[290] Thränen und Küße

Alter Sänger zarter Minne!
Weibes Schöne, Güt' und Zucht,
Aller Wonne Blüth' und Frucht,
Spähtest du mit Meistersinne.
Deines Spruches ward ich inne
Tief in meines Herzens Grund:
»Weinende Augen haben süßen Mund.«
Von der Holden mußt' ich scheiden,
Die mir neues Leben bot:
Da erblich der Wangen Roth,
Lust verkehrte sich in Leiden.
Doch, um unser Weh zu weiden,
Schloßen enger unsern Bund
Weinende Augen und ein süßer Mund.
Trüb' umwölkte sich mit Thränen,
Sonst so licht, ihr Himmelsblick,
Weil der Liebe hart Geschick
Uns entriß der Hoffnung Wähnen.
Da erbarmte sie mein Sehnen,
Dem sie streng' oft widerstund:
Weinende Augen boten süßen Mund.
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Zwar verstummten jetzt die Worte,
Die sie lieblich sonst gekos't;
Doch es kam mir andrer Trost
Aus der Lippen Rosenpforte.
Meinem Gram zu Heil und Horte
That mir mildes Grüßen kund,
Weinende Augen haben süßen Mund.
Die sich treu und innig meinen,
Trennet weder Land noch Meer.
Drum verzage nicht so sehr!
Einst ja wird der Tag erscheinen,
Wo ein seliges Vereinen
Macht von allem Weh gesund
Leuchtende Augen und den süßen Mund.

Notes
Entstanden 1812. Erstdruck: Wien 1812.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Schlegel, August Wilhelm. Thränen und Küße. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-D18F-2