[345] Der Reim und die Poesie

Ein Redner buhlte mit Sophistenschlingen
Und Wortgespinnst, die Poesie zu fangen.
Ihm galten nur die Worte, was sie klangen,
Und eitel ließ er Wortgetändel klingen.
Da wandte sie vor seinem schlauen Dringen
Sich zu des Rhythmus männlichem Verlangen;
Mit reiner Inbrunst hielt er sie umfangen,
Und beider Lust ward ein harmonisch Singen.
Der Redespieler härmte sich verlaßen,
Ward bloße Stimme, doch nicht leer und nichtig:
Es schien, daß Lieb' in jedem Laut noch keime.
Nun wandelt Poesie in Mild' ihr Haßen,
Und sie vernimmt, ruft sie ihn nun sehnsüchtig,
Echo des Sinnes, zarte süße Reime.

Notes
Erstdruck in: Gedichte 1800.
License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Schlegel, August Wilhelm. Der Reim und die Poesie. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-D232-6