223. Der Landmesser.

Landmesser oder glühender Mann heißt ein gespenstisches Wesen von feurigem Aussehen, welches mit einer glühenden Stange oder eine glühende Kette werfend zu einer bestimmten Zeit des Jahres (in schwülen Sommernächten, besonders kurz vor Tagesanbruch, aber auch im Herbste am Abend) ohne Ruhe und [206] Rast durch die Feldmark geht. Mann hält ihn für einen Mann, der während seines Lebens falsch gemessen, die Grenzsteine verrückt, die Grenze falsch beschworen, Land abgepflügt oder sonst betrogen habe.

1.

Zwei Leute aus Willershausen gingen Nachts nach ihrem Dorfe zurück. Sie befanden sich noch auf einer fremden Feldmark (hâchheit), als sie eine Leuchte den Berg herabkommen sahen. Spottend sprachen sie: »wenn doch die Leuchte bei uns wäre, so daß wir uns daran eine Pfeife Taback anstecken könnten.« Kaum hatten sie die Worte gesprochen, so kam auch schon die Leuchte mit furchtbarer Schnelligkeit daher. Als sie das bemerkten, dachten sie gleich, daß die Sache nicht richtig wäre und fingen an zu laufen, was sie nur laufen konnten. Die Leuchte, die nichts anderes als der Landmesser war, eilte ihnen nach; doch gelang es ihnen noch glücklich die Grenze ihrer Feldmark zu erreichen und hinüber zu springen. In demselben Augenblicke hatte sie der Landmesser fast erreicht und schlug mit seiner feurigen Stange hinter ihnen her, traf sie aber nicht mehr, weil sie eben über die Grenze gesprungen waren.

2.

Unter dem Helgenholte am Hohnstedter Berge begegnete einst in der Nacht einem etwas angetrunkenen Bauern aus Hohnstedt ein feuriger Mann mit einer langen feurigen Stange. Dem Bauern war gerade die Pfeife ausgegangen; er bat also den feurigen Mann um etwas Feuer zum Anstecken der Pfeife. Dieser gab ihm auch Feuer; da aber die Pfeife nicht gleich brennen wollte, so fing der Bauer an zu fluchen, erhielt aber in demselben Augenblicke eine so gewaltige Ohrfeige, daß er taumelte. Dann muste er noch die ganze Nacht hindurch bis zum Morgen umherirren. Als es Tag wurde, war er dicht vor dem Dorfe.

3.

Pferdehüter hüteten einst auf dem Felde, da sehen sie plötzlich in der Ferne einen Mann mit einer langen glühenden Stange daher kommen. Erst wollten sie in das Heu kriechen; dann aber versteckten sie sich hinter einer Hecke. Der Mann kam bis an die Hecke und guckte an der Stelle, wo sie versteckt waren, über diese hinüber; da sahen sie ganz deutlich, daß es ein grauer Mann war mit einer glühenden Stange in der Hand, aber ohne Kopf.

4.

Ein Vogelbecker Bauer war mit einem Holzschlitten ausgegangen, um aus dem zu Hohnstedt gehörigenStölterkampe Holz zu stehlen. Wie er nun ängstlich umherschaute, ob er auch [207] nicht von irgend einem Menschen gesehen würde, und auch nach dem Stollenbusche seine Blicke wandte, bemerkte er dort eine große, weiße Gestalt, die auf seinem eigenen Acker wiederholt um den Grenzstein herumging. Es war gerade Mittag, und die Sonne schien hell auf die mit Schnee bedeckten Felder. Die weiße Gestalt wandte sich endlich dem Rismannsborne (einer Hungerquelle) zu. Als der Bauer dieß sah, ließ er seinen Schlitten stehen und ging zu dem Grenzstein, um welchen die Gestalt herumgegangen war, bemerkte aber im Schnee nicht die geringste Spur von Fußstapfen; wohl aber sah er, indem er der Gestalt nachging, daß diese noch an allen Grenzsteinen hin wandelte. Es war ein aschfarbener Mann, mit einem weißen Hemde angethan und mit einer hohen, weißen Mütze auf dem Kopfe, um welche ein kleines schwarzes Band gewickelt war. In ihm erkannte er einen bekannten Mann aus Vogelbeck, der vor nicht gar langer Zeit gestorben war.

5.

Auf dem Röderberge bei Wulften rief sonst immer um Mitternacht ein Geist: »Wô sett‘ ek düsen stein wol hen?« In der Nacht, zwischen 11 und 1 Uhr, kamen einst Wulftener Bauern vom Hattorfer Schützenhofe zurück, da rief der Geist wieder: »wô sett‘ ek düsen stein wol hen?« Einer der Bauern antwortete: »set ‘ne hen wô ‘ne ‘krêgen hest.« Ganz erfreut antwortet der Geist: »up düt wôrt hebb‘ ek all hundert jâr elûert.« Der Stein war ein Grenzstein gewesen, den jener im Leben verrückt hatte. Von dieser Zeit an hat niemand den Geist wieder rufen hören.

6.

Zwei Bauern aus Kohnsen kamen Nachts zwischen 11 und 12 Uhr vom Bartshäuser Thurme. Als sie am Berge waren, sahen sie oberhalb der Höfe im Felde den Landmesser, wie er mit einer glühenden Meßstange quer über maß; nachdem er da angekommen war, wo die Grenze (wanne) ist, blieb er stehen. Die beiden waren beherzt und gingen gerade auf ihn zu. Als sie bei ihm waren, fragten sie ihn, was er da zu thun habe und was er messe. Der Landmesser antwortete: es stände da ein Grenzstein unrichtig, den er bei seinen Lebzeiten dahin gesetzt habe; nun müsse er dafür in alle Ewigkeit messen, so lange der Stein noch an der unrechten Stelle stände. Dann fragte er sie, ob sie den Stein am anderen Tage an seine rechte Stelle setzen wollten, indem er ihnen dieselbe genau bezeichnete. Sie versprachen ihm [208] auch am folgenden Tage den Stein daselbst einzugraben. Der Landmesser sagte noch: »in der nächsten Nacht komme ich wieder und messe; steht dann der Stein an der rechten Stelle, so bin ich erlöst und komme nicht wieder; versprecht es mir und gebt mir die Hand darauf, daß ihr den Stein dahin setzen wollt.« Sie versprachen es nochmals und hielten ihm den Gehstock hin; er griff darnach, und gleich war der Stock ab. Am anderen Tage gingen die beiden Männer hin und gruben den Stein an der rechten Stelle ein. In der darauf folgenden Nacht achteten sie dann auf, ob der Landmesser wieder käme. Er kam auch richtig wieder und maß mit seiner funkelnden Stange alles nach; dann verschwand er und ließ sich nie wieder sehen.

7.

Ein Mann aus Strodthagen hatte seinem Nachbar Land abgepflügt. Zur Strafe dafür muste er nach seinem Tode umgehn; als glühender Mann mit glühender Stange ging er durch das Feld, mit der Stange den Boden schlagend, daß die Funken nachsprühten. Einst kehrte ein Mann aus dem Dorfe, der in Sülbeck gemahlen hatte, Abends spät nach Strodthagen zurück; auf dem Wege nach Hause muste er über einen Steg. Als er dahin kam, stand der Landmesser davor, so daß er nicht hinüber steigen konnte. Er fragte ihn also, weshalb er ihm den Weg versperre? Darauf fragte jener, ob er ihm etwas bestellen wolle? Er bejahte es und nun erzählte der Landmesser, er habe dem und dem Manne einige Furchen abgepflügt, deshalb könne er nun nicht eher zur Ruhe kommen, als bis dieser sein Land wieder habe; dann bat er ihn, ob er nicht an den, dem er das Land abgepflügt habe, bestellen wolle, daß er es wieder haben solle. Der Bauer versprach alles; der Landmesser verlangte aber, er solle ihm die Hand darauf geben. Da hielt jener ihm seinen Stock hin, den er auch anfaßte, aber »so weit er ihn angegriffen hatte, griff er ihn ab.« Der Bauer, dem einige Furchen abgepflügt waren, pflügte sich nun dieselben wieder an. Nach der Zeit ist der Landmesser nicht wieder erschienen.

8.

Auf dem Kuhberge bei Adelebsen wandelt Nachts ein Landmesser umher, den schon mehrere Leute gesehen haben. Er soll bei seinen Lebzeiten Verwalter auf dem Gute des Herrn von Adelebsen gewesen sein, und muß nun so umherwandeln, weil er den Tagelöhnern seines Herrn von dem ihnen zustehenden Kartoffelnlande zu wenig zumaß.

[209]

9.

Zur Zeit einer großen Theuerung, wo der Scheffel Korn drei Thaler kostete, kam ein armer Mann zu einem reichen Bauern in Heinade, um sich einen Scheffel Korn zu holen. Als nun das Korn schon eingemessen war und der Mann das Geld dafür aufzählte, fehlten ihm an den drei Thalern drei Groschen; er versprach zwar, so wie er wieder Geld verdient hätte, das Fehlende sogleich nachzubringen, allein der Reiche wollte davon nichts wissen, und so muste er das Korn wieder aus dem Sacke schütten. Da verwünschte der Arme den reichen Bauern, daß er nach seinem Tode ewig zwischen Himmel und Erde schweben möge. Der Bauer starb auch noch in demselben Jahre und ging nach seinem Tode als glühender Mann (glûe kërel) in der Hessengrund bei Heinade um, wo er von vielen Leuten gesehen wurde. Eines Abends kamen mehrere Leute des Weges, unter denen auch der Pastor war. Der glühende Mann war wieder da, und nun fragte ihn der Pastor, was sein Begehr wäre. Jener erwiederte: der arme Mann, welcher von ihm habe Korn kaufen wollen, dieses aber wieder habe ausschütten müssen, weil ihm drei Groschen gefehlt hätten, möge ihm doch verzeihen; darum möchten sie ihn bitten und dann am andern Abend mit demselben wieder an diese Stelle kommen. Der Arme war auch bereit ihm zu verzeihen, und so gingen sie am anderen Abend mit einander in die Hessengrund, wo der glühende Mann ihrer schon wartete. Der Arme, welcher den reichen Bauern verwünscht hatte, erklärte nun, daß er ihm verzeihe; doch jener verlangte, daß er ihm die Hand darauf gebe. Da reichte dieser, dem der Pastor gesagt hatte, daß er ihm die Hand selbst nicht geben dürfe, weil er einen Stock oder ein anderes Ding nicht bei sich hatte, den Zipfel (timpen) von seiner Jacke hin, der auch, sowie ihn der glühende Mann berührt hatte, sogleich ganz verbrannt abfiel. Seitdem ließ sich der Geist nicht wieder sehen.

10.

Ein Schäfer, der schon manche Nacht bei seinen Schafen in der Schäferkarre geschlafen hatte und allgemein für einen treuen und muthigen Hirten galt, pflegte zu lachen, wenn jüngere Schäfer von Geistererscheinungen sprachen. Er pflegte zu sagen: »ehe ich dergleichen ›Dinger‹ nicht selbst sehe, glaube ich nicht daran.« Als er einst am Pagenberge hütete und in der Nacht in seiner Karre lag und wachte, vernahm er plötzlich ein sonderbares Knistern von Feuerfunken. Er stand auf, um nachzusehen, [210] was eigentlich da sei. Da sah er zwei feurige Männer vor der Karre gehn, die hatten lange Ruthen in der Hand und maßen das Land. »Was macht ihr da?« sprach der Schäfer. »Wir haben,« antworteten jene, »bei unsern Lebzeiten häufig falsch gemessen und so betrogen, darum müssen wir nun noch lange Zeit messen, bis wir genug gemessen haben.« »Haben wir schon genug gemessen?« fragten sie weiter. »Ja,« sprach der Schäfer, »ihr habt genug gethan.« »Nun dann sind wir von unserer Strafe erlöst,« sprachen sie, »und werden Vergebung erhalten. Lebt wohl!« Mit diesen Worten verschwanden sie und sind nicht wieder erschienen. Von der Zeit an lachte aber der Schäfer nicht wieder über Geistererscheinungen.

11.

Ein Mann ging in der Nacht zwischen elf und zwölf Uhr von Sievershausen nach Oldendorf zurück. Da sah er diesseits des Ahlkenberges im Hundefelde zwei Landmesser da stehen, die schlugen Funken wie eine Stube hoch. Da sie zu beiden Seiten des Weges standen, so konnte er nicht ausweichen und muste gerade zwischen ihnen hindurch. Er holte daher sein Feuerzeug aus der Tasche und schlug Feuer, wozu er die Worte sprach: »Herr, meinen Geist befehl ich Dir!« und so ging er unangefochten zwischen ihnen hindurch. Dabei bemerkte er, wie sie ganz fahl geworden waren.

12.

Ein Mann aus Oldendorf hütete Nachts auf dem Pfingstanger zwischen Markoldendorf und Deitersen die Pferde. Er hatte sich an die Hecke (knick) gelegt und war da eingeschlafen. Plötzlich werden die Pferde wild und machen einen gewaltigen Lärm, davon wacht er auf. Da sah er, wie zwei Landmesser (glöænige kërels) mit den glühenden Ketten, welche sie zogen, »die Steine« (eine Feldmark neben dem Pfingstanger) maßen. Auch glühende Stäbe hatten sie in den Händen. Die Haare stiegen dem Manne zu Berge, aber er konnte sich nicht von der Stelle bewegen. Zugleich erblickte er einen grauen Mann (grîsen kërel), in dem er einen kürzlich verstorbenen Mann des Dorfes erkannte, der im Leben die Grenzsteine verrückt und dann sich durch einen falschen Eid die Grenze zugeschworen hatte. In der Hecke verschwanden sie.

13.

Ein Mann aus Hohnstedt hatte beim Kuhsteine ein Feld mit Kartoffeln bestellt. Als er nun im Herbst die Kartoffeln ausgegraben hatte, fügte es sich, daß er sie nicht an demselben [211] Tage nach Hause schaffen konnte und war deshalb genöthigt die Nacht über dabei Wache zu halten (wachten). Es war Nachts gegen elf Uhr, da kam ein feuriger Mann von Laen und ging nach dem Meisen-Anger (Mâseken-anger) hin; ein zweiter kam von Düderode, ein dritter von Imshausen und ein vierter vom Klosterberge. Als die vier nun bei einander waren, fingen sie an »lang-Englisch« zu tanzen; nachdem sie dieß eine Stunde getrieben hatten, ging ein jeder den Weg zurück, auf dem er gekommen war; nur der eine, der von Laen gekommen war, ging auf den Mann, der mit seinen beiden Söhnen bei den Kartoffeln Wache hielt, gerade zu. Die drei versteckten sich aus Furcht unter das Kartoffelnstroh. Als nun der feurige Mann vorbeikam, »so ging es hu, hu« und er sauste über sie hinweg. Als sie sich wieder aufrichteten, war er verschwunden.


License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. 223. Der Landmesser. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-BFA6-7