ist ein amüsanter Kerl.
DER BISSIGE.
Ich kenn' ihn ... früher war er Hutschenschleuderer ... heutzutag wird schon jeder Theaterdirektor.
DER WOHLWOLLENDE.
Aber ich bitt' Sie – ein Puppentheater!
DER KLAVIERSPIELER
spielt weiter.
DER DICHTER
kommt mit dem Direktor nach vorn.
Ja, um Gottes willen! ...
DIREKTOR.
Was ist denn?
DER DICHTER.
Die Leut' essen ja! ... Das geht ja nicht! Das ist ja störend: da passen sie ja nicht auf!
[874]
DIREKTOR.
Wenn sie hungrig wären, möchten sie erst recht nicht zuhören.
DER DICHTER.
Aber das ist ja gegen unsere Verabredung. Ich hätt' wahrhaftig Lust, mein Stück zurückzuziehen!

Der Vorhang des großen Wursteltheaters hebt sich. Eine Waldlandschaft. Im Hintergrund sind alle Figuren abgestellt; die Drähte, an denen sie gelenkt zu werden scheinen, sind sichtbar.
DER NAIVE.
Die sind oben ang'hängt! Ah, das is aber gut! Zu den Freunden. Schauts!
HELD.
tritt vor und singt mit Klavierbegleitung folgenden Vers.
Ich spiel' in dem Stück mit
Und die Hauptroll' ist mein,
Man heißt mich einen Helden,
Ich muß ja keiner sein.

Er tritt in die Reihe zurück. – In gleicher Weise verhalten sich die folgenden Figuren.
LIESL.
Ich bin halt no ledig,
Und in Wien spielt die G'schicht',
So heißen s' mich süßes Mädel,
Ob i süaß bin oder nicht.
HERZOG.
Ich wett' bei den Rennen
Und im Jockeyklub a,
Bin gebürtiger Herzog,
's waren solche schon da.
HERZOGIN.
Mir ist einer zu wenig,
Ganz besonders mein Mann,
So sagen s', i bin dämonisch,
Hab noch keinem was 'tan.
ZWEITER BÜRGER
erhebt sich; zu seinen Töchtern.
Kommts, Madeln, das is nix für euch!
ERSTES MÄDEL.
Aber Vatter, wir verstehn ja nicht, was das heißt.
ZWEITER
BÜRGER Alsdann, wann ihr nix verstehts, bleibn ma halt.
DIE ANDEREN FIGUREN
im Chor.
Wir spielen die Episoden,
Es tritt keiner hervor,
Drum unser Entreelied
Erweist sich als Chor.

Der Vorhang des großen Wursteltheaters fällt.
[875]
DER NAIVE.
Das war der erste Akt.
DER WOHLWOLLENDE
applaudiert.
DER BISSIGE.
Sie haben's aber eilig.
DER WOHLWOLLENDE.
Mir g'fallt's halt.
DER BISSIGE.
Abwarten ...
DER NAIVE.
Habts ihr die Schnür g'sehn?
DER DICHTER
zum Direktor.
Die Stimmung ist ganz gut, nicht wahr?
DIREKTOR
zuckt die Achseln.

Der Vorhang hebt sich wieder.
Szene: Modern eingerichtetes Zimmer. Schreibtisch links. Ein Fenster auf die Straße, Tür rechts ins Vorzimmer, links ins Schlafzimmer. – Der Held dieses Stückes sitzt am Schreibtisch. Liesl hüpft herein, hält ihm die Hand vor die Augen.
LIESL.
Jetzt rat aber g'schwind, wer kann das sein?
HELD.
Mein Schatz ...!
LIESL.
Schatz, weiß ich nicht, aber dein.
HELD.
Ja, laß' es mich glauben.
LIESL.
Ich muß gleich fort.
HELD.
Bleib, nur ein Kuß, nur ein liebes Wort!
LIESL.
No, was denn noch all's? Schau', was ich dir bring'.

Sie streut Blumen umher.
HELD.
Nun, du bist wirklich ein süßes Ding!
LIESL.
Und jetzt muß ich gehn.
HELD.
So schnell?
LIESL.
Ja freilich.
Ich muß ins Geschäft.
HELD.
Nur einen Moment!
LIESL.
Ja, einen Moment ... dann geht's wie neulich,
Und die Küsserei nimmt überhaupt kein End'!
[876]
HELD.
Bist du mir drum bös'?

Lange Umarmung.
LIESL.
Jetzt muß ich gehn.
Adieu! und am Sonntag auf Wiedersehn!

Ab.
DER BISSIGE.
Alte G'schicht'! ...
DER WOHLWOLLENDE.
Wieso denn?
DER BISSIGE.
Na, das süße Mädl – wachst mir schon zum Hals heraus!
HELD
allein.
Auf Wiedersehn ... Und schon ist sie fort
Und ahnt nicht, es war ihr Abschiedswort,
Und daß ich niemals mit ihr mehr, ach!
Nach Sievring fahr' und nach Weidling am Bach.
DER WOHLWOLLENDE.
Reizend! Es wird einem ganz heimlich!
DER BISSIGE.
Lokalkolorit!!! Da fallen Sie drauf hinein.
DER NAIVE
lacht.

Weidling am Bach! ... Zu seinen Freunden. Könnts ihr euch erinnern? Da sind wir ja einmal draußen gewesen und haben Backhendl'n 'gessen.


Der Räsoneur tritt auf. Er ist schwarz gekleidet, hat einen schwarzen, langen Vollbart; gemessen und ernst. Er tritt nach vorn und verbeugt sich.
DER BISSIGE.

Was hat denn der für eine Maske? ... Den müßt' ich kennen! ... Das ist aber eine arge Geschmacklosigkeit!

DER WOHLWOLLENDE.
Wer soll's denn sein?
DER BISSIGE.
Ich weiß noch nicht ... Aber ich komm' schon drauf! ...
DER RÄSONEUR.
Ich bin der Räsoneur des Stücks,
Red' entweder geistreich oder nix.
HELD
ungehalten.
Und da Sie zur Handlung nicht gehören,
Versuchen Sie wenigstens, nicht zu stören.

Der Räsoneur geht nach hinten, lehnt sich in die Fensternische, bleibt dort stehen.
DER BISSIGE.
Au! Jetzt wird's satirisch!

Der Räsoneur tritt im Verlaufe der weiteren Handlung nur gelegentlich nach vorwärts, wenn er etwas zu reden hat. Im übrigen bleibt er von den Vorgängen vollkommen unberührt. Er kümmert sich um niemanden, und die andern kümmern sich nicht um ihn.
[877]
HELD.
So viel will ich von mir verraten:
Zu Stimmungen neig' ich, nicht zu Taten,
Und sage statt weitern langen Berichts:
Ich bin der Held dieses Stücks, sonst nichts.
Und hab' ich dieses Amt erledigt,
So werd' ich, möglichst unbeschädigt,
In eine Schachtel grün gelackt
Mit größter Sorgfalt eingepackt.
Nicht neidenswert ist dieses Los,
Doch hab' ich einen Trost in meiner Truhe:
Bin ich auch eine Marionette bloß –
Neu ist die Schachtel doch, in der ich ruhe.
RÄSONEUR.
Jetzt aber frag' ich Sie aufs Gewissen,
Ob das nicht ich hätte sagen müssen.
HELD.
Ich bitt' Sie, wollen Sie sich nicht setzen?
Zuweilen dürfen auch Helden schwätzen.
DER DIENER
tritt auf.
Gnädiger Herr, soeben erscheint
Der ernste und der heitere Freund.

Ab.
Ernster Freund, lang, sehr korrekt, dunkel gekleidet; Heiterer Freund, etwas korpulent, in bequemem Anzug, treten auf.
HEITERER
hüpfend.
O überaus lustige Existenz!
Mich freut der neuerwachte Lenz!
ERNSTER.
Mit düstrer Ahnung tret' ich ein –
Wozu mag ich geladen sein?
RÄSONEUR.
So sind bereits mit den Eintrittsworten
Die beiden glücklich charakterisiert:
Der Wurstel freut sich allerorten,
Der ernste Mann ist stets gerührt.
DER BISSIGE.
Das geht mir auf die Nerven!
DER WOHLWOLLENDE.
Das soll er ja ... das is ja eben der Witz!
DER BISSIGE.
Ein schlechter Witz!
[878]
DER DICHTER
zum Direktor.
Mir kommt vor, die Leut' langweilen sich.
DIREKTOR.

Ich hab' Ihnen g'sagt, Sie sollen die Figur hinausschmeißen. Noch heut vormittags hab' ich's Ihnen g'sagt.

DER DICHTER.
Könnt' man vielleicht nicht noch jetzt –? ... Ich werd' g'schwind ein paar Verse streichen.
DIREKTOR.
Aber schnell – schnell – eh's zu spät ist.

Der Dichter eilt nach hinten, erscheint hinten am Fenster und sagt dem Räsoneur etwas ins Ohr.
HELD.
Ich hab' euch beide zu mir gebeten,
Als Zeugen sollt ihr mich vertreten.
ERNSTER.
Wie? ... ein Duell? ...
HELD.
Auf Tod und Leben.
HEITERER
einen Fuß in der Luft.
Heißa! Es kann nichts Fideleres geben!
ERNSTER.
Wann soll es stattfinden?
HELD.
Ums Morgenrot.
ERNSTER.
Nun, wenn wir frühstücken, bist du längst tot.
DER DICHTER
zum Direktor.
Is schon g'schehn!
RÄSONEUR
vortretend.
Es mag der Kaiser, mag der Bettler end'gen,
Des Lichtes freun sich weiter die Lebend'gen.
DER DICHTER
greift sich an den Kopf.
Ich hab' ihm doch gesagt: er soll das Maul halten!
HELD
zum Ernsten.
Du weißt es gewiß?
ERNSTER.
Ich sah dich heut nacht
Im Sarge liegen und umgebracht.
HELD.
Ein Traum!
ERNSTER.
Die meinen erfüllen sich!
HELD
zum Heiteren.
Und träumtest du auch so was Nettes? Sprich!
HEITERER.
Erzählt' ich, was ich heut nacht geträumt,
Dies Stück verböte man ungesäumt.
[879]
RÄSONEUR.
Hier wird ein Faun selbst durch Moral gebändigt,
Drum sind Billetts auch Jungfraun eingehändigt.
HELD.
Ein unerklärliches Verhängnis
Bringt mich in tödliche Bedrängnis.
ERNSTER.
Erkläre dich!
HELD.
Bin nicht frei von Schuld,
Hab' Mädchen verführt und Ehen gebrochen,
Doch durch des Schicksals besondere Huld
Ward ich nie erschossen und nie erstochen –
Und jetzt für eine, die nichts mir gewährt,
Für eine, die ich niemals begehrt,
Für eine, die ich noch nie gesehn,
Soll ich, ihr Freunde, von hinnen gehn.
RÄSONEUR.
Des Schicksals Rache geht verborgenen Pfad.
Und keiner kennt die Folgen seiner Tat.
ERNSTER.
Wer ist die rätselhafte Dame?
HELD.
Herzogin von Lawin, so ist ihr Name.

Ernster und Heiterer geraten in die größte Aufregung, zucken hin und her.
HELD.
Was ist euch?
ERNSTER.
Die Herzogin von Lawin?
HEITERER
beide Füße in der Luft.
Elendes Weib!
ERNSTER.
Was kümmert das ihn?
HEITERER.
Du kennst sie?
ERNSTER.
Und du –?
HEITERER.
Wie ist das gemeint?
ERNSTER.
Wir kennen sie beide –
HEITERER.
Gleich gut –?
ERNSTER.
Es scheint!

Die Drähte werden lockerer, der heitere und der ernste Freund scheinen ihren Halt zu verlieren.
[880]
ERNSTER UND HEITERER.
Ich will ... ich soll ... ich kann ...

Sie drohen zusammenzusinken und können nicht weiterreden.
RÄSONEUR.
Vorbei!
Wozu dies ganze Wehgeschrei?
Wenn ihr noch weiter Spektakel macht,
Legt man euch in die Schachtel und gute Nacht.
ERNSTER
mit langsam straffer werdenden Drähten.
Für diesmal haben wir kein Glück.
HEITERER
ebenso.
Getrost! es kommt ein anderes Stück!
DER NAIVE.
Habts ihr das verstanden? ... In der nächsten Komödie spielen die die Hauptrollen.
HELD.
Ich habe die Herzogin nie gesehn,
Doch will mir ihr Gatte ans Leben gehn.
Mich hält er, der ich's gewiß nicht bin,
Für den Geliebten der Herzogin.
Es schlug mir der Freche ins Gesicht,
Doch schwör' ich: die Herzogin kenn' ich nicht!
ERNSTER.
Er schwört ...
HEITERER.
Ei was, ich schwüre auch!
's ist unter Ehrenmännern Brauch.
HELD.
Der Herzog wartet, es drängt die Zeit!
Pistolen – zehn Schritte – ich bin bereit!

Ernster und heiterer Freund ab.
DER WOHLWOLLENDE.
Es ist eine beißende Satire auf das Duell.
DER BISSIGE.
Mich beißt's vorläufig nicht.
DER NAIVE.
Ich bin neugierig, ob das Duell vorkommen wird.
DIE FRAU
zu ihrem Mann, dem ersten Bürger.
Wenn g'schossen wird, bleib' ich nicht da.
ERSTER BÜRGER.
Aber Schatzerl, reg' dich nicht auf ...
DER DICHTER.
Diese Kunstpausen! ... Zum Direktor. Ich hab's Ihnen g'sagt, dieser Idiot ruiniert mir das Ganze!
DER BISSIGE.
Wenn jetzt wieder ein Monolog kommt, werd' ich unangenehm.
DER WOHLWOLLENDE.
Das wird Ihnen nicht schwer werden.
DER BISSIGE.
Was heißt denn das? ... Sind Sie der Bissige oder ich! ...
[881]
HELD.
Daß meine beiden Sekundanten
Sich als Rivalen jetzt erkannten –
DER BISSIGE
schlägt auf den Tisch.
HELD.
Bei dieser selben Herzogin,
Der ich ein gänzlich Fremder bin,
Und ich als Opfer fallen soll,
Das find' ich höchst geheimnisvoll.
Was aber fang' ich armer Mann
Mit meinen letzten Stunden an?
RÄSONEUR
tritt vor.
Den Frühling seh' ich lachen und winken,
Er will uns doch zu kurz bedünken –
Doch der, dem nur gehört ein Tag,
Weiß nicht, was er beginnen mag.
DIREKTOR.
Ja, warum haben S' ihm denn das nicht g'strichen?
DER DICHTER.
Das ist die schönste Stelle!
DIREKTOR.

Merken Sie nicht, wie die Leut' unruhig werden? ... Jetzt stellen Sie sich nur vor, wenn die noch hungrig wären!

DER DICHTER.
Bestien!
DER NAIVE.
Schauts, jetzt schreibt er ... Ah, das ist gut!
HELD
hat sich an den Schreibtisch gesetzt und geschrieben.
All meine Habe, Geliebte, sei dein,
Doch heute noch will ich dein Gatte sein.

Ad spectatores.

Denn ließ ich sie ohne dieses erben,
Sie müßte durch ihren Vater sterben,
Da dieser ein düsterer Kanzelist
Aus einer sehr alten Schachtel ist,
Auf jenseits von Gut und Böse pfeift
Und sozusagen nichts begreift.

Es klingelt.
DER DIENER
tritt ein.
Es klingelt, ich öffnete die Tür,
Und dieses dämonische Weib steht vor mir.

Ab.
DIE HERZOGIN VON LAWIN
tritt ein; mit großartigen Bewegungen.
Ich bin die Herzogin von Lawin,
Der Sensationen Sucherin.
Der Herzog erschießt Sie morgen – bum!
[882] Sie sollen wenigstens wissen, warum.

Sie sperrt die Tür ab.
DER NAIVE.
Jetzt sperrt s' gar ab! Gebts acht, Kinder, jetzt kann's gut werden!
HELD.
Was tun Sie?
HERZOGIN.
Sie weilen nicht lang mehr auf Erden,
So lassen Sie schleunigst uns schuldig werden;
Ich liebe die Streiche, die wilden, die tollen,
O, machen Sie doch aus mir, was Sie wollen!
ZWEITER BÜRGER.
Madeln, gehn wir, das is nix für euch!
ZWEITES MÄDEL.
Aber Vatter, wir verstehn ja nix!
ZWEITER BÜRGER.
Alsdann, wann ihr nix verstehts ...
HELD.
Tief ist die Dunkelheit dieses Falles!
O Herzogin, wie kommt dies alles?
HERZOGIN.
Dich such' ich, seit ich suchen kann,
Nie liebt' ich einen andern Mann,
Zu Füßen lag mir das ganze Gelichter,
Reitknechte, Fürsten, Soldaten und Dichter,
Stets fand ich der andern Liebe nur,
Von meiner regte sich keine Spur.
Denn einen nur könnt' ich auf Erden lieben:
Dem ich die letzte wäre geblieben
Und der es weiß, daß an meiner Brust
Ihm brausend erblüht die letzte Lust.
Drum bist du der Schönste heut, der lebt,
Schön macht dich der Tod, der dich umschwebt,
Schön macht dich, daß du verloren bist
Und morgen alles zu Ende ist.
Was bist du so düster? Was bist du so still?
So mach' doch endlich aus mir, was ich will!

Sie wirft sich in seine Arme.
HELD
nach einer kleinen Pause, sich von ihr entfernend.
Nur eines vergessen Sie, Herzogin:
Daß ich etwa nicht in der Stimmung bin.
ZWEITER BÜRGER.
Madeln, gehn wir ...
MÄDELN.
Aber Vatter, wir verstehn ja nix!
ZWEITER BÜRGER.
Aber ich schenier' mich für euch! ... Gehn wir ...
[883]
HERZOGIN
sieht den Helden zuerst groß an, dann lacht sie auf, wild und hysterisch; plötzlich horcht sie.
Der Herzog! Wohin, daß er mich nicht erblickt?

Sie flüchtet sich ins Schlafzimmer.
HELD.
In was für Schicksal bin ich verstrickt!
DICHTER
zum Direktor.
Jetzt geht's gut! Die Szene hat gewirkt!
DIREKTOR.
Zu spät! Alles Frühere hätt' heraus müssen!
DER DICHTER.
Da hätt' man ja absolut nichts verstanden!
DIREKTOR.
Aber unterhalten hätten sich die Leut'!
DER DIENER
tritt ein.
Der Herzog von Lawin tritt ein,
Doch ist er keineswegs allein.

Er öffnet die Tür und läßt den Herzog und seine Begleiter eintreten. Dann verschwindet er wieder.
DIE MÄDELN.
Ah! ...

Der Herzog, mit einer fabelhaften Eleganz gekleidet, und zwei sehr korrekte Herren treten ein. Verbeugungen.
HERZOG.
Sehr sonderbar ist dieser Schritt,
Drum bring ich mir zwei Herren mit.

Alle nehmen Platz.
HERZOG.
Bin Herzog von Lawin genannt,
Bin glühend, stark und intressant.
In mir rinnt alter Helden Saft,
Ich übersprudle von Lebenskraft.

Er wendet sich zu den stummen Herren, die zustimmend nicken.

Und was ich sage, kann ich beweisen –
Ich zerbreche eine Stange von Eisen!

Der eine Herr nimmt eine Eisenstange aus seiner Brusttasche, reicht sie dem Herzog, der sie entzweibricht und die Stücke auf den Boden wirft.

Und käme der stärkste aller Ringer,
Ich werf' ihn nieder, bin sein Bezwinger!

Durch das Publikum auf der Bühne bahnt sich der Ringkämpfer den Weg; er ist nach Athletenart gekleidet, mit Pantherfell, zahlreichen Medaillen. Er geht auf die Marionetten-Bühne hinauf. Bewegung im Zuschauerraum.
[884]
DER BISSIGE.
Da hört sich schon alles auf!
DER NAIVE.
Der g'fallt mir! Bravo, bravissimo! Jetzt werden s' raufen!

Applaus.
DER DICHTER.
Das ist halt ihr G'schmack! Bestien!

Herzog ringt mit dem Ringkämpfer und wirft ihn nach kurzem Kampfe von der Bühne unter das Publikum hinab. Der Klavierspieler fällt vom Sessel. Gelächter.
DER DICHTER.
Ja, um Gottes willen, was ist denn das!
DIREKTOR.
Sein S' froh! Das kann Ihre ganze Komödie retten.

Der Ringkämpfer erhebt sich, wirft dem Publikum Kußhändchen zu, geht ab.
HERZOG.
Und wenn ich lache, fallen sofort
Die Bilder herunter von jedem Ort.

Er lacht in zwei kurzen Stößen; die Bilder fallen von den Wänden.

Aus jeder Karte schieß' ich das Aß!

Der erste stumme Herr geht in die andere Zimmerecke, hält eine Karte in die Luft, der zweite stumme Herr reicht dem Herzog eine Pistole. Der
Herzog schießt und trifft das Aß. Der eine stumme Herr zeigt die Karte dem Helden.

Wo ich hintrete, da wächst kein Gras ...

Er tritt vor sich hin; die beiden stummen Herren treten in seine Nähe und bestätigen, daß tatsächlich kein Gras dort wächst.

Und niemals vergeht ein Tag, daß sich
Nicht irgendein Weiblein tötet für mich.

Ein Schuß fällt. Ein Herr tritt zum Fenster, winkt hinunter; man reicht ihm ein totes Mädchen zum Fenster herein. Er legt sie auf den Diwan; sie trägt einen Zettel in der Hand; der Herr reicht dem Herzog den Zettel; der Herzog reicht ihn, ohne ihn zu lesen, dem Helden.
HELD
liest.
Ich liebte den Herzog von Lawin,
Er liebte mich nicht – ich sterbe für ihn!

Auf einen Wink des Herzogs werfen die Herren die Leiche zum Fenster hinaus.
HERZOG.
Doch wie ich stark und glühend bin,
So edel und gerecht von Sinn,
Und tat ich Unrecht einem Mann,
Erkenn' ich's ohne Zögern an.
In diesem Falle bin ich heut
Und tu', was mir mein Herz gebeut.
[885] Daher ich zum Versöhnungszwecke
Hier meine Hand entgegenstrecke.
LIESL
tritt ein.
DER NAIVE.
Das ist die, die gleich im Anfang vorgekommen ist.
DER BISSIGE.
Wie kommt denn die jetzt herein!?
LIESL.
Der Herzog!
HELD.
Liesl, hört' ich recht?
Du kennst den Herzog!
LIESL.
Mir wird schlecht!

Sie sinkt nieder.
HERZOG
will gehen.
HELD.
Nicht einen Schritt aus dieser Tür!
Herzog! Sie kennen diese hier?
HERZOG.
Zur Antwort bin ich nicht verpflichtet.
HELD.
Sprich, Liesl, du! – Sie liegt vernichtet!
Ha! ahn' ich den Zusammenhang –
Für meine Liebe das der Dank!
HERZOG.
Da Sie Ihr Schicksal nun verstehn,
Sei mir gestattet abzugehn.
HELD.
Verzeihung, Herzog, nicht so schnell!
Jetzt fordre ich Sie zum Duell!
HERZOG.
Es schlägt sich für seine Herzogin,
Doch nicht für ein Mädel der von Lawin!

Ab mit den zwei stummen Herren.
HELD.
Hier liegt sie, wie vom Traum umnachtet,
In einer Ohnmacht hingeschmachtet,
Sieht aus, als könnt' sie bis fünf nicht zählen,
Und weiß doch so gut zu verraten, zu quälen!
Was tu' ich nur?

Es klopft innen von der Schlafzimmertür.

Die Herzogin!
Ha! ich vergaß – sie ist noch drin!
Nun fügt sich alles wunderfein,
[886] Es wird ein seltnes Abenteuer, –
Nein, Liesl, ich bin auch nicht treuer,
Und nachher darf ich dir verzeihn.

Er geht nur Schlafzimmertür; die Herzogin kommt heraus.
HELD.
Nun wollen wir kosen, küssen, tollen,
Jetzt machen Sie aus mir, was Sie wollen!
HERZOGIN.
Ich bitte, den Weg mir freizugeben!
HELD.
O, Herzogin, Sie liebten mich eben!
HERZOGIN.
Wer sind Sie?
HELD.
Ich bin des Stückes Held!
HERZOGIN.
Ich liebe nur einen, der morgen fällt!

Ab.
DER NAIVE.
Warum denn? ... warum geht sie denn fort? ... Jetzt könnt' sie ja auf ihre Kosten kommen!
DER DICHTER.
Das scheinen die Leute nicht zu begreifen!
DIREKTOR.
Ich habs' Ihnen ja g'sagt. Es geht schief.
DER DICHTER.
Und jetzt kommt noch der gefährliche Monolog!
DIREKTOR.
Ihr ganzes Stück ist gefährlich. Mit dem Ringkämpfer hätt's schließen müssen.
DER DICHTER.

Wie können Sie das sagen! Der Ringkämpfer ist uns doch im letzten Moment eingefallen; der gehört doch gar nicht dazu.

DIREKTOR.
An Ihrem Stück ist überhaupt nur das gut, was nicht dazu g'hört!
HELD.
Fort ist sie! War's nicht wie ein Traum?
Blieb' nicht ihr Duft, so glaubt' ich's kaum.
Und Liesl schlummert hier in Ruh'.
Ich frage nun: was sagt man da dazu?
Indem ich nämlich alles versteh',
Fühl' ich nicht Groll, nur leises Weh.
LIESL
schlägt die Augen auf.
Wo bin ich?
HELD.
Bei mir.
LIESL.
Und der Herzog?
HELD.
Ist fort.
[887]
LIESL.
Und ich tat dir weh –
HELD.
Das ist das Wort.
Jetzt aber sag' mir: wie konntest du nur –?
LIESL.
Es war halt so schön! – Es ist meine Natur.
DER NAIVE.
Haha! es ist ihre Natur! Das ist eine!
HELD.
O, rührendes Kind, wenn das Herz auch bricht,
Man kann dir nicht zürnen: du faßt es ja nicht!
Und daß du dem Herzog gehörtest, auch das
Nähm' ich gern als Symbol, – aber sag' mir, für was?
LIESL.
Du redst so gescheit, du bist ja so gut!

Sie sinkt ihm an die Brust.
DER NAIVE.
Hat ihm schon! Er heirat' sie doch noch!
DER BISSIGE.
Es ist einfach irrsinnig!
DER WOHLWOLLENDE.
Ich weiß nicht ... ich weiß nicht ... es steckt was drin ...
HELD.
Ha! – Liesl, hast du zu sterben Mut?
LIESL.
Warum denn?
HELD.
Auf diese Weise allein
Kannst du mir wieder zu eigen sein,
Um also an des Geliebten Seiten
Entsühnt in den Weltenraum zu gleiten.
LIESL.
Nein, lieber nicht.
HELD.
Wie süß! Wie dumm!
LIESL.
Nein! fällt mir nicht ein – ich bring' mich nicht um!
HELD.
So weiche von hinnen – mich ekelt sehr!
LIESL.
Wie? ist es möglich – du magst mich nicht mehr?

Der düstere Kanzelist tritt auf.
LIESL.
Mein Vater!
[888]
KANZELIST.
Ha! find' ich dich, trauriger Held!
Wir haben nichts, und ihr habt das Geld!
Wir schuften für euch, und ihr beutet uns aus,
Verführt unsre Töchter – wir warten zu Haus!
HELD.
Du alter Mann – wie klingen deine Worte
So schal und sinnlos an des Jenseits Pforte.
KANZELIST.
An diesen Taugenichts sich fortzuschmeißen!
HELD.
Es braucht nicht Schimpf, von hier sie fortzureißen.

Liesls Bräutigam tritt ein.
HELD.
Schon wieder wer!
LIESL.
Mein Bräutigam!
HELD.
Alle Wetter!
Wer sind Sie denn?
BRÄUTIGAM.
Von Brackenburg ein Vetter.
LIESL.
O Jugendfreund, geduldiger, bist du es?
Verzeih und heirat' mich!
BRÄUTIGAM.
Gewiß, ich tu' es,
Seit Jahren steh' ich nur dazu bereit.
Hast du der Liebe Laufbahn nun beendet?
LIESL.
O lieber Franz, ich glaub', jetzt ist es Zeit!

Zu Vater und Bräutigam.

Zu euch gehör' ich, war bisher verblendet.

Alle drei ab.
RÄSONEUR.
Zum Alltag wieder, zum Geschäft, ins Amt,
Ein jeder kehrt zurück, woher er stammt.
HELD.
Mich dünkt, ich büßte vieles ein –
Betrogen bin ich allseits und allein.
Nicht lebenswürdig scheint mir dieses Leben,
Zur ew'gen Ruhe will ich mich begeben.

[889] Der Tod in schauerlicher Maske, dunkel verhüllt, tritt auf.
Die Bürgersfrau fällt in Ohnmacht.
ERSTER BÜRGER.
So beruhig' dich doch!

Unruhe. Er führt seine Frau ab.
DER DICHTER
zum Direktor.
Das hat grad noch gefehlt!
HELD.
Wer bist du?
TOD.
Sieh mir ins Angesicht!
HELD.
Hinweg! Mir graut!
ERSTER SKANDALMACHER
der bisher ruhig dagesessen.
Mir auch!

Einige lachen.
ANDERE
rufen.
Pst!
TOD.
Riefst du mich nicht?
ZWEITER SKANDALMACHER.
Wer hat ihn denn gerufen?
EINIGE.
Pst!
ANDERE.
Recht hat er!
DER DICHTER.
Verdammt!
TOD.
Ich bin der Tod –
HELD.
Was willst du hier?
ERSTER SKANDALMACHER.
Haha!

Zweiter Skandalmacher pfeift.
DER NAIVE.
Kinder, jetzt wird's lustig.
DER WOHLWOLLENDE.
Die Leute haben doch keine Ahnung.
DER BISSIGE.

Wer hat keine Ahnung? ... Recht haben sie ... Man muß sich nicht alles bieten lassen! Wenn ich nicht so gebildet wäre, möcht' ich auch pfeifen!

EINIGE.
Ruhe! ... Ruhe! Weiterspielen!
DIREKTOR
auf den Stufen.
Ich bitte um Ruhe, meine Herrschaften!
EINIGE.
Bravo! Bravo!
TOD.
Ich bin der Tod –
ZWEITER SKANDALMACHER.
Das hat er ja schon g'sagt! Gelächter.
DER DICHTER.
Jetzt lachen sie gar!
DIREKTOR.

Jetzt stellen Sie sich vor, man hätt' den Leuten nichts zu essen gegeben ... da hätt' man Sie schon längst erschlagen.

HELD.
Was willst du hier? ...
Wie ich schon einmal die Ehre hatte, Sie zu fragen.

Gelächter.
[890]
DER DICHTER.
Was ist das! ... Dieser Haderlump! Jetzt macht er sich über mich lustig.
VIELE.
Pst! Pst!
TOD
überschreit alle.
Der dort ist unsterblich – ich komm' zu dir!

Es wird still.

Laß meine Tracht dich nicht erstaunen,
Mein Garderobier hat seltsame Launen.
Seitdem die Lebend'gen nicht mannigfaltig,
Erscheint der Tod höchst vielgestaltig.

Einige gehen. – Die Unruhe wird ärger. – Der Bissige pfeift.
DER WOHLWOLLENDE.
Und Sie wollen ein gebildeter Mensch sein?!
DER BISSIGE.
Was geht das Sie an? ...
EINIGE.
Ruhe! ... Ruhe!
DER DICHTER.
Jetzt gehn die Leut' gar fort!
DIREKTOR.
Die, die fortgehen, können wenigstens nicht pfeifen.
DER WOHLWOLLENDE
zum Bissigen.
Warum gehn Sie denn nicht, wenn's Ihnen nicht gefällt?
DER BISSIGE.
Halten Sie Ihr Maul!

Sie stehen auf.
EINIGE.
Hinaus! Ruhe!

Der Wohlwollende und der Bissige setzen sich wieder.
DIREKTOR.

Ich hab's Ihnen g'sagt: Wenn der Schluß ernst wird, hilft's Ihnen nicht mehr, daß der Anfang ein Blödsinn war.

DER DICHTER.
So schaffen Sie doch Ordnung ... Was soll denn das heißen? ... So eine Schmiere!
DIREKTOR.
Jetzt werden Sie gar noch frech?

Marionetten schauen hinter den Kulissen hervor.
DER NAIVE.
Ah, schauts da her!
DER DICHTER.

Ihre Puppen haben keine Disziplin, schaffen Sie Ordnung! Oder ich zünd' Ihnen Ihre Bude persönlich an!

DIREKTOR.
Meine Herren!
EINIGE.
Ruhe! Hört!
DIREKTOR
auf den Stufen.

Meine Herren! Alsdann, wenn sich das Wesen der Aufklärung im Hintergrund des Säkulums abspiegelt und die Kunst ihre Früchte trägt, bitte ich ergebenst ins Auge zu fassen, daß die Bühne das Abbild des Erdentreibens, auch Spiegel der Welt genannt, das Traurige nicht minder als das Lustige in ihr Bereich zu ziehen vorgibt, wohin auch unser Dichter, poeta vates, hinauszusegeln die Belustigung hat.

[891]
VIELE.
Bravo! Bravo!
ANDERE.
Weiterspielen!
TOD
schreiend.
Lacht sich heut im eignen Haus
Publikum und Dichter aus,
Mag sich zum Beschluß im Reigen
Ehrlich auch der Tod erzeigen.

Er steht mit einem Male als Wurstel da.
Der Graf von Charolais und der Meister treten auf.
MEISTER.
So, lieber Graf, da wär' grad noch ein Platz für uns zwei.
GRAF.
Bitte – nach Ihnen.
MEISTER.

Bitte sehr, ich weiß, was sich gehört. Sie kommen aus einem fünfaktigen Trauerspiel – ich nur aus einer dreiaktigen Komödie – also nach Ihnen.


Setzen sich.
DICHTER.
Ja – um Gottes willen, was ist denn das!Zum Direktor. Schaun S' doch her.
DIREKTOR.
Was sind denn das für Leut'?
GRAF.
Zwei große Herrn! Wer sie erkennt, der grüßt!
DICHTER.

Sie sollen doch wenigstens dafür sorgen, daß sich keine Figuren aus anderen Stücken in Ihr Wirtshaus setzen, während meines aufgeführt wird.


Ein Herr, der im wirklichen Parkett hinten sitzt, steht auf und ruft laut: Das ist ein Schwindel! – Die Leute auf der Bühne sehen alle hin, die Marionetten werden unruhig und schauen zum Teil über den Rand des Theaters hinaus.
DER HERR IM PARKETT.
Ein Schwindel! Darauf fall' ich nicht hinein! ... Das ist eines ernsten Theaters unwürdig! ...
DER DIREKTOR
vor dem Souffleurkasten.
Mein Herr!
DER DICHTER
auch ganz vorn, ringt die Hände.
DER HERR
weiter nach vorn gehend.

Ich lasse mich nicht um den Schluß betrügen! ... Zum Parkett. Es ist ja evident, dem Dichter ist kein Schluß eingefallen – der Skandal ist arrangiert!

DER DICHTER.
Ich verbitte mir das!
DER HERR.
Wer redt denn zu Ihnen! ...
DER DICHTER.
Ich bin der Dichter!
DER HERR.
Ach was! ... Sie! ... Sie kommen ja auch nur vor!
[892]
DER DICHTER.
Oho!
DER HERR.
Natürlich! Sie wissen schon, wen ich meine!
DIREKTOR.
Und Sie? ... He! ... Sie! ... Wollen Sie mir einreden, daß Sie ein wirklicher Theaterbesucher sind?
DER HERR.
Ich bitte!
DIREKTOR.
Sie gehören da herauf ... Vorwärts! rasch! Er hilft dem Herrn auf die Bühne hinauf.
DER BISSIGE.
Das ist ja der reine Zirkus! Er geht ins Parkett hinunter.
DER WOHLWOLLENDE.
Ich weiß nicht – es steckt was drin!
HELD.
Narrenkappe, Pritsche in der Hand ...
Weh! ist dies dein recht Gewand!

Gepfeife, Getrampel.
DER GRAF.
Wie wird mir –? Hab' ich mich zerstreuterweise
In ein gefehltes Säkulum verirrt?
Doch nein –! Nicht ich! Es trieb mich hier herein –
Nun treibt's mich fort – wo werd' ich morgen sein?

Ab. Die Marionetten treten alle nach vorn.
MARIONETTEN.
Nicht uns Arme laßt entgelten,
Schenkt uns weiter eure Huld –
Nur den Dichter dürft ihr schelten,
Nur der Dichter hier ist schuld!
DER NAIVE.
Gehört das dazu?
DER DICHTER
auf den Stufen.
Das Spiel ist aus! Was für ein toller Spuk!
Wer schützt mich vor den eignen Scheingestalten?
Hinweg mit euch! es ist genug!
Wagt nicht, selbständig hier im Raum zu walten!
Und wenn ich so viel Seel' euch eingeblasen,
Daß ihr nun euer eignes Dasein führt,
Ist dies höchst frech und unvernünft'ge Rasen
Der Dank, der meiner Schöpferkraft gebührt?
MEISTER
zupft ihn am Ohr.
Wurstel!

Ab.
DIE MARIONETTEN.
Ei, nun tun wir, was wir wollen!
Reden, singen, tanzen, tollen!
Publikum ist uns egal –
Alles geht nach unsrer Wahl!
Ist der Dichter ganz von Sinnen,
Laßt uns unser Spiel beginnen!

[893] In diesem Augenblick tritt ein Mann auf, in einen blauen Mantel gehüllt, langes blasses Antlitz, schwarze Lockenhaare. Er trägt ein langes bloßes Schwert in der Hand. Er schreitet bis zu den Stufen hin und trennt mit einem Hieb alle Drähte. Die Marionetten stürzen zusammen und liegen auf dem Boden. Ringsum Staunen.
DER DICHTER.
Wer bist du? Eh' du mir entschwindest, sprich!
Mein Rächer bist du – doch wie nenn' ich dich?
DER UNBEKANNTE.
Du fragst zu viel. Was ich bedeuten mag –
Ich weiß es nicht. Seit manchem Erdentag
Bin ich verdammt, ein Rätsel mir und andern,
Die Welt nach allen Winden zu durchwandern.
Dies Schwert hier aber macht es offenbar,
Wer eine Puppe, wer ein Mensch nur war.
Auch unsichtbaren Draht trennt diese Schneide
Zu manches stolzen Puppenspielers Leide!

Er fährt mit dem Schwert über die ganze Bühne; alle Lichter verlöschen, und alle Menschen außer ihm selbst sinken zusammen.

Auch ihr? ...

Da der Dichter sinkt.

Auch du? ... Mir graut vor meiner Macht!
Ist's Wahrheit, die ich bringe, oder Nacht?
Folg' ich der Himmlischen ... der Hölle Ruf?
Ist es Gesetz – ist's Willkür, die mich schuf?
Bin ich ein Gott? ... ein Narr? ... bin euresgleichen?
Bin ich ich selber – oder nur ein Zeichen?

Er tritt ganz nach vorn.

Ja, wenn mein Schwert in loserm Arme hinge,
Weiß ich, wie's manchen, die in Leid und Lüsten
Höchst fragevoller Wirklichkeit sich brüsten, –

Zum Parkett gewendet.

Wie's zum Exempel euch da unten ginge?

Er geht mit einem stolzen Blicke ab.
Sobald er fort ist, wird es licht, die Menschen erheben sich wieder; auch die Marionetten. Militärmusik ertönt wieder, der Dichter rennt aufgeregt auf und ab, der Direktor tritt wieder auf die Stufen und beginnt.

Meine Herren, hier ist zu sehen ... usw.

Unter ungeheurem Lärm fällt der Vorhang.

Notes
Entstanden 1902–1904. Erstdruck: Berlin (Fischer), 1906. Uraufführungen der einzelnen Einakter: »Der Puppenspieler« am 12.09.1903, Deutsches Theater Berlin; »Der tapfere Cassian« am 22.11.1904, Kleines Theater, Berlin; »Zum großen Wurstel« am 16.03.1906, Lustspieltheater, Wien.
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TextGrid Repository (2012). Schnitzler, Arthur. Marionetten. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-D952-2