Andenken

Es ist ein Kind in Weibesblüte,
Das steht mir ewig im Gemüte,
Und nimmt mir die Gedanken hin;
Wo sie ist, fliehn dahin die Tage,
Und ist sie fern, so füllt die Klage
Mir wonnevoll den stillen Sinn.
Laß mich von ihrer Schönheit schweigen,
Sie bleibt in Ewigkeit mein eigen,
Doch bring' ich sie zum Opfer dar:
Die Seele, die du einzig liebtest,
Die du in Lieb' und Leiden übtest,
O Herr! dein Bild und dein Altar.
In Trauer leuchtet ihre Schöne,
Der Brust entfließen Klagetöne,
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Sie ist des Himmels Zauberkind;
Ach könnte sie vom Schmerz genesen,
Und könnt' ich ihre Banden lösen,
Ich eilte zu ihr, schnell und lind.
Wie würden wir uns selig fühlen,
Es blühte aus den Frühlingsspielen
Ein himmlisch Leben wohl hervor;
Mit Geistes Arm wollt' ich sie fassen,
Die zarte Seele nie mehr lassen,
Und risse sie zu Gott empor.
Dort sänken wir am Throne nieder,
Und sängen dankbar Liebeslieder,
Und blieben ewig dann bei Gott;
Da endet alles Erdenweinen,
Kann uns das Leben nicht vereinen,
Vermähl' uns du, o süßer Tod!
Und soll ich denn bei ihr nicht weilen,
So laß mich durch die Welten eilen,
Und sende deinen Diener fort;
So weit den Geist die Flügel tragen,
So weit der Liebe Wellen schlagen,
Ein treuer Bote deinem Wort.
Ihr Geister aber, euch befehle
Zur Obhut ich die Engelseele
Daß ihr die Schwester wohl bewacht;
Eilt zu ihr hin auf jede Klage,
Umschwebet ihre flücht'gen Tage,
Gießt Licht in ihrer Leiden Nacht.

Notes
Erstdruck in: Friedrich Schlegels sämtliche Werke, Bd. 9, Wien (Jakob Mayer und Co.) 1823.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Schlegel, Friedrich. Andenken. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-D71E-0