Bildnisse

Erstes

Der Blume gleich, die sich zur Sonne wendet,
Erhebt das schöne Haupt, so sanft gebogen,
Von seidner Locken Heil'genglanz umflogen,
Das Auge, das zum Himmel Strahlen sendet.
Die edle Nase, die so sinnreich endet,
Der hohe Mund, der glatten Stirne Bogen,
Der Wange braun, von Röte angeflogen,
Sie scheinen ganz zur Harmonie vollendet.
Wer sieht den Wurm an dieser Blume nagen?
Wer ahndet nahen Tod so schöner Hülle,
Die Schmerzen, die des Knaben Herz umwinden?
Zerrissen in der Harmonien Fülle,
Scheint mitleidsvoll der stille Geist zu sagen:
Das Schönste muß, erscheinend euch, verschwinden.

Zweites

Die hellen Blitze hätten uns geblendet
Des Auges, das kein Nebel noch betrogen,
[200]
Wenn Anmut selbst den Umriß nicht gezogen,
Und jedes Lächeln um den Mund verschwendet.
Dem Himmel scheint der Mienen Spiel entwendet,
Das, wie Musik enteilt, auf schnellen Wogen,
Dem ird'schen Blicke oft zu rasch entflogen,
Eh' er dem Scherz die Freude nachgesendet.
Wer sieht den Mund nicht leise spottend fragen?
Wer wähnt, daß er dem Auge sich verhülle?
Wer möchte dieser Stirn nicht Kränze winden?
Ob sich nur Freude kindlich hier enthülle,
Ob zarte Geister neckend selbst sich plagen,
Darauf wird keiner wohl die Antwort finden.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Schlegel, Friedrich. Bildnisse. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-D60F-9